„En nuestro país se hablan diversas lenguas. La mayoría de los mexicanos habla español. Otros mexicanos hablan lenguas indígenas, como el nahuatl, el maya o el zapoteco. ¿Qué lenguas se hablan en tu localidad?“
(SEP 1993 [2002] I: 166)
Das oben gebrachte Zitat enthält die Ausgangspunkte der vorliegenden Arbeit: Die Konstruktion von Identität in der Schulbildung und die Verortung ethnischer Identitäten im mexikanischen Nationalitätsdiskurs. Erstens ist die Schulbuchproduktion in Mexiko eng mit dem dominanten Nationalitätsdiskurs verbunden, da die Bücher kostenlos und obligatorisch vom Staat verteilt und folglich an allen Schulen des Landes gelesen werden. Zweitens hängt die Frage nach der Mexicanidad, der mexikanischen Identität, und deren Konstruktion eben wegen des staatlichen Schulbuchmonopols eng mit der Bildung zusammen. Und schließlich ist in den letzten zwanzig Jahren die mexikanische nationale Identität im offiziellen Diskurs zu einer pluriethnischen geworden, was 1990 in der Verfassung verankert wurde.
Die Frage, die sich ausgehend von diesen Interessenschwerpunkten stellt, ist: Wie wird in den Texten der aktuellen mexikanischen Schulbücher indigene Identität konstruiert?
Inhaltsverzeichnis
1) Einleitung
2) Theoretischer Rahmen
a) Warum Diskursanalyse für Schulbücher?
b) Michel Foucaults Ansatz
c) Methodische Vorschläge für Diskursanalysen von Schulbüchern
d) Die Konstruktion von Subjekten
e) Forschungsstand
f) Der Begriff Identität
3) Diskursiver Kontext
a)Zur Frage der Identität in Mexiko
b) Regionale Identitäten
c) Mexikanische Schulbücher
i) Geschichte
ii) Educación Indígena
4) Untersuchung der Schulbücher
a) Definition des Themenfeldes
b) Analyse
i) Die Einleitungstexte
ii) Libros Integrados der ersten beiden Klassen
iii) Monografías Estatales der dritten Klasse
Yucatán
Quintana Roo
Oaxaca
iv) Geschichtsbücher der vierten und sechsten Klasse
Vierte Klasse
Sechste Klasse
5) Schluss
Literatur
1) Einleitung
„En nuestro país se hablan diversas lenguas.
La mayoría de los mexicanos habla español.
Otros mexicanos hablan lenguas indígenas,
como el nahuatl, el maya o el zapoteco.
¿Qué lenguas se hablan en tu localidad?“ (SEP 1993 [2002] I: 166)
Das oben gebrachte Zitat enthält die Ausgangspunkte der vorliegenden Arbeit: Die Konstruktion von Identität in der Schulbildung und die Verortung ethnischer Identitäten im mexikanischen Nationalitätsdiskurs. Erstens ist die Schulbuchproduktion in Mexiko eng mit dem dominanten Nationalitätsdiskurs verbunden, da die Bücher kostenlos und obligatorisch vom Staat verteilt und folglich an allen Schulen des Landes gelesen werden. Zweitens hängt die Frage nach der Mexicanidad[1], der mexikanischen Identität, und deren Konstruktion eben wegen des staatlichen Schulbuchmonopols eng mit der Bildung zusammen. Und schließlich ist in den letzten zwanzig Jahren die mexikanische nationale Identität im offiziellen Diskurs zu einer pluriethnischen geworden, was 1990 in der Verfassung verankert wurde.[2]
Die Frage, die sich ausgehend von diesen Interessenschwerpunkten stellt, ist: Wie wird in den Texten der aktuellen mexikanischen Schulbücher indigene Identität konstruiert?
Eine Antwort darauf soll eine Analyse der Schulbuchtexte im Hinblick auf das Thema der momentan lebenden indigenen Bevölkerung geben. Einen aktuellen Zusammenhang bildet das Erstarken indigener Bewegungen in Lateinamerika, die ihre indigene Identität zur ideologischen Grundlage ihrer Forderungen machen.[3] In Mexiko haben seit 1994 die Zapatisten internationales Interesse erregt, die versuchen, die nationale Identität zu resignifizieren.
An das Schulbuchzitat anknüpfend, geht es also um das mexikanische „wir“, das indigene „sie“ und den Ort, der dem Leser jeweils zugewiesen wird. Daraus leitet sich die erste These ab: Die aktuellen mexikanischen Schulbüchern konstruieren indigene Identität stark nach einem wir – sie – Schema, das indigene Identität außerhalb der Mexicanidad verortet.
Die verwendete Methode ist die Diskursanalyse, da nicht untersuchen werden soll, wie die Bücher bei den Schülern ankommen, noch, inwiefern sie der Wahrheit entsprechen, sondern wie die Texte konstruiert sind. Foucault entwickelte die Theorie, dass Wahrheit ein Konstrukt ist, an dessen Herstellung Diskurse und diskursive Praxen ihren Anteil haben. Durch seine Analyse zeigt er, welche Regelmäßigkeiten im Diskurs auftauchen, welches also die Elemente sind, die den Diskurs ausmachen.
Ausgehend von Foucaults Ansatz haben Thomas Höhne und Christoph Pilgrim diskursanalytische Methoden speziell für Schulbücher entwickelt.
Christoph Pilgrim hat mexikanische und US-amerikanische Schulbüchder diskursanalytisch untersucht. Die vorliegende Arbeit kann insofern an seine Ergebnisse anschließen, als sie die neue Schulbuchgeneration analysiert, die er noch nicht betrachtet. Zudem liegt hier der Schwerpunkt auf der Konstruktion indigener Identität in der Gegenwart, während Pilgrim sich auf die historischen Kapitel der Bücher konzentriert. Weitere Arbeiten, die im Kapitel über den Forschungsstand vorgestellt werden, benutzen nicht konsequent die Diskursanalyse. Anhand dieser soll eine methodische Abgrenzung vorgenommen werden. Einige liefern dennoch Erkenntnisse über die Textstrukturen in älteren Schulbüchern, die ebenfalls ergänzt werden können.
Theoretisch ist erst zu klären, was Identität überhaupt ist. Dafür sind die Ansätze von Manuel Valenzuela Arce und Benedict Anderson hilfreich. Valenzuela Arce geht davon aus, dass Identität in Abgrenzung von anderen Individuen oder Gruppen gebildet wird, wobei Interaktion für den Identitätsbildungsprozess wichtig ist. Seine Theorie ist nützlich für die Frage, wie Mexikaner und Indigene als von einander abgegrenzte oder sich abgrenzende Gruppen in den Schulbüchern dargestellt werden. Des weiteren entwickelt er verschiedene Kategorien von nationaler Identität, in die sich der mexikanische Staat sowie die Zapatisten als Akteure einordnen lassen.
Benedict Anderson beschreibt die Nation als eine vorgestellte Gemeinschaft. Die Nation ist nicht dasselbe wie der Staat, staatliche Institutionen als Akteure tragen jedoch maßgeblich zur aufrecht Erhaltung dieser Gemeinschaften bei. In Mexiko ist ein Mittel dazu die Verteilung der kostenlosen Schulbücher.
Ein weiteres Gebiet, auf dem dieser Diskurs reproduziert wird, sind die Arbeiten von Intellektuellen, Wissenschaftlern sowie Journalisten, die sich mit der Mexicanidad befassen. Diese standen bis in die 80er Jahre hinein meist in Diensten des Staates (vgl. Zapata 2004: 288). Durch kritische Texte unterstützten sie auf diese Weise eine Erneuerung des Nationalitätsdiskurses vom dominanten Akteur aus.
Ich werde verschiedenen Texte zur Identitätsdiskussion in Mexiko vorstellen und die wichtigsten Regeln des Diskurses herausarbeiten, um auf dieser Grundlage die Schulbuchtexte zu betrachten. Dabei handelt es sich einerseits um ältere Texte wie von Manuel Gamio, José Vasconcelos und Guillermo Bonfil Batalla. Sie setzen sich mit der nationalen Identität im Zusammenhang mit der indigenen Bevölkerung sowie mit der Erziehung auseinander. Das heißt, sie verorten die indigenen Kulturen als Gegenstand an verschiedenen Stellen des Diskurses. Verschieden je nachdem, ob es sich um alte Kulturen oder die zeitgenössischen Indigenen handelt. Erstere gelten seit der Revolution 1910 als konstitutives Element der mexikanischen Identität, letztere als Bevölkerungsgruppe, die am Fortschritt nicht teil hat und daher integriert werden muss, um das nationale Projekt nicht zu gefährden.
Die zweite These, von der diese Arbeit ausgeht, ist, dass diese Konstruktion indigener Identität als bezüglich des Fortschritts rückständige eine Kontinuität darstellt und auch in den Schulbüchern dominant ist.
Manuel Gamio und José Vasconselos machen Vorschläge, wie durch die Bildung dieser von ihnen benannte Rückstand aufgeholt werden kann. Dabei sei eine Integration der Indigenen in das nationale Fortschrittsprojekt unerlässlich. Ebenso argumentiert Gonzalo Aguírre Beltrán, der über indigene Erziehung schreibt.
Innerhalb der hier ausgewählten Texte markiert Guillermo Bonfil Batallas Arbeit einen Wendepunkt, da er für eine Neubewertung der indigenen Kulturen, des „México profundo“ innerhalb des Nationalismusdiskurses plädiert. Der Staat bleibt dabei allerdings ein wichtiger Akteur.
Als Vertreter eines Gegendiskurses, die eine plurale Nationalität anstreben, gelten die Zapatisten. Sie benutzen die Symbole des mexikanischen Nationalismus, um Partizipation und Sebstbestimmung für die indigene Bevölkerung zu fordern.
Auch Miguel Bartolomé setzt sich mit der Selbstbestimmung und der Autonomie der indigenen Bevölkerung auseinander. Er gibt zu bedenken, dass sich Pluralismus auf dem Papier gut anhört und von kaum einem Akteur abgelehnt wird, die Umsetzung in die Praxis aber wesentlich schwieriger ist. Diesen Bedenken schließt sich Roger Bartra an, allerdings unter einem anderen Vorzeichen: Indem er behauptet, die Indigenen seien ohne den Staat nicht in der Lage, für sich zu entscheiden, reproduziert er das Schema des unmündigen, rückständigen Indigenen, das schon bei Gamio und Vasconselos deutlich wurde.
Trotz der Kritik wurden Elemente des Gegendiskurses in das staatliche Programm zur Entwicklung der indigenen Völker (Programa Nacional para el Desarollo de los Pueblos Indígenas) aufgenommen. Während wiederholt betont wird, dass die Indigenen als Subjekte angesehen werden sollen, schreibt ihnen der Text an anderen Stellen erneut eine Opferrolle zu.
Ähnliches geschieht in den Schulbuchtexten, wie die darauffolgende Analyse zeigen soll.
Gegenstand der Untersuchung sind die aktuell benutzten Geschichtsbücher der sechs Grundschulklassen. Die Einschränkung auf die Grundschule wurde zum einen aus praktischen Gründen getroffen, um das Material einzuschränken. Zudem eignen sich die Grundschulbücher zu einer Analyse, da sie aufeinander aufbauen: Die Libros Integrados der ersten beiden Klassen führen in das Studium der Geschichte ein, die Monografías Estatales der dritten Klasse erweitern die Vermittlung der Geschichte auf den jeweiligen Bundesstaat, und die Bücher der vierten und sechsten Klasse behandeln schließlich die Geschichte von ganz Mexiko. Das Buch der fünften Klasse enthält vor allem Weltgeschichte und thematisiert nicht das aktuelle Mexiko, daher wird es hier nicht einbezogen.
Jeder Staat hat seine Monografía Estatal. Für diese Arbeit wurden drei ausgewählt: Yucatán, Quintana Roo und Oaxaca. Während in den ersten beiden Staaten, die auf der yucatekischen Halbinsel liegen, vor allem Maya-Bevölkerung lebt, gibt es in Oaxaca 16 verschiedene Ethnien. Dies erlaubt den Vergleich aiuf zwei Ebenen: Zum einen verschiedene Bücher zu einer ähnlichen Bevölkerungszusammensetzung und im Kontrast dazu ein Band zu dem Staat mit der gößten ethnischen Diversität.
Daher handelt ein weiteres Kapitel von regionalen Identitätsdiskursen, um zu zeigen, wie diese sich vom Nationalitätsdiskurs unterscheiden. Es soll weiterhin untersucht werden, wie sich dieser Unterschied in den Schulbüchern wiederspiegelt oder nicht.
Die Diskussion um die staatlichen Schulbücher war in Mexiko immer eng mit der Diskussion um nationale Identität verbunden. Wie die Diskussion um ihre Produktion verlief, zeigt das Kapitel über die Schulbücher. Es enthält auch einen Abschnitt über die Educación Indígena und deren Entwicklung von einem Konzept der Diversität als Problem hin zu dem der Diversität als Recht.
Die eigentliche Analyse der Schulbücher ist zunächst textimmanenet und untersucht die Struktur der Texte in Hinsicht auf sprachliche Form, Verortung des Themas innerhalb des Buches, Bewertungen und Schlussfolgerungen. Dann werden die Ergebnisse zu dem diskursiven Kontext in Beziehung gesetzt.
Abschließend soll gefragt werden, welche weiteren Forschungsfragen sich aus dieser Arbeit entwickeln ließen.
2) Theoretischer Rahmen
a) Warum Diskursanalyse für Schulbücher?
Schulbücher werden von mehreren Autoren verfasst, unterstehen der Kontrolle staatlicher Institutionen und sind häufig Gegenstand gesellschaftlicher Debatten.[4] Thomas Höhne bezeichnet in seinem Entwurf zu einer Theorie des Schulbuches das in Schulbüchern vermittelte Wissen als das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen zahlreichen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren mit verschiedenen Interessen (Höhne 2003: 61, Anmerkung 1). Als Ergebnis dieses Aushandlungsprozesses vermitteln die Schulbuchtexte laut Höhne ein sozial anerkanntes und somit dominantes Wissen (ebd.: 79).
Das Besondere an den Schulbuchtexten ist seiner Ansicht nach einerseits, dass sie das im Zuge des Aushandlungsprozesses von den dominanten Akteuren als wichtig definierte Wissen pädagogisch kodiert und historisch und zeitlich verdichtet vermitteln (ebd.: 73). Andererseits „glauben“ Schulbuchforscher und Pädagogen an die Schulbücher, beziehungsweise an die unmittelbare Wirkung ihres Inhalts auf die Schüler (ebd.: 65).
In ihrer Funktion als Medium weisen die Texte den jungen Lesern einen Platz in der von ihnen beschriebenen Gesellschaft zu. Dabei geben sie ihnen verschiedene Rollen vor, etwa als Kinder ihrer Eltern, Schüler oder Mexikaner. Es ist jedoch zu bedenken, dass die Schüler auch durch ihre Familie und die Massenmedien beeinflusst werden und die Geschichte und das soziale Umfeld jedes einzelnen Kindes seine Art determinieren, die Bücher zu verstehen (vgl. ebd.: 65).
Schulbücher sollen in dieser Arbeit daher nicht als Medium verstanden werden, dessen Inhalt einen unmittelbaren Einfluss auf die Meinungen der Schüler ausübt.
Diese Voraussetzungen – die Strukturierung der Texte durch dominantes Wissen und die „Rollenzuweisung“ an die Schüler – bedingen die Konstruktion von Identitäten in den Texten (ebd.: 79).
Eine Methode zur Untersuchung dieser Konstruktion muss von den Texten selbst ausgehen. Gegenstand dieser Untersuchung ist, welche Fragestellungen die Texte strukturieren, wie Themen eingeordnet werden, wie Gruppen von Menschen bezeichnet werden und an welcher Stelle in der beschriebenen Gesellschaft die Schüler plaziert werden.
Diese textimmanente Sichtweise ist in der internationalen Schulbuchforschung bisher wenig verbreitet.
Christoph Pilgrim beschreibt in seiner Dissertation zu US-amerikanischen und mexikanischen Schulbüchern die normativ-aufklärerische Tradition der Internationalen Schulbuchforschung. Es wurde und wird vor allem danach gefragt, ob die Texte wissenschaftlich objektiv haltbar sind und ob sie Vorurteile zu überwinden helfen (Pilgrim 2000: 14). Pilgrim kritisiert diesen Forschungsansatz mit Hilfe der Vorurteilsforschung, die davon ausgeht, dass Vorurteile nicht nur kognitiv gebildet und beibehalten werden, sondern auch emotional und im aktiven Handeln. Daher kann eine rein kognitive Beeinflussung wie durch einen Schulbuchtext gar nicht alleine ein Vorurteil abbauen. Außerdem, so der Autor, werde hier davon ausgegangen, dass Schüler „Trichter“ sind, die das Gelernte so verarbeiten, wie sie es hören, ohne es durch eigenes Denken und eigene Erfahrungen zu modifizieren (ebd.:17).
Durch die Vorurteilsforschung angeregt gingen dann einige Forscher davon aus, dass Wahrheit ein Konstrukt sei. Ihre Antwort auf diese Erkenntnis, so Pilgrim, waren vor allem ideologiekritische Ansätze (ebd.: 18). Diese arbeiten mit der Gegenüberstellung von wahr und falsch und suchen in den Texten nach Stellen, die die Tatsachen ideologisch verzerren (ebd.: 18). Sie konzentrierten sich also nicht mehr auf die Vermittlung von Normen, sondern auf die im Text verborgene Ideologie. Sie versuchten zu zeigen, ob die Wahrheit „gut“ oder „schlecht“ konstruiert wurde.
Pilgrim kritisiert auch dieses Vorgehen. An Beispielen zeigt er, dass Forscher die Strukturen, die sie kritisieren, häufig selbst reproduzieren, wenn sie den zu analysierenden Texten unterstellen, dass diese die Tatsachen verfälschten. So sei der Vergleich eines Textes mit Fachliteratur wenig sinnvoll, wenn die Fachliteratur dieselben Argumentationsstrukturen verfolgt wie der Schulbuchtext (ebd.: 26). Es würden nur zwei unterschiedliche Arten, dieselbe Aussage zu machen, dargestellt. Weiterhin weist Pilgrim auf die Gefahr hin, das eigene Blickfeld einzuschränken. Forscher vermuten zum Beispiel zu analysierende rassistische Äußerungen von vornherein in einem bestimmten Kapitel und untersuchen andere Teile des Dokuments daher erst gar nicht (ebd.: 27).
Die Vorgehensweise Pilgrims ist hingegen, den Texten keine Intentionen zur Verfälschung oder Verzerrung von Tatsachen zu unterstellen und diese finden zu wollen, sondern die Struktur des Textes selbst zu betrachten und die Fragen an den Text aus dieser Struktur selbst heraus zu entwickeln. Die von ihm bevorzugte Methode führt
„ (...) weg von der Frage, wie man zur Wahrheit gelangt, hin zu der nach den Regeln, die eingehalten werden müssen, damit etwas als wahr anerkannt wird“. (ebd.: 63)
Das im Schulbuch vermittelte dominante Wissen wird durch das Einhalten der Regeln als wahr anerkannt. Daher bringt eine Analyse dieser Regeln Aufschluss über die anerkannte Wahrheit bezüglich eines Themas. Damit verbunden ist die Positionierung der Leser innerhalb dieser „Wahrheit“.
Eine Theorie dieser Regeln hat Michel Foucault entwickelt.
b) Michel Foucaults Ansatz
Diskurse im Foucaultschen Sinne sind nicht wie eine Sprache eine Gesamtheit von Zeichen, sondern Praktiken, die die Gegenstände, von denen sie sprechen, hervorbringen (Foucault 1973: 74).
Der Diskurs speist sich aus dem Willen zum Wissen bzw. dem Willen zur Wahrheit und produziert somit Wahrheiten.[5] Jede Gesellschaft, so Foucault, produziert ihre Wahrheiten, und diese Wahrheitsproduktion bewirkt Macht (Foucault 1978: 51). Die „politische Ökonomie der Wahrheit“ (ebd.) ist gebunden an den wissenschaftlichen Diskurs und dessen Institutionen. Ihre Produktion und Verteilung wird von wenigen großen Institutionen wie Universitäten und Medien kontrolliert. Zugleich ist sie auch Gegenstand gesellschaftlicher Konfrontationen (ebd.: 52). Dies trifft auch auf das in den Schulbüchern vermittelte Wissen zu, deren Inhalte in einem Prozess der Aushandlung entstehen, wie oben gezeigt wurde.
Bei seinen Analysen geht es Foucault nicht um das Auffinden einer „hinter den Diskursen“ liegenden Wahrheit, denn
„Nun glaube ich aber, dass das Problem nicht darin besteht, Unterscheidungen herzustellen zwischen dem, was in einem Diskurs von der Wissenschaftlichkeit und von der Wahrheit, und dem, was von etwas anderem abhängt, sondern darin, historisch zu sehen, wie Wahrheitswirkungen[6] im Innern von Diskursen entstehen, die in sich weder wahr noch falsch sind.“ (Foucault 1978: 34)
Entsprechend diesem Ansatz wird die vorliegende Arbeit nicht versuchen, Lügen zu entlarven, sondern Strukturen der Konstruktion von Wahrheit in den Schulbüchern zu analysieren. Das oben erwähnte, in den Schulbüchern vermittelte dominante Wissen kann auch als von den beteiligten Akteuren konstruierte Wahrheit bezeichnet werden, die durch die Vermittlung im Medium Schulbuch an die Leser weitergegeben wird.
In der „Archäologie des Wissens“ entwirft Foucault eine umfassende Theorie seiner Diskursanalyse, die er zuvor schon an verschiedenen historischen Beispielen wie der Klinik und dem Gefängnis durchgeführt hatte.[7] Seine Theorie stützt sich auf die Begriffe der Aussage, des Diskurses und der diskursiven Formation. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Objekte, Begriffe, Äußerungsmodalitäten und Themenfelder Regelmäßigkeiten unterliegen, die er als Formationsregeln bezeichnet (Foucault 1978: 58). Eine Menge von Aussagen, die zum gleichen Formationssystem gehören, nennt Foucault Diskurs (ebd.: 156).
Die Verfahren zur Produktion und Regelung von Aussagen sind wiederum an die Wahrheitswirkungen gebunden (Foucault 1978: 53).
In seiner Analyse, der „Archäologie“, will Foucault die Regelmäßigkeit[8] der Aussagen untersuchen (ebd.: 205). Diese Regelmäßigkeit
„(...) bezeichnet für jede Art sprachlicher Performanz (sei sie außergewöhnlich oder banal, in ihrer Art einzigartig oder tausendfach wiederholt) die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen sich ihre Existenz sichernde und bestimmende Aussagefunktion vollzieht.“ (ebd.: 206)
In ihrer Eigenschaft als Funktion der Zeichen determinieren die Aussagen das, „was gesagt werden darf“. Die diskursiven Formationen als eine Menge von Aussagen determinieren auf die gleiche Weise ein bestimmtes Themenfeld. Die Elemente einer diskursiven Formation, ihre Begriffe, ihre Gegenstände, die Art der Äußerungen, und die thematische Wahl sind den selben Regeln unterworfen. Foucault untersucht etwa die diskursiven Formationen, die zu einer Veränderung in der Strafgesetzgebung im 18. Jahrhundert führten.[9] Dabei betont er die Untersuchung der Regelmäßigkeiten:
„Ein Formationssystem in seiner besonderen Individualität zu definieren, heißt also, einen Diskurs oder eine Gruppe von Aussagen durch die Regelmäßigkeit einer Praxis zu charakterisieren.“ (ebd.: 108)
An dieser Stelle wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen den Begriffen „Diskurs“ und „diskursive Formation“ schwierig ist. Mir scheint, dass der Begriff der diskursiven Formation ein Hilfsmittel zur Analyse der Aussagen ist. Diaz-Bone setzt in seiner Untersuchung die Begriffe von vornherein gleich, indem er sagt, der Diskurs werde durch die oben im Zusammenhang mit der diskursiven Formation verwendeten vier Kategorien gekennzeichnet (Diaz-Bone in Bublitz et al. 1999: 123). Auch Hanke benutzt beide Begriffe als Synonyme:
„Hier haben wir eine merkwürdig schillernde Konzeption von Gesetzmäßigkeit vorliegen: Denn die Zugehörigkeit der Aussagen zur diskursiven Formation – kurz: Diskurs – und ihr Gesetz der Bildung bzw. Streuung ‚sind ein und dieselbe Sache (...).“ (Hanke in Bublitz et al. 1999: 111)
Ich verstehe „Diskurs“ als eine Menge von Aussagen, die denselben Regelmäßigkeiten unterliegen. Diese Regelmäßigkeiten werden innerhalb eines Formationssystems mit vier Elementen beschrieben: Den Gegenständen, den Äußerungsmodalitäten, den Begriffen und der thematischen Wahl.[10]
Ich untersuche die Regelmäßigkeiten, die die Aussagen bestimmen, die innerhalb der diskursiven Formation „Nationale Identität“ gemacht werden. Dabei interessieren mich verschiedene Gegenstände[11]: Die indigene Identität in Relation zur nationalen Identität und die Erziehung im Zusammenhang mit nationaler Identität.
Die verschiedenen Texttypen, die in meiner Analyse behandelt werden – Schulbuchtexte sowie theoretische Texte zu den Themen Erziehung und nationale bzw. indigene Identität – entsprechen meiner Ansicht nach den Äußerungsmodalitäten einer diskursiven Formation.
Foucault plädiert in einer Vorlesung zum Thema Machtmechanismen dafür, die Macht innerhalb ihrer Praktiken zu analysieren. Innerhalb dieser Praktiken wirkt sie subjektkonstituierend, und es interessiert Foucault, wie diese Konstituierung funktioniert (Foucault 1978: 81). Die Wirkung der „Macht“ liegt bei dem hier behandelten Thema in der Zuschreibung einer ethnischen Identität an eine Gruppe im Zusammenhang mit dem Entwurf einer nationalen Identität. Dies gilt für alle in der Analyse auftauchenden Texttypen, hat jedoch ein besonderes Gewicht in einem Schulbuch, das explizit dominantes Wissen vermitteln soll.
c) Methodische Vorschläge für Diskursanalysen von Schulbüchern
Um eine Methode für meine Analyse zu erarbeiten, stütze ich mich auf das von Thomas Höhne entworfene und auf Schulbuchtexte angewandte System der Thematischen Diskursanalyse (TDA)), auf die Vorschläge Siegfried Jägers zur Durchführung von Diskursanalysen und auf Christoph Pilgrims Ansatz.
Die Thematische Diskursanalyse nach Höhne beinhaltet die Rekonstruktion thematisch-semantischer Grundstrukturen von sprachlich-zeichenhaftem Material. (Höhne in Keller 2003, 389/390). Diskurse sind nach Höhne
„(...) die sprachlich-zeichenförmige Seite des gesellschaftlich dominanten Wissens.“ (ebd. 390)
Dem Transport dominanten Wissens durch die Diskurse bei Höhne entspricht meiner Ansicht nach die wahrheitsgenerierende Wirkung der diskursiven Praxis bei Foucault. Des weiteren sind Diskurse nach Meinung Höhnes themengebunden. Auch Foucault spricht von verschiedenen thematisch gebundenen Diskursen, weist jedoch darauf hin, dass auch die Benennungen dieser Diskurse Gegenstand der Analyse sein müssen (Foucault 1973: 34). Er nennt verschiedene „Diskurs-Typen“, wie den Religions- Literatur- oder Geschichtsdiskurs. Höhnes „Thema“ ist dem gegenüber vielleicht eher zu vergleichen mit dem, was Foucault als „Diskursive Formation“ bezeichnet. Ein Thema im engeren Sinne als operativer Begriff ist laut Höhne zunächst
„ (..) ein potentiell-aktuales, gegenstandsbezogenes Reproduktionsschema typischer Verkettungen von Aussagen.“ (Link 1999: 153 zit. nach Höhne in Keller 2003: 394)
Höhne, Pilgrim und Jäger schlagen eine ähnliche Vorgehensweise vor, in dem sie von einer allgemeinen Ordnung des Textkorpus und Einordnung des Themas zur Feinanalyse der Texte gehen. In diesem Sinne werde ich meine Untersuchung folgendermaßen gliedern:
1) Bestimmung des Textkorpus: Welche Schulbücher werden untersucht? Dabei werden nähere Informationen zum Untersuchungsgegenstand, wie Jäger sie beschreibt (Jäger in Bublitz et. Al. 1999: 142), schon in den Kapiteln über Geschichte der Schulbücher und des Forschungstandes gegeben.
2) Einordnung der zu untersuchenden Texte in die Struktur des Schulbuches. Dabei wird diese Struktur im ganzen vorgestellt. Fragen sind, in welchen Kapiteln oder Unterkapiteln das Thema vorkommt, welche Überschriften die Abschnitte haben und wieviel Platz dem Thema zugestanden wird.
3) Untersuchung der intradiskursiven Relationen nach Höhne. Es soll gezeigt werden, wie die Texte in sich strukturiert sind, und eine Sprachanalyse wird vorgenommen. Höhne benutzt hier dafür Begriff der Kohäsion (Höhne in Keller 2003: 399), Jäger spricht von sprachlich-rhetorischen Mitteln (Jäger in Bublitz et al. 1999 : 143).
4) Untersuchung der interdiskursiven Relationen nach Höhne. Hier geht es auch um Kausalbeziehungen und räumlich/zeitliche Zuordnungen. Durch eine Analyse der Kohärenz durch Aussage- und Argumentationsanalysen wird untersucht, was der Text voraussetzt (Höhne in Keller 2003: 400/401). Dabei soll auch Pilgrims Methode auf die einen Text strukturierende Fragestellung zur Anwendung kommen. Die für die Fragestellung eines Textes relevanten Aussagen nennt Pilgrim „raumrelevant“, die nicht relevanten nennt er „raumirrelevant“ (Pilgrim 2000: 73).
5) Zusammenfassung und Bewertung. Die Ergebnisse werden wiedergegeben und mit den Ergebnissen der Analyse des Diskurses über nationale und indigene Identität auf den anderen Diskursebenen verglichen.
Zwei Begriffe sollten noch genauer erläutert werden: Die Aussage- und Argumentationsanalyse nach Höhne sowie Pilgrims Begriff der Raumrelevanz.
Höhne benutzt die Aussage- und Argumentationsanalyse im Zusammenhang mit der Kohärenz. Im Gegensatz zur Kohäsion, die sich auf die grammatikalischen, lexikalischen, phonologischen und orthographischen Mittel des Textes bezieht, schließt die Kohärenz an das Vorwissen des Lesers an und untersucht im Text auftauchende Voraussetzungen und Annahmen (Höhne in Keller 2003: 400). Um diese aufzuspüren, verknüpft Höhne den behaupteten Teil einer Aussage (Konklusio) mit dem vorausgesetzten Teil einer Aussage (Argument) und erhält eine, meist implizite, Schlussregel.[12]
Pilgrim will, anschließend an seine Ablehnung ideologiekritischer Schulbuchforschung[13], statt mit den Begriffen „wahr“ und „falsch“ mit „raumrelevant“ und „raumirrelevent“ arbeiten. Sein Ausgangspunkt ist:
„Jedem Text liegt eine ihn dominierende Fragestellung zugrunde, die darüber bestimmt, welcher Sachverhalt, welches historische Ereignis, welche historischen Akteure auf welche Weise an welcher Stelle im Text auftauchen.“ (Pilgrim 2000: 72)
Auch er bezieht sich hier auf Foucault. Dieser wollte zeigen, warum der Diskurs
„ (...) nicht anders sein konnte, als er war, (...) wie er inmitten der anderen und in Beziehung zu ihnen einen Platz einnimmt, den kein anderer besetzen könnte.“ (Foucault 1992 zit. nach Pilgrim 2000: ebd.).
Aussagen im Text, die innerhalb der dominanten Fragestellung wichtig für das Verständnis des Textes sind, nennt Pilgrim „raumrelevant“, solche, die weggelassen werden könnten, ohne die Aussage des Textes zu verändern, „raumirrelevant“ (ebd.: 73).[14] Pilgrims Frage ist:
„Welchen Effekt erzielt die jeweils dominierende Fragestellung auf die Darstellung des jeweiligen Gegenstandes (z.B. historische Ereignisse, historische Akteure)? An welchen Stellen kommt es zu argumentativen Brüchen?“ (ebd.: 76)
Besonderes Interesse gilt in der vorliegenden Arbeit der Frage, inwiefern raumirrelevante Effekte auf die Darstellung indigener Identität wirken.
d) Die Konstruktion von Subjekten
Es soll hier also mit Hilfe der oben erklärten Instrumente untersucht werden, wie die Identitäten indigener Menschen in den Schulbüchern konstruiert werden. An dieser Stelle sei verdeutlicht, wie diese Konstruktion von Statten geht.
Laut Thomas Höhne werden in den Schulbuchtexten Identifikationsangebote gemacht, die Subjekte im sozialen Raum positionieren, und zwar
„Aufgrund des Instruktionspotentials der sprachlich-bildlichen Diskurse bzw. der Appellstruktur des Textes bzw. der Sprache (..) mitsamt den expliziten Arbeitsaufgaben (...).“ (Höhne 2003: 95)
Höhne verweist auf Judith Butlers Begriff des konstitutiven Charakters von Sprache,
„(..) wonach hergestellt wird, worüber gesprochen wird (etwa Geschlecht, Ethnizität, Nation usw.).“ (ebd.: 96)
Entsprechend heißt es bei Foucaults Diskursbegriff: Der Diskurs als Praxis produziert seine Gegenstände. Durch die pädagogische – mediale Form der Schulbuchtexte wird die Wirkung auf den Gegenstand Identität verstärkt.
Der nationale Diskurs in den Schulbüchern produziert mexikanische Identität und verortet ethnische Identitäten. Der Effekt dieser Konstruktion ergibt sich laut Butler aus einer Wiederholung der identitätszuweisenden Praktiken, in diesem Falle der Behandlung der Schulbuchtexte. Auf das in den Büchern vermittelte Wissen Bezug nehmend schreibt Höhne:
„Die Gesamtheit dieser Positionierungen und Zuschreibungen kann als performatives Potential von Diskursen bzw. diskursförmigem Wissen begriffen werden, das in entsprechenden Praxisformen und institutionalisierten Kontexten (d.h. Unterricht) entfaltet werden kann.“ (ebd.: 97)
Die Subjektkonstruktion findet also auf der Ebene der diskursiven Praxis institutionalisierter Wissensvermittlung statt. Darauf hat auch Foucault schon in seiner Inauguralvorlesung hingewiesen: Das Erziehungssystem, so meint er, manipuliert die Aneignung der Diskurse durch das Individuum. (Foucault 1991 [2003]: 29/30) In einem Interview zum Thema Wahrheit und Macht sagt Foucault, dass die konstruierte Wahrheit unter anderem durch das Erziehungssystem verbreitet wird (Foucault 1978: 52).
Auch ich gehe davon aus, dass der nationale Diskurs Wahrheit produziert. Durch die wiederholte Anrufung von Subjekten wird diese konstruierte Wahrheit auf sie, die Subjekte, angewandt.[15] Welche Wirkungen dabei entstehen, kann hier nicht weiter untersucht werden. Statt dessen werden die Regeln der Anrufung analysiert.
e) Forschungsstand
In diesem Kapitel sollen einige bisher entworfene Ansätze deutscher und mexikanischer Forscher vorgestellt werden, um zu zeigen, von welchen sich diese Arbeit abgrenzt und welchen sie folgt.
Die in diesem Kapitel behandelten Texte benutzen entweder die Diskursanalyse als Methode, wie etwa die von Christoph Pilgrim, oder sie behandeln mit einer anderen Methode die Themen indigene Bevölkerung und /oder nationale Identität.
Lorenza Villa Lever geht bei ihrer Analyse der sozialen Repräsentation in Schulbüchern[16] davon aus, dass die Bücher immer eine Ideologie vermitteln (Villa Lever 1988: 17). Trotz dieser Ausgangsthese ist für sie die Materialität des Textes wichtiger als die dahinter vermutete Absicht:
„En el análisis de la presentación social, la voluntad es menos importante que la materialización concreta en el relato.“ (ebd.: 20)
In der Definition der sozialen Repräsentation schließt Villa Lever sich Chombart de Lauwe an und bezeichnet diese als Rekonstruktion der Realität durch das Subjekt (ebd.: 22). In ihrer Analyse vergleicht Villa Lever die Diskussionen, die die Entwicklung der staatlichen Schulbücher begleiteten, sowohl die der Befürworter der Bildungspolitik als auch die der Gegner, mit den Inhalten der Schulbücher (ebd.: 27). Sie geht davon aus, dass es sich bei der Debatte um die Schulbuchinhalte vor allem um einen Kampf um die Kontrolle des Bildungssystems handelt. In Foucaultschen Begriffen ausgedrückt, wird um die diskursive Macht im Bildungssystem gekämpft.
Sie analysiert zwei Schulbuchgenerationen: Erstens die Spanischbücher der ersten Generation aus der Regierungszeit von Lopez Matéos (1958-1964) , zweitens die Lektürebücher der Echeverría-Regierung 1970-1976.
Bei der Analyse der ersten Schulbuchgeneration wählt sie vier thematische Abschnitte des Buches aus: Heimat, Familie, Schule und Arbeit (ebd.: 95).
Villa Levers Ansatz ist eher ideologiekritisch. Ihre Analysen sind zunächst deskriptiv, sie beschreibt, was in dem Text steht und stellt die wichtigsten Akteure vor. Dann benennt sie das Defizit des Textes: Geschichte wird nicht als Prozess dargestellt, sondern als Zusammenstellung einzelner Fakten (ebd.: 103). Die Gegenwart, obgleich Referenz für vergangene und zukünftige Ereignisse, wird als inhaltslos dargestellt, da sie in keinen Prozess eingebunden ist (ebd.). In der Gegenwart sind die vergangenen Konflikte bereits gelöst, und die Zukunft wird dank der Lehren aus der Vergangenheit besser werden (ebd.) Villa Levers Hauptkritik ist die mangelnde Verankerung der dargestellten Verhältnisse in der sozioökonomischen Realität Mexikos. Um ihre Zweifel an den Schulbuchtexten zu belegen, rekurriert sie unter anderem auf den Vergleich mit der Realität. An einer Stelle im Schulbuchtext wird die Schule der Protagonisten beschrieben, ein Institut mit einer langen Geschichte, aus dem viele erfolgreiche Frauen und Männer hervorgegangen sind. Zwei Beipiele nennt das von Villa Lever herangezogene Zitat: einen Militär und einen Schriftsteller (ebd.: 127). Die Autorin vergleicht nun mit der mexikanischen Realität. Demnach beendeten die meisten Militärs nicht einmal die Grundschule, und wenn auch davon ausgegangen werden kann, dass hochrangige Militärs vielleicht studieren, so habe doch das mexikanische Militär kein hohes Ansehen. Sie fragt sich, was der Text mit diesem Beispiel will.
Ebenso wird die Arbeit nicht in ihrem sozialen Kontext dargestellt.[17] In diesem Zusammenhang unterstellt sie den Büchern das intentierte, versteckte Vermitteln einer Ideologie:
„En los textos son la patria – México – y la sociedad – el pueblo mexicano – los que reciben dichos beneficios (Vorteile durch Lohnarbeit, D.S.), pero tal generalidad sólo ayuda a disfrazar el planteamiento, pues evita hablar de la relación entre propietario y trabajador.“ (ebd.: 132)
Die andere Gruppe Schulbücher sind Lektürebücher und vermitteln insofern Ideologie noch indirekter, als die Aufgabe des Autors ja vor allem in der Auswahl der Texte besteht (ebd.: 201). In den Büchern wird kein mexikanisches, sondern ein nicht näher bestimmtes Kind angesprochen, und dementsprechend sind die Themen auch noch weniger in der sozialen Realität verankert als in den anderen Büchern (ebd.: 206). Bei der Analyse der ausgewählten Texte stellt Villa Lever zunächst fest, dass die Natur überhöht ästhetisch dargestellt wird. In dieser Darstellung, kritisiert sie, haben andere Konzepte, wie das der Indigenen, und andere Lebensumstände, wie die von Lohnarbeitern auf Obstplantagen, keinen Raum (ebd.: 212).
An vielen Stellen legt Villa Lever ihrer Kritik an der Auswahl der Lektürestücke ihre eigene Interpretation dieser Stücke zu Grunde. Diese Vorgehensweise ist insofern problematisch, als jeder der Texte von Autor, Entstehungszeitraum und Genre beeinflusst ist.
An anderer Stelle kritisiert Villa Lever dagegen ein Gedicht von Pablo Neruda vor dem Hintergrund seines restlichen Werkes (ebd.: 223)[18]. Dieses Vorgehen ist besser nachvollziehbar, da sie den Textausschnitt im Buch zu Autor und Genre in Beziehung setzt.
Während die Bücher der sechziger Jahre die mexikanischen Kinder zu Staatsbürgern erziehen und ihre nationale Identität stärken sollten (ebd.: 236), verlassen die Schulbücher der Echeverría – Regierung den Nationalismus als Ziel und präsentieren den jungen Lesern eine ästhetisierte Version der Realität, was sich vor allem an der Darstellung von Arbeit und Natur zeigt, so Villa Lever in ihrem abschließenden Kapitel. An ihrer Arbeit zeigt sich, dass der ideologiekritische Ansatz insofern problematisch ist, als die Definition der „Wirklichkeit“ als Vergleichsfolie immer im Ermessen des Betrachters liegt.
Lilian Àlvarez de Testa verwendet in ihrem Beitrag über Schulbücher und Mexicanidad eine mehr textimmanente Methode. Ihrer Arbeit liegen drei Fragen zu Grunde: Erstens, wie die mexikanische Identität in den Büchern definiert wird, zweitens, welche Informationen über die antiken und heute lebenden indigenen Kulturen vermittelt werden und welche Rolle diese in der Identitätsbildung der Mexikaner haben, und drittens, was die pädagogischen Konsequenzen dieser Zuschreibungen sind (Àlvarez de Testa 1992: 8). Die Antworten auf diese Fragen, die sie in der Einleitung vorwegnimmt, sind folgende: Zunächst ist die Mestizaje[19] als Synonym für die Mexicanidad inakzeptabel, da sie die (auch indigene) Kultur der Mexikaner geringschätzt (ebd.). Dementsprechend sind die Darstellungen der Indigenen, sowohl alter Kulturen als auch heute lebender, unzureichend, da sie wie ein „herrenloses Gut“ gezeigt werden (ebd.: 9). Daraus folgt eine reduzierte Darstellung der indigenen Kulturen, die sich negativ auf die Entwicklung der Mexikaner auswirkt, was einer Kolonisierung gleichkommt (ebd.). De Testa verwendet mit dem Begriff der „Kolonisierung“, die sich nach innen wendet, einen typischen Begriff der Indigenismus-Kritik.[20]
De Testa bezieht die Schulbuchtexte teils auf Handbücher für Lehrer (ebd.: 22), oder auf den Text einer Schulbuchautorin (ebd.: 43). Meistens analysiert sie jedoch sehr eng am Text und zeigt, wo dieser in sich ungereimt ist. So zeigt sie, wie die Schwarzen aus einem Sozialkundebuch verschwinden. Zunächst werden sie beim Thema der Vermischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Mexiko erwähnt, doch ein paar Seiten später sei nur noch von Indios, Mestizen und Kreolen die Rede. De Testa kritisiert:
„Sin justificación alguna, se cambian las reglas del juego. O bien los mexicanos no son todos mestizos, o todos los negros lo son, o éstos desaparecen de la historia. De cualquier manera, ya no se identifica a los negros como tales.“ (ebd.: 19)
Obwohl die Autorin nicht ausdrücklich einen diskursanalytischen Ansatz verwendet, analysiert sie hier die Regelmäßigkeiten des Schulbuchdiskurses, wie sie selbst sagt. Allerdings ordnet sie ihre Ergebnisse sofort in ein Bewertungsschema ein, indem sie die Texte als rassistisch bezeichnet:
„Así, los españoles son los españoles. Pareciera que se está escribiendo desde su punto de vista, somo si ellos fueran el punto de referencia. Este vicio se encuentra a lo largo de la exposición histórica presentada en los Libros de Texto.“ (ebd.: 16)
Die indigenen Kulturen, so Álvarez de Testa, werden in ein Zivilisationsschema eingeordnet, das sie automatisch überkommen erscheinen lässt und ihre kulturelle Differenz daher nicht akzepiert (ebd.: 36). Außerdem kritisiert sie die Konstruktion von wir/sie-Strukturen, die die Indigenen außerhalb der Mexicanidad verorten (ebd.: 8).
Dem entgegen setzt die Autorin eine Erziehung, die von den kulturellen Voraussetzungen der Schüler ausgeht (ebd.: 38), und beendet ihre Arbeit mit einem konkreten Vorschlag für ein Radioprogramm zum Erlernen des Nahua (ebd.: 73ff.).
Der Ansatz von Àlvarez de Testa ist insofern produktiv, als Strukturen der Texte deutlich werden. Ihre Analyse ist dabei auf die Entwicklung eines Gegenvorschlags ausgerichtet. In Kapitel vier wird sich zeigen, inwieweit die von de Testa herausgearbeiteten Strukturen auch die aktuelle Schulbuchgeneration bestimmen.
Auch Fransisco Vallado Fajardo sucht in seiner Studie nach einem neuen Lehrkonzept. Sein Anliegen ist es, Vorschläge zu entwickeln, wie die Inhalte der Schulbücher der neuen plurikulturellen Denkrichtung[21] in Mexiko anzupassen seien (Vallado Fajardo 1987: 11). Den Schulbüchern kommt dabei laut dem Autor die Aufgabe zu, die Diversität der Gesellschaft darzustellen (ebd.: 34). Um ein Bild vom Realitätsgehalt der Texte zu bekommen, vergleicht er die Darstellung von Stadt und Land in den Büchern mit der Wirklichkeit in zwei ruralen Gemeinden in Yucatán (ebd.).
Sein Ansatz ist also normativ, er hat eine genaue Vorstellung, wie die Bücher auszusehen haben, und er misst die Texte an ihrem Realitätsgehalt. Dabei beschreibt er jedoch nur die Schulbuchtexte, ohne eine wirkliche Analyse vorzunehmen. Konkreter sind seine Vorschläge. Die indigene Bevölkerung müsse mehr erwähnt werden:
„De tal manera, que los libros de texto deberían enseñar más sobre estos grupos, dónde habitan, cómo se distingiuen de los demás, cuál es su manera de pensar, qué problemas tienen para vivir.“ (ebd.: 39)
Seine weiteren Vorschläge beziehen sich vor allem auf die Darstellung der Landbevölkerung. So solle in den Büchern dargestellt werden, dass auch reiche Leute auf dem Land wohnen. Die Beurteilung von Stadt- und Landleben, so Vallado, ist zu einseitig. Auf dem Land gebe es nicht nur Armut und harte Arbeit, und das Stadtleben sei nicht nur bequem (ebd.).
Die hier gemachten Vorschläge sind weniger ausgearbeitet als die von Álvarez de Testa. Der Autor verlangt einfach nur eine Erwähnung der indigenen Bevölkerung, ohne zu sagen, wie über diese gesprochen werden soll. Ein Vergleich mit der Lebenswirklichkeit der Schüler ist interessant, beschränkt jedoch die Analyse auf die Kategorien realistisch bzw. unrealistisch.
Luz Elena Galván analysiert die Abbildungen von Helden in den Schulbüchern und anhand dieser die Sichtbar- und Unsichtbarwerdung von Akteuren (Galvan in Radkau/Siller 1998: 205). Zu Beginn des Aufsatzes definiert sie drei Analysekategorien: Das Vorstellen im Sinne von Anderson[22], das Lachen sowie den Körper (ebd.: 206).[23] Die Bilder von Helden, betont sie, zeigen das Vorgestellte, Bildhafte des Nationalismus (ebd.: 115). Sie behandelt die Geschichtsbücher der vierten und sechsten Grundschulklasse und beschränkt sich auf vier Themen: Die prähispanischen Kulturen, der Unabhängigkeitskrieg, das unabhängige Mexiko ab 1821 und die Revolution (ebd.: 206). In ihrer Beschreibung der Heldenbilder benutzt sie das Buch „Siglo de Caudillos“ von Enrique Krauze als Vergleichsfolie und erklärenden Text. Er befindet sich somit auf einer anderen Ebene als die Schulbücher, denn er wird nicht hinterfragt. Krauzes Text ergänzt die in den Büchern durch Bilder vermittelten Informationen. Bei der Darstellung Hidalgos zum Beispiel fragt sich Galván, warum im Buch der vierten Klasse eine Abbildung des jungen Hidalgo auftaucht und eine weitere des Älteren. Anhand von Krauzes Text erklärt sie, dass der spätere „Vater der Unabhängigkeit“ erst in späteren Jahren als feiner älterer Herr dargestellt wurde, um seine nicht ins Bild passende wilde Jugendzeit zu verdrängen (ebd.: 213).
„Este relato de Krauze nos explica el porqué de la diferencia entre las dos imágenes que contiene este libro de cuarto, ya que no hay que olvidar que el material visual está cargado de significados ideológicos.“ (ebd.: 214)
Das Vorstellen ist Teil der Nationenbildung, und daher ist es laut Galvan fruchtbar für das Verständnis dieses Prozesses, sich mit den Bildern in den Schulbüchern auseinanderzusetzen (ebd.: 226).
Galvans Umgang mit Krauzes Text ist problematisch, da dieser als historische Wahrheit und nicht als Text behandelt wird. Sinnvoll erscheint mir die Kategorie der „Sichtbarwerdung“, die sie für neu auftretende Akteure in den Büchern anwendet, zum Beispiel für die Arbeiter unter dem Porfiriat, die in diesem Kapitel plötzlich auf Abbildungen auftauchen (ebd.: 219).
Zum Schluss sei noch ein Beispiel angeführt aus dem Buch Pilgrims, dessen Methode hier verwendet werden soll[24].
Pilgrim geht es
„ (...) um die Identifizierung der Regeln, die in den Darstellungen herrschen, und welche Effekte diese auf die Darstellung historischer Ereignisse und ihrer Akteure haben.“ (Pilgrim 2000: 9)
Er untersucht vier Geschichtsbücher von 1884, 1922, 1986 und 1996. Dabei sieht er erst bei dem Buch von 1986 raumirrelevante Effekte auftreten (Pilgrim 2000: 170). Der Autor benutzt auch andere Analysekategorien, etwa die der diskursiven Strukturierung. Im Buch von 1922 etwa nennt er diese Strukturierung hinsichtlich der Eroberung Mexikos durch die Spanier Mexikos durch die Spanier den „Pädagogischen Diskurs von der Nation als Vorbild“ (ebd.: 162). Innerhalb dieser komme der spanischen Krone eine positiv besetzte Rolle zu, da sie die aufständischen Indigenen zur Rechenschaft ziehe, um die Ordnung aufrecht zu erhalten und auch die spanischen Landbesitzer bestrafe, die die Indigenen ausbeuten (ebd.). Eine wichtige Rolle spielten hier laut dem Schulbuch die Mönche, die die Indianer befreiten und Kirchen bauen ließen (zit. nach Pilgrim 2000: 161). Innerhalb dieser Struktur sind die Indigenen nur eine devote Masse, die entweder befreit und geschützt oder bestraft wird (ebd.: 162). Pilgrim folgert:
„Effekt dieser Strukturierung ist es, dass Christianisierung und Ausbeutung der indianischen Arbeitskraft als Widerspruch erscheinen.“ (ebd.)
Im Unterschied dazu geht es bei dem raumirrelevanten Effekt um einen Bruch der diskursiven Regel. Bei der Darstellung der Eroberung in dem Geschichtsbuch von 1986 sind die den Text dominierenden Fragen laut Pilgrim die nach dem Vorgehen der Eroberer, die Protagonisten der Geschichte sind, und nach den Hindernissen und Erfolgen der Eroberung (ebd.: 169). Hindernis ist unter anderem der Widerstand der indigenen Völker. Ein Bruch mit der Regel[25] ist für Pilgrim die Erwähnung der Tlaxkalteken, die bei der Eroberung der Philippinen halfen (ebd.: 170). Diese Information ist insofern raumirrelevant, als sie nicht auf die dominierende Fragestellung antwortet.
An anderer Stelle erklärt Pilgrim., wie die Handlungen der indigenen Bevölkerung raumrelevant dargestellt werden. Er behandelt in dem in einem privaten Verlag erschienenen Schulbuch von 1996 die Eroberung Zentralmexikos. Auch hier ist die Frage, wie die Eroberung vonstatten ging. Der Text erklärt, wie die verschiedenen indigenen Völker gegen die Spanier kämpften oder sich gegen sie verbündeten (ebd.: 186). Pilgrim meint:
„Dadurch wird die Eroberung über den Anteil verschiedener indigener Völker an diesem Ereignis erklärt.“ (ebd.: 187)
Ihn interessiert hinsichtlich der indigenen Völker die Verteilung von raumrelevanten oder raumirrelevanten Effekten. In seinen abschließenden Betrachtungen bemerkt Pilgrim, dass der Versuch des aktuellsten Schulbuches von 1996, Mexiko als tolerantes, pluralistisches Land darzustellen, gerade zu stark raumstrukturierenden Effekten führt. Vor allem das Erbe der indigenen Kulturen sei wichtig, und
„Damit, was dieses Erbe beinhaltet, wird ein normativer Kanon gebildet, der nur bestimmte Praktiken zulässt, weil es hier um normative Fragen geht, etwa die Frage, was die mexikanische Gesellschaft den Missionaren schuldet.“ (ebd.: 195)
Den heute lebenden Indigenen kommt in dieser Struktur allenfalls eine museale Funktion als Bewacher alter Kulturen zu, so Pilgrim weiter (ebd.: 196).
Die vorliegende Arbeit wird insofern Pilgrims Ergebnisse ergänzen, als eine genauere Untersuchung der Verortung aktueller indigener Kulturen vorgenommen wird und nur aktuelle mexikanische Schulbücher behandelt werden. Eine Diskursanalyse der Schulbücher hinsichtlich der aktuellen Indigenen in den zur Zeit benutzen Büchern gibt es meines Wissens noch nicht.
Vorschläge zu entwickeln, wie es de Testa und Vallado machen, ist nicht Ziel dieser Arbeit. Vielmehr soll am Schluss darauf hingewiesen werden, welche weiteren Themen für eine Analyse von Interesse wären.
f) Der Begriff Identität
Jose Manuel Valenzuela Arce weist in dem von ihm herausgegebenen Sammelband zur Identität darauf hin, dass der Begriff „Ethnizität“ bzw. das Konzept der ethnischen Identität zu Beginn jeder wissenschaftlichen Arbeit erst für diese Arbeit festgelegt wird (Valenzuela Arce 2000: 97). Dies soll im Folgenden geschehen.
Ethnische und nationale Identitäten entstehen einerseits historisch, zum anderen formen sie die Interpretation der Geschichte. Bei den hier besprochenen Schulbüchern handelt es sich um Geschichtslehrbücher, die Vermittlung von Identität findet also auf der Grundlage der Vermittlung von Geschichte statt. Ich werde daher im Folgenden auf drei Punkte eingehen: Nationale Identität, Identität und Geschichte und ethnische Identität.
Um Nationalismus und die Herausbildung der nationalen Identität zu verstehen, ist Benedict Andersons Darstellung nützlich. In seinem Buch „Imagined Communities“ hat er den Anspruch, den Nationalismus zu interpretieren. Dabei geht er von der These aus, dass Nationalismus ein kulturelles Artefakt ist, dass sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts[26] gebildet hat und sich dann in andere zeitliche und räumliche Zusammenhänge „verpflanzen“ ließ (Anderson 1991: 4). Im Folgenden stellt er diachron die Entwicklung des Nationalismus dar.
Nach seiner Definition ist die Nation eine vorgestellte Gemeinschaft. Vorgestellt deshalb, weil alle ihre Mitglieder sie akzeptieren, obwohl sie nicht alle anderen Mitglieder kennen. Sie ist außerdem limitiert, weil eine Nation nicht die ganze Welt sein will. Weiterhin ist sie souverän, weil sie sich zu einem historischen Zeitpunkt entwickelt hat, an dem die aufgeklärte Vorstellung eines souveränen Staates die Idee der göttlichen Erbfolge ablöste. Und schließlich ist sie eine Gemeinschaft, weil alle ihre Mitglieder an die Brüderlichkeit glauben und bereit wären, sich für diese zu opfern (ebd.: 6/7).
Eines der zentralen Elemente bei der Herausbildung der nationalen vorgestellten Gemeinschaften ist für den Autor die Sprache und im Zusamenhang mit dieser der Kapitalismus, der zum ersten Mal eine rege Publikation von Büchern und Zeitungen möglich machte. Diese Publikationen erfolgten nicht mehr in der alten Religionssprache Latein, die die christliche Gemeinschaft bis dahin zusammengehalten hatte, sondern in mundartlichen Sprachen (ebd.: 38) . So entstand eine Schriftsprache, die zwischen der „heiligen“ Hochsprache Latein und den gesprochenen Dialekten angesiedelt war (ebd.: 44/45).
Pioniere der Nationenbildung, so Anderson, waren die lateinamerikanischen Kreolen. Hier ist eine andere Wurzel des Nationalismus als die sprachliche zu suchen, denn die Kreolen sprachen die Sprache der Eroberer, von denen sie sich gerade lösen wollten. Seiner Ansicht nach trugen die geschlossenen administrativen Einheiten, in denen Neuspanien verwaltet wurde, sowie die durch reisende Funktionäre geschaffenen Verbindungen innerhalb der Grenzen dieser Einheiten zur Bildung eines Nationalgefühls bei (ebd.: 52/53). Eine weitere wichtige Neuerung sowohl in Nord- als auch in Südamerika war erneut die Presse, die eine auf einer gemeinsamen Sprache basierende Informationsgemeinschaft möglich machte (ebd.: 62). An anderer Stelle macht Anderson darauf aufmerksam, dass die Kreolen von seiten der Spanier keine Zerstörung zu befürchten hatten, denn schließlich teilten sie sich mit diesen Religion und Hautfarbe (ebd.: 191). Erhellend an dieser Beobachtung ist die Berücksichtigung der „anderen Seite“, nämlich der indigenen Bevölkerung, die weder in die Sprach- noch in die Informationsgemeinschaft eingeschlossen war und somit an der Entwicklung des Nationalismus in den lateinamerikanischen Ländern nicht teil hatte. Im Gegensatz zu den Kreolen waren sie Opfer physischer Zerstörung, sowohl durch die Spanier als auch, nach der Unabhängigkeit, durch die Kreolen selbst.
Die Konzentration Andersons auf die Sprache halte ich für sehr sinnvoll, denn es wird sich zeigen, dass sowohl in den Analysen zu nationaler und indigener Identität in Mexiko als auch in den Schulbüchern die Sprache immer im Mittelpunkt der Debatte steht.
So stellt Anderson auch dar, wie die aus den neu entwickelten Hochsprachen entstandenen Staats-Sprachen hin zur sprachlichen Einheit tendierten. Zunächst passierte das ohne eine politische Absicht, doch mit dem Aufkommen des offiziellen Nationalismus[27] wurde die Sprach- auch zur Machtpolitik (ebd.: 45). Damit eng verbunden war natürlich die Bildungspolitik. Anderson zeigt anhand verschiedener Beipiele, wie das Schulsystem zur Schaffung der vorgestellten Gemeinschaft beigetragen hat. Zum Beispiel in Indonesien lehrten die Schulen alle Schüler, sie seien „Inländer“ – das heißt, innerhalb der Grenzen des Kolonialreiches geboren. Aus diesen „Inländern“ wurden später Indonesier (ebd.: 123). Zudem vereinheitlichte das Schulsystem durch Lehrpläne und Schulbücher das Wissen. So entstand ein dominantes Wissen, wie Höhne es bezeichnet.
Mit seiner Erzählung von der Konstruktion der „Inländer“ spricht Anderson die Abgrenzung einer vorgestellten nationalen Gemeinschaft von anderen an. Diesen Aspekt sehen viele Autoren als grundlegend für die Definition der Identitätsbildung an. Sie bezeichnen Identität als Prozess der Abgrenzung von Gruppen oder Individuen gegenüber anderen Gruppen oder Individuen durch die Entwicklung gemeinsamer Werte und Verhaltensweisen, die durch eine Symbolsprache ausgedrückt werden (Giménez in Valenzuela Arce 2000: 50, Vargas Delgadillo 1994: 40, Valenzuela Arce 2000: 28). Ein weiteres wichtiges Merkmal hängt mit diesem zusammen: Identitätsbildung funktioniert nicht im luftleeren Raum, sondern in Interaktion mit anderen Akteuren. Sie ist relational (Valenzuela Arce 2000: ebd., Gilberto Giménez in Valenzuela Arce 2000: 68, Friedman 2001: 184).
Nationale Identität bezieht sich laut Valenzuela Arce auf ein nationales Projekt, das durch national dominierende Akteure bestimmt wird (ebd.: 100). Im Prozess der Nationenbildung kommt es seiner Meinung nach zu einer kollektiven Redefinition, bei der vorher vorhandene ethnische Identitäten aufgelöst werden. Er bezeichnet diese Identitäten mit Bonfil Batalla als „profunde Identitäten“[28]. Die neuen Nationalstaaten schafften daraufhin eine Symbolwelt, die die Redefinition unterstütze (ebd.: 101).
In meiner Analyse trenne ich den Begriff der Nation von dem des Staates. Unter Nation verstehe ich das von Valenzuela und Anderson so genannte „erfundene Projekt“ einer Gemeinschaft, die in Abgrenzung von anderen ein gemeinsames Projekt verfolgt. Auch Valenzuela Arce betont, dass nicht jede nationalistische Bewegung an einen Staat gebunden sein muss (ebd.: 23). Der Staat ist im mexikanischen Bildungssystem ein dominanter Akteur unter anderem insofern, als das Erziehungsministerium als einzige Institution die allgemein obligatorischen Schulbücher herausgibt. In ihrer Rolle als dominante Akteure bringen die staatlichen Institutionen ein nationales Projekt voran und legen die Symbole fest, die mit diesem zusammenhängen. Natürlich handelt es sich hier um ein hegemoniales Projekt und es steht ausser Frage, dass es andere Projekte sowie Gegendiskurse gibt.
Valenzuela Arce betont mit Castoriadis (1983), dass ein Symbolsystem das vorgestellte Kollektiv schafft, das wiederum jeglichem sozialen Handeln sowie auch den Institutionen Sinn verleiht. Dies sei von Bedeutung, weil
„Es este aspecto compartido lo que permite la existencia de un sentimiento articulado en las relaciones sociales. Esta idea nos permite plantear el concepto de direcionalidad del processo social, con el cual queremos hacer referencia a una visión colectiva que otorga sentido, orden y valor a la vida social.“ (ebd.: 108)
Es geht also um eine kollektive Sinnkonstruktion.
Valenzuela Arce definiert verschiedene Formen des Nationalismus: Zunächst einen legitimierenden Nationalismus, der das dominante soziale Projekt aufrecht erhalten und fortführen will, egal, welche soziale Gruppe sich dafür einsetzt. Des weiteren beschreibt er den populären Nationalismus, der das dominante soziale Projekt von einem kritischen Standpunkt aus in Frage stellt. Die letzte Form schließlich ist der selbstbestimmte Nationalismus, der die nationale Souveränität thematisiert oder einfordert (ebd.: 106).
Meines Erachtens passt auf den mexikanischen Staat als dominanter Akteur das Konzept des legitimierenden Nationalismus. Das nationale Projekt, seit der Revolution ein Modernisierungs-Projekt, soll aufrecht erhalten werden, und möglichst alle sozialen Akteure sollen daran teilhaben. Sie sollen also ihre Identität, das heißt ihre Positionierung im sozialen Raum in Abgrenzung von und Interaktion mit anderen Akteuren, innerhalb der Grenzen eines nationalen Projektes vornehmen, das alle einschließt. Der zapatistische Diskurs[29] hingegen ist von dem selbstbestimmten Nationalismus geprägt, denn er fordert die Autonomie der indigenen Völker und somit die Möglichkeit dieser Gruppen, ein eigenes nationales Projekt zu entwerfen, innerhalb dessen sie ihre Identitäten bestimmen.
[...]
[1] Ich werde im Folgenden den spanischen Begriff übernehmen, da ich finde, dass es keine angemessene deutsche Übersetzung für diese Bezeichnung der mexikanischen Identität gibt. Nach der mexikanischen Revolution 1910 war eines der ersten Ziele des revolutionären Projekts, ein Mexiko „durch und für die Mexikaner“ zu schaffen (Maihold 1986: 101).
[2] Der einleitende Text des zweiten Artikels der mexikanischen Verfassung besagt: „Artículo 2.- La Nación Mexicana es única e indivisible.
La Nación tiene una composición pluricultural sustentada originalmente en sus pueblos indígenas que son aquellos que descienden de poblaciónes que habitaban en el territorio actual del país al iniciarse la colonización y que conservan sus propias instituciones sociales, económicas, culturales y políticas, o parte de ellas. La conciencia de su identidad indígena deberá ser criterio fundamental para determinar a quiénes se aplican las disposiciones sobre pueblos indígenas.
[3] Vgl. Bernecker (1998) in Pérez Siller/ Radkau García.
[4] Dass die Geschichte der mexikanischen Schulbücher dafür ein aufschlussreiches Beispiel abgibt, wird sich in Kapitel 3.c. zeigen.
[5] In seiner Einführungsvorlesung 1970 am Collége de France beschrieb Foucault neben den Verboten und der Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn die Abgrenzung zwischen wahr und falsch als dritten großen Ausschließungsmechanismus, der auf den Diskurs wirkt (Foucault 1974 (2003): 13). Zu diesem Zeitpunkt betrachtete Foucault den Diskurs noch eher als Struktur, die diesen Ausschließungsmechanismen unterliegt, denn als Praxis, die Strukturen hervorbringt, wie er es in den hier behandelten Texten tut.
[6] Geht man davon aus, dass eine allgemeingültige, „hinter“ den Diskursen liegende Wahrheit nicht existiert, so sind die Zuschreibungen „wahr“ und „falsch“ als Wirkungen von Machtstrukturen zu verstehen.
[7] Michel Foucault (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
[8] Regelmäßigkeit im Sinne von Gesetzmäßigkeit, die den Diskurs ausmacht, sowie im Sinne von Regelmäßigkeit, da die so beschriebenen Gegenstände, Begriffe, Äußerungsmodalitäten und thematische Wahl immer wieder auftauchen.
[9] Er bezieht sich auf das Auftauchen von Gegenständen, die mit Kriminalität zusammenhängen, in der Psychopathologie. Durch ein komplexes Netz von Beziehungen zwischen Ärzten, Psychologen, Richtern und Strafanstalten entstand seiner Beschreibung zufolge im 18. Jahrhundert der psychologisch durchleuchtete Straftäter. Foucault kommt es darauf an, die Gesamtheit dieser Beziehungen zu beschreiben, und nicht das plötzliche Auftauchen des Phänomens, dass Straftäter psychologisch analysiert werden (Foucault 1981: 65).
[10] Diese vier Elemente entsprechen den vier Funktionen der Aussagen (Hanke in Bublitz et al. 1999: 111). Für die hier geplante Analyse ist jedoch eine Vertiefung dieser Begriffe nicht notwendig, da es vor allem um die Analyse der Regelmäßigkeiten geht.
[11] Foucault betont, dass Diskurse ihre Gegenstände durch eine Gesamtheit von Regeln gestalten. Die so determinierten Gegenstände sind dann im Stande, neue hervorzubringen, ohne sich selbst zu verändern (vgl. Foucault 1981: 67). Auch im mexikanischen Nationalismusdiskurs tauchen neue Gegenstände auf, etwa indigene Kulturen, ohne dass der Gegenstand des Diskurses, die nationale Identität, sich verändert.
[12] Als erläuterndes Beispiel führt Höhne folgenden Satz aus einem deutschen Schulbuch an: „Sie (Ausländer) alle haben – zum Teil sehr große – Schwierigkeiten, im fremden Land Bundesrepublik Deutschland heimisch zu werden. Sie haben Schwierigkeiten mit uns, wir haben Schwierigkeiten mit ihnen.“ Laut Höhne ist nun das Argument „Sie alle leben in einem fremden Land“ und die Konklusio „es gibt Schwierigkeiten mit uns.“ Daraus ergibt sich die Schlussregel „Fremdheit und Heimatlosigkeit führen zu Problemen mit Einheimischen“ (Höhne in Keller 2003: 401).
[13] Siehe Kapitel 2.a.
[14] Ein Beipiel folgt in Kapitel 2.e.
[15] Zur Anrufung von Subjekten siehe Judith Butler (1998): Haß spricht.
[16] Siehe Kapitel 3.c.i
[17] In dem von Villa Lever analysierten Text wird die Arbeitsteilung, wie die Autorin feststellt, als organisatorisch notwendig dargestellt, aber der Text thematisert nicht die sozialen Strukturen, die sich durch sie reproduzieren (Villa Lever 1988: 131).
[18] „De la rica producción literaria de Neruda y de entre la diversidad de poemas de profundo contenido social que tiene, se ha escogido para estos textos uno de los que menos tratan la problemática del trabajo, tan cara al poeta chileno.“ (ebd.: 224)
[19] Auch dieser Begriff, der die Vermischung spanischen und indigenen Erbes beschreibt, hat keine adäquate Entsprechung im Deutschen.
[20] Siehe Kapitel 3.a. In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam Kritik an einer Politik auf, die die indigenen Kulturen in einem mestizischen Ganzen aufgehen lassen wollte. Dem wurde die Idee des Rechtes auf Differenz entgegengesetzt. Eine weitere Negierung der Differenz ihrer Kultur sei wie eine Fortsetzung der spanischen Kolonialherrschaft.
[21] Siehe Kapitel 3.a. und Fußnote 2 zur Einleitung. Seit 1990 ist die kulturelle Diversität Mexikos in der Verfassung verankert.
[22] Siehe Kapitel 2.f.. Für Anderson ist die Nation eine vorgestellte Gemeinschaft, da sich nicht alle Akteure dieser Gemeinschaft gegenseitig kennen.
[23] Galván kommt allerdings am Schluss ihres Artikels auf ihre beiden anderen Analysekategorien nicht mehr zurück.
[24] Siehe Kapitel 2.c.
[25] Die Regel ist Pilgrim zufolge: „Die den Text beherrschende Frage ist, was die Spanier an ihrer Eroberung hinderte und was sie vorantrieb“ (Pilgrim 2000: 170)
[26] Anderson stellt fest, dass die Aufgabe des Latein als „heiliger Sprache“, der Niedergang dynastischer Zentralgewalten, beginnend mit der Glorious Revolution in England, sowie die Entwicklung desw Kapitalismus vor allem im Verlagswesen Wurzeln nationalen Bewusstseins darstellen. Als Pioniere des Nationalismus bezeichnet er die Kreolen, die Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts für unabhängige Republiken in Lateinamerika kämpften.
[27] So nennt Anderson den Nationalismus, der während des 19. Jahrhunderts entsteht, indem die Dynastien ihn als neues Legitimationsmittel entdecken (ebd. 86).
[28] Siehe Kapitel 3.a.
[29] Siehe Kapitel 3.a.
- Arbeit zitieren
- Dinah Stratenwerth (Autor:in), 2005, Otros mexicanos hablan lenguas indígenas - Die Konstruktion indigener Identität in aktuellen mexikanischen Schulbüchern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45417
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