Diese Arbeit ist ein Abstract zu Stefan Hulfelds Text „Schauen und Zeigen zwischen Alltag und Theater" aus dem Jahr 2000 im Rahmen seiner Dissertation.
ABSTRACT: „Schauen und Zeigen zwischen Alltag und Theater“ (Stefan Hulfeld, 2000)
Anhand der im Staatsarchiv aufbewahrten Solothurner Ratsprotokolle des 18. Jahrhunderts, gelingt es Stefan Hulfeld in diesem Teil seiner Dissertation, die nicht immer offenkundige Grenze[1] zwischen Theatralem und Alltäglichen aufzuspüren, da in selbigen gleichsam tagespolitische wie gesellschaftliche Alltäglichkeiten registriert, als auch die Bewilligungen implizit theatral zu interpretierender Aktionen verhandelt wurden. Hierbei versucht Hulfeld, jenen zwischen Alltag und Theater oszillierenden Phänomenen anhand diverser detailliert analysierender Beispiele mit begrifflichen Definitionen habhaft zu werden, was ihn dazu verleitet, ein einzelnes (Diderotsches) Allgemeinverständnis von 'Theater' in verschiedene, teils übergreifende Formen zu erweitern und zu separieren versuchen. Hierzu dienen ihm die von einer „vielfältigen Kultur öffentlichen Schauens und Zeigens zwischen Marktplatz, Kirche und Bühnenraum“ (S. 380) zeugenden Ereignisse der Ratsprotokolleinträge und eröffnen bisweilen derart unreflektierte, neue Möglichkeiten und Aspekte der Theaterhistorisierung.
Nach einer Kontextualisierung des damaligen (sofern überhaupt vorhandenen) Theater -Begriffes (Theatrum fungierte zumeist als Bezeichnung für die Jahrmarktsbühnen der Ärzte[2] oder als architektonischer Terminus des Kaufhauses bzw. Jesuitengymnasiums, vgl. S. 381) sowie der Comoedie (seinerzeit als „Sammelbegriff für verschiedenste Formen spektakulärer Ereignisse“; ebd.), geht Hulfeld auf zwei Beispiele diskutierend näher ein, um nachfolgend aus ihnen Differenzkriterien von Theater und Alltag sowie Komponenten für seinen Theatralitäts-Begriff ableiten zu können.
So führt sein erstes Beispiel (S. 381-390[3]) über den Vergleich der damaligen Engerlings-Bekämpfung in der Landwirtschaft – einerseits durch 'Mandate zur Dezimierung dieser Schädlinge' als Bekämpfung mit eindeutigem Alltäglichkeitscharakter in konkreter Feldarbeit, andererseits durch einen religiös-mythischen Magnusstab-Ritus[4] – zu der „Frage nach spezifischen Qualitäten rituellen als einer Form des theatralen Handelns“ (S. 384). Entscheidend seien „Abweichungen aktivierten Wahrnehmungs- und Denkprozesse“ (S. 385) von Alltäglichem und Gewöhnlichen – und der Magnusstab-Ritus war für die solothurner Bürger per se nichts Alltägliches.
„Ich gehe davon aus, dass aus den Komponenten Zeit und Raum jene mehr erfahrungsgemäße denn bewusste Alltagsnorm hinsichtlich der Erscheinung und des Verhaltens von Personen resultiert“. (S. 385)
„Festzuhalten bleibt zunächst die Beobachtung, dass Alltägliches und Theatrales sich als historisch-konkrete Grö[ß]en gegenseitig bedingen und dass dazwischen die prinzipielle Ungesichertheit der Grenze die Befreiung von in Gewohnheiten verstrickten Handlungs- und Wahrnehmungsweisen ermöglicht und damit als produktiver Faktor für theatrale Interaktionen wirkt“. (ebd.)
Seine aus den darauffolgenden Schilderungen gewonnenen Erkenntnisse, fasst Hulfeld abschließend mit diesen (vorläufigen) Theatralitätskriterien[5] zusammen:
„Halten wir fest, dass im Magnusritus ein hervorgehobenes Objekt als materieller Faktor im Zentrum stand, dass die Wahrnehmung desselben sowie seine Handhabung von einem mythisch-hagiographischen, über den Alltag hinausweisenden Interpretationshorizont bestimmt wurde, der Blicke in eine vergleichende, oszillierende, imaginierende Tätigkeit versetzte, während sich dabei eine funktionsteilige Gemeinschaft konstituierte“. (S. 388)
Bei der alltäglichen wie bei der rituellen Engerlings-Bekämpfungspraxis handelt es sich um „unterschiedliche Handlungsstrategien eines nämlichen Zwecks“ (S. 388), nicht um Alternativen. Interessant ist, dass der Ritus am häufigsten in jenen Monaten Wirkung zu zeigen vermochte, in denen alle anderen Problemlösungsstrategien nicht realisierbar waren. So blieb den SolothurnerInnen nur noch das Vertrauen auf transzendentale Mächte, wobei allerdings „nur der Prozess, nicht aber das Endresultat sinnlich verifizierbar war“ (S. 389) und folglich auch die Wirksamkeit in der 'sinnlichen Qualität' des Ritus lag.
„Das per se nicht Verfügbare lässt sich im theatralen Handeln durch Versinnlichung in den Zustand der (mittelbaren) Verfügbarkeit überführen. Wird es unmittelbar verfügbar, sinkt das Interesse am theatralen Vorgang.“ (S. 389)
So gab es zum Ritus – und damit auch zu einem bestimmten Typus von Theater – keine Alternative. Der Verlust der Unmittelbarkeit offenbare sich allerdings nur in dem Wie der Ausführung, das zum mittelbaren Resultat werde. (Vgl. ebd.) Es handelt sich um eine „Translation des unmittelbaren Ziels in den Schauwert“ (S. 390).
Hulfelds zentrales Resümee dieses Beispiels ist, dass „der Übergang von der Feldarbeit zum Ritual – strukturell gesehen – in jenem Denkmodell zu verorten [ist], das die Entwicklung von Fest, Ritus, Spiel hin zum Kunsttheater als Verschiebung vom Realwert zum Schauwert fasst“ (S. 390).
Im zweiten Beispiel ' Trinken auf dem Marktplatz ' (S. 390-394) handelt es sich ebenfalls um die vergleichende Diskussion eines Übergangsphänomens, bei dem die beschriebenen Kriterien Hervorhebung, funktionsteilige Gemeinschaft und Interpretationshorizont nochmals in anderem Kontext gegenüberstellend vertieft werden.
Alltägliche Ursprungsszene der indirekt illegal und bewusst trinkenden Studenten auf dem Marktplatz (Prävalenz des Realwertes) → polizeilich verordnete Reinszenierung der Szenerie als Strafaktion zum Bloßstellen der sittenwidrigen Studenten in der Marktöffentlichkeit mit erzwungen-gestelltem Betrinken (Prävalenz des Schauwertes). In der ursprünglichen Szene waren ebenjene drei Kriterien nicht erkennbar (= alltäglich), in der Nachgestellten bewusst exponiert (= theatral).
Gesamtresümierend listet Hulfeld auf S. 394/395 prägnant und abstrahiert seine Definitionen und Bedingungen für eine theatrale Interaktion auf: konkreter Zeit/Raum sowie die bereits genannten drei Komponenten und der Verweis, dass es eines bestimmten Rhythmisierungs-Grundmusters bedürfe, um theatrale Interaktionen Ereignischarakter annehmen zu lassen (s. S. 395 unten). Kriterien und grundlegende Annahmen, die an sich sehr verwandt sind mit denen der Autoren aus vorigen Kapiteln, hier jedoch mehr auf das Spannungsverhältnis von Alltag/Theater fokussiert sind – was mit Hulfelds theatertheoretischen Forschungserkenntnissen Konsequenzen für ein neues Verständnis und Ausmaß von Theaterhistoriographie haben dürfte. Dies legt er selbst auf S. 396 ff. begründend nahe (beachte auch Beispiele über Schrunerts Meer-Wunder und Navelots Maschinen-Erfindung, die erneut die drei Theatralitätskriterien gegenüberstellend vertiefen und erklären, warum nur Schrunerts Meerwunder von theaterhistorischem Interesse ist; vgl. ebd.) und kommt abschließend zu der Einführung in die Kategorisierung vier unterschiedlicher Theatralitätskonzepte und deren dynamischem Verhältnis. Zur Grundlage dieser vier Strukturtypen dienen ihm die Rudolf Münzschen Theater-Termini Theater (im künstlerischen Bereich) und „Theater“ (im Außerkünstlerischen/Alltäglichen) – (s. S. 398 f.) – sowie, zzgl. dem s. g. 'Theater', dem Nicht-Theater und deren historische Interdependenzen als „Theatralität einer Epoche“.
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- Citation du texte
- Anonyme,, 2012, Abstract zu Stefan Hulfelds Text "Schauen und Zeigen zwischen Alltag und Theater", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/456567