Diese Arbeit befasst sich mit der Stereoskopie anhand des Films "Love". Spätestens seit Erscheinen des Films "Avatar" im Jahr 2009 sind 3D-Filme in Kinos ein Kassenschlager. Jedoch ist das Darstellen von Filmen in der dritten Dimension keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Heute jedoch ist es für den Rezipienten aufgrund immer besser werdender Technik einfacher denn je, in den Film einzutauchen und gerade deshalb auch bei vielen beliebt. Das Eintauchen, auch Immersion genannt, nimmt das Bewusstsein mit, in den Spielraum der Handlung hinein. Durch die induzierte Nähe des Bildes verspricht der Einsatz von 3D ein plastischeres und realitätsnäheres Filmbild und der Kinoraum droht noch stärker zu verschwinden.
Ziel dieser Arbeit ist es deshalb zu klären, inwiefern die Stereoskopie Auswirkungen auf den Rezipienten und dessen (Seh-)Verhalten hat. Welche kognitiven und emotionalen Unterschiede ergeben sich bei der Rezeption der 3D-Version des Films "Love" im Vergleich zur 2D-Version? Es ist anzunehmen, dass der behandelte Film in der vorliegenden Arbeit aufgrund seiner sinnlichen Szenen ein hohes Maß an Identifikation mit dem Rezipienten schafft und deshalb ein hohes Immersionspotenzial bereithält. Realisiert wurde das Liebesdrama mit pornografischen Anleihen von dem argentinisch-französischen Filmemacher Gaspar Noé und wurde im Jahr 2015 auf den Filmfestspielen von Cannes uraufgeführt. Zur Bearbeitung der Forschungsfrage wird eine Kombination aus drei Methoden gewählt. Diese sind eine visuelle Filmanalyse, die sozialwissenschaftliche Methode Befragung und ein Eyetracking-Experiment. Letztgenannte Methode diente dazu, die Blickbewegungen der Probanden bei der Rezeption des Films messbar zu machen.
Im Verlauf der Arbeit werden zunächst theoretische Grundlagen des Forschungsgegenstandes erläutert, wobei zuerst definitorische Ausführungen vorgenommen werden. Um der Bedeutung des 3D-Films bewusst zu werden, folgt eine historische Kontextualisierung, gefolgt von einer Bestandsaufnahme des heutigen 3D-Films. Anschließend werden existierende 3D-Verfahren beschrieben. Im letzten Schritt der theoretischen Vorbetrachtung erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Immersionsforschung. Um den Forschungsprozess nachvollziehen zu können, werden nachfolgend die drei Methoden erläutert sowie die Durchführung ausgeführt. Schließlich werden die empirisch erhobenen Daten dargestellt und interpretiert.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnisi
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffliche und Theoretische Grundlagen
2.1. Stereoskopie
2.2. Geschichtliche Einordnung und heutiger Stand des 3D-Films
2.3. Theorie und Technik des 3D-Films
2.4. „Voll im Film sein“ - Stand der Immersionsforschung
2.4.1. Involvement
2.4.2. Immersion
2.4.3. Presence
2.5. Immersion nach Voss
2.5.1. Die Einfühlungstheorie nach Lipps
2.5.2. Fiktionale Immersion als Weltensprung
2.5.3. Immersion und das Imaginäre
3. Forschungsfrage und Formulierung der Hypothesen
4. Methoden
4.1. Filmanalyse
4.1.1. Inhaltsangabe und Filmstilistik
4.1.2. Filmanalytische Ansätze
4.1.3. Auswahl der Sequenzen
4.1.4. Sequenzanalysen
4.1.4.1. Sequenz „Kennenlernen von Omi“
4.1.4.2. Sequenz „Streit und Versöhnung“
4.2. Eyetracking-Experiment
4.2.1. Voraussetzungen optischer Wahrnehmung
4.2.2. Definition und Entwicklung des Eyetracking-Verfahrens
4.2.3. Versuchsaufbau und Durchführung
4.3. Befragung
4.3.1. Arten der Befragung
4.3.2. Grundgesamtheit und Stichprobenauswahl
4.3.3. Fragebogenkonzipierung
4.3.4. Durchführung
5. Ergebnisse und Interpretation
5.1. Eyetracking-Experiment
5.2. Befragung
6. Beantwortung der Forschungsfrage
7. Fazit, Reflexion und Ausblick
Quellenverzeichnis
Anhang
I. Bibliografisches Verzeichnis
II. Eyetracking-Ergebnisse
Sequenz 1: Kennenlernen mit Omi
Einstellungsprotokoll 1, Bild Nr
Einstellungsprotokoll 1, Bild Nr
Sequenz 2: Streit und Versöhnung
Einstellungsprotokoll 2, Bild Nr
Einstellungsprotokoll 2, Bild Nr
Einstellungsprotokoll 2, Bild Nr
Einstellungsprotokoll 2, Bild Nr
III. Sequenzprotokoll
IV. Einstellungsprotokolle
Einstellungsprotokoll
Einstellungsprotokoll
V. Fragebogen
VI. Deskriptive Statistiken des Fragebogens
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Studie FFA „Anzahl der Kinobesucher von 3D-Filmen“
Abbildung 2: „Love“ EP 1, Bild Nr. 7, 00:32:48
Abbildung 3: „Love“ EP 1, Bild Nr. 4, 00:30:36
Abbildung 4: „Love“ EP 2, Bild Nr. 13, 01:18:07
Abbildung 5: „Love“ EP 2, Bild Nr. 2, 01:13:09
Abbildung 6: „Love“ EP 2, Bild Nr. 27, 01:26:25
Abbildung 7: „Love“ EP 2, Bild Nr. 22, 01:23:45
Abbildung 8: Querschnitt des Auges. Draufsicht nach Freeman
Abbildung 9: Grundgesamtheit und Stichprobenauswahl
Abbildung 10: Auswertung der Fragen mit Ordinalskala
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
"[Die] Suggestion des Räumlichen und der Bewegung [ist] von umwerfender Perfektion, und die handelnden Personen eines Films kommen uns unbestreitbar echt und lebendig vor."
- Sergej Eisenstein, „Über den Raumfilm‟
Spätestens seit Erscheinen des Films Avatar (USA, R.: Cameron) im Jahr 2009 sind 3D-Filme in Kinos ein Kassenschlager. Das Einspielergebnis von rund 2,8 Milliarden US-Dollar ist bis heute ein von anderen Filmen unerreichter Wert (Stand 08.06.2017) (vgl. Box Office Mojo 2017, o.S.). Voraussetzung für den großen Erfolg Avatars war die digitale Wende im Jahr 2002. Die größten Filmstudios Hollywoods schlossen sich damals zur sogenannten Digital Cinema Initiative (DCI) zusammen und einigten sich über einen weltweiten digitalen Standard im Kinobereich (Steinmetz 2011, S. 84). Das „D-Cinema“ (Digital Cinema) war geboren und bereitete weiteren erfolgreichen Filmen wie Gravity (USA, R.: Cuarón) den Weg zum großen Erfolg. Jedoch ist das Darstellen von Filmen in der dritten Dimension keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Bereits in den 1920er Jahren erlebte die Stereoskopie in Kinos eine Blütezeit. Es folgte eine weitere Hochphase Anfang der 1950er Jahre. Heute jedoch ist es für den Rezipienten aufgrund immer besser werdender Technik einfacher denn je, in den Film einzutauchen und gerade deshalb auch bei vielen beliebt. Das Eintauchen (auch: Immersion), nimmt das Bewusstsein mit, in den Spielraum der Handlung hinein (vgl. Balázs 1938, S. 215). Durch die induzierte Nähe des Bildes verspricht der Einsatz von 3D ein plastischeres und realitätsnäheres Filmbild und der Kinoraum droht noch stärker zu verschwinden (Klippel/Krautkrämer 2012, S. 55). Ziel dieser Arbeit ist es deshalb zu klären, inwiefern die Stereoskopie Auswirkungen auf den Rezipienten und dessen (Seh-)Verhalten hat. Die sich daraus ergebende Forschungsfrage lautet: Welche kognitiven und emotionalen Unterschiede ergeben sich bei der Rezeption der 3D-Version des Films Love im Vergleich zur 2D-Version? Es ist anzunehmen, dass der behandelte Film in der vorliegenden Arbeit aufgrund seiner sinnlichen Szenen ein hohes Maß an Identifikation mit dem Rezipienten schafft und deshalb ein hohes Immersionspotenzial bereithält. Realisiert wurde das Liebesdrama mit pornografischen Anleihen von dem argentinisch-französischen Filmemacher Gaspar Noé und wurde im Jahr 2015 auf den Filmfestspielen von Cannes uraufgeführt. Zur Bearbeitung der Forschungsfrage wird eine Kombination aus drei Methoden gewählt. Diese sind eine visuelle Filmanalyse, die sozialwissenschaftliche Methode Befragung und ein Eyetracking-Experiment. Letztgenannte Methode diente dazu, die Blickbewegungen der Probanden bei der Rezeption des Films messbar zu machen.
Im Verlauf der Arbeit werden zunächst theoretische Grundlagen des Forschungsgegenstandes erläutert, wobei zuerst definitorische Ausführungen vorgenommen werden. Um der Bedeutung des 3D-Films bewusst zu werden, folgt eine historische Kontextualisierung gefolgt von einer Bestandsaufnahme des heutigen 3D-Films. Anschließend werden existierende 3D-Verfahren beschrieben. Im letzten Schritt der theoretischen Vorbetrachtung erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Immersionsforschung. Um den Forschungsprozess nachvollziehen zu können werden nachfolgend die drei Methoden erläutert sowie die Durchführung ausgeführt. Schließlich werden die empirisch erhobenen Daten dargestellt und interpretiert. Die Arbeit schließt mit einem Fazit und Ausblick für zukünftige Forschungsvorhaben.
2. Begriffliche und Theoretische Grundlagen
2.1. Stereoskopie
Der Begriff Stereoskopie leitet sich aus den griechischen Begriffen „stereos“ (Raum, räumlich) und „skopeo“ (betrachten) ab und meint „[d]ie Gesamtheit der Verfahren zur Aufnahme und Wiedergabe raumgetreuer Bilder“ (zu Hüningen 2012, o.S.). Gelegentlich tauchen auch die Begriffe „Raumfilm“, „stereoskopischer Film“ oder „plastischer Film“ auf (Steinmetz 2011, S. 70). Obwohl sich in der Fachliteratur die Begriffe „Stereoskopie“ und „3D“ ihrer Bedeutung nach nicht ganz decken, werden beide Begriffe synonym verwendet.1 Der Unterschied zum zweidimensionalen Bild ist die hinzugefügte Tiefenebene, die dem Zuschauer im Kino das Sehen eines dreidimensionalen Bildes ermöglicht und „sich somit eine neue Räumlichkeit des Films und eine veränderte Positionierung des Zuschauers zum Dargestellten“ ergibt (Jockenhövel 2014, S. 68).
Für die Aufnahme eines stereoskopischen Filmes sind zwei Kameras erforderlich, die in leichtem Abstand zueinander das Geschehen aufzeichnen (interokulare Distanz) und somit die Tiefe des Raumes bestimmen (vgl. Jockenhövel 2014, S. 68). Mittels spezieller Brillen2 werden die auf der Leinwand projizierten Halbbilder dem Zuschauer so vermittelt, dass er das Bild als dreidimensional wahrnimmt. Bei der negativen Disparität (oder auch negative Parallaxe) entsteht der Eindruck, dass der Gegenstand/die Person im Kinosaal schwebt. Bei der positiven Parallaxe hingegen hat es den Eindruck, als spiele sich das Geschehen hinter der Leinwand ab. Jockenhövel ist der Meinung, dass das stereoskopische Filmbild „uns mit einer komplexen, visuellen Welt konfrontier[t]“ und so „immersives Potenzial aufweisen“ kann (Jockenhövel 2014, S. 193). Von Immersion wird gesprochen, wenn die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu einem Großteil absorbiert wird.3 Im Folgenden werden die Theorie und Technik sowie die Geschichte der Stereoskopie beschrieben.
2.2. Geschichtliche Einordnung und heutiger Stand des 3D-Films
Den Beginn der Stereoskopie markiert die Erfindung des Physikers Sir Charles Wheatstone, der 1838 erstmals das Prinzip des binokularen Sehens bei der Royal Society of London vorstellte und anhand einer optischen Vorrichtung beschreibt. Er nannte sie Stereoskop. Mit Hilfe des Stereoskops konnte man leicht versetzt gezeichnete Bilder mittels Spiegelkonstruktion als ein einzelnes, dreidimensionales Bild wahrnehmen, indem man ein Auge verdeckte. Zusätzlich beweist diese Vorrichtung, dass der Mensch in der Lage ist, Objekte dreidimensional wahrzunehmen (vgl. Jockenhövel 2014, S. 47). Zum endgültigen Durchbruch im technisch-instrumentellen Sinn verhalf Sir David Brewsters mit seiner Entwicklung des Linsenstereoskops im Jahr 1849 (vgl. Wedel 2011, S. 70).
Die Technik des Linsenstereoskops wurde erstmals im Jahr 1851 auf der Great Exhibition in London vorgestellt (vgl. Jockenhövel 2014, S. 47). Der Erfolg zeigte sich in den nachfolgenden Jahren: Das Stereoskop verkaufte sich mehrere hunderttausend Mal (vgl. Hick 1999, S. 277) und Ende des 20. Jahrhunderts befanden sich bereits Millionen stereoskopische Fotografien im Umlauf (ebd.).
Das erste Patent, das Stereoskopie und bewegte Bilder vereinte, erhielt 1852 Jules Duboscq mit seinem sogenannten Stéréofantascope (vgl. Zone 2007, S. 9). Wheatstone allerdings war es, der 1853 einen Guckkasten entwickelte, mit dessen Hilfe erste 3D-Filme mittels Serienfotografien gezeigt werden konnten (vgl. Steinmetz 2011, S. 73).
Mit dem Aufkommen erster 3D-Bilder ging ein Interesse an speziellen Sujets einher (vgl. Hick 1999, S. 282). Hick meint damit Reiseaufnahmen und Erotikdarstellungen, wobei letztere in den frühen 50er und 60er Jahren populär wurden:
„In den frühen 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts finden stereoskopische Aktdaguerreotypien1weite Verbreitung. Das strukturelle mediale Angebot der Stereoskopie kommt in besonderem Maße der Befriedigung voyeuristischer Bedürfnisse entgegen. Zum einen vermittelt die optisch-virtuelle Vergrößerung auf annähernde Lebensgröße, vor allem aber die plastische Qualität des fingierten Raumeindrucks, der ein Eintauchen suggeriert, den Objekten der Begierde eine plastische Körperlichkeit, Lebendigkeit und nahezu taktile Präsenz. Andererseits bleiben diese als physisch Ab-wesende, bloß medial Reproduzierte jedoch faktisch unerreichbar und die sichere Distanz zu ihnen gewahrt‟ (Hick 1999, S. 282ff).
Insofern ist es dem Rezipienten aus sicherer Distanz möglich, „Körper aus dem Verborgenen heraus seinem ungezügelten Blick [zu] unterwerfen“ und die „erotischen Phantasien projektiv“ auszuleben (Hick 1999, S. 283). Des Weiteren konstatiert Hick einen Bedeutungszuwachs pornographischer Motive durch die Stereoskopie im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Damit einher geht ein besitzergreifender Blick, also eine „massenmedial zugerichtete visuelle Annexion der Objekte“ (Hick 1999, S. 282).
Trotzdem nahm Ende des 19. Jahrhunderts die Bedeutung um die neu entdeckte Technik ab. Fortan gingen weitere Erfindungen hervor, um dem Rezipienten weiterhin zu unterhalten, wie z. B. das Kaiserpanorama. An dem um 1880 eingeführten, zylindrischen Gerät saßen bis zu 25 Personen gleichzeitig und konnten Bildserien betrachten, die wöchentlich ausgetauscht wurden (vgl. Klippel/Krautkrämer 2012, S. 45 ff.).
Durch diese Erfindung trug sich die Stereoskopie bis zur Einführung des Kinematographen in den 1920er Jahren (vgl. ebd., S. 46). Einen ebenfalls starken Einfluss auf die konstante Nutzung des 3D-Verfahrens hatte die Einführung des Anaglyphen-Verfahrens. Bei dieser Technik trennte man die Halbbilder mit Rot-Grünbildern und nutzte Brillen, die rot bzw. grün eingefärbt waren.4 Der erste Film mit dieser Technik war The Power of Love (USA, R.: Deverich & Fairall), der am 27. September 1922 in Los Angeles Premiere feierte (vgl. Steinmetz 2011, S. 74). Darüber hinaus wurde in den frühen Jahren des stereoskopischen Films viel experimentiert, so auch mit einer Drahtraster-Leinwand, die ohne die damals übliche Brille auskam (vgl. Gotto 2016, S. 41). Realisiert wurde diese besondere Art des stereoskopischen Films mit der Projektion der Halbbilder in einem bestimmten Winkel zum Zuschauer, so deckten die feinen Drähte die Bereiche ab, die für das jeweilige Auge nicht bestimmt waren und es entstand ein räumlicher Eindruck (vgl. Drößler 2008a, S. 12). Mit dem Aufkommen des Tonfilms Ende der 1920er Jahre verebbte allerdings das Interesse an den Effekten des „Raumfilms“ (vgl. ebd., S. 75). Erst Mitte der 1930er Jahre, nach Etablierung des Tonfilms, trat auch der 3D-Film wieder in den Fokus des Interesses (vgl. ebd.). 1935 erschuf Jacob F. Leventhal einige stereoskopische Filme, es entstand eine Reihe namens Audioscopiks , drei Jahre später folgten die New Audioscopiks , sowie 1940 der Kurzspielfilm The Third Dimension Murder (USA, R.: Sidney) (vgl. ebd.). Hagemann konstatiert 1980 rückblickend, dass in dieser Zeit etwa drei Millionen Menschen diese Filme rezipierten, „[e]in Erfolg, den bis zum Beginn der fünfziger Jahre keine dreidimensionale Produktion verzeichnen konnte“ (Hagemann 1980, S. 17). Durch diesen Erfolg und die immense
Popularität „leistete die [...] Stereoskopie zweifellos ihren Beitrag zur Herausbildung eines historisch distinkten Erwartungshorizonts für das frühe Kino“ (Wedel 2011, S. 72). Auch die Gebrüder Lumière befassten sich mit der Stereoskopie und verbreiteten 1935 den anaglyphen Film (vgl. Steinmetz 2011, S. 75). In Folge des Zweiten Weltkrieg stagnierte die Entwicklung des stereoskopen Bildes. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich u. a. auch das Drahtraster-Verfahren weiter (vgl. Steinmetz 2011, S. 76). 1946 wurde der erste erfolgreiche Film mit Drahtrasterleinwandtechnik, Robinzon Kruzo (UdSSR, R.: Andrijevskij), in russischen Kinos uraufgeführt. Erfolgsstimulierend wirkt vermutlich nicht nur der Räumlichkeitseffekt, sondern auch die Inszenierung (vgl. ebd.). Sergej M. Eisenstein äußerte sich 1947 zum stereoskopischen Kino und sah in dem Raumfilm die „nächste, nötige Etappe der technischen Entwicklung der ´gewöhnlichen Filmkunst´“ (Eisenstein 1988, S. 207; Hervorhebung im Original).
Während also im russischen Kino letztgenannter Film für große Aufmerksamkeit sorgte, dauerte es noch fünf weitere Jahre, bis die westliche Welt von der zweiten großen Stereo- skopie-Welle erfasst wurde. Ursache war eine Technik-Schau im Rahmen des Festivals of Britain in London 1951. Die Wirkung auf die Gesellschaft zeigte sich durch den restlosen Ausverkauf der dortigen 1220 gezeigten Vorstellungen des sogenannten Telekinema´s (vgl. Drößler 2008b, S. 45ff.). Das Telekinema setzte als neue Technik das Polarisationsverfahren ein und wies die Möglichkeit zukünftiger Produktionen auf, Filme auf nun zwei Filmstreifen inklusive Stereoton aufzunehmen und zu zeigen (vgl. Zone 2007, S. 176). Insbesondere deshalb markiert das Festival of Britain einen Wendepunkt in der Geschichte des 3D-Films (vgl. Wegener 2012, S. 26ff.). Zone (1996, S. 5) spricht im Zusammenhang der 1950er Welle sogar von einem „golden age of 3D motion pictures“ In Hollywood folgte mit Bwana Devil (USA 1952, R.: Oboler) der Durchbruch für 3D im Kino, obwohl die Kritiken z. T. vernichtend waren (vgl. Steinmetz 2011, S. 78). Kurz darauf folgte mit Man in the Dark (USA 1952, R.: Landers) die erste Studioproduktion und mit The House of Wax (USA 1953, R.: de Toth) der erste Farbfilm von Warner (vgl. Drößler 2008b, S. 46). Anders als bei Dial M for Murder (USA 1954, R.: Hitchcock) setzte Warner einen magnetischen Surround-Sound ein, Hitchcocks Film baute auf Farbnegative (vgl. Haines 1993, S. 73). Daran ist zu erkennen, dass in den 1950er Jahren eine hohe Experimentierfreudigkeit vorherrschte.5 Stereoskopie spielte neben Cinemascope und Cinerama eine gleichgroße Bedeutung hinsichtlich der Suche nach neuen Darstellungsformen:
„Anlässlich einer ernsthaften Besuchskrise der Lichtspielhäuser hat die Suche nach einer zusätzlichen objektiven Gegenwärtigkeit die Ausdehnung (Cinemascope, Cinerama) und die Verräumlichung (Stereoskopie) des Bildes erzielt. Diese beiden Techniken konstituieren zwei Realisationsaspekte des gleichen Strebens nach Emanzipation des Bildes vom Bildschirm, und deshalb haben sie sich zum gleichen Zeitpunkt geltend gemacht“ (Morin 1958, S. 159).
Genau genommen waren allerdings nur die Jahre 1953 und 1954 die Jahre, die durch eine hohe Dichte an stereoskopen Filmen herausstachen. So wurden in diesen beiden Jahren von 300 produzierten Filmen insgesamt 65 Filme in 3D gedreht (vgl. Jockenhövel 2014, S. 52). Grund hierfür waren die bis zu drei Mal höheren Produktionskosten gegenüber einem Standardfilm (vgl. ebd., S. 54). Die erwarteten Mehreinnahmen konnten nicht generiert werden, sodass das Interesse der Filmgesellschaften weiterhin in 3D zu produzieren abnahm (vgl. Drößler 2008b, S. 45ff.) und im April 1954 völlig zum Erliegen kam (vgl. Jockenhövel 2014, S. 52).
In den darauffolgenden Jahren konnte der 3D-Filmes keine bedeutenden Erfolge verbuchen. In den 1970er Jahren entdeckte die Porno- und Sexfilmindustrie den 3D-Effekt und nutzte vereinzelt „Effekte“ zur Aufwertung (vgl. Steinmetz 2011, S. 82). So konnte der Zuschauer im Film Paradisio (UK 1962, R.: Chace) die Fähigkeit des Protagonisten nachempfinden, der durch eine Spezialbrille ahnungslose Menschen nackt beobachtete (vgl. ebd.). Auch Coppola6 zeichnete sich für den 3D-Sexfilm The Bellboy and The Playgirls (USA 1962) verantwortlich (vgl. ebd.). Grund für das Aufkommen von 3D-Sexfilmen waren die günstigen Produktionskosten, die relativ schnell wieder eingespielt werden konnten. In den 70er Jahren nutzten Horror- und Science-Fiction-Filme den Effekt, um erfolgreich zu sein. Allerdings wurde das Publikum bald der billigen Effekte überdrüssig und so verebbte auch diese kurze Welle bald. Die erfolgreichsten Filme dieser Zeit sind Andy Warhols Frankenstein (ITA 1973, R.: Morrissey) und Und wieder ist Freitag der 13. (USA 1982, R.: Miner) (vgl. ebd.).
Zwischen den Jahren 1986 und 2008 wurde die 3D-Landschaft vorrangig von IMAX-Kinos geprägt. Die häufig in Vergnügungsparks vorzufindenden Lichtspielhäuser lieferten durch 70mm-Streifen auch auf sehr großen Leinwänden ein scharfes Bild. Zu sehen waren allerdings oft Landschafts- und Dokumentarfilme, im Vordergrund stand somit eher der Effekt als der Inhalt.7 Endgültig neu entflammt war das Interesse am 3D-Film durch den großen Erfolg des Dokumentarfilms Hannah Montana/Miley Cyrus: Best of Both Worlds Concert in 3D (USA 2008, R.: Hendricks), der in der ersten Woche mit nur 683 Kopien mehr Geld einspielte als alle anderen 3D-Filme jemals zuvor. Der große Durchbruch hinsichtlich des digitalen Kinos gelang schließlich James Cameron mit seinem achten Film Avatar - Aufbruch nach Pandora (USA), der 2009 in die Kinos kam und die dritte 3D-Welle auslöste (vgl. Steinmetz 2011, S. 83-92). Aus heutiger Sicht sehen kritische Stimmen das digitale 3D- Kino gescheitert: „[a]bgeflautes Zuschauerinteresse, verschenkte Möglichkeiten und eine nur noch geringe Anzahl tatsächlich in 3D gedrehter Filme haben die einstige Zukunft des Kinos zur tristen Gegenwart werden lassen“ (Burchardt 2017, S. 1). Zumindest haben sich die zwei größten Hersteller von 3D-Fernsehern, LG und Sony, aus dem Markt zurückgezogen (vgl. Berkemeyer 2017, o.S.). Für den Heimgebrauch scheinen 3D-Fähigkeiten also keinen Nutzen zu liefern und so scheiterte die Technik „eiskalt am Nutzer“ (Kahle 2017, o.S.). In seinem Artikel „Why I hate 3D movies“ liefert Roger Ebert folgende Kritikpunkte zum 3D-Film: Er sei zu teuer und ablenkend, produziere Kopfschmerzen, mache das Bild dunkler und füge der filmischen Erfahrung „nothing essential“ hinzu (Ebert 2010, o. S.). Unterstützung erhält Ebert von Murch (vgl. Ebert 2011, o.S.). Den vereinzelten kritischen Stimmen zur aktuellen 3D- Welle stehen jedoch die Befunde von Statista im Auftrag der Filmförderungsanstalt (FFA) gegenüber (Abbildung 1). Diese zeigen einen Zuwachs der Anzahl der Kinobesucher von 3D-Filmen in Deutschland. Während 2010 insgesamt 25,4 Millionen Zuschauer 3D-Filme besuchten, haben im Jahr 2016 31,3 Millionen Zuschauer 3D-Filme im Kino rezipiert (FFA 2017, o.S.).
Gründe zur Akzeptanz dieses Trends aus Zuschauersicht liefern Wegener, Jockenhövel und Gibbon, die im Jahr 2012 Studien zur Rezeption und Akzeptanz des 3D-Kinos veröffentlichten. Um den heutigen Stand des 3D-Films genauer zu beleuchten, wird im Folgenden darauf eingegangen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Studie FFA „Anzahl der Kinobesucher von 3D-Filmen“
In einer ersten Bestandsaufnahme zur Studie im Jahr 2009 sollten Zuschauer ihre bisherigen Erfahrungen mit der 3D-Technologie angeben. Zu diesem Zeitpunkt war nicht sicher, inwieweit die neue Technologie bei dem selbigen Widerhall findet (vgl. Wegener et al. 2012, S. 64). Ursachen dieser Skepsis waren die technischen Unzulänglichkeiten des 3D-Films sowie das schlechte Image von sogenannten B-Filmen8, die den stereoskopischen Effekt bis zum Jahr 2009 nur unzureichend anwendeten (vgl. ebd.). Die Ergebnisse der Studie zeigten allerdings auf, dass die Erwartungen nach einem stärkeren Eintauchen durch 3D erfüllt wurden. „Die Dreidimensionalität kommt dem Bedürfnis entgegen, die »reale« Welt des Kinoraums zu vergessen und in die Filmwelt einzutauchen, die Grenzen zwischen Film und »Wirklichkeit« aufzuheben.“ (ebd., S. 182, Hervorhebung im Original). Wie stark die Gegenstände aus der Leinwand heraustreten, d. h. die Stärke des stereoskopischen Effekts, spielt dabei keine Rolle. Außerdem äußerten sich die Zuschauer positiv gegenüber dem Tiefeneindruck der Bilder „und der damit einhergehenden Wahrnehmung des Raumes“ (ebd.). Daraus resultieren für sie drei Funktionen: das Entstehen eines quasi-haptischen Eindrucks, das Ordnen und Strukturieren von Nähe und Distanz zwischen Zuschauer und Filmereignissen sowie die Symbolik (wenn beispielsweise der Effekt als sinnlich- symbolisierendes Moment eingesetzt wird, um bestimmte Emotionen hervorzurufen) (vgl. ebd.).
2.3. Theorie und Technik des 3D-Films
Im Folgenden werden kurz die technischen Verfahren zur Darstellung der Stereoskopie im Film aufgezeigt. Zwar besitzen die Systeme keine Relevanz zur Beantwortung der Forschungsfrage, jedoch liefern diese eine wichtige theoretische Grundlage für den weiteren Verlauf der Untersuchung.
Um das Sehen von 3D-Inhalten zu ermöglichen wird die anatomische Beschaffenheit der Augen ausgenutzt. Diese haben bei den meisten Menschen einen Abstand von etwa 6,5 Zentimetern und nehmen dadurch denselben Sinnesreiz aus leicht versetztem Blickwinkel wahr. Im Gehirn verschmelzen diese Bilder zu einem räumlichen Abbild der Realität und ermöglichen die Wahrnehmung von binokularen Tiefeninformationen (vgl. Steinmetz 2011, S. 97). Das Anaglyphenverfahren als ältestes Verfahren9 setzt auf die „Ausschaltung“ eines Farbspektrums auf jeweils einem Auge. Hierfür wird mittels einer speziellen Brille vor dem linken Auge ein Grünfilter und vor dem rechten Auge ein Rotfilter gesetzt. Auf der Leinwand werden die Halbbilder getrennt und eingefärbt: das linke Halbbild grün und das Rechte rot. Da sich Rot und Grün komplementär zueinander verhalten, erscheint durch einen grünen Filter die Farbe Rot als weiß und umgekehrt. Der so entstehende räumliche Effekt zeigt allerdings Schwächen auf. Lediglich Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind mit dieser Technik stereoskopisch abbildbar. Nach dem Aufkommen von Farbfilmen verschwand diese Technik und wird im Kino heute kaum noch eingesetzt (vgl. Steinmetz 2011, S. 98ff).10
Die Schwächen des Anaglyphensystems führten zur Entwicklung des Polarisationsverfahrens in den 1920er Jahren (vgl. Jockenhövel/Wegener 2016, S. 243). Dieses Verfahren wird auch heute noch in Kinos eingesetzt, allerdings in veränderter Form und zudem digital. Das System basiert auf der Veränderung von Lichtwellen. Einem englischen Forscher gelang es mit Hilfe von Filtern, Lichtwellen zu polarisieren und somit in Richtungen zu lenken. Die vom Projektor ausgehenden Strahlen mussten nur noch zum Zuschauer zurückgeworfen werden. Das gelang mit einer Silberleinwand. Um den 3D-Effekt schlussendlich hervorzurufen verwendete man Polfilterbrillen, die nur noch die gewünschten Lichtwellen durchließen. Vorteil dieser Technologie ist das Nichtvorhandensein von Farbverlusten: farbige Filme waren möglich, mussten aber exakt im 90 Grad-Winkel zur Leinwand rezipiert werden sonst kam es zu sogenannten „Geisterbildern“. Außerdem flackerte das Bild zeitweilig, weil gelegentlich nur jedes zweite angezeigt wurde. Dank der heutigen digitalen Standards konnten diese Probleme beseitigt werden. Die Polfilterbrillen sind verbessert worden, sodass man den Kopf beliebig neigen kann und anstatt in mehreren Rollen kommen die Filme im digitalen DCP-Format.11 Aufgrund der Verwendung nur noch eines einzigen Projektors und der dreimaligen Bildwiederholung treten weder Synchronisationsprobleme noch „Geisterbilder“ auf. (vgl. Steinmetz 2011, S. 99ff.).
Die letzte Technik, die hier vorgestellt werden soll, ist die Shutter-Technik. Hierfür werden Flüssigkeitskristalle benutzt, die bei angelegtem Strom eine Lichtdurchlässigkeit der Brille ermöglichen. So wird abwechselnd ein Auge abgedunkelt. Mittels eines Infrarot-Signals, ausgehend vom Projektor, wird angezeigt, welches Halbbild gerade projiziert wird und ein 3D-Effekt entsteht. Vorteil dieser Technik ist, dass keine Silberleinwand erforderlich ist, sondern eine gewöhnliche, matte Leinwand ausreicht (vgl. Steinmetz 2011, S. 100ff.).
Aus heutiger Sicht hat sich in Kinos weitgehend die Polarisationstechnik der Firma „RealD“ durchgesetzt. Die Polfilter sind im Vergleich zur Entstehungszeit zirkular geschliffen, um eine Schräghaltung des Kopfes zu ermöglichen. Weitere 3D-Systeme am Markt sind aktuell „XPand 3D“ und „Dolby 3D“. Letzteres stellt ein ausgereiftes Anaglyphenverfahren und ersteres ein Shuttersystem dar (vgl. Jockenhövel/Wegener 2016, S. 246).
Der kurze Überblick zeigt deutlich, dass sich der Mensch fortwährend mit der Verbesserung stereoskopischer Technologien auseinandergesetzt hat, um ein besseres Eintauchen in den Film zu ermöglichen.12 Aus diesem Grund soll im Folgenden eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff „Immersion“ stattfinden.
2.4. „Voll im Film sein“ - Stand der Immersionsforschung
Die meisten Rezipienten kennen das Gefühl, wenn sie für die Dauer eines Films vergessen, was um sie herum passiert. Sie sind gewissermaßen in den Film eingetaucht und lenken ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Medieninhalt. Dieser passiv-involvierte Vorgang wird als Immersion bezeichnet.13 Zum Teil ist die Immersion so stark, dass der Rezipient die filmische
Realität in seine eigene Realität integriert. So liefen bei der Uraufführung eines Kurzfilms der Gebrüder Lumière Menschen schreiend aus dem Kino, weil sie dachten von einem herannahenden Zug erfasst zu werden (vgl. Agotai 2007, S. 65). Zwar hat sich die Sehkonvention und die Erwartungshaltung im Laufe der Zeit verändert, sodass der Effekt nicht mehr so frappant wie noch zur damaligen Zeit erscheint, jedoch kann durch Stereoskopie im Vergleich zum planen Bild ein stärkeres Immersionsgefühl erreicht werden. In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob dies tatsächlich der Fall ist. Aus diesem Grund ist es basal, den Begriff „Immersion“ zu präzisieren und die damit verbundenen Ebenen aufzuzeigen.
Der Immersion gehen drei Konstrukte voraus: das Sich-Einlassen, das Eintauchen und das Gefühl, körperlich im Film anwesend zu sein, d. h. Involvement, Immersion und Presence. Im Folgenden sollen die drei Konstrukte voneinander abgegrenzt und der Begriff Immersion genauer spezifiziert werden. Dabei ist zu bemerken, dass bezüglich dieser Konstrukte in der Forschungsliteratur über weite Strecken Uneinigkeit herrscht: „Immersion is undoubtly key to any understanding of the development of media, even though the concept appears somewhat opaque and contradictory“ (Grau 2003, S. 13). Somit treten häufig Überschneidungen auf, sodass aufgrund inkongruenter Akzentuierungen keine einheitliche Definition besteht. Nachfolgend wird der Begriff Immersion von dem Involvement und dem Präsenzerleben als Zwischenstufe abgegrenzt und das Verständnis, das den einzelnen Kategorien zugrunde liegt, eingeführt.
2.4.1. Involvement
Zum Involvement gibt es zahlreiche marketingtheoretische Definitionen.14 Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht kann unter diesem Begriff die Fähigkeit und Motivation verstanden werden, sich umfassend auf einen Medienstimulus einzulassen. Foscht und Swoboba beschreiben dieses Einlassen als „Ich-Beteiligung, das innere Engagement, mit dem sich ein Individuum einem Sachverhalt oder einer Aufgabe widmet“ (Foscht/Swoboba 2007: S. 122). Dabei „wird allgemein die Ansicht vertreten, dass Akzeptanz eines fiktionalen Medieninhalts bedeutet, dass sich der Rezipient während der Rezeption kognitiv und emotional auf das Gezeigte einlässt und sich (zumindest zeitweise) emotional und kognitiv innerhalb der medial vermittelten Welt bewegt“ (Böcking 2008, S. 82ff.). Insofern kann das Involvement als Vorstufe des Filmerlebens bezeichnet werden, da sich der Rezipient geringstenfalls vorübergehend vom Filmgeschehen mitreißen lässt. Somit kann der Involvement-Ansatz als Prämisse für die folgenden zwei Stufen, der Immersion und der Presence gesehen werden.
2.4.2. Immersion
Béla Balázs hat bereits 1938 den Kern des Immersionsgedankens zusammengefasst:
„Der Film hat dieses Prinzip der alten räumlichen Künste - die Distanz und die abgesonderte Geschlossenheit des Kunstwerkes - zerstört. Die bewegliche Kamera nimmt mein Auge, und damit mein Bewußtsein [sic], mit: mitten in das Bild, mitten in den Spielraum der Handlung hinein. Ich sehe nichts von außen. Ich sehe alles so, wie die handelnden Personen es sehen müssen. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung. Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit - obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe.“ (Balázs 1938, S. 215)
Immersion bedeutet demnach das Eintauchen in einen Film unter Ausblendung äußerer Umstände. Genauer bezeichnet Immersion die geistige Anwesenheit in einen Medieninhalt bei körperlicher Abwesenheit. Dabei können speziell austechnisierte Medien das Immersionsgefühl verstärken, wie z. B. Head-Mounted Displays15 (vgl. Biocca 1992, S. 25ff.). Zudem finden Persönlichkeitsmerkmale als „moderierende Variable Berücksichtigung, die den Einfluss unterschiedlicher Immersivitäts-Faktoren schwächen oder stärken“ (Mögerle 2006, S. 88). Dabei stellt die Immersion einen Zwischenzustand dar, da die Anwesenheit in einer virtuellen Umgebung nicht mit dem Gefühl, nicht im realen Raum zu sein gleichzusetzen ist (vgl. Biocca 1997, S. 12ff.). Die wichtigste Rolle spielt die Absorptionsfähigkeit des Rezipienten (vgl. Mögerle 2006, S. 87), die im Nachgang der kurzen Gegenüberstellung der drei Begriffe Involvement, Immersion und Presence genauer betrachtet wird.
2.4.3. Presence
„Was der 3D-Film uns näherbringt, ist das Bewusstsein nicht nur mit Bildern zu leben, sondern uns auch mit und in ihnen zu bewegen“ (Gotto 2016, S. 53).
Unter Presence, oder auch Spatial Presence bzw. Präsenzerleben soll im Folgenden ein Gefühl verstanden werden, vollkommen in einer virtuellen Welt anwesend zu sein (vgl. Wirth 2008, S. 159ff.). Dabei entsteht eine stark subjektive Sogkraft, die ausreicht, um einen Rezipienten vergessen zu lassen, dass er im Hier und Jetzt ist (vgl. ebd. S. 160). In Bezug darauf richten sich seine „Wahrnehmungen und Antizipationen, seine körperlichen und physiologischen Reaktionen, seine Gefühle und Gedanken und auch seine Handlungen [...] auf die mediatisierte Welt“ (ebd. S. 162). In der Folge wird unter Presence die Steigerung von Involvement und Immersion verstanden. Somit ist Presence das höchste Maß des Einfühlens in einen Medieninhalt.
2.5. Immersion nach Voss
Grundlage der nachfolgenden Unterteilung ist eine Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „montage AV“. Voss verknüpft die zuvor aufgeführten Forschungsrichtungen sinnvoll miteinander und schafft einen bis heute substanziierten Überblick zum Sachverhalt.
„Wenn wir dem fiktiven Filmgeschehen so weit folgen, dass ein Großteil unserer Aufmerksamkeit dabei absorbiert wird, kann man von Immersion in ein fiktionales Gebilde oder auch von fiktionaler Immersion sprechen“ (Voss 2008, S. 69). Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass andere Objekte die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, auch wenn sie keinen fiktionalen Bezug haben. Insofern wird nachfolgend eine terminologische Abgrenzung vorgenommen, denn die Absorption der Aufmerksamkeit ist keineswegs ein Privileg ästhetischer Erfahrungen (vgl. Voss 2008, S. 69). Voss (2008) nennt drei Ästhetikansätze, um den Immersionsbegriff zu beschreiben: die Einfühlungstheorie von Theodor Lipps (1903-1906), die modaltheoretische Konzeption von Marie-Laure Ryan (2001) sowie die Verbindung von Immersion mit dem Imaginären, wie sie Iser (1993) beschrieben hat. Als Mitbegründer der Rezeptions- und Erfahrungsästhetik ist der Ansatz von Iser besonders relevant für die Immersionsforschung, da er einen Zusammenhang zwischen fiktionalen Gebilden und imaginärem Einsatz des Rezipienten aufweist, auch bei außerliterarischen Medienästhetiken.
2.5.1. Die Einfühlungstheorie nach Lipps
Der erste Ansatz des Philosophen und Psychologen Theodor Lipps zielt auf die Empathie des Menschen ab. Mit seinem einfühlungstheoretischen Ansatz (1903 - 1906) meint Lipps die Einfühlung des Menschen in einen Gegenstand und dessen Belebung dadurch. Diese wird als „symbolischer Gehalt“ bezeichnet - Voss versteht dies synonym zur Immersion. Dabei beschränken sich Einfühlungen nicht auf den Kontakt zwischen zwei Personen, sondern auch Farben, Formen, Klänge etc. können eine Rolle spielen. Lipps unterscheidet in positive und negative Einfühlung. Während bei Ersterer die auf den Rezipienten einprasselnden Reize vom selbigen eher als entgegenkommend wahrgenommen werden, haben diejenigen Reize, die den eigenen affektiven Bedürfnissen widerstreben, einen negativen Charakter. Diese Einstufung hilft zu verstehen, warum einige Spielfilme den Zuschauer schlicht nicht erreichen. So kann dem Rezipienten trotz präzise gewählter filmischer Mittel und Techniken die offerierte Wirklichkeit in einem Spielfilm inadäquat erscheinen.
Lipps versteht unter ästhetischer Einfühlung die „kinästhetische Nachahmung eines optisch empfangenen Ausdrucks“ (Voss 2008, S. 73). Die damit verbundenen Sinnesempfindungen äußern sich durch mimisch gestische Ausdrücke. Die Kombination aus beidem, inneren Bewegungsempfindungen und mimisch-gestischen Ausdrücken, charakterisiert sich in der Einfühlung erlebnisartig (vgl. ebd.) und sind somit auch vom Rezipienten artikulierbar. Lipps selbst erhebt nicht den Anspruch, das Medium Film in seine Einfühlungstheorie einfließen zu lassen bzw. hat er den Vergleich zum Film nie gezogen, trotzdem erscheint der Vergleich als zweckdienlich, da sich mit ihm begründen lässt, wie Film und Zuschauer qualitativ verschmelzen können: durch die Ähnlichkeit von kinästhetisch wahrnehmbarer Erscheinung und der eigenständigen Lebendigkeit des Films (vgl. ebd.).
Eine Grenze der Einfühlungstheorie von Lipps ist, dass Reflexionsleistungen des Rezipienten automatisch zu einer Anti-Immersion führen. Sobald sich der Zuschauer über Film- und Zuschauerpositionen im Klaren wird, mildert sich das Immersionsgefühl. Folglich kann Immersion nur stattfinden, wenn Reflexion nicht stattfindet (vgl. Voss 2008, S. 74). Dieser Umstand ist nach Voss allerdings wenig pragmatisch. Die vollständige historische und raumzeitliche Annullierung wäre demnach der Preis für eine ästhetische Einlassung laut Lipps. Ohne reflexive Handlungen kämen keine Spannungsverläufe auf, denn antizipatives Verhalten und Schlussfolgerungen sind für jene substanziell und zweifelsfrei kognitiver Natur (vgl. Voss 2008, S. 75). Immersion, verstanden als Absorption, findet sich in zahlreichen alltäglichen Situationen wieder. So kann der Mensch Emotionen, Schmerz und künstlerische Darstellungen absorbieren. Es zeigt sich somit eine Indifferenz zwischen somatischen, affektiven oder kognitiven Aktivitäten. Lipps Ansatz scheint durch das völlige Entleeren des eigenen Ichs wenig praxistauglich. An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, institutionelle und pragmatische Dimensionen des (Film-) Ästhetischen in die Diskussion um die Immersion einzubeziehen (vgl. Voss 2008, S. 75ff.).
2.5.2. Fiktionale Immersion als Weltensprung
Marie-Laure Ryan sieht es in ihrem Ansatz als wesentlich, die Bereitschaft aufzubringen, „sich aus der perspektivischen Zentrierung innerhalb der realen Welt hinüber in eine andere zu versetzen“ (Voss 2008, S. 76). Der Begriff Raumkrümmung wird an dieser Stelle benutzt, wobei darunter nicht die Abkürzung in eine andere Raumzeit gemeint ist, sondern eher das Überstülpen einer fiktionalen Realität über den Rezipienten (Voss 2008, S. 76). Dadurch wird dieser dazu verleitet, die aktuell vorherrschende Realität als die eigene wahrzunehmen, es vollzieht sich ein Weltensprung. Diese Verschiebung wird von Ryan auch „Re-Zentrierung“ (Ryan 2001, S. 103) genannt. Der Unterschied zwischen dem zuvor genannten ästhetischen Ansatz liegt laut Ryan auf der pragmatischen Ebene: Die Hypothesen, die wir als Menschen aufstellen, basieren auf der Wahrnehmung der uns umgebenden faktischen Welt, wohingegen nicht-faktische Vorgänge „von außen“ in Augenschein genommen werden (Voss 2008, S. 77). Werden diese Gedanken auf die Immersion in einem Film übertragen, so kommt Ryan zu dem Schluss, dass der Rezipient trotz Vorhandensein einer nicht-faktischen Umgebung dem Filmgeschehen einen lebendigen Geist zuschreibt (Voss 2008, S. 77).16 So gibt der Zuschauer wider der aktuellen Realität lebendige Faktizität, sei die Handlung noch so abstrus oder „alienlastig“, wie Voss als Beispiel anbringt (Voss 2008, S. 77). Dem letzten Beispiel ableitend scheint es so, dass je mehr die nicht-faktische Umgebung der realen Umgebung entspricht, desto einfacher es der Rezipient hat, in eine andere Welt zu springen.
Unterdessen scheint es durch die Unmöglichkeit der Abstreifung unserer persönlichen Lebenserfahrungen und unserer Leiblichkeit schwer, sich vollständig in eine andere, fiktive Welt nach Ryan zu relokalisieren (vgl. Voss 2008, S. 79). In einer theoretischen Beschreibung der Immersion müsste aber auch dieser Umstand berücksichtigt werden (vgl. ebd.). Insofern fehlt es beiden vorhergehenden Ansätzen an einem weiteren Gedanken, der ein Nachlassen kinästhetischer Einfühlung auf der einen und der Wahl des perspektivischen Standorts auf der anderen Seite berücksichtigt (vgl. ebd.). Schließlich kann der Mensch nicht jede Ebene des Bewusstseinsnetzwerks simultan aktivieren (vgl. ebd.).
2.5.3. Immersion und das Imaginäre
Um die zwei gegenüberstehenden Begriffe „Realität“ und „Fiktion“ zu erweitern und deren Oppositionsverhältnis entgegenzuwirken, hat Iser 1983 den Begriff des „Imaginären“ hinzugefügt und meint damit die Vorstellbarkeit von etwas (vgl. Voss 2008, S. 80). Das Wesen des Imaginären nach Iser ähnelt einer Tabula rasa. Es kann immer wieder neu beschrieben werden und ist offen für „Prägungen medialer Vorgaben“ (vgl. ebd.). Der Rezipient leistet dabei, sei es Buch oder Film, stets die Arbeit des Konstrukteurs und ergänzt
Ausgelassenes durch eine imaginäre Gestalt (vgl. ebd.). Emotionen wirken bei diesem Vorgang hinein und reichern den Medieninhalt an. „Ästhetische Rezeption oszilliert daher zwischen einer im Vorstellen zu erbringenden Aktualisierung von Sinn und einer gleichzeitigen Irrealisierung der als realistisch wiedererkannten Momente der fiktionalen Darstellung“ (ebd., Hervorhebung im Original). Anders gesagt sorgt Fiktion für ein Irrealwerden des Realen und ein Realwerden des Imaginären bzw. ist „der eigentliche Auftrag des Fiktiven [...], das Reale mit dem Imaginären zu vermitteln“ (vgl. van Rossum 1992, S. 1). Laut Iser befinden wir uns beim Rezipieren von Literatur gleichzeitig bei uns und außer uns, er nennt diesen Zustand Ekstase, also das „gleichzeitige Festhalten und Heraustreten aus dem, was man ist“ (vgl. ebd.). Dieses Verhalten ist durch das Wesen des Menschen selbst bedingt, insofern er ekstatischer Natur ist. „Menschen sind also [...] jene merkwürdige Wesen, die sich dauernd schaffen müssen, ohne sich je zu erreichen“ (ebd.).
Bei der Zusammenfassung aller drei Ansätze bleibt die Erkenntnis, dass die ersten beiden Ansätze, also Lipps´ kinästhetische Nachahmung und Ryan´s modallogische Referenzwechsel, eher einseitig hervorgehoben werden und dass Iser´s Vorstellung vom Imaginären den anderen beiden ergänzend zur Seite gestellt werden kann, um den forschungstheoretischen Begriff Immersion abzugrenzen.
Die in Kapitel 2.2 erörterte Studie zur Akzeptanz und Rezeption des 3D-Kinos unterstützt die Annahme, dass die Rezeption der 3D-Version des vorliegenden Films zu noch stärkerem Immersionsgefühl führen könnte. 64,3 % der Befragten gaben an, dass eine dreidimensionale Aufbereitung eines Films für das Gefühl spricht, „stärker dabei zu sein“ (Wegener et al. 2012, S. 82). 58,8 % hielten 3D-Darstellungen sogar für realistischer und natürlicher (ebd.). Allerdings gaben nur 26,7 % der Befragten an, mit den handelnden Personen durch den 3D-Effekt besser mitfühlen zu können und nur 19,3 % meinten, sie können sich mit den Inhalten eher identifizieren (ebd., S. 83). Letztlich wirken filmische Innovationen auf das immersive Potential des Films, da Aufmerksamkeit durch eine Vervielfältigung visueller und auditiver Reize stärker gebunden wird und sich so das Präsenzerleben bei der Rezeption steigern kann (vgl. Wirth/Hofer 2008, S. 165).
3. Forschungsfrage und Formulierung der Hypothesen
Durch das höhere Immersionspotenzial beim Einsatz filmischer Innovationen wie z. B. der Stereoskopie ergeben sich Chancen, aber auch gleichermaßen Gefahren (vgl. Wirth/Hofer 2008, S. 165). Ziel der Arbeit ist es zu klären, inwiefern stereoskopische Effekte Auswirkungen auf den Rezipienten und dessen (Seh-)Verhalten haben. Untersucht werden soll die 3D- und 2D-Version des Films Love von Regisseur und Drehbuchautor Gaspar Noé aus dem Jahr 2015.
Mit seinem Film bedient Noé eher eine Nische der Filmgenres. Durch die Kombination von Pornografie und Drama verbunden mit stereoskopischer Technik ergibt sich ein für den Rezipienten eher ungewöhnlicher Film, den die meisten in dieser Form wohl eher selten gesehen haben dürften. Aus diesem Grund ist es besonders zielführend zu erfahren, wie der Rezipient die Kombination beider Genres wahrnimmt und darauf reagiert. Dabei sollen kognitive und emotionale Veränderungen des Rezipienten erforscht und abschließend Aussagen darüber getroffen werden, wie stark die stereoskopische Version im Vergleich zur monoskopischen Version des Films auf den Rezipienten wirkt.
Infolgedessen ist zu klären, ob der Einsatz der 3D-Technologie verstärkende oder schwächende Auswirkungen auf den emotionalen Zustand des Rezipienten besitzt. Folgende Forschungsfrage soll dabei beantwortet werden:
Welche kognitiven und emotionalen Unterschiede ergeben sich bei der Rezeption der 3D-Version des Films Love im Vergleich zur 2D-Version?
Um diesen Vergleich empirisch zu validieren, wird eine Methodenkombination aus Filmanalyse, Eyetracking-Experiment und Befragung durchgeführt. Insgesamt nahmen17 Probanden am Experiment teil, davon sahen 9 Teilnehmer die stereoskopische und 8 Teilnehmer die monoskopische Version des Films Love . Aus der Forschungsfrage ergeben sich weitere Hypothesen, die im Verlauf dieser Arbeit untersucht werden sollen:
H1: Durch die Rezeption der 3D-Version des Films werden emotionale und kognitive Reize, wie zum Beispiel die emotionale Teilhabe und das Realitätsempfinden verstärkt wahrgenommen.
H2: Die Immersion ist in der 3D-Version stärker als bei der 2D-Version.
H3: Das Augenmerk des Rezipienten liegt durch den Einsatz von Stereoskopie in der 3D-Version auf andere Bildbereiche als in der 2D-Version.
H4: Je höher die Immersion bei der 3D-Version des Films Love ist, desto sinnlich anregender empfindet der Rezipient die erotischen Szenen.
Die Hypothesen dienen dazu, die Forschungsfrage zu konkretisieren, um im Verlauf des Forschungsprozesses gezielt auf einzelne Aspekte eingehen zu können und dadurch Resultate zu erhalten, die zu einer erkenntnisorientierten Auswertung führen.
4. Methoden
Im folgenden Kapitel sollen die drei Methoden vorgestellt werden, die in der vorliegenden Arbeit zum Einsatz kommen. Grundlage für die Beantwortung der Hypothesen ist eine Methodenkombination aus experimentellem Forschungsdesign, Befragung und Filmanalyse. In ersterem soll mittels Eyetracking-Experiment untersucht werden, in welche Bildquader der Proband bei der Rezeption des Films Love von Gaspar Noé seine Augen richtet. Das Messen der Blickverlaufsdaten lässt allgemeine Rückschlüsse auf die „Verteilung [und] Tiefe kognitiver Verarbeitungsleistungen zu“ (Geise 2011, S. 192). Um einen Vergleich herstellen zu können, wird einer zweiten Gruppe zur Kontrolle derselbe Film in monoskopischer statt stereoskopischer Form zur Rezeption vorgelegt. Beide Gruppen schauen dabei zwei ausgewählte Sequenzen, die vorher in der Filmanalyse herausgearbeitet wurden. Im Anschluss an das Experiment erfolgt eine Befragung, um die auf den Rezipienten einwirkenden Gefühlsveränderungen festzuhalten. Eine Befragung ist erforderlich, denn „zu wissen, was Rezipienten wann anschauen, heißt noch lange nicht, auch zu wissen, was sie sehen“ (Bucher und Schuhmacher 2012, S. 10). Insofern bedarf es zusätzlicher Verfahren, um Interpretationslücken beim Eyetracking-Experiment zu schließen. Deshalb sind Angaben in Fragebögen, Begriffsnetzwerke oder mündliche Protokolldaten „wichtige Ergänzungen zu den Blickdaten, da sie diese vielfach erst verständlich machen“ (ebd.). Neben der Methode Fragebogen nennen Bucher und Schuhmacher zudem die Methode des lauten Denkens, Wissenstest, Interviews und Nacherzählungen als Ergänzungen zum Eyetracking-Verfahren (vgl. ebd.). Die Blickverlaufsmessung hat erst in Kombination „mit anderen Methoden der Kommunikationsforschung hohes Aufklärungspotenzial“ (Geise 2011, S. 153). Der anschließende Ergebnisvergleich beider Filmrezeptionen soll Wirkungsunterschiede zwischen der 2D- und 3D-Version des Films aufzeigen.
4.1. Filmanalyse
Im Folgenden wird der zu untersuchende Autorenfilm 17 L ove (2015) von Gaspar Noé vorgestellt (s. Anhang I). Nach einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung folgt eine Betrachtung aus filmanalytischer Sicht. Diese dient dem Zweck, Sequenzen des Films herauszuarbeiten und einzelne dieser genauer zu betrachten, um stereoskopische Besonderheiten zu identifizieren. Aus forschungsökonomischen Gründen wurde auf eine vollständige Filmanalyse verzichtet.
4.1.1. Inhaltsangabe und Filmstilistik
Der Film eröffnet mit einer langen Einstellung (164 Sekunden) in leichter Aufsicht und sexuellem Inhalt. Die Protagonisten des Films, Electra und Murphy, liegen nackt auf einem Bett und befriedigen sich gegenseitig. Zunächst scheint es in Love nur um Sex zu gehen. Nicht verwunderlich, denn der Regisseur Gaspar Noé ist bekannt für seine exaltierten Filme. In seinem Film Irréversible (2002) zum Beispiel lässt er minutenlang einen Mann auf brutalste Art und Weise auf einen anderen Mann einschlagen - zu viel für die meisten Zuschauer; etwa 200 Menschen verließen bei der Premiere den Kinosaal (Lühmann 2015, S. 1). Über einen weiteren Film Noé´s, Enter the Void aus dem Jahr 2009, titelte „Der Spiegel“ damals: „Ein alptraumhafter, visuell faszinierender Drogentrip“ (Borcholte 2010, S. 1). Auch Love erscheint nach der ersten Einstellung unerhört explizit zu sein, doch orientiert sich der Film vielmehr an der Filmästhetik erotischer Filme aus den 1970er Jahren und spinnt um die Sexszenen ein nahes und intensives Liebesdrama. Murphy, ein amerikanischer Filmstudent in Paris, wacht wenig elanvoll und aus dem Off fluchend neben seiner jungen Frau Omi auf. Im Nebenzimmer ihr kleiner, gemeinsamer Sohn. Es klingelt das Telefon und die Mutter von Electra, seiner ersten großen Liebe, ist am Telefon, die ihm gegenüber Sorge ausdrückt. Electra sei verschwunden und Murphy möge helfen, sie zu finden. Folgend erzählt der Film in mehreren Rückblenden aus der Ich-Perspektive Murphy´s die Geschichte einer gescheiterten Liebe zwischen den beiden Protagonisten, die immer wieder mit ausgedehnten Sexszenen untermauert wird. Im Verlauf der Handlung lernen Electra und Murphy die junge Frau Omi kennen, die zum Ankerpunkt der gescheiterten Liebe zwischen Electra und Murphy wird. Nach zunächst allerseitigem Einvernehmen haben die drei miteinander Sexualverkehr. Murphy jedoch, ein junger Mann mit egoistischen und triebgesteuerten Motiven, trifft sich erneut mit Omi ohne des Wissens Electra´s. Aus dieser verhängnisvollen Affäre entsteht aufgrund eines geplatzten Kondoms ein Kind und Omi und Murphy leben fortan miteinander. Der Anruf von Electra´s Mutter in der Gegenwart löst in Murphy den Reiz aus, sich an die frühere Beziehung mit Electra zu erinnern, die er um einiges wertvoller wahrnahm als die aktuelle. Der Rezipient erfährt dies durch begleitende Monologe Murphy´s aus dem Off, in denen er sich teils scheltend über seine aktuelle Situation beschwert. Auffällig ist die verschachtelte Erzählweise. Gaspar Noé changiert dabei zwischen Gegenwart und Vergangenheit und bezieht dabei alle Phasen einer Beziehung mit ein, inklusive ausgedehnte Streite und friedvolle Eintracht. Die Ästhetik der sexuellen Szenen aber auch der darin verwobene Umgang mit liebesbezogenen Themen erinnert dabei an Filme der 1970er Jahre, wie z. B. Bernardo Bertolucci´s Der letzte Tango in Paris (ITA, 1972), Lina Wertmüller´s Hingerissen von einem ungewöhnlichen Schicksal im azurblauen Meer im August (ITA, 1974), Liliana Cavani´s Der Nachtportier (ITA, 1974), Pier Paolo Pasolini´s Erotische Geschichten aus 1001 Nacht (ITA, 1974), Nagisa Oshima´s Im Reich der Sinne (JAP, 1976) aber auch die Nähe zu Patrice Chéreau´s Intimacy (FRA, 2001) ist erkennbar. Die Anlehnung an eben genannte Filme findet sich bei der Analyse der Körper im Film Love wieder. Die Körper sind im Vergleich zu amerikanischen Mainstream-Pendants nicht stilisiert, sie streben entgegen westlichen Idealen. So verbleibt die Schambehaarung keinesfalls aus Gründen der Zensur am Körper, sondern stellt vielmehr eine Verweigerung solcher Ideale dar. Bestärkt wird dieser Eindruck durch narrative Ähnlichkeiten, die Hauptfigur ist ebenfalls ein Amerikaner in Paris, genau wie Marlon Brando in Der letzte Tango in Paris.
4.1.2. Filmanalytische Ansätze
„Der Film, eingesetzt als visuelles Untersuchungsmodell, ermöglicht die Analyse von Gestaltungsmitteln, mit denen Raumwirkungen bewusst erzeugt werden. Durch deren gezielten Einsatz aktiviert der Regisseur die Imagination und die Emotion des Zuschauers - einen Prozess, der neben weiteren filmgestalterischen Aspekten inhaltlich und formal auch auf räumlicher Ebene abläuft.“ - Agotai 2007, S. 15
Die Filmanalyse ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Medium Film, um ihn objektiv nach einzelnen Merkmalen zu untersuchen. Für Korte grenzt sich die Filmanalyse dabei bewusst von der Filmrezension ab, indem neben einem „(film)historischen, psychologischen [und] soziologischen Erkenntnisinteresse“ auch immer noch andere Aspekte wie Kontext und die Darstellung von Handlung und Inhalt für die Analyse eine Rolle spielen (Korte 2010, S. 33). Korte betont gleichzeitig aber, dass reine Objektivität bei dieser Methode nicht erreicht werden kann, da der Forscher zugleich auch Rezipient ist. Vielmehr sei es das Ziel, „schrittweise zu argumentativ nachvollziehbaren Aussagen zu gelangen“ (ebd.). Wichtiges Instrument der Filmanalyse ist deshalb das Sequenzprotokoll, das formal-inhaltliche Aspekte des zu untersuchenden Films in sich vereint (vgl. Korte 2010, S. 33 ff.; Hickethier 2012, S. 36 ff.). Das Sequenzprotokoll „erfasst den gesamten Film in seiner Zusammensetzung aus einzelnen Sequenzen“ (Hickethier 2012, S. 37). Eine Sequenz ist dabei „eine Handlungseinheit [...], die zumeist mehrere Einstellungen umfasst und sich durch ein Handlungskontinuum von anderen Handlungseinheiten unterscheidet“ (Hickethier 2012, S. 37). Eine Handlungseinheit kann ein Ortswechsel, ein Wechsel der Figuren oder ein „Wechsel der erzählten Zeit bzw. der Erzählzeit“ sein (Hickethier 2012, S. 37).
Der vorliegende Film wurde unter Berücksichtigung des letztgenannten Punktes eingeteilt und visuell analysiert. So ergeben sich aufgrund der Erzählzeit logische Sinneinheiten. In dem Sequenzprotokoll wurden die Kategorien Beginn, Dauer, Handlung, auftretende Personen und gestalterische/stereoskopische Besonderheiten festgehalten (s. Anhang III).18 Zur näheren Analyse schlägt Korte das Einstellungsprotokoll vor (Korte 2010, S. 52). Dabei werden für jede Einstellung der jeweils zu untersuchenden Sequenzen detailliert alle wichtigen Informationen tabellarisch festgehalten (vgl. ebd.). Außerdem können die Untersuchungsmerkmale so festgelegt werden, dass sie zur Beantwortung der Forschungsfrage dienen (vgl. ebd.). Im Zuge der vorliegenden Arbeit wurden im Einstellungsprotokoll Timecode/Dauer, Ort/Zeit, Einstellungsgröße, Bildinhalt/Komposition, Perspektive/Bewegung, stereoskopische Merkmale, Beschreibung und Sonstiges festgehalten (s. Anhang IV). Mit Hilfe dieser Einteilung lassen sich genaue Angaben über den formalen Aufbau des Films machen.19 Der Fokus in der Filmanalyse in dieser Arbeit liegt auf dem Visuellen.
4.1.3. Auswahl der Sequenzen
Nachfolgend werden die zwei zur Analyse ausgewählten Sequenzen kurz beschrieben und visuell analysiert. Dabei soll durch die Betrachtung filmischer Mittel (Einstellungsgröße, Kameraperspektive, Narration) deutlich werden, wie eine räumliche und immersive Wirkung erzielt werden kann. Der Einbezug von erotischen Szenen in den methodischen Verlauf dieser Arbeit erscheint durchaus sinnvoll, allerdings sollten sie beim Eyetracking-Experiment nicht alleinstehend betrachtet werden, schließlich war es Noé´s Intention einen Film zu produzieren, der zeigt, „was es bedeutet, abhängig zu sein von der Liebe“ (Lühmann 2015, pp. 1). Es erscheint sinnvoll, längere Sequenzen zur Analyse auszuwählen, sodass sich der Proband in die Stimmung des Films einfühlen kann und den Film nicht fälschlicherweise als reine Pornografie wahrnimmt.20 Die Sequenzen Nummer 6 und Nummer 10 sind erzählerisch sowie visuell zur Bearbeitung der Hypothesen geeignet. In der sechsten Sequenz lernen Murphy und Electra Omi kennen. Der Proband steht inhaltlich also an demselben Punkt wie Murphy und Electra: Omi ist eine noch fremde Person. Dies ermöglicht einen leichten Einstieg in den Plot - das Einfühlen in den Film wird ermöglicht. Die zehnte Sequenz hingegen zeichnet sich durch den Konsum von psychoaktiven Drogen aus und geht mit stereoskopischen Besonderheiten einher. Insofern bildet die zehnte Sequenz einen gewünschten visuellen Kontrast zur sechsten. Dabei sei erwähnt, dass die Zugehörigkeit Loves zur dritten 3D-Welle dazu führt, dass der Regisseur sich nicht nur auf das Zufliegen von Gegenständen, sogenannten 3D-„Effekten“, bezieht sondern vielmehr einen 3D-Raum erschaffen will, der den Zuschauer in die Geschichte einbeziehen soll. In dieser soll die Stereoskopie nicht als formaler „Effekt“ missbraucht sondern vielmehr immersiv unterstützend eingesetzt werden (Steinmetz 2011, S. 36).
4.1.4. Sequenzanalysen
4.1.4.1. Sequenz „Kennenlernen von Omi“
Die sechste Sequenz des Films erzählt vom Kennenlernen mit Omi, die als neue Nachbarin von Murphy und Electra auftritt. In der Sequenz zuvor äußerten sich Murphy und Electra über ihren Wunsch zusammen mit einer dritten Person, einer blonden Frau, zu schlafen.
Murphy und Electra treffen Omi das erste Mal am Briefkasten und tauschen sich rudimentär aus. In einer nachfolgenden Totalen sitzen Murphy und Electra am Fenster, Murphy lesend (s. Anhang IV, EP 1, Bild Nr. 4). Im Hintergrund ist Omi zu sehen, wie sie am Fenster steht und raucht. Bei der Rezeption der 3D-Version fällt die hohe Räumlichkeit der im Raum verteilten Gegenstände auf. Durch die Verteilung von Gegenständen und Personen in Vorder- Mittel- und Hintergrund ist das Bild in mehrere Tiefenebenen gestaffelt. Hinzu kommt, dass die Sprechachse vom Mittel- in den Hintergrund verläuft und insgesamt ein starkes, raumillusorisches Gefühl entsteht.
Bei einem gemeinsamen Essen lernt das Paar Omi näher kennen (s. Anhang IV, EP 1, Bild Nr. 6). Alle drei Personen befinden sich in dieser halbnahen Einstellung auf einer Bildebene. Sie treten somit als gleichgestellte Handlungspartner auf, wobei Omi in der Mitte des Bildes ist. Die Stereoskopie findet in dieser Einstellung nur wenig Einsatz, sie wird zur narrativen Unterstützung eingesetzt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: „Love“ EP 1, Bild Nr. 4, 00:30:36
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: „Love“ EP 1, Bild Nr. 7, 00:32:48
Anschließend gehen die drei Charaktere gemeinsam tanzen (s. Anhang IV EP 1, Bild Nr. 7). In einer Halbnahen ist Omi ebenfalls im Mittelpunkt des Geschehens, obwohl sie in der Raumtiefe eine Ebne hinter Electra und Murphy steht. Das stroboskopartige Wechseln des Keylights von links nach rechts auf Omi verstärkt diesen Eindruck, besonders in der 3D-Version entsteht durch die Lichtstimmung ein plastischer Eindruck. Währenddessen tanzen Electra und Murphy im Vordergrund miteinander.
Nach dem Diskobesuch rauchen sie im Bett eine Marihuanazigarette. Der Abend führt zum Geschlechtsverkehr aller drei untereinander.
Auffällig in dieser Sequenz sind die langen, statischen Einstellungen. In keiner Einstellung wird die Kamera bewegt sondern ist immer nur an einem Standpunkt positioniert. Dabei verlieren die Einstellungen trotz ihrer Laszivität nicht an ästhetischem Anmut.21 Noé reagiert mit diesen Montage-Methoden auf die aktuelle Entwicklung, den 3D-Film in seiner Wahrnehmungs-Illusion nicht zu zerstören (vgl. Steinmetz 2011, S. 36). Insofern brauche der stereoskopische Film „einen anderen Rhythmus, eine andere Erzählweise, einen langsameren Schnitt22 und mehr Raum“ (Hagemann 2010, S. 62).
4.1.4.2. Sequenz „Streit und Versöhnung“
Die Sequenz beginnt mit einer ikonografischen Anlehnung an den Film Enter the Void, bei dem der Protagonist von hinten in einer Nahen zu sehen ist und nach vorne agiert. Durch das Nichtvorhandensein eines Gesichts im Bild, in das der Rezipient schauen kann, blickt dieser verstärkt auf die umliegenden Gegenstände, die in dieser Einstellung speziell in 3D sehr räumlich wirken. Im Gegensatz dazu sind in der darauffolgenden Einstellung alle Gesichter der handelnden Personen zu sehen, teilweise im Spiegel. In dem Dreier-Ensemble aus Electra, Murphy und Electra´s Mutter erscheinen Murphy und Electra im Spiegel und die Mutter nicht. Trotzdem sind die Blickrichtungen aller Personen in Richtung der Kamera gewandt. Das Einsetzen eines Spiegels in dieser nahen Einstellung eröffnet bei der stereoskopischen Variante des Films eine neue Tiefenebene und schafft eine gewisse Distanz zwischen Murphy und Electra zu ihrer Mutter (Hickethier 2012, S. 46ff.), die bei der 2D-Version weniger stark zum Ausdruck kommt (s. Anhang IV, EP 2, Bild Nr. 2). Daran anschließend wird diese Situation wieder aufgehoben durch die Rückansicht auf Murphy, dessen Gesicht erneut nicht zu sehen ist, dafür aber das von Electra und Electra´s Mutter (s. Anhang IV, EP 2, Bild Nr. 3). Der Spiegel verliert in dieser Einstellung seine raumöffnende Funktion wieder.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: „Love“ EP 2, Bild Nr. 2, 01:13:09
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: „Love“ EP 2, Bild Nr. 13, 01:18:07
Besonders auffällig ist der Einsatz flacher Schärfe, die immer wieder ein Gefühl der Räumlichkeit bei dem Rezipienten hervorruft und handelnde Personen (z. B. Murphy und Electra in Bild Nr. 5) oder wichtige Gegenstände (z. B. die CD-Hülle in EP 2, Bild Nr. 4) in den Mittelpunkt rückt.
Im weiteren Verlauf der Sequenz wird der Konsum von Ayahuasca23 thematisiert. Murphy und Electra entschließen sich, Ayahuasca zu konsumieren. Das Einsetzen der Wirkung der Droge wird einerseits narrativ durch das Erbrechen Murphys signalisiert, andererseits visuell durch eine wechselnde Farbstimmung (s. Anhang IV, EP 2, Bild Nr. 11). Einher geht dieser visionäre Zustand mit einem Zwischenschnitt auf eine Ejakulation, dargestellt aus der Innensicht einer Vagina (s. Anhang IV, EP 2, Bild Nr. 12). Die weiße Farbigkeit des Ejakulats wird gleichzeitig als Weißblende zu Bild Nummer 13 benutzt. In dieser Großaufnahme auf den glühenden Draht einer Glühbirne ist eine hohe negative Parallaxe zu verorten. Die leichte Rückfahrt von einer Großaufnahme in eine Nahaufnahme, begleitet durch stroboskopartiges, flackerndes Licht, eröffnet einen Blick auf ein kaleidoskopartiges Gebilde, das den Rauschzustand des Protagonisten widerspiegelt. Noé scheint sich mit dieser Einstellung auf populäre Unterhaltungsformen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beziehen, in der die kaleidoskopische Wahrnehmung auf Jahrmärkten einen deliriösen, kinetischen und immersiven Zustand hervorrief (vgl. Bukatman 2016, S. 39). Durch die auftretende negative Parallaxe in der 3D-Variante des Films ist diese Darstellung geeignet, einen immersiveren Zugriff auf den Rezipienten zu ermöglichen als es in der 2D-Version machbar ist.
23 Ayahuasca oder „Yage“ ist eine bewusstseinsverändernde Droge, die bei Einnahme eine subjektive Erweiterung des Bewusstseins und Visionen hervorruft.
Nach dem Drogenrausch befinden sich Murphy und Electra auf einer Feier, in dessen Verlauf Murphy Electra mit einer fremden Frau betrügt. Besonders auffällig sind die verschiedenen Farbstimmungen am Handlungsort der Feier. Das Keylight wechselt von Rot auf Grün, als Murphy und die fremde Frau die Toilette betreten um Sex zu haben (s. Anhang IV, EP 2, Bild Nr. 18). Rot gilt assoziativ als Farbe der Liebe und Erotik (vgl. Riedel 1990, S. 17ff.), während das in der Toiletten-Szene vorhandene, gelbstichige Grün vorwiegend für das „Giftige“ und für „triebhaft-hektisches Wachstum“ steht (ebd., S. 102). Der Wechsel von Rot auf Grün erweist in dieser Szene einen symbolischen Charakter. Murphy entscheidet sich bewusst gegen seine derzeitige Freundin und vollzieht den sexuellen Akt mit einer fremden Frau. Sex steht für die meisten als höchstes Gut in einer Partnerschaft. Es scheint paradox, dass Murphy, aus rotem Licht und somit der Liebe kommend, mit einer fremden Frau Sex hat. Die grüne Farbigkeit unterstreicht somit die egoistischen und triebgesteuerten Züge Murphy´s.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: „Love“ EP 2, Bild Nr. 22, 01:23:45
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: „Love“ EP 2, Bild Nr. 27, 01:26:25
Electra bemerkt, dass Murphy ihr fremdgegangen ist, ein Streit beginnt im Taxi auf der Heimfahrt. Durch die hohe Tiefenschärfe wird die Räumlichkeit des Taxis unterstützt und vergrößert den beengten Raum visuell (s. Anhang IV, EP 2, Bild Nr. 22). Das wiederum mindert die narrativ klaustrophobische Stimmung im Streit zwischen Electra und Murphy. Das streitende Paar steht in dieser nahen Einstellung klar im Mittelpunkt. Durch das Eintreten einer negativen Parallaxe der Autokarosserie wirkt der umgebende Raum größer und mindert so ebenfalls die klaustrophobische Stimmung. Insofern könnte die Stereoskopie in dieser Szene das Immersionsgefühl beeinträchtigen.
Diese Sequenz markiert den Beginn der Veränderung der Beziehung beider Protagonisten. Nach dem heftigen Streit im Taxi scheint die Beziehung bereits gescheitert. Die darauffolgenden Sexszenen spiegeln die starken sexuellen Energien wieder, die sich aus dem Streit ergeben haben und werden deutlich und eindrucksvoll umgesetzt. Auffällig sind distanzierte Einstellungen, die entweder halbtotal, total oder halbnah sind. Der Zuschauer nimmt somit ebenfalls eine distanzierte Position ein, ganz im Gegenteil zur vorhergehenden Szene, dem Streit im Auto. Außerdem fällt auf, dass Murphy den dominanten Part beim Sexualverkehr übernimmt. In den sexbezogenen Einstellungen dieser Szenen wird ebenfalls in einer halbnahen Einstellung mit einem Spiegel gearbeitet und unterstützt beim Rezipienten ein Gefühl der besonderen Zuneigung (s. Anhang IV, EP 2, Bild Nr. 27) (Hickethier 2012, S. 46ff.), das durch den Einsatz von Stereoskopie verstärkt wird (s. Anhang IV, EP 2, Bild Nr. 27). Die Sequenz endet mit einer sehr drastischen, zentralperspektivischen Detailaufnahme eines Penis, der in Richtung der Kamera ejakuliert. Im Vergleich zur 2D-Version weist diese Einstellung eine starke negative Parallaxe auf, die dem Rezipienten förmlich ins Gesicht zu fliegen scheint.
[...]
1 Der Begriff „Stereoskopie“ hat seinen Ursprung in physiologischen Untersuchungen aus dem 19. Jahrhundert. Der Begriff 3D-Film hat sich durchgesetzt, „um einen populäreren Terminus zu nutzen“ (Jockenhövel 2014, S. 11).
2 Zur genaueren Erläuterung der 3D-Techniken siehe Kapitel 2.3.
3 Zur genaueren Begriffserklärung siehe Kapitel 2.4.
4 Zur genaueren Erklärung dieses Verfahrens siehe Kapitel 2.3.
5 Die in Konkurrenz zueinander stehenden Filmstudios entwickelten eigene 3D-Systeme, wie z. B. MetroVision (MGM), ParaVision (Paramount), Natural Vision (Warner Bros.), Columbia 3-D (Columbia), Steresocopic Clear Vision (Fox) oder Stereo Cine (Realart) (vgl. Jockenhövel/Wegener 2016, S. 244).
6 Coppola sollte später noch weltbekannte Filme drehen, darunter z. B. Apocalypse Now und die Der Pate- Trilogie.
7 Seit 2001 wurden viele der IMAX-Kinos geschlossen, heute existieren nur noch vier (vgl. IMAX 2017). Dass IMAX-Kinos bis heute keine große Verbreitung erleben, liegt z. T. an der digitalen Wende im Jahr 2002. Diese technische Wende verringerte das Risiko von Synchronisationsfehlern zwischen zwei Filmstreifen und vereinfachte ein Aufkommen neuer 3D-Produktionen.
8 B-Filme oder auch B-Movies sind zweitklassige Filme mit meist geringem Filmbudget und niedrigem künstlerischen Anspruch.
9 Das Anaglyphensystem wurde 1891 patentiert und 1901 erstmals für eine Filmvorführung verwendet (Jockenhövel/Wegener 2016, S. 243).
10 Ausnahme bildet das sogenannte „Dolby 3D“-Verfahren, das im Grunde ein perfektioniertes Anaglyphenverfahren darstellt (vgl. Jockenhöve/Wegener 2016, S. 246). Vorteil ist, dass im Kino keine kostenintensiven Silberleinwände verwendet werden müssen.
11 Das Digital Cinema Package-Format (kurz: DCP-Format) ist ein im Zuge des digitalen Wandels eingeführtes Format der sechs großen Filmstudios Hollywoods (vgl. Steinmetz 2011, S. 84ff.). Auf dem festplattenähnlichen Datenträger liegen die Ton- und Bilddaten der Filmkopie in einem speziellen Format vor. Das DCP-Format hat sich weltweit als Standard im digitalen Kino durchgesetzt (Waltenberger 2013, o.S.).
12 Grasnick setzt sich in seiner 2016 erschienen Monographie „3D ohne 3D-Brille“ mit den Grundlagen zur Entwicklung und Nutzung autostereoskopischer Systeme, also Rezeptionsmöglichkeiten von 3D-Inhalten mit minimal-invasiven Methoden, auseinander.
13 Der Immersion entgegen steht das Engagement-Konzept. Aktiviert der Medieninhalt wenig Modelle, wird die vom Medieninhalt ausgehende Umgebung nicht hinterfragt und ein immersiver, passiv-involvierter Modus entsteht. Umgekehrt entsteht ein aktiv-analytischer Modus und kritisches Denken wird ausgelöst (vgl. Pietschmann 2015, S. 26). Aufgrund der eher computergestützten Denkweise auf dieses Konzept und der Irrelevanz gegenüber dem Forschungsinteresse dieser Arbeit wird Engagement nicht weiter besprochen.
14 siehe Hohl und Naskrent (2009): Involvement: Forschungsstand und Neukonzeption
15 Unter Head-Mounted Displays versteht man am Kopf befestigte Bildschirme, die Bilder auf einen augennahen Bildschirm anzeigen oder sie direkt auf die Netzhaut projizieren.
16 Diese „Ich weiß, aber dennoch“-Ästhetik wurde von dem französischen Psychoanalytiker Octave Mannoni in einem Text mit gleichem Titel 1964 hinreichend beschrieben und fand in der Filmtheorie Verbreitung. Diese Ästhetik dient laut Robert Pfaller (2002) auch dazu, sich sozusagen Lizenzen für den Konsum von erotischen, fiktiven oder verächtlichen Inhalten zu verschaffen, da der Anspruch des Ich-Ideals psychologisch gesehen unterlaufen wird.
17 Bei einem Autorenfilm übernimmt eine einzelne Person sämtliche künstlerische Aufgaben des Films wie z. B. Regie, Drehbuch und Schnitt. In Love übernahm Gaspar Noé diese drei Aufgaben und zusätzlich noch eine kleine Rolle als Galeriebesitzer Noe (IMDb 2015, o.S.).
18 Die von Hickethier vorgeschlagene Kategorie „Handlungsort“ (ebd.) wurde aufgrund der langen Sequenzen und den damit oft wechselnden, aber letztendlich gleichbleibenden Handlungsorten nicht berücksichtigt.
19 Dabei wird die auditive Ebene nicht protokolliert, da sie für das Eyetracking-Experiment nicht von Bedeutung ist.
20 An dieser Stelle sei erwähnt, dass es selbstredend für eine Analyse immersiver Zusammenhänge zu einem Film besser wäre, würde man den gesamten Film zeigen. Aus forschungsökonomischen Gründen wurde darauf verzichtet, jedem Probanden den gesamten Film zu zeigen und so mussten Sequenzen zur Vorlage ausgewählt werden.
21 Markant sind hier die auf dem Kopf stehenden Bilder. In Love greift Noé gerade in erotischen Szenen immer wieder zu solchen Shots.
22 Nichtsdestotrotz fallen die langsamen Schnitte im Film Love sehr auf und man mag aus wissenschaftlicher Sicht argumentieren, dass die langen Schwarzblenden Noé´s zu einer Negierung der Medialität des Films führen sollen. Durch sein umfassendes Œuvre könnte man behaupten, dass Noé immer wieder daran interessiert ist, das Medium Film neu anzulegen. Seine Filme Irréversible und Enter the Void haben einen psychosensuellen Charakter und so arbeitet er mit allen denkbaren Mitteln, um seinen Filmen einen radikalen Charakter zu verleihen. Letztendlich lässt sich nicht sagen, ob er die Bilder bewusst so stark voneinander trennt oder ob dies dem einfacheren Schnitt des (stereoskopischen) Films zu schulden ist. Das Vorhandensein von unsichtbaren Schnitten allerdings ist ein Indiz dafür, dass ersteres zutrifft.
23Ayahuasca oder „Yage“ ist eine bewusstseinsverändernde Droge, die bei Einnahme eine subjektive Erweiterung des Bewusstseins und Visionen hervorruft.
- Citation du texte
- Patrick Wenig (Auteur), 2017, Stereoskopie und die Liebe aus medienwissenschaftlicher Sicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/456628
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