Der Konflikt in Syrien ist geprägt durch seine Komplexität und Undurchsichtigkeit. Regelmäßig berichten westliche Medien über Gewaltakte, Attentate, Terrorismus und ein nicht endendes menschliches Leid. Besonders auf Grund von Terroranschlägen der Terrormiliz Islamischer Staat und den enormen Flüchtlingswellen in Europa hat der Konflikt eine starke Präsenz auch im Alltag der westlichen Bevölkerung. Seine Komplexität gewinnt der Konflikt auf Grund einer fast unüberschaubaren Anzahl an Interessensgruppen und weitreichenden Konsequenzen, die eine friedliche Lösung bis heute unerreichbar machen. Die Relevanz dieser aktuellen Thematik muss kaum untermauert werden. Aus europäischer Perspektive wäre der Terrorismus in europäischen Hauptstädten, die Flüchtlingsproblematik, die seit 2015 den Diskurs der nationalen Innenpolitik bestimmt, oder das außerpolitische Positionieren in einem der größten Stellvertreterkriege der Geschichte zu nennen. Betrachtet man den Nahen Osten selbst, verzeichnete der Krieg über 500.000 Menschenleben und über 11 Millionen syrische Flüchtlinge. (Megan 13.4.2018 in nytimes.com)
Medial wird der Konflikt meist über dualistischen Werte-Konstelationen vereinfacht: Die unterdrückte syrische Bevölkerung rebelliert gegen das autokratische Assad-Regime und verlangt Freiheit und Bürgerrechte. Die westlichen Alliierten, als Verfechter der demokratischen Werte, unterstützen die aufbegehrende Bevölkerung gegen das dämonisierte Assad-Regime und bekämpfen gleichzeitig den islamistischen Terrorismus, der grundsätzlich für „das Böse“ in der Welt steht. Die Schwierigkeiten, den Diktator zu stürzen sind darin begründet, dass Assad Unterstützung durch andere autokratische Regime wie Russland und China erhält. Analysiert man den Konflikt jedoch an Hand realpolitischer Interessen wird eines schnell deutlich: “Obwohl jeder Krieg ausgiebig von Lügen und Täuschung Gebrauch macht, basiert der schmutzige Krieg gegen Syrien auf einem Maß an Desinformation, das seit Menschengedenken noch nicht gesehen wurde“ (Anderson 2016).
Inhalt
1. Einleitung
2. Begriffliche Einordnung
3. Merkmale kolonialer Systeme nach Franz Fanon
4. Der historisch materialistische Ansatz
5. Der Syrienkrieg als eine materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen
5.1 Historischer Kontext
5.2 Sozioökonomische Verhältnisse
5.3 Hegemonieprojekte im Syrienkonflikt
5.3.1 Die Assad-Regierung und die syrischen Rebellen
5.3.2 Regionale Akteure
5.3.3 Internationale Akteure
5.4 Eine strukturelle Zusammenfassung unterschiedlicher Interessen
6. Analyse der Herrschaftsverhältnisse auf koloniale Merkmale
6.1 Merkmal – binäres Herrschaftsverhältnis
6.2 Merkmal – Gewalt
6.3 Merkmal – Verdinglichung und widersprüchliches Werteverständnis
6.5 Merkmal – Volksbildung
6.6 Merkmal – kapitalistische Wechselwirkung
7. Fazit
Literatur
„Durch den Profit geeint, nannten die Mutterländer die Gemeinschaft ihrer Verbrechen Brüderlichkeit und Liebe. Heute, wo dieselbe Gewalt überall blockiert ist, kommt sie durch unsere Soldaten auf uns zurück, wird verinnerlicht und besitzt uns“ (Sartre 1981: 25).
1. Einleitung
„Syrien ist nach mehr als fünf Jahren brutalen und verheerenden Krieges ein weitgehend zerstörtes Land, dessen Zukunft als einheitliches Staatswesen höchst ungewiss ist; abgesehen von den unvorstellbaren menschlichen, sozialen, kulturellen und letztlich auch materiellen Schäden“ (Edlinger 2016: 8)
Der Konflikt in Syrien ist geprägt durch seine Komplexität und Undurchsichtigkeit. Regelmäßig berichten westliche Medien über Gewaltakte, Attentate, Terrorismus und ein nicht endendes menschliches Leid. Besonders auf Grund von Terroranschlägen der Terrormiliz Islamischer Staat und den enormen Flüchtlingswellen in Europa hat der Konflikt eine starke Präsenz auch im Alltag der westlichen Bevölkerung. Seine Komplexität gewinnt der Konflikt auf Grund einer fast unüberschaubaren Anzahl an Interessensgruppen und weitreichenden Konsequenzen, die eine friedliche Lösung bis heute unerreichbar machen. Die Relevanz dieser aktuellen Thematik muss kaum untermauert werden. Aus europäischer Perspektive wäre der Terrorismus in europäischen Hauptstädten, die Flüchtlingsproblematik, die seit 2015 den Diskurs der nationalen Innenpolitik bestimmt, oder das außerpolitische Positionieren in einem der größten Stellvertreterkriege der Geschichte zu nennen. Betrachtet man den Nahen Osten selbst, verzeichnete der Krieg über 500.000 Menschenleben und über 11 Millionen syrische Flüchtlinge. (Megan 13.4.2018 in nytimes.com)
Im Zuge des arabischen Frühlings kam es im Jahr 2011 auch in Syrien zu Protesten. Die Dynamiken, die sich aus den friedlichen Demonstrationen entwickelten, sind bis heute umstritten und in der Komplexität ihres historischen Kontextes schwer zu vereinfachen. So erhebt diese Arbeit nicht den Anspruch, den[DAT1] Konflikt in seiner detaillierten [DAT2] Ganzheit darstellen zu können. Auch sind [DAT3] der Zugang und der Wahrheitsanspruch der Quellenlage auf Grund der Aktualität des Konfliktes begrenzt. Was als aussichtsreiche Revolution begann, endete in einem facettenreichen, regionalen und internationalen Stellvertreterkrieg. Die Proteste mündeten in gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der syrischen Regierung unter Baschar al-Assad und regierungsfeindlichen [DAT4] Demonstranten. Schon bald mischten sich regionale Akteure, wie der Iran und Saudi-Arabien, ein. Während [DAT5] die alawitische Assad-Regierung mit Geld und Waffen vom schiitischen Iran unterstützt wird, unterstützt der große regionale Gegenspieler Saudi-Arabien die regierungsfeindlichen Rebellen. Weitere nicht-staatliche Akteure, wie die Bevölkerungsgruppe der Kurden oder der IS, hoffen [DAT6] im Chaos des Gefechts ihre eigenen Interessen und geopolitischen Ansprüche durchsetzen [DAT7] zu können und beteiligten sich auch an Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft der umkämpften Gebiete. Letztlich mischten sich auch internationale Akteure, wie die USA und weitere NATO-Staaten, sowie Russland und China in den Konflikt ein. Während [DAT8] die westlichen Akteure die [DAT9] Schrecken des Assad-Regimes hervorheben und die Unterstützung des aufbegehrenden [DAT10] syrischen Volkes als legitimen Grund für militärische Interventionen begründen, unterstützt Russland und China die Assad-Regierung. Als langjährigen Verbündeter Assads argumentiert [DAT11] Russland mit der Souveränität des syrischen Nationalstaates. Auch die Bekämpfung des Islamischen Staates sei aus russischer Sicht nur mit Hilfe der syrischen Regierung möglich. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven und Interessen der handelnden [DAT12] Akteure begründet sich auch die Handlungsunfähigkeit [DAT13] der internationalen Gemeinschaft, was an der Blockade des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen deutlich wird. Eine zeitnahe Konfliktlösung scheint aussichtslos.
Medial wird der Konflikt meist über dualistischen Werte-Konstelationen [DAT14] vereinfacht: Die unterdrückte syrische Bevölkerung rebelliert gegen das autokratische Assad-Regime und verlangt Freiheit und Bürgerrechte. Die westlichen Alliierten, als verfechter [DAT15] der demokratischen [DAT16] Werte, unterstützen die aufbegehrende Bevölkerung gegen das dämonisierte Assad-Regime und bekämpfen gleichzeitig den islamistischen Terrorismus, der grundsätzlich für „das Böse“ in der Welt steht. Die Schwierigkeiten, den [DAT17] Diktator zu stürzen [DAT18] sind darin begründet, dass Assad Unterstützung durch andere autokratische [DAT19] Regime wie Russland und China erhält. Analysiert man den Konflikt jedoch an Hand realpolitischer Interessen wird eines schnell deutlich:
“Obwohl jeder Krieg ausgiebig von Lügen und Täuschung Gebrauch macht, basiert der schmutzige Krieg gegen Syrien auf einem Maß an Desinformation, das seit Menschengedenken noch nicht gesehen wurde“ (Anderson 2016: 2).
So werden im Laufe dieser Arbeit einige Fragen [DAT20] aufgeworfen, die eine genauere Betrachtung der Strukturen des Konfliktes in ihrem historischen Kontext bedürfen. Was sind die realen geopolitischen und ökonomischen Interessen der beteiligten Akteure? Welche gesellschaftlichen und sozioökonomischen [DAT21] Rahmenbedingungen der Region prägen den Konflikt? Und vor allem, was sind die grundlegenden Merkmale, die den Konflikt in seiner facettenreichen Struktur ausmachen? Um einen produktiven Betrag zur Konfliktlösung beizutragen, muss der Konflikt einerseits in seinem Geflecht an Interessensgruppen bzw. Herrschaftsansprüchen entwirrt werden und andererseits auf seine grundlegend treibenden Merkmale reduziert und analysiert werden.
Entsprechend dieser Herangehensweise [DAT22] geht die Arbeit wie folgt vor: Nach einer begrifflichen Einordnung und der Vorstellung der zu verwendenden Theorien, werden die verschiedenen Herrschaftsansprüche im Syrien-Konflikt an Hand des historisch-materialistischen Ansatzes veranschaulicht. Die handelnden Akteure werden empirisch über ihre partikularen Interessen dargestellt. Weiter bezieht der historische Materialismus die gegebenen historischen Verhältnisse und den sozioökonomischen Kontext mit ein. Dieser Form der Veranschaulichung bricht nicht nur die starre Form einer historisch-chronologischen Darstellung auf, sie bietet auch die Möglichkeit, die Komplexität der Interessenskonflikte vereinfacht zu entziffern. Den Kern dieser Arbeit bildet jedoch die Analyse des Konfliktes über koloniale Merkmale nach der Theorie von Franz Fanon. Auf den ersten Blick scheint das Kolonialsystem Ende der 1950er Jahre in Algerien wenig mit den komplexen Strukturen des Syrien-Konfliktes gemein zu haben. Doch wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit deutlich wird, sind es Merkmale kolonialer Strukturen, wie die Gewalt oder ein widersprüchliches Werteverständnis, die den Konflikt in seinem Kern betreffen. Die extreme und kontroverse Theorie Fanons soll eine Perspektive geben, die die starren und ausweglosen [DAT23] Dynamiken des gewaltvollen Krieges in einem neuen Licht darstellen.
Kritisch muss der unterschiedliche Facettenreichtum der Herrschaftsstrukturen zwischen dem Syrien-Konflikt und der kolonialen Logik beachtet werden. Doch basiert, trotz möglicherweise unterschiedlicher Ausprägungen von Herrschaft, der [DAT24] historische Materialismus, die realpolitischen Dynamiken des Syrien-Konfliktes und die koloniale Theorie Fanons auf der Prämisse partikularer Herrschaftsansprüche. Doch die wohl entscheidende Kritik, an der sich die methodische Vorgehensweise dieser Arbeit messen muss, stellt die Symbiose zwischen der materiellen Darstellung transnationaler Interessenskonflikte und einer soziologischen Analyse mittels der fanoschen Merkmale dar.
Zusammenfassend stellt sich Forschungsfrage dieser Arbeit wie folgt:
„ Inwieweit ist der Konflikt in Syrien durch eine moderne Form kolonialer Strukturen bestimmt? “
Die Analyse erfolgt an Hand fünf spezifischer Merkmale kolonialer Systeme, die zuvor aus Fanons Theorie, über sein Hauptwerk Die Verdammten dieser Erde, extrahiert werden.
2. Begriffliche Einordnung
Als Voraussetzung [DAT25] einer trennscharfen und spezifischen Analyse werden in diesem Abschnitt entscheidende Begrifflichkeiten differenziert. So erfolgt erstens eine Einordung des verwendeten Konzeptes [DAT26] der kolonialen Theorie im Forschungsstrang postkolonialer Theorien. Zweitens werden unscharfe Begriffe wie Herrschaft, Macht und Gewalt genauer spezifiziert.
Im Diskurs des postkolonialen Forschungsstranges [DAT27] findet sich die Debatte um die begriffliche Differenzierung zwischen kolonialen, postkolonialen und neo-kolonialen Theorien und dem Imperialismus wieder. So beklagt auch Ella Shohat die Probleme in der begrifflichen Klarheit (vgl. Hall 1999: S220)[DAT28] . Grundsätzlich beziehen sich die unterschiedlichen Terminologien auf eine Form von Herrschaftsbeziehungen, die mit Gewalt durchgesetzt werden. Legitimiert werden sie durch Ideologien der Überlegenheit von bestimmten „Rassen“ oder „Kulturen“ (vgl. Varela/Dhawan 2005: 13). [DAT29] In der begrifflichen Abgrenzung zwischen Kolonialismus und Imperialismus besteht in der Forschung keine Einigkeit. Eine Möglichkeit der Unterscheidung findet sich teilweise in der Perspektive. So wird der Kolonialismus auch als Spezialfall des Imperialismus betrachtet, in dem er, neben der dominanten metropolitanen Haltung des Imperiums, vor allem die Erschließung kapitalistischer Wirtschaftsräume fokussiert. Entsprechend argumentiert auch die perspektivische Unterscheidung in Objekt und Subjekt. So betrachtet die koloniale Theorie die Kolonien als Subjekt, während [DAT30] der Imperialismus immer vom Standpunkt des [DAT31] Imperiums als Subjekt ausgeht (vgl. Varela/Dhawan 2005: 14).[DAT32] Andere Autoren verzeichnen die beiden Stränge über unterschiedliche historisch-chronologische Zeiträume. So wird die Etappe des Kolonialismus auf die Zeit der europäischen Expansion zwischen dem Jahr 1500 und 1945 datiert, während die Zeit des Imperialismus dem Ende des 19. Jahrhunderts zugeschrieben wird. Auch hier gibt es in der Forschung unterschiedliche Sichtweisen (vgl. Young 2001: 42). Bezogen [DAT33] auf diese Arbeit wird von einem Begriff der kolonialen Theorie ausgegangen, der sich einerseits perspektivisch auf das koloniale System bezieht und andererseits in seiner historischen Dimension zeitunabhängig behandelt wird. Der inhaltlich historische Kontext des spezifischen Fallbeispiels bleibt selbstverständlich von Bedeutung.
Die Abgrenzung über ein Negativ findet auch zum Neokolonialismus und Postkolonialismus statt. Wie über die Vorsilbe „Post“ deutlich wird, beschreibt der Postkolonialismus eine zeitliche Epoche oder überdauerte Strukturen eines kolonialen Systems. Doch [DAT34] statt der Konsequenzen vergangener [DAT35] Herrschaftsstrukturen, beschreibt eine Theorie des Kolonialismus die Merkmale dieser speziellen Herrschaftsform per sé.
Am ehesten wäre „eine moderne Form kolonialer Strukturen“ dem Neokolonialismus zuzuordnen. Der Neokolonialismus beschreibt jedoch meist eine ökonomische Form der Unterdrückung, die durch wirtschaftliche Abhängigkeiten international agierender Konzerne geprägt ist (vgl[DAT36] . Varela/Dhawan 2005: 14, 24). Kapitalistische Unterdrückungsdynamiken sind zwar auch nach Fanon ein bedeutender Aspekt, fassen jedoch die soziologischen und herrschaftspolitischen Mechanismen in ihrer Ganzheit zu kurz. Zusammenfassend [DAT37] lässt sich sagen, die koloniale Theorie Fanons versucht in [DAT38] einer kritischen Analyse die [DAT39] Strukturen kolonialer Systeme zu erfassen. Entsprechend soll über eben diese Merkmale kolonialer Systeme, die mit den strukturellen Verhältnissen des Fallbeispiels verglichen werden, eine moderne Form kolonialer Strukturen expliziert werden.
Abschließend muss hier noch auf das Verhältnis zwischen Herrschaft, Macht und Gewalt eingegangen werden. „Kolonialismus bezeichnet ein Herrschaftverhältniss[DAT40] “ (Arndt 2015: 33). Wie im anschließenden Kapitel deutlich wird, bezieht [DAT41] Fanon den Herrschaftsbegriff, im Sinne der marxistischen Logik, auf ein binäres Verhältnis zwischen [DAT42] Unterdrücker und Unterdrücktem. Der Ansatz des historischen Materialismus ist facettenreicher. Hier bündelt[DAT43] sich eine Vielzahl gesellschaftlicher und transnationaler Herrschaftsansprüche als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen. Inwieweit sich die dualistische Logik Fanons mit der mehrdimensionalen Akteursvielfalt des historischen Materialismus vereinbaren lässt, wird im [DAT44] späteren Analyseteil genauer behandelt. Festzuhalten [DAT45] ist jedoch, dass Herrschaftsverhältnisse als materielle Reproduktion unterschiedlicher Interessenskonflikte verstanden werden. Es reproduzieren sich dauerhaft historisch belastete Strukturen, in denen Akteuren in Kämpfen und Auseinandersetzungen darum ringen, „[…] ihre Partikularinteressen zu verallgemeinern, das heißt, sie hegemonial werden zu lassen“ (Buckel et al. 2014: 44).
Betrachtet man politische Herrschaft, ist vor allem die Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt entscheidend. Wie im anschließenden Kapitel deutlich wird, schenkt Fanon der zu beachtenden Trennschärfe wenig Bedeutung. Begriffe wie „friedliche Gewalt“, „eine Atmosphäre der Gewalt“ oder „die Sprache der Gewalt“ vermischen sich und bleiben unspezifiziert (vgl[DAT46] . Fanon 1981: 64, 71). Auch wenn Macht und Gewalt zusammenhängen, müssen sie eher als Antagonisten gesehen werden. Denn im Sinne staatlicher Macht ist die Gewaltanwendung [DAT47] der Moment des Machtverlustes. So wird auch Fanons Theorie deutlich machen, wie die Eskalation aktiver Gewaltakte der Dekolonisierung[DAT48] die Macht der Herrschaftsstrukturen untergräbt Es stellt sich also die Frage, inwieweit man von passiver Gewalt, wie „einer Atmosphäre der Gewalt“ oder „einer Sprache der Gewalt“ innerhalb eines intakten Machtgefüges sprechen kann, ohne dieses zu hinterfragen. [DAT49]
3. Merkmale kolonialer Systeme nach Franz Fanon
In seinem Hauptwerk [DAT50] Die Verdammten dieser Erde aus dem Jahr 1961 analysiert Franz Fanon die Strukturen des französischen Kolonialismus in Algerien und die gewaltvolle Phase der Dekolonisierung zwischen 1954 bis 1962. Im Folgenden werden [DAT51] die fanosche Darstellung kolonialer Strukturen sowie die Analyse eines Prozesses der Dekolonisierung aufgezeigt. Anschließend werden im Sinne Fanons die entscheidenden Merkmale[DAT52] kolonialer Strukturen herausgearbeitet.
Um die methodische Vorgehensweise Fanons besser verstehen zu können, hilft es sich vorab im Klaren darüber zu werden, warum Fanon häufig[DAT53] in seiner Analyse zwischen der Darstellung kolonialer Strukturen und dem dekolonialen Prozess wechselt. Denn nach Fanon ist die Dekolonisierung zwar ein „Programm absoluter Umwälzung“, doch befindet sie sich in einem determinierten Prozess des kolonialen Systems. „Die Notwendigkeit dieser Veränderung existiert im Rohzustand, übermächtig und zwingend, im Bewusstsein und im Leben der kolonialisierten Männer und Frauen“ (Fanon 1981: 29). [DAT54] [DS55] Weiter lassen sich grundlegende [DAT56] Säulen des kolonialen Systems, wie die Gewalt oder die binäre Herrschaftslogik erst vollständig verstehen, wenn sie sich im ontologischen Prozess der Dekolonisierung entfalten.
Nach Fanon ist die Dekolonisierung immer ein „Phänomen der Gewalt“. Sie ist ein Prozess der absoluten Umwälzung. „Die Dekolonisierung ersetzt ganz einfach eine bestimmte ‚Art‘ Menschen durch eine andere ‚Art‘ von Menschen[DAT57] “ (Fanon 1981: 29). Weiter beschreibt Fanon die Dekolonisierung als historischen Prozess, in dem sich zwei antagonistische Kräfte gegenüberstehen, die sich in ihrem existentiellen Sein auf das koloniale System beziehen. Damit ist gemeint, dass Kolonialherr und Kolonialisierter sich zwar im Sinne einer manichäistischen Unterscheidungslogik absolut widersprechen, sich jedoch gegenseitig bedingen. So stellt das koloniale System ein binäres Herrschaftsverhältnis[DAT58] auf, in dem der Kolonialherr den Kolonialisierten erschafft und der Kolonialisierte den Kolonialherren erschafft. Diese existenzielle Verbindung zwischen Unterdrücker, Unterdrücktem und dem Kolonialsystem betrifft das onthologische Sein der beiden Akteure. Wie im weiteren Verlauf Fanons Theorie deutlich wird, verändert sich das „Sein“ des Kolonialisierten im Zuge der Dekolonisierung grundlegend. „Das Kolonialisierte ‚Ding‘ wird Mensch gerade in dem Prozess, durch den es sich befreit“ (Fanon 1981: 30).
Der Dualismus des kolonialen System und das Phänomen der Gewalt, auf [DAT59] dem die koloniale Welt fußt, macht Fanon an Hand einiger konkreter Beispiele klar, die mit der Apartheit in Südafrika zu vergleichen ist. Er spricht von einer räumlich zweigeteilten Welt, deren Grenzen durch Kasernen und Polizeiposten markiert [DAT60] sind. Entsprechend sind die Gesprächspartner der Gendarm oder der Soldat ([DAT61] vgl. Fanon 1981: 31). Diese nicht komplementären[DAT62] Zonen, deren Grenzen bzw. Kommunikation ausschließlich [DAT63] durch die Sprache der Gewalt geprägt sind, schließen sich gegenseitig aus und machen eine Versöhnung[DAT64] unmöglich. Die Unvereinbarkeit der beiden Zonen basiert jedoch nicht auf Grund der ökonomischen Unterschiede oder den stark ungleichen Lebensbedingungen. Fanon führt die marxistische Denkweise von sozialen Klassen weiter und bezieht die Differenzierung auf die ‚Art“ bzw. die ‚Rasse‘. „In den Kolonien ist der ökonomische Unterbau zugleich ein Überbau. Die Ursache ist Folge: man ist reich weil weiß, man ist weiß weil reich“ (Fanon 1981: 33). Die Herrschaft der Art der „Anderen“ in Frage zu stellen, bedeutet demnach nicht, die Grenzen zu überschreiten oder andere Wege der Kommunikation zu finden. Eine Infragestellung der kolonialen Welt bedeutet einer der beiden Welten zu vernichten (vgl[DAT65] . Fanon 1981: 33).
Neben der physischen Unterdrückung verdeutlicht sich der totalitäre Charakter kolonialer Mechanismen auch daran, dass der Kolonialherr den Kolonialisierten dämonisiert. Der Kolonialisierte wird als Quintessenz des Bösen dargestellt. Ihm wird nicht nur die Abwesenheit von Werten unterstellt, in ihm manifestiere[DAT66] sich die Negation der Werte. „Er ist, sagen wir es offen, der Feind der Werte“ (Fanon 1981: 34). Diese manichäistische Logik führt in ihrer Vollendung letztlich zu einer Entmenschlichung des Kolonialisierten. Fanon macht an der zoologischen Sprache deutlich, mit der der Kolonialherr über den Kolonialisierten spricht, dass er ihn genaugenommen vertiert. Er spricht von „Horden“, [DAT67] einer „gallopierende“ Vermehrung‘ oder der „gelben Masse“[DAT68] (vgl. Fanon 1981: 35). Dieser Vorgang ist der Kern, auf [DAT69] dem Fanons Theorie beruht. Denn wenn der Kolonialisierte gerade diese Menschlichkeit, die ihm aberkannt wird, triumphieren lassen will, muss er mit dem Mittel der Gewalt und durch [DAT70] den Tod des Kolonialherren die [DAT71] Entmenschlichung negieren und sich selbst zum Menschen machen. Das Proklamieren[DAT72] westlicher Werte hat jedoch noch eine weitere Wirkung auf den Kolonialisierten. Im Zuge der Dekolonisierung und der ausbrechenden Gewalt appelliert der Kolonialherr an die Vernunft des Kolonialisierten und die Universalität westlicher Werte. Doch auf Grund der Gewalt und des Kontextes des kolonialen Systems, mit der die „weißen Werte“ verknüpft sind, führt der Appell[DAT73] zu einer legitimen Umkehr der Intention des Unterdrückers. Die Heuchelei führt zu einer gegenteiligen Schlussfolgerung und wirkt eskalierend. „Der berühmte Grundsatz, dass alle Menschen gleich seien, lässt in den Kolonien nur eine Anwendung zu: der Kolonialisierte wird behaupten, dass er dem Kolonialherren gleich sei. Ein Schritt weiter, und er wird kämpfen wollen, um mehr zu sein als der Kolonialherr“ (Fanon 1981: 37).
Eine Besonderheit ist hier auch der Versuch des Kolonialherren, ein Dialog mit der Kolonialisierten Bourgeoisie[DAT74] und den intellektuellen[DAT75] „Eliten“ des kolonialisierten Volkes aufzunehmen. Die Mehrheit des Volkes ist für den Dialog um Werte und Kultur jedoch nicht erreichbar. Die Ungerechtigkeit, mit der der Kolonialisierte sein Leben lang ungestraft geschlagen, festgenommen und ausgehungert wurde, gibt den Phrasen des Kolonialherren eine Unvereinbarkeit mit den konkreten Erfahrungen ihrer Realität ([DAT76] vgl. Fanon 1981: 37f). Die Heuchelei spielt in den Dynamiken der Dekolonisierung eine besondere Rolle. Die Heterogenität auf der das koloniale System basiert, wird im Zuge der Dekolonisierung[DAT77] in verschiedenen Dimensionen geeint. Die Prämisse der Gleichheit aller Menschen[DAT78] lässt nicht nur den Schluss zu, dass der Kolonialisierte in seiner Wertigkeit dem Kolonialherren gleich ist. Der Kolonialisierte findet auch in der Aufhebung der Heterogenität des Kolonialsystems die Einheit der „Nation“ oder der „Rasse“. Beide Dimensionen führen letztlich[DAT79] in ihrem Argumentationsstrang zu einer jeweils notwendigen Schlussfolgerung für eine erfolgreiche Dekolonisierung[DAT80] . Die Gleichheit zwischen Kolonialherr und Kolonialisiertem[DAT81] lässt nur einen Anhaltspunkt zur Feststellung einer erfolgreichen Dekolonisierung [DAT82] zu: „Das geforderte Minimum ist, dass die letzten die ersten werden“ (Fanon 1981: 38[DAT83] ). Die zweite Dimension, in der der [DAT84] Kolonialisierte den Kontakt zu seinem Volk wiederfindet, lässt sich unter Anderem auf die Ablehnung des westlichen Wertes von Individualismus urückführen. Eine Gesellschaft von Individuelisten [DAT85] , Subjektivität und der Reichtum des Geistes werden durch Begriffe wie „Bruder“ und „Genosse“ ersetzt. Besonders hier lässt sich das marxistische Gedankengut in Fanons Theorie erkennen. Neben einem sozialen Bewusstsein entsteht auch ein ökonomisches Verlangen nach einer Nationalisierung des Handels, „[...] das heißt die Reservierung der Märkte und guten Gelegenheiten einzig für die eigenen Leute“ ([DAT86] Fanon 1981: 40). Während[DAT87] der intellektuelle Kolonialisierte jedoch mit seinem Opportunismus[DAT88] und Taktieren die Wut des Volkes auf sich zieht, sieht er nicht das Ganze. Das Volk vertritt eine gefestigte allgemeine[DAT89] Position. Es will das Land und das „Brot“. Die Wahrheit des Eingeborenen ist in seiner Logik unbestechlich. Das, w[DAT90] as dem Ausländer schadet und das Entstehen der Nation begünstigt, i[DAT91] st „das Gute“. „Er sagt nicht die Wahrheit: er verkörpert sie“ (Fanon 1981: 41).
Während[DAT92] der Kolonialisierte Anspruch auf das Land erhebt, argumentiert der Kolonialherr, er habe es zu dem gemacht was es heute ist und ohne ihn wäre alles verloren und das Land würde zurück ins Mittelalter fallen ([DAT93] vgl. Fanon 1981: 43). In einem Punkt gibt Fanon dem Kolonialherren recht. Im kolonialen System macht der Kolonialherr, als Subjekt, die Geschichte. Jedoch macht er eine Geschichte seines eigenen Mutterlandes. Im Zuge der Dekolonisierung findet eine Umkehr der Subjekt-Objekt-Beziehung statt. Der Kolonialisierte beginnt die Geschichte seines Landes und seiner Nation zu schreiben. So erscheint ihm die koloniale Welt der Unterdrückung nicht als Hölle, der man entkommen muss. Er betrachtet sie als Gelegenheit zum Paradies. Die Gewalt des Unterdrückers wirkt nicht abschreckend, sondern signalisiert [DAT94] eine Aufforderung, sich für den Kampf vorzubereiten. „In Wirklichkeit ist er immer bereit, die Rolle des Freiwilds aufzugeben, um die des Jägers zu übernehmen.“ (Fanon 1981: 44)
Entsprechend der oben beschriebenen dimensionalen Differenzierung von Wertevorstellungen des Individualismus[DAT95] und der Homogenität, unterscheidet Fanon auch bei der Gewalt, zwischen einer Massenbeziehung auf der Makro-Ebene und der individuellen Dimension. Die Beziehung zwischen Kolonialherr und Kolonialisierten bezeichnet Fanon grundsätzlich als Massenbeziehung. So wird im Sinne der oben beschriebenen Perspektive pragmatisch [DAT96] die Zahl der Kolonialisierten der Stärke der Kolonialherren gegenübergestellt. Die unterdrückte Wut und Gewalt-Fantasien des Kolonialisierten, vor den Gewaltausbrüchen der Dekolonisierung, münden in Formen von Ersatzhandlungen. „Auf der individuellen Stufe findet man eine wahre Negation des gesunden Menschenverstandes“ (Fanon 1981: 45). [DAT97] Religiöse Mythen kanalisieren die brodelnde[DAT98] Gewalt und Aggressivität[DAT99] in eine selbstzerstörerische Besessenheit oder Stammesfehden innerhalb des Kolonialisierten Volkes. Im Zuge der Dekolonisierung[DAT100] entdeckt der Kolonialisierte seine Realität wieder und die Ausübung seiner Gewalt reorientiert sich in seinem Befreiungsplan (vgl. Fanon 1981: 49).
Ansatzpunkte für die reorientierte Gewalt gegen das Unterdrückungsregime bieten zunächst politische Parteien und intellektuelle oder kaufmännische Eliten. Die Aggressivität[DAT101] der Kolonialisierten[DAT102] Intellektuellen münden jedoch nicht im kollektiven Kampf gegen das Kolonialsystem, sondern in ihren eigenen Interessen. Sie profitieren vom Kolonialsystem. Fanon spricht von einer Klasse der freigelassenen Slkaven[DAT103] , deren Ziel es ist, die Zahl der Freigelassenen zu vermehren. „Sie sind gewalttätig[DAT104] in ihren Worten und reformistisch in ihren Taten“ (Fanon 1981: 50). Die Mehrheit des Kolonialisierten Volkes will jedoch nicht mehr Rechte oder den Status des Kolonialherren, sondern seinen Platz. Die kolonialistische Bourgeoisie[DAT105] erkennt, dass die aufkommenden Gewaltausbrüche das koloniale System zerstören könnten und geben sich kompromissbereit. So tritt die kolonialistische Bourgeoisie[DAT106] in ein Dialog mit den Kolonialisierten Eliten, den Intellektuellen und den Führern der nationalistischen bürgerlichen Parteien, die sich als Vertreter des unterdrücken Volkes sehen. Die Gewaltausbrüche schaden der Wirtschaft und so erkennt die nationale Bourgeoisie[DAT107] des Kolonialisierten Volkes, dass sie die gleichen Interessen wie die Kolonialherren haben. Sie plädieren für Gewaltlosigkeit und distanzieren sich letztlich von den Gewaltakten des unterdrücken Volkes. Auf Grund der deutlich unterlegenen Gewaltmittel scheint für sie das Mittel der Gewalt auch nicht als wirksames Mittel (vgl. Fanon 1981: 52f).
Neben der idealistischen, fast verherrlichten Perspektiven, mit der Fanon die Anwendung von Gewalt beschreibt, räumt er ein, das[DAT108] s Gewalt kein bloßer Willensakt ist. Sie basiert auf realen Vorbedingungen ihrer materiellen Mittel. So ist die Gewalt bedingt durch die ökonomische Stärke, die die Werkzeuge produzieren. Entscheidend ist auch die Wechselwirkung, die es zwischen der Gewalt und wirtschaftlichen Macht gibt. Ökonomisch betrachtet müssen [DAT109] sich die Kosten für die kriegerischen Auseinandersetzungen letztlich rentieren. So muss einerseits die kostspielige Produktion von Gewaltmitteln innerhalb der Mutterländer betrachtet werden und andererseits, und das ist besonders entscheidend, fällt der ökonomische Markt der Kolonien mit deren kaufende[DAT110] n Kundschaft durch eine Eskalation der Gewalt weg (vgl[DAT111] . Fanon 1981: 54). Weiter argumentiert Fanon, verlangen die wirtschaftlichen Interessen des Mutterlandes zwar eine gewaltfreie Lösung, bewirken jedoch das Gegenteil. Eine blinde[DAT112] Herrschaft der „verbrannten Erde“ wäre für das Mutterland nicht rentabel[DAT113] . So steigt der Druck auf dem Kolonialsystem, die Gewalt zu beenden. Dieses übt wiederum Druck auf die reformistischen Parteien und städtischen Gewerkschaften aus, welche in friedlichen Demonstrationen[DAT114] und Streiks münden. Die überlegenen Gewaltmittel der Kolonialherren werden also einerseits durch die wirtschaftlichen Interessen des Mutterlandes gebremst und andererseits durch die gewaltfreien Proteste, die den wirtschaftlichen Interessen ebenfalls schaden. „Es besteht also eine Komplizenschaft zwischen dem Kapitalismus und den gewaltsamen Kräften, die im kolonialen Territorium losbrechen“ (Fanon 1981: 55). Anmerkend erwähnt Fanon hier, dass es heute (1961) nur noch darauf ankomme, die wirtschaftlichen Einflusszonen zu sichern. Eine Politik wirtschaftlicher Unterwerfung und die Liquidierung unliebsamer Regime, wie beispielsweise dem Attentat auf Mossadegh, ist die blutige und elegante Form der „modernen“ Unterdrückung (vgl[DAT115] . Fanon 1981: 55).
Weiter instrumentalisiert die kolonialistische Bourg[DAT116] eoisie auch die Religion. Diejenigen, die die Versklavung und Erniedrigung reaktionslos ertragen und keine Gegengewalt ausüben, werden von Seiten der Religion und nationalen politischen Führer als Heilige dargestellt. In Folge dieser Versuche der Besänftigung beschreibt Fanon zwei Konsequenzen, die es hevorzuheben gilt[DAT117] . Was folgt, wird von Fanon am folgenden Zitat eines jungen Intellektuellen [DAT118] vorausahnend[DAT119] beschrieben: „Denkt nach bevor ihr zu den Massen sprecht, sie entzünden sich schnell“ (Fanon 1981: 57). Ähnlich dem Widerstreben der westlichen Werte erfolgt [DAT120] der Identifikationsprozess entgegen kolonialistischer Intentionen. Derjenige, der sich als Dieb oder Verbrecher gegen den Gendarm und das Kolonialsystem stellt oder derjenige, der sein Leben gibt, um seinen Komplizen nicht zu verraten, wird als Held gefeiert. Mit jeder gewaltsamen Aktion identifiziert sich der Kolonialisierte mehr mit seinem Volk und mit einer gewaltvollen Dekolonisierung. Fanon bezieht in dieser revolutionären Perspektive immer wieder überregionale Wechselwirkungen der Gewaltausbrüche unterdrückter Bevölkerungen mit ein. Letztlich führten die Besänftigungsversuche, neben einer trotzigen Umkehr der verlangten Gewaltlosigkeit, zu einem Moment der Volksbildung, der für die Dekolonisierung entscheidend ist. „Die Unterdrückungsaktionen, weit davon entfernt, den Elan zu brechen, beschleunigen noch den Fortschritt des nationalen Bewusstseins“ (Fanon 1981: 60)[DAT121] . Aus diesen Erkenntnissen schlussfolgert Fanon, dass[DAT122] die Gewalt nicht nur das Mittel der revolutionären Befreiung ist. Sie ist der Grundstein eines nationalen Bewusstseins unterdrückter Völker, in Algerien und auch in anderen Teilen der Welt. Im Zuge des Wettstreites zwischen Kapitalismus und Kommunismus greift die Gewalt, während und nach der dekolonialen Phase um sich und f[DAT123] ührt zu einer Atmosphäre weltweiter Erschütterungen. Neben diesem globalen revolutionären Charakter der Befreiung unterdrückter Völker, den Fanon der Gewalt zuschreibt, erkennt er auch ihre Wechselwirkung. Die Gewalt hat eine grundlegende Funktion in der Volksbildung. Durch die Gewalt geeint, ist sie ein Bestandteil des nationalen Bewusstseins. So wird die Gewalt während des[DAT124] Befreiungskampfes und auch danach über die „nationale Flagge“ am Leben[DAT125] gehalten (vgl. [DAT126] Fanon 1981: 63f). Weiter sind es die revolutionären, internationalen Dynamiken der dekolonialen Gewalt, die eine Bedrohung für ihre Unterdrücker darstellen. Der idealistische Charakter der Volksbildung und Identifikation ,gepaart[DAT127] mit den wirtschaftlichen [DAT128] und internationalen Dynamiken, hebt die unterlegenen Gewaltmittel der Kolonalisierten auf eine Ebene, die der Gewalt des Kolonialherren[DAT129] ebenbürtig ist. Fanon spricht von einer Komplizenschaft zwischen kolonialer Gewalt und der friedlichen Gewalt, die in der gegenwärtigen Welt „schwimmt“ (vgl[DAT130] . Fanon 1981: 68).
Die moralische Rehabilitation der Unabhängigkeit folgt im internationalen Kräftemessen zwischen Kapitalismus und Kommunismus[DAT131] ein Neutralismus der Kolonialisierten politischen Führer. Die manichäische Arithmetik[DAT132] der kolonialen Herrschaftslogik des „ihr oder wir“ bleibt jedoch bestehen. Der Gewalt als Legitimation des kolonialen Systems[DAT133] folgt eine ironische Umkehr. Die Sprache des Kolonialisierten ist die Sprache der Gewalt. Sie ist im Zuge des Kampfes seine absolute Praxis geworden. „Deshalb versteht sich der Kämpfer als Arbeiter“ (Fanon 1981: 72). Hier argumentiert Fanon im Sinne[DAT134] einer marxistischen Ontologie[DAT135] . So wie Marx die „Arbeit“ als existentielle Grundlage[DAT136] des menschlichen Seins betrachten, übertragt Fanon diese Ontologie[DAT137] auf den Gegenstand der Gewalt. Das was den Kolonialisierten[DAT138] in seinem Sein ausmacht, ist die Arbeit am Tod des Kolonialherrn. Die Gewalt wird als ideale Vermittlung zur Integration des[DAT139] Gruppenzugehörigkeit und als identitätsbildende Grundbedingung verstanden. „Der kolonialisierte Mensch befreit sich in der Gewalt und durch sie. Die Praxis klärt den Handelnden auf, weil sie ihm Mittel und Zweck zeigt“ (Fanon 1981: 72). [DAT140] In einer Dichtung von Césaire macht Fanon deutlich, wie die unaufhaltsame Gewalt den Unterdrückten zum Menschen macht. „Ich schlug zu, das[DAT141] Blut spritzte: das ist die einzige Taufe, an die ich mich heute erinnern kann“ (Fanon 1981: 74). [DAT142] Hier wird auch deutlich, dass Fanon von einem Prozess sprich[DAT143] t, der über die Bedeutsamkeit rationale Vernunft hinausgeht und auf der Ebene einer Art religiösen Erleuchtung vollzogen wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gewalt des Kolonialregimes einer proportionalen Gegengewalt der Kolonialisierten gegenüber[DAT144] steht. Diese Homogenität steht im Widersp[DAT145] ruch zur Heterogenität des Kolonialsystems. Die Reden über die Gleichheit aller Menschen führten letztlich zu einem Zirkel der Gewalt und Gegengewalt, aus dem es kein Zurück[DAT146] mehr gibt. Mit dem Begriff der Arbeit macht Fanon die existentielle[DAT147] Struktur der Handlungen deutlich. Die manichäistische Logik verfestigt sich. Der Kolonialisierte arbeitet am Tod des Kolonialherren und der Kolonialherr arbeitet an der vollständigen Unterdrückung des Kolonialisierten.
„Das Auftreten des Kolonialherrn hatte synkritische Bedeutung: Tod der autochthonen Gesellschaft, kulturelle Lethargie, Versteinerung der Individuen. Das Leben kann für den Kolonialisierten nur aus der verwesenden Leiche des Kolonialherrn entstehen. Dergestalt entsprechen sich also, Begriff für Begriff, die beiden Argumentationsweisen“ (Fanon 1981: 76) [DAT148] .
Für den Kolonialisierten hat die Gewalt zwei Folgen. Auf der Ebene des Volkes oder der Nation wirkt sie totalisierend und integrierend. Als Bindemittel der Nation führt sie auch zu einer Auflösung von Stammesverbänden und Regionalismus. Auf der individuellen Ebene befreit die Gewalt den Kolonialisierten von Minderwertigkeitskomplexen, macht ihn fruchtlos[DAT150] und rehabilitiert ihn. Sie hebt ihn auf die Stufe seiner Anführer. In seinem[DAT151] Hunger nach dem Konkreten widerstrebt ihm Demagogie und Opportunismus[DAT152] . „Von der Gewalt erleuchtet, rebelliert das Bewusstsein des Volkes gegen jede Pazifizierung“ (Fanon 1981:78).
Im Folgenden werden nun zusammenfassend fünf Merkmale kolonialer Systeme aus Fanons Theorie extrahiert. Diese dienen im späteren Verlauf der Arbeit als Kategorien zur Analyse. Als Merkmale herausgestellt werden das binäre Herrschaftsverhältnis, die Gewalt, Verdinglichung und widersprüchliches Werteverständnis, die Volksbildung und die kapitalistischen Wechselwirkungen. Hier muss angemerkt werden, dass die einzelnen Merkmale sowohl in der Theorie als auch in der Praxis ineinandergreifen.
Über das binäre Herrschaftsverhältnis beschreibt Fanon den Aufbau der kolonialen Welt. Neben der offensichtlichen, räumlichen Unterscheidung der Apartheit in den Kolonien, stellt er auch die grundlegende Heterogenität und die manichäische Logik in den Vordergrund, die der Kolonialisierte letztlich übernimmt. So führt die existentielle Unterscheidung des Kolonialsystems [DAT153] zwischen Kolonialisierten und Kolonialherr im Zuge der ausbrechenden Gewalt zu seinem logischen Schluss, im Sinne des Grundsatzes „ihr oder wir“ (vgl [DAT154] Fanon 1981: 30f, 71).
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- Arbeit zitieren
- David Schmucker (Autor:in), 2018, Eine gestohlene Revolution? Strukturen eines modernen Kolonialismus im Syrien-Konflikt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/456080
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