Diese Arbeit untersucht folgende Fragestellung: „Handelt eine pädagogische Fachkraft einer Kita zwingend moralisch, wenn sie einem Kind, welches in der Kita, in der sie arbeitet, betreut wird, in ihrer Freizeit zur Hilfe kommt?“ Diese Fragestellung soll im Folgenden anhand von Auszügen des Textes „Über die Grundlage der Moral“ von Arthur Schopenhauer erörtert werden.
Der Text ist für die Fragestellung relevant, da er der Frage nach dem Kriterium für moralisches Handeln nachgeht. Neben den pädagogischen Fachkräften hat die Klärung der Fragestellung für alle Arbeitenden Nährwert, die außerhalb ihrer Arbeitszeit ihrer Klientel moralisch korrekt gegenübertreten möchten.
Modul 21
Handelt eine pädagogische Fachkraft einer Kita zwingend moralisch, wenn sie einemKind, welches in der Kita, in der sie arbeitet, betreut wird, in ihrer Freizeit zur Hilfe kommt?
1) Einleitung
Die Praxisphasen meines Dualen Studiums absolviere ich einer Kindertageseinrichtung (Kita). In dieser Kita werden 60 Kinder im Alter von null bis sechs Jahren an fünf Tagen in der Woche (Montag bis Freitag) zwischen 7:00 Uhr und 17:00 Uhr betreut. Während dieser Betreuungszeiten sind die pädagogischen Fachkräfte, offiziell durch einen Betreuungsvertrag, für die Kinder der Einrichtung verantwortlich. Demnach stehen außerhalb der Kita lediglich die Personensorgeberechtigten des Kindes für dessen Wohl in der Verantwortung und nicht die pädagogischen Fachkräfte.
An einem Samstag der vergangenen Praxisphase war ich mit meinem Patenkind und seiner Mutter in einem Einkaufszentrum unterwegs. Während die Mutter meines Patenkindes Ein- käufe erledigte, ging ich mit meinem Patenkind auf den Spielplatz des Einkaufszentrums. Mein Patenkind ist zwei Jahre alt und dementsprechend besonders aufsichtsbedürftig. Auf dem Spielpatz angekommen entdeckte ich ein Kind, das in der Kita, in der ich tätig bin, betreut wird. Sein Name ist Lukas1. Lukas war ebenfalls an diesem Tag mit seinen Eltern zum Einkaufzentrum gefahren. Die Eltern standen am Rande des Spielplatzes und waren in ein Gespräch mit anderen Personen vertieft. Ich hingegen spielte auf dem Spielplatz mit meinem Patenkind und genoss die gemeinsame Zeit mit ihm. Lukas hatte andere Kinder auf dem Spielplatz kennengelernt und spielte mit ihnen Fangen. Plötzlich bemerkte ich ei- nen Streit zwischen Lukas und einem der anderen Kinder, der darin endete, dass Lukas von dem anderen Kind laut angeschrien wurde und anfing, zu weinen. Ich hielt nach Lukas Eltern Ausschau. Diese waren jedoch weiterhin in ihre Unterhaltung vertieft und bemerkten den Vorfall nicht. Da ich keine schnelle Reaktion von den Eltern erwarten konnte, sah ich Handlungsbedarf meinerseits. Gleichzeitig war ich mir aber auch darüber bewusst, dass die Situation nicht in meiner Verantwortung, sondern in der Verantwortung der Eltern lag, da ich als Privatperson und nicht als pädagogische Fachkraft im Einkaufszentrum unter- wegs war. Ich wollte die Zeit mit meinem Patenkind verbringen, da wir uns in letzter Zeit kaum gesehen hatten. Außerdem konnte ich mein Patentkind, weil es so jung ist, nicht alleine lassen, um Lukas zu helfen und den Streit gegebenenfalls zu schlichten. Dieser Konflikt brachte mich dazu, über meine zukünftige Haltung gegenüber solchen Situationen nachzudenken. - Welche Handlung ist solchen Kontexten moralisch korrekt? Ebenfalls ist mir hinsichtlich dieses Konfliktes bewusst, wie wichtig die Freizeit am Wochenende und die damit verbundene Erholung von der Arbeit, besonders im sozialen Bereich, ist.
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Da sich mein Fallbeispiel allgemein auf alle Situationen übertragen lässt, in denen pädago- gische Fachkräfte einer Kita ihrer Klientel in ihrer Freizeit begegnen, ergibt sich für mich folgende Fragestellung: „ Handelt eine pädagogische Fachkraft einer Kita zwingend mora-lisch, wenn sie einem Kind, welches in der Kita, in der sie arbeitet, betreut wird, in ihrer Freizeit zur Hilfe kommt?“ Diese Fragestellung soll im Folgenden anhand von Auszügen des Textes „Über die Grundlage der Moral“ von Arthur Schopenhauer2 erörtert werden. Der Text ist für die Fragestellung relevant, da er der Frage nach dem Kriterium für moralisches Handeln nachgeht. Neben den pädagogischen Fachkräften hat die Klärung der Fragestel- lung für alle Arbeitenden Nährwert, die außerhalb ihrer Arbeitszeit ihrer Klientel moralisch korrekt gegenübertreten möchten.
2a) Darstellung des Bezugstextes
Arthur Schopenhauer beschäftigt sich in dem mir vorliegenden Auszug seines Werkes zu- nächst mit der Frage nach dem Kriterium für moralisches Handeln, da seiner Meinung nach nicht jeder gut scheinenden Handlung auch ein „guter“ Antrieb zu Grunde liegt (vgl. S. 101): Für Schopenhauer ist lediglich jenes Handeln als moralisch zu bewerten, welches frei von jeglicher böswilligen und egoistischen Motivation ist. Egoistisch bedeutet in diesem Kontext für Schopenhauer, dass das Motiv, das den Menschen zum Handeln geführt hat, eigennüt- zig ist. (vgl. S. 102)
Allgemein aufs Handeln bezogen führt Schopenhauer auf, dass keine Handlung ohne Motiv geschehen kann und das sich jedes Motiv entweder auf das „Wohl und Wehe“ des*der Handelnden oder auf eine*n an der Handlung passiv Beteiligte*n bezieht. „Wohl und Wehe“ sind dabei folgendermaßen zu verstehen: Eine Handlung versucht dem Willen Entspre- chendes geschehen zu lassen, bzw. dem Willen Widersprechendes zu verhindern. (vgl. 104)
Bezieht sich die Handlung (und ihr Motiv) auf den Handelnden selbst, ist die Handlung laut Schopenhauer als egoistisch und damit unmoralisch zu bewerten, da sie aus eigennütziges Gründen geschieht. Durch diese Aussage wird deutlich, dass moralisches Handeln lediglich auf andere Personen und nicht auf die eigene Person bezogen sein kann. (vgl. S. 104 f.) Auf der Grundlage dieser Erkenntnis geht Schopenhauer im weiteren Verlauf seines Textes der Frage nach, wie es möglich sein kann, rein von Eigennützigkeit und nur im Sinne von „Wohl und Wehe“ des Anderen zu handeln (vgl. S. 106) - Diese Frage beantwortet Scho- penhauer, indem er die drei grundsätzlichen „Triebfedern“ beziehungsweise Motivationsar- ten menschlichen Handelns aufzeigt: Als erste Triebfeder beschreibt Schopenhauer die
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„Bosheit“, die die Schädigung eines anderen Menschen zum Ziel hat. Bei der zweiten Trieb- feder, dem „Egoismus“, steht die Eigennützigkeit im Vordergrund und motiviert zur Hand- lung, während in der dritten und für die Frage Schopenhauers entscheidende Triebfeder, dem „Mitleid, die Voraussetzung für jede moralische Handlung liegt. (vgl. S. 108) Damit das Handeln auf das „Wohl und Wehe“ einer anderen Person ausgerichtet sein kann, ist es von Nöten, sich mit der anderen Person identifizieren bzw. mit ihr mitleiden zu können. Durch das Mitleiden, so schildert Schopenhauer, verschmilzt man mit der anderen Person und schaltet seinen natürlichen Egoismus in „einem bestimmten Maße“ aus: „Etwas für sich zu tun“ wird dabei gleichgesetzt mit „etwas für jemand anderen zu tun“. (vgl. S. 106 f.)
Ursprünglich ist jeder Mensch zur Gewalt geneigt, was durch die dargestellte Triebfeder der Moral, dem „Mitleid“, ausgehebelt werden kann. Das Mitleid ist nach Schopenhauer jedem Menschen angeboren, muss dementsprechend nicht erworben werden, und hat seinen Ursprung in den Tugenden „Menschenliebe“ und „Gerechtigkeit“, was bedeutet, dass Menschen entweder aus Mitleid „in Form von Gerechtigkeit“ oder aus Mitleid „in Form von Menschenliebe“ moralisch handeln. (vgl. S. 106 f.) „Gerechtigkeit“ definiert Schopenhauer über die „Ungerechtigkeit“, die Menschen Gewalt und Leid zufügt. Daneben sieht Schopenhauer das Unterlassen von Pflichten/Übereinkünften, wodurch anderen Menschen Schaden zugefügt wird, ebenfalls als „ungerecht“ an. (vgl. S. 119) Das Mitleid aus Gründen der Gerechtigkeit sorgt dafür, dass wir uns selber „Stopp“ zurufen, wenn wir uns zu Taten der Ungerechtigkeit bereit fühlen, woraufhin wir dieses unterlassen und nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit (gesellschaftliche Werte und Normen, die wir zum Teil bereits verinnerlicht haben) handeln. Daraus geht hervor, dass wir aus Mitleid „in Form der Gerechtigkeit“, Handlungen „unterlassen“, die anderen Leid zu fügen. Das Mitleid „in Form der Menschenliebe“ gestaltet sich hingegen aktiver. „Menschenliebe“ bewegt einen Menschen dazu, anderen Personen etwas Gutes durch die Anteilnahme an ihrer Situation zu tun. Solche Handlungen müssen jedoch wiederum frei von egoistischen Motiven sein, um moralischen Wert zu haben. Wohltätigkeit aufgrund anderer Motive, wie beispielsweise der „Erfüllung“ der zehn Gebote Gottes, ist entweder egoistisch oder boshaft und damit nicht moralisch. Folglich ist der Grundsatz der Gerechtigkeit, durch Unterlassen niemandem zu schaden, und der Grundsatz der Menschenliebe allen aktiv zu helfen, soweit es möglich ist. (vgl. S. 125 ff.)
Des Weiteren geht Schopenhauer hinsichtlich der Triebfedern darauf ein, wie komplex und schwierig sich ihre Erkennung und Unterscheidung gestalten. Oft haben Handlungen, die auf den ersten Blick moralisch erscheinen, eine versteckte egoistische Motivation, wodurch sie als moralisch bewertet werden, dies jedoch nicht sind. Dabei kann sich die handelnde Person ihrer egoistischen Motive bewusst sein, muss sie aber nicht. Nicht selten entstehen Motive auch aus dem Unbewusstsein einer Person. (vgl. S. 105)
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2b) Diskussion und Übertragung
In dem von mir geschilderten Fallbeispiel stand ich vor einem inneren Konflikt, der mich dazu antrieb, mir Gedanken über meine prinzipielle Haltung in derartigen Situationen zu machen. Aus dieser Überlegung heraus entstand meine Fragestellung, die sich übergreifend auf alle in Kitas arbeitenden pädagogischen Fachkräfte bezieht: Handelt eine pädagogische Fachkraft einer Kita zwingend moralisch, wenn sie einem Kind, welches in der Kita, in der sie arbeitet, betreut wird, in ihrer Freizeit zur Hilfe kommt?
Mein innerer Konflikt stellte mich vor die Frage, ob ich Lukas helfen soll oder nicht. - An dieser Stelle ist es wichtig, zu betonen, dass diese beiden Handlungsmöglichkeiten nicht die einzigen Handlungsmöglichkeiten in der beschriebenen Situation darstellen: Ich hätte beispielsweise gemeinsam mit meinem Patenkind zu Lukas Eltern gehen und sie auf den Vorfall mit Lukas aufmerksam machen können. Ebenso hätte ich andere Personen in der Umgebung bitten können, entweder Lukas zur Hilfe zu kommen oder seinen Eltern Bescheid zu geben. Aufgrund des beschränkten Umfangs des Essays, bleibt der Fokus weiterhin auf den zwei, im Fallbeispiel aufgezeigten, Handlungsmöglichkeiten. - Da laut Schopenhauer jede Handlung von einem Motiv angetrieben wird, weisen die zwei Handlungsmöglichkeiten, die sich aus der konflikthaften Frage ergeben, folglich auch ein Motiv auf. (vgl. S. 102) Als mögliche Handlungsmotive zählt Schopenhauer dabei die „Bosheit“, den „Egoismus“ oder das „Mitleid“ auf. (vgl. S. 108) Hinsichtlich dieser Motive sollen die beiden Handlungsmöglichkeiten im Folgenden untersucht werden:
Der Handlungsmöglichkeit, Lukas nicht zu helfen, sondern den Vorfall zu ignorieren, könnte auf den ersten Blick das Motiv „Egoismus“ unterstellt werden. Nach Schopenhauer ist Egoismus mit Eigennutz verbunden. (vgl. S. 102) Mein Eigennutz könnte in diesem Moment darin liegen, die Zeit mit meinem Patenkind, die ich in letzter kaum hatte, zu verbringen, um meine Beziehung zu ihm zu stärken.
Da Schopenhauer allgemein davon ausgeht, dass Motive nicht immer auf den ersten Blick erkennbar sind und dass das offensichtliche Motiv nicht immer dem wahren Motiv entspricht (vgl. S. 105), könnte unter bestimmten Umständen auch von einem anderen Motiv, beispielsweise der „Bosheit“, in Bezug auf diese Handlungsweise gesprochen werden. Laut Schopenhauer hat die „Bosheit“ die Schädigung eines anderen Menschen zum Ziel. (vgl. S. 108) - Möchte ich Lukas durch mein Nicht-Handeln einen Schaden zufügen? Zwar würde jeder, der sich das Fallbeispiel durchliest, diese Frage mit „Nein“ beantworten, jedoch bleibt das Beispiel meine subjektive Schilderung der Situation. - An dieser Stelle könnte die Frage gestellt werden, inwiefern Menschen ihr wirkliches Motiv preisgeben, besonders wenn die- ses (aus Egoismus oder Bosheit) nicht gesellschaftlich anerkennt ist. - Vielleicht bereitet Lukas mir und meinen Kollegen*innen in der Kita des Öfteren Probleme, wodurch ich den
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Moment, in dem Lukas angeschrien wurde und geweint hat, aus Schadenfreude genossen habe und meinen Spaß an der Situation nicht durch mein Handeln unterbrechen wollte. Vielleicht hat der Junge, der Lukas angeschrien hat, so gehandelt, wie ich es in meinen Wunschvorstellungen auch gerne tun würde, jedoch durch meine berufliche Position nicht darf. Diese aufgeführten Gedanken als Handlungsmotiv wirken auf den*die Leser*in meines Essays möglicherweise „zu gemein um wahr zu sein“ - Welche pädagogische Fachkraft einer Kita kann einem Kind gegenüber solche Gedanken haben? Auf diese Frage könnte nach Schopenhauer folglich geantwortet werden: Nicht jedes Motiv muss zwingend aus dem Bewusstsein eines Menschen heraus entstehen. Es kann seine Wurzeln ebenfalls im Unterbewusstsein haben und dadurch den Menschen unbewusst boshaft handeln lassen. (vgl. S. 105) Besonders die erwähnten Wunschvorstellungen können als Teil des Unterbewusstseins zum Antrieb der Handlung werden.
Im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeit, nicht zu helfen, wurden bisher lediglich die Motive „Egoismus“ und „Bosheit“ diskutiert. Vermutlich schließt jeder Mensch automatisch das Motiv des „Mitleids“ und somit eine moralische Handlung aus, wenn das aktive Helfen „verweigert“ wird. - Kann es jedoch sein, dass wir helfen, wenn wir nicht aktiv handeln? Als pädagogische Fachkraft könnte man von „Selbstregulierung“ sprechen, wenn ein Kind es schafft, sich selbst zu beruhigen. Außerdem könnte die Rede von hoher emotionaler und sozialer Kompetenz sein, wenn das Kind es schafft, den Streit selbstständig zu schlichten. Diese Fähigkeiten kann das Kind jedoch nur erwerben, wenn Erwachsene nicht immer sofort in jede schwierig erscheinende Situation eingreifen und diese auf ihre Art und Weise lösen. - Diese Überlegung könnte durch die von Schopenhauer aufgeführte Gerechtigkeit, als Wurzel des Mitleids, Zuspruch finden, wenn man versucht, sie auf eine abstraktere Weise zu verstehen: Bei der Gerechtigkeit geht es darum, zu unterlassen, jemandem Scha- den zuzufügen. (vgl. S. 119) Wenn wir aus pädagogischer Sicht argumentieren, dass durch Eingreifen dem Kind geschadet wird und wir das Eingreifen bewusst unterlassen, könnte diese Handlungsmöglichkeit als Handeln aus dem Motiv des Mitleids gedeutet werden.
Die zweite im Fallbeispiel geschilderte Handlungsmöglichkeit, Lukas zu helfen, lässt auf den ersten Blick auf das Motiv „Mitleid“ schließen, obwohl diese Vermutung bereits durch einige oben aufgeführte Argumente an Kraft verliert. Laut Schopenhauer kann Mitleid entweder aus Gerechtigkeit (siehe oben) oder aus Menschenliebe entwachsen. Die Menschenliebe bewegt einen Menschen nach Schopenhauer dazu, anderen Personen aktiv etwas Gutes durch die Anteilnahme an ihrer Situation zu tun. (vgl. S. 125 ff.) Das wäre der Fall, wenn ich zu Lukas gehe, ihn tröste, gegebenenfalls hochhebe, ihm aufmunternd zurede, anschließend eventuell nach dem Kind suchen, das Lukas angeschrien hat und mit den beiden ein Streitgespräch führen würde. - Ist Helfen jedoch auch immer zwingend als
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moralisch anzusehen? Für Schopenhauer ist lediglich jenes Handeln als moralisch zu bewerten, welches frei von jeglicher böswilligen und egoistischen Motivation ist. (vgl. S. 101) Wenn ich also mit meinem Handeln, Lukas zu helfen, bezwecke, einen guten Eindruck bei seinen Eltern zu machen, die neben Lukas ebenfalls zu meiner Klientel in der Kita gehören, ziele ich mit meinem Handeln auf einen persönlichen Vorteil ab, wodurch Schopenhauer mein Handeln moralisch entwerten würde. Ebenfalls würde Schopenhauer meinem Handeln den moralischen Wert absprechen, wenn ich von den Leuten in der Umgebung durch mein Handeln als „Gutmensch“ anerkannt werden und durch ihre Aufmerksamkeit wenigstens für einen kurzen Moment lang Anerkennung erhaschen möchte.
Nach dieser Diskussion stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, moralisch beziehungsweise ausschließlich im Sinne von „Wohl und Wehe“ (vgl. S. 104) einer anderen Person zu handeln? Nach Schopenhauer sind Menschen, die in ihrem Inneren glücklich sind, empfänglicher für echtes Mitleid. (vgl. S. 110) Meiner Meinung nach hat Schopenhauer mit dieser Aussage Recht. Ein Mensch, dessen eigenes Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung gesättigt ist, ist in seinem Selbstvertrauen so gestärkt, dass es ihm möglich wird, frei zu geben und zu helfen. Er braucht in diesem innerlichen Glückszustand keine Anerkennung und erwartet keine Liebe als Ausgleich für das, was er getan hat. Dies ist jedoch, meinen Erfahrungen nach, eher selten der Fall.
3) Schluss
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, kann ich auf die Leitfrage „Handelt es sich zwingend um eine Handlung mit moralischem Wert, wenn eine pädagogische Fachkraft außerhalb der Arbeitszeit ein Kind tröstet, welches zu ihrer Klientel gehört?“ mit einem „Nein“ antworten. Die allgemein für alle pädagogischen Fachkräfte des Kita-Bereichs geltende Fragestellung kann nicht objektiv gelöst werden, da Handlungsmotive nicht immer von außen zu erfassen sind beziehungsweise selbst für das handelnde Subjekt manchmal nicht fassbar sind, wenn beispielsweise Handlungen aus dem Unterbewusstsein heraus ausgeführt werden. Trotz alledem kann das Essay hilfreich für pädagogische Fachkräfte von Kitas sein. Es kann dazu anregen, seine Handlungen in dem für sich möglichen Rahmen zu überprüfen und den Versuch zu unternehmen, seine Handlungen nachzuvollziehen. - Aus welchen Beweggründen handle ich und passen meine Handlungsmotive mit meinem Titel als pädagogische Fachkraft und meinem damit verbundenen Auftrag zusammen? Dabei ist es jedoch wichtig, sich bewusst zu machen, dass kein Mensch, auch wenn er sich als pädagogische Fachkraft betiteln darf, fehlerlos ist. Das Wichtigste ist, „Fehler“ nicht als „von Gott gegeben“ und unveränderlich wahrzunehmen, sondern immer selbstreflektiert und offen für Selbstveränderung zu bleiben.
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1 Name aus Gründen der Anonymisierung geändert
2 Arthur Schopenhauer (1840): Die Tugend der Menschenliebe. §15-20. In: Arthur Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral. Hrsg. v. P. Welsen, Hamburg, Meiner 2007, S. 101-157.
- Citation du texte
- Anonyme,, 2018, Frage nach dem Kriterium für moralisches Handeln anhand von Auszügen des Textes "Über die Grundlage der Moral" von Arthur Schopenhauer, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/454664