Die Grundformel des Kategorischen Imperativs ist nach wie vor umstritten. Wie soll es möglich sein, stets herauszufinden, ob meine persönliche Handlungsregel (die "Maxime" meines Willens) als Grundlage einer "allgemeinen Gesetzgebung" dienen kann? Welche Gesetzgebung meint denn Kant, die als "allgemein", d.h. als allgemein verbindlich, gelten könnte? Und wie soll ich diese dann mit meinen persönlichen Überzeugungen vergleichen können?
In einer seiner Frühschriften fordert Karl Marx den "kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Durch diesen Bezug auf die "Verhältnisse" verliert der kantsche Person-Begriff seine latent anthropozentrische Begrenztheit. Auch die von Menschen verursachten Umwelt-Katastrophen, Misshandlungen von Tieren, Naturverachtung u.a.m. erniedrigen den Menschen, verletzen sein Ehr- und Selbstwert-Gefühl und sein Recht auf ein menschenwürdiges Leben.
Dagegen halte ich es für möglich, die Ethik der Person durch eine Ethik der Natur zu ergänzen, wofür ich u.a. eine neue NATURFORMEL des Kategorischen Imperativs vorgeschlagen habe.
Kants Ethik reloaded – eine wertphilosophische Sicht
Ethik – Person, Gut und Böse in neuer, wertphilosophischer Sicht
Wodurch ist das Böse in die Welt gekommen? Und in uns Menschen? Das scheint immer noch ein Rätsel zu sein. Meine Vermutung: Leben und Tod, Entstehen und Vergehen in der Natur beruhen auf einem ähnlichen Gegensatz in der ursprünglichen Welt-Materie, nämlich auf der Möglichkeit der (Selbst-) Zerstörung als Pendant zu dem hypothetischen „Selbst“ der Ur-Materie, das sich in der Natur als Streben nach Kommunikation, Kontakt und Kooperation manifestiert. Verstehbar wäre diese Möglichkeit der Zerstörung durchaus im Hinblick auf den „Big Crunch“, die ursprüngliche Katastrophe im Ekpyrotischen Kosmos, sozusagen als Widerhall, Reperkussion in der Ur-Materie.
In Aktion und Reaktion folgt in der Natur anscheinend auf jedes Vergehen ein neues Entstehen, wobei zu beachten ist, dass Materie und Natur als solche weder gut noch böse sind. Bedeutung gewinnen solche Schwarz-Weiß-Kategorien vielmehr erst in unseren Wertungen. Als böse empfinden und bezeichnen wir das sinnwidrig Zerstörerische, die sinnlose Vernichtung vermeintlicher Feinde, wie sie sich z.B. in der puren Mordlust zeigt, die angeblich, d.h. laut Wilhelm Reich und anderen, bereits in grauer Vorzeit im Tierreich begonnen hat.
In der Verhaltensforschung gilt das Böse als eine Spielart der Aggression, die bei Tieren vor allem der Selbst- und Arterhaltung dient, aber auch in blindwütige, sinnlose Zerstörung umschlagen kann. Eine Negativität, die, wie Konrad Lorenz behauptet, sehr viel älter ist als das auf kameradschaftlicher Kooperation beruhende Positive. Lorenz stellt fest: „Die intraspezifische Aggression ist um Millionen Jahre älter als die persönliche Freundschaft und Liebe. Es hat durch lange Epochen der Erdgeschichte Tiere gegeben, die ganz sicher außerordentlich böse und aggressiv waren. Fast alle Reptilien1, die wir heute kennen, sind es, und es ist nicht anzunehmen, daß die der Vorzeit es weniger waren.“ 2 – Umso mehr erstaunt es, dass Lorenz das „radikal Böse“, von dem Kant spricht, nicht thematisiert, sondern darauf vertraut, dass „Liebe und Freundschaft“ eines Tages jegliche Bosheit überwinden könnten (a.O. S. 207).
Diese kaum erklärliche Zurückhaltung hat Walter Schulz zum Anlass genommen, vor einer „Verharmlosung“ des Bösen durch die Verhaltensforschung zu warnen. Dies sei eine Gefahr, der man nur entgehen könne, „wenn man sich von vornherein klarmacht, daß das Böse in all seinen Erscheinungen nicht wissenschaftlich restlos zu erklären ist ...“, genauer: „ ... weder wissenschaftstheoretisch noch moralphilosophisch oder metaphysisch.“ Dies jedoch mit dem höchst bemerkenswerten Zusatz: „Gleichwohl: was wir mit dem Bösen meinen, ist ein sehr realer Sachverhalt, gleichsam ein anthropologisches >Urphänomen<, dessen Wurzel der Egoismus und dessen eklatanteste Ausprägung der Hang des Menschen zur Grausamkeit ist. Das sich in der Grausamkeit in seiner radikalen Form zeigende Böse erscheint uns als eine ständig drohende Gefahr des Menschen...“.3 Was nun allerdings Schulz keineswegs daran hindert, dem Phänomen Aggression ausführlich auf den Grund zu gehen (a.O. S. 720, 765 ff.).
Grausame Aggression ist wohl dasselbe wie das „sinnwidrig Zerstörerische“ (s.o.), das man auch als das Kriminelle schlechthin bezeichnen kann. Und zu dessen Erklärung mittlerweise zahlreiche neue, teils überraschende Ergebnisse vorliegen. Darwins Theorie der Evolution, wonach der Mensch von Natur aus auf Lustgewinn, Geselligkeit und Kooperation hin angelegt ist, wird sowohl durch meine Theorie der „vier Großen K“ (Kommunikation, Kontakt, Kooperation, Konkurrenz, Robra 2017, S. 125) als auch durch neuere Ergebnisse der Hirnfoschung bestätigt. Der Hirnforscher Joachim Bauer stellt fest: „Lohnend aus Sicht des Gehirns ist es, Vertrauen, soziale Wertschätzung und Kooperationsbereitschaft zu erleben.“4
Die Tatsache, dass es dennoch latent Böses im Menschen gibt, erklärt Bauer als Bereitschaft zu erhöhter Aggressivität. Demnach neigen zur Gewalttätigkeit Personen, denen soziale Akzeptanz verweigert, Anerkennung und Wertschätzung verwehrt wurden. – E. Meier betont, der Mensch habe bei der Geburt „ein echtes Gewissen, das nach dem Guten strebt.“ Dagegen aber: „Das Böse grassiert sowohl im einzelnen Menschen, wenn er es erlernt hat, wie aber auch in Gruppen und ganzen Völkern. Es ist nicht die Frage nach Gut oder Böse, nicht die Frage nach Richtig oder Falsch, die das Urteilsvermögen des Menschen bestimmt, sondern es ist des Menschen Erlernen des Bösen, das dann das Leben und die Lebensweise bestimmt.“5 Im Übrigen sei der Moralsinn, von dem Kant spricht, als angeborene Struktur anzusehen, deren richtige Entwicklung von den richtigen gesellschaftlichen Bedingungen abhänge.
Bedeutet dies nun, dass der Moralsinn, nicht aber das Böse zum genetischen Erbe des Menschen gehört? Die von J. Bauer und E. Meier vorgelegten Ergebnisse legen dies nahe. Dagegen sprechen aber andere Ergebnisse der Hirnforschung, so bei Ulrike M. Krämer, die feststellt, „dass es bei so komplexem Verhalten wie Aggression immer um ein Zusammenspiel vielfältiger sowohl genetischer wie Umwelt-Faktoren geht“.6 Genauer: Es gebe „genetische Unterschiede in bestimmten Neurotransmittersystemen“, die wiederum für unterschiedliche Veränderungen im „emotionalen Erleben“ verantwortlich seien, was „mit einer unterschiedlichen >Gefährdung< für aggressives Verhalten“ verbunden sei (ebd.).
Diese Gefährdung darf keineswegs verharmlost werden, wie Walter Schulz zu Recht betont hat, so dass auch drastische Formulierungen ernstzunehmen sind, darunter die folgende, von Hans Mohr verfasste: „Wir alle wissen, daß die Neigung zum Quälen und Töten von Artgenossen beim Homo sapiens besonders ausgeprägt ist und eine entsetzliche Hypothek darstellt, die wir seinerzeit im Pleistozän aufgenommen haben und nicht mehr loswerden konnten. Mord, Totschlag, Folter und Genozid markieren die Kulturgeschichte des Menschen.“7
Was aber folgt aus all diesem? Aggression, auch in ihrer zerstörerischen, sinnwidrigen Form der Bosheit, gehört zum genetischen Erbe der Menschheit. Eine schwere Hypothek, mit der jeder Mensch zu tun und zuweilen arg zu kämpfen hat, wobei Erziehung, Sozialisation, Umwelt- und Milieubedingungen und persönliches Erleben, z.B. von Frustration, Ablehnung und Zurückweisung, in hohem Maße mitwirken. Gut und Böse, positive und negative Neigungen ringen in uns nicht selten miteinander, wobei wir in den ursprünglichen positiven Anlagen zu Kontakt, Kommunikation und Kooperation wertvolle Hilfe bei unseren Auseinandersetzungen mit dem Bösen erfahren können. Wo dies nicht gelingt, kann Kriminalität die Oberhand gewinnen.
Vollkommen verständlich und wissenschaftlich bestätigt wird nunmehr jedenfalls, warum Kant es für ausgeschlossen hielt, Ethik auf Neigungen gründen zu können. Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass die tief im Unterbewussten und Körperlichen verankerten Neigungen automatisch das Gute bewirken, für das wir normalerweise schon aus Gründen der Selbsterhaltung – spontan oder nach mehr oder weniger reiflicher Überlegung – uns zu entscheiden bereit sind. Wobei es natürlich nicht nur um uns selbst, um unser eigenes Person-Sein geht, sondern ebenso um dasjenige unserer Mitmenschen So dass hier nicht nur das „radikal Böse“, sondern auch die Frage nach dem Person-Sein eine Rolle spielt. Es sind existenziell bedeutsame ethische Probleme, die Kant vor allem im Zusammenhang mit seinen Erörterungen des Kategorischen Imperativs behandelt hat. Daher nun:
Kants Kategorischer Imperativ – wertphilosophisch interpretiert
Die Grundformel des Kategorischen Imperativs (im Folgenden: Kat. Imp.)8 ist nach wie vor umstritten, zuweilen wohl auch nicht verstanden worden. Wie soll es möglich sein, stets herauszufinden, ob meine persönliche Handlungsregel, meine „Maxime“, wie Kant sagt, als Grundlage einer „allgemeinen Gesetzgebung“ dienen kann? Entweder müsste induktiv, vom Besonderen aufs Allgemeine, geschlossen werden, was schon logisch ein Problem ist. Oder aber umgekehrt: man müsste versuchen, deduktiv von einer „allgemeinen Gesetzgebung“ auszugehen. Aber: Welche Gesetzgebung ist denn gemeint, die zudem noch als „allgemein“ (allgemein verbindlich?) gelten könnte? Und wie soll ich diese dann mit meinen persönlichen Überzeugungen vergleichen können? Fragen über Fragen, die leicht in Sackgassen führen.
Behoben werden kann das Dilemma m.E. durch eine neue wertphilosophische Interpretation des Kat. Imp.. Die allerdings dann nicht möglich ist, wenn Jean-Paul Sartre mit seiner Kritik Recht hat. Die Selbstzweckformel des Kat. Imp. lautet bei Sartre: „l’impératif: < traite en toi-même et en autrui la liberté comme fin>9. Tatsächlich aber spricht Kant in der Selbstzweckformel überhaupt nicht von „Freiheit“, sondern von der „Menschheit, sowohl in Deiner Person als in der Person eines jeden anderen“ (s.o. Fußnote 8). Sartre missachtet offensichtlich diesen Wortlaut und behauptet obendrein, die Zweckformel sei mit der Grundformel keinesfalls vereinbar („contredit à l’universalité du premier impératif“, ebd.: “widerspricht der Universalität des ersten Imperativs“ ), so dass keinerlei Synthese der beiden Formeln möglich sei, zumal es zwischen ihnen keinerlei Verstehensmöglichkeit gebe („ … et n’ont aucune zone commune de compréhension“, ebd.: „und haben keine gemeinsame Verstehensebene“). Hieraus folgt zweierlei: 1. Entweder erkennt Sartre die Wert- und Personen-Bezogenheit der beiden Formeln des Kat. Imp. nicht oder er will diese Bezogenheit nicht wahrhaben. 2. Offensichtlich ist es unzulässig, zu behaupten, Sartre habe den Kat. Imp. widerlegt.
Dagegen gilt es, folgenden Sachverhalt korrekt zu würdigen: Mit dem „allgemeinen Gesetz“ meint Kant nichts anderes als das Sittengesetz10 , das selbstverständlich auch die Gleichheit vor dem Gesetz und die „ Achtung fürs Gesetz“ 11 impliziert; was auch der Grund dafür sein dürfte, dass Kant in der Formulierung des Kat. Imp. nicht den Begriff ‚Sittengesetz‘, sondern den der ‚allgemeinen Gesetzgebung‘ verwendet. Jedenfalls evoziert und impliziert der eine Begriff jeweils den anderen. – Das Sittengesetz verlangt, dass unbedingt nicht nur der eigene Wille, sondern auch derjenige unserer Mitmenschen, d.h. aller „vernünftigen Wesen“12, zu respektieren ist. Dies ist zugleich der Respekt vor der Person bzw. Persönlichkeit jedes Menschen. Als vernünftige, zurechnungsfähige Person hat der Mensch nicht nur seinen Selbstzweck in sich, so dass er sich selbst Zwecke setzen darf; er hat sogar unbedingten „inneren Wert, d. i. Würde “13. – Eindrucksvoll bestätigt wird diese Auffassung vom entelechetischen Selbstzweck jedes Individuums durch die Ergebnisse der Gen- und der Gehirn-Forschung. Genetischer Code, DNA und Gehirntätigkeit bestimmen die Individualität in höchster Komplexität. Woraus die Adepten des „Intelligent Design“ ja sogar einen neuen „Gottesbeweis“ ableiten ... – Als gerechtfertigt erscheint jedenfalls der Kat. Imp. auch in seiner „naturgesetzlichen“ Fassung: „ Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte. “ Worin zweifellos erneut auch eine Wertung steckt: Als entelechetisches Naturwesen ist der Mensch zugleich Kulturwesen, nämlich Person und Persönlichkeit, so dass offenbar Naturgesetzlichkeit, Selbstzweckformel und Grundformel (Sittengesetz-Formel) des Kat. Imp. übereinstimmen und Kant mit umso größerem Recht erklären kann: „Der kategorische Imperativ ist also ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (a.O. S. 41). – Insgesamt gesehen ergänzen sich die Formulierungen des Kat. Imp harmonisch zu einer keineswegs bloß normativen Wertethik. Der Wert gibt hier den Ausschlag, nicht die bloße Norm. Kants „Pflicht- und Sollensethik“ entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Wertethik, deren einzigartige Pointe darin besteht, dass durch sie Allgemeine Gesetzgebung, Sittengesetz und personale Würde untrennbar miteinander verbunden werden.
Einzigartig ist diese Ethik, weil in und mit ihr erstmals die als unbedingt erkannte Würde der Person nicht nur moralphilosophisch, sondern auch rechtlich und politisch begründet und gesichert wird, was u.a. sogar bereits ein Petitionsrecht verbürgt: Auf Grund des Vergleichs von subjektiver Maxime und allgemein gültiger Gesetzgebung können Gesetzeslücken erkannt werden, deren Schließung die Einzelperson gegebenenfalls vom Staat verlangen kann.
Allerdings wird die „Sache“ dadurch nicht einfacher, im Gegenteil: Das ganze Konstrukt dieser Wertethik steht und fällt nunmehr mit den Besonderheiten des kantschen Person-Begriffs. Die Person ist für Kant ein vernünftiges Wesen, genauer: „dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Z u r e c h n u n g fähig sind“.14 Subjekt ist aber zweifellos der einzelne Mensch, das Individuum, die Einzelperson, mithin: die Person als Persönlichkeit. Logischerweise stuft Kant daher die Persönlichkeit höher ein als das ihr zu Grunde liegende Person-Sein, zumal die Person zwar sowohl die Sinnes- als auch die Verstandestätigkeit umgreife, die Persönlichkeit aber, darüber hinaus, nur den von der „eigenen Vernunft gegebenen rein praktischen Gesetzen“ zu gehorchen habe.
Leider völlig unberücksichtigt (weil „unzuverlässig“) lässt Kant dabei die Gefühlswelten der Menschen als Grundfaktoren jeglicher Handlungsmaxime und somit auch die Tatsache, dass die Mitmenschlichkeit sich nicht nur über den Verstand und die Vernunft, sondern wesentlich auf Grund der Mittlerfunktionen als gemeinsam erkannter und bewerteter Gefühle konstituiert. Max Scheler nennt hierzu „das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Vorziehen, Lieben, Hassen, und das Wollen“, Grundfaktoren, denen er zuspricht „einen ursprünglichen apriorischen Gehalt, den es nicht vom ‚Denken‘ erborgt und den die Ethik ganz unabhängig von der Logik aufzuweisen hat“.15
Wobei wohl zur Ehrenrettung Kants anzumerken ist, dass er ja nicht über die immensen Wissenshorizonte verfügen konnte, den die Menschheit in gemeinsamer Anstrengung seit Beginn des 19. Jahrhunderts erworben hat. (Kant starb bekanntlich 1804.) Nicht anzukreiden ist ihm also die relative Unzulänglichkeit seines Person-Begriffs angesichts neuerer Erkenntnisse, z.B. auf den Gebieten der Soziologie, der Psychologie und der Hirnforschung. Alles Denken wird von Gefühlen begleitet. Das Unterbewusste beeinflusst oft in ausschlaggebender Weise unsere Entscheidungen. Auf Verstand und Vernunft allein kann man sich nicht verlassen. Kants Person-Begriff müsste demgemäß revidiert bzw. erweitert werden. Dann erst kann eine neue Wertethik Raum greifen und mit der Zeit in die Zeit hineinwirken. – Wobei auch Ernst Bloch s Philosophie nach wie vor weiterhelfen kann. Über Blochs Nähe zur Wertphilosophie informiert u.a. Hans-Ernst Schiller in seinem Ethik-Artikel des Bloch Wörterbuch s, hrsgg. von Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer E. Zimmermann, Berlin / Boston 2012, S. 105 ff.
Den Kategorischen Imperativ erweitern zu Natur-, Öko- und Tier-Ethik!
In einer seiner Frühschriften fordert Karl Marx, den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.16 Marx erhebt diese Forderung nicht nur „aus Gründen verletzter Moralität“, wie Ulrich Ruschig (ebd.) behauptet, sondern in gesellschaftskritischer, revolutionärer Absicht. Durch den Bezug auf den quasi allumfassenden Objektbereich der „Verhältnisse“ verliert der kantische Person-Begriff seine latent anthropozentrische Begrenztheit. Auch die von Menschen verursachten Umwelt-Katastrophen, Misshandlung von Tieren, Naturverachtung u.a.m. erniedrigen den Menschen, verletzen sein Ehr- und Selbstwertgefühl und sein Recht auf ein menschenwürdiges Leben. – Marx nimmt dagegen schon das vorweg, was Hans Jonas (1903-1993) den „ökologischen Imperativ“ genannt hat: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden!“ (Jonas 1979, S. 36)
Darüber hinaus gilt es, Parallelen zwischen der speziell menschlichen Personalität und der allgemeinen Geschichte der Evolution zu beachten. Ein neuer Mensch – und damit eine neue Person – entsteht, wenn menschliche Ei- und Samenzelle miteinander verschmelzen. Im Laufe einer Schwangerschaft wiederholt der/die Ungeborene sämtliche Stadien der Evolution von der Zellteilung zum Homo sapiens. Darin vollzieht sich das Werden der Person im Anfangsstadium. Vom Augenblick der Geburt an gilt der Mensch, so jedenfalls im abendländischen Kulturkreis, als Rechtsperson, obwohl seine/ihre Personalität noch gar nicht voll ausgebildet ist. Lange Zeit, d.h. bis zur Ausformung aller körperlichen und geistig-seelischen Fähigkeiten, befindet sich der Mensch im Vorstadium des Person-Seins. Und dies gilt analog für die gesamte Evolution, so dass in Materie und Natur Vorformen der Personalität zu vermuten sind, wobei das Person-Sein als Grundlage des Subjekt-Seins gelten kann (vgl. Ernst Blochs hypothetisches „Natur-Subjekt“!17 ).
Materie und Natur haben Anteil an den vier Großen ‚K‘: „Kommunikation, Kontakt, Kooperation, Konkurrenz“ (Robra 2017, S. 125) , sodann am Streben des Lebens nach immer besserem Leben und schließlich an den hochkomplexen DNA-Strukturen des menschlichen Erbguts, wobei die dauernde Gefährdung durch destruktive Faktoren, das sogenannte Böse (s.o.), nicht zu übersehen ist. Der Philosoph Holmes Rolston sieht in den positiven Konstellationen das eigentliche Werthafte der Welt, genauer: das Werthafte keineswegs als bloß subjektive Erfindung, sondern als „das, was fähig ist, ... Werte zu erzeugen“18, womit der Autor im Grunde den evolutionären Prozess der Erzeugung immer höherer Komplexität meint.
Es sind Bestimmungen, die Kants Auffassung vom „absoluten“, d.h. unbedingten Eigenwert der Person, ihrem Selbstzweck, vollauf bestätigen; woraus sich problemlos die Prinzipien der Menschenwürde, der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung als unentbehrlich und unabdingbar ableiten lassen.
Natur-, Tier- und Öko-Ethik lassen sich unmittelbar aus dem Eigenwert der Natur ableiten. Als Hauptkriterium für die Öko-Ethik nennt Klaus Sojka die „Verträglichkeit mit der Lebenseinheit“ und erklärt dazu: „Das bedeutet: Die zur Pflicht erhobene Selbsterhaltung gebietet die Erhaltung der in Gemeinschaft mit dem Menschen lebenden Tiere jedweder Art und Beschaffenheit, ferner den Verzicht auf den Verbrauch vorhandener Stoffe, sofern er nicht unbedingt zur Notbedarfs-Deckung erforderlich ist. Die vordergründigen Maßnahmen bewirken, Beeinträchtigungen von Lebewesen jedweder Erscheinungsform, insbesondere durch Quälerei, Verstümmelung oder Vernichtung abzuwenden, weil sie als Teil der Einheit und Schicksalsgemeinschaft Solidarität beanspruchen.“19 – Jedermann muss sich fragen, ob sein/ihr Verhalten sich nützlich, schädlich oder neutral auf Natur und Umwelt auswirkt. Alles Schädliche muss vermieden werden.
Speziell in der Tier-Ethik ist seit langem umstritten die Frage, ob auch Tieren ein Personen-Status zuerkannt werden sollte. Was unmöglich ist, wenn das Person-Sein als „der totale Umfang des Menschen“ (Emmanuel Mounier) definiert wird. Dagegen schlägt der kalifornische Ethik- und Wirtschaftsforscher Thomas White vor, Personen von Sachen folgendermaßen zu unterscheiden: Eine Person ist ein Wer?, eine Sache ein Was?, so dass die Tiere, die ja keine Sachen sind, wahrscheinlich ausnahmslos als Personen zu bezeichnen wären. Eine Möglichkeit, auf die White jedoch nicht eingeht. Stattdessen entwirft er einen speziellen Katalog von Kriterien für ein Person-Sein, das Tieren und Menschen gleichermaßen zuzubilligen wäre. Demnach sind Personen gekennzeichnet durch Faktoren wie Leben, Bewusstsein, Wahrnehmung, Gefühle, „eine Vorstellung von sich selbst“, Kontrolle des eigenen Verhaltens, Anerkennung der anderen Personen, hoch entwickelte kognitive Fähigkeiten (z.B. zur Lösung von Problemen), Gedächtnis und die Fähigkeit zur Kommunikation von Gedanken.20 Diese Kriterien seien, so White, auf alle Menschen anwendbar, nicht jedoch auf alle Tiere, sondern nur auf Elefanten, „Wale und Delfine, Große Menschenaffen, Vögel, Reptilien und bei Bedarf sogar auf Außerirdische“ (wo es dann leider etwas unseriös wird ...). – Es stellt sich zu dieser Klassifizierung jedoch sofort die Frage, wo mit ihr die genauen Grenzen des Person-Seins im Tierreich zu ziehen wären. Zeigen nicht auch z.B. Ameisen, Bienen, Hunde, Katzen und Pferde Intelligenzleistungen und andere Fähigkeiten, die den genannten Kriterien in etwa entsprechen? Ein Dilemma, für dessen Lösung ich vorschlage, der gesamten außermenschlichen Welt und allen Menschenkindern im vorgeburtlichen Stadium vorpersonale Eigenschaften zuzubilligen, wobei graduelle Unterschiede gemacht werden können.
Unter dieser Voraussetzung halte ich es für möglich, die Ethik der Person durch eine Ethik der Natur zu ergänzen, wofür ich eine Naturformel des Kategorischen Imperativs vorgeschlagen habe, in der die Tatsache berücksichtigt wird, dass im Umgang mit der Natur legitime Interessenabwägungen erforderlich sein können. Es ist eine Formel, die nicht die noch im Gange befindlichen Diskussionen über (mögliche) Rechte der Natur, der Umwelt, der Tier- und Pflanzenwelt (Natur-, Öko-, Tierrechte) präjudizieren kann oder soll. Sie lautet:
„Verhalte Dich so, dass Du die Natur in jeder Person und in jeder anderen Erscheinungsform stets als Zweck – und als Mittel nur zu ethisch begründbaren und moralisch vertretbaren Zwecken – behandelst.“ (Robra 2017, S. 143)
Wenn nun zu klären ist, welche konkreten Rechte sich mit dieser neuen Formel begründen lassen, stellt sich die Frage nach der Legitimierung entsprechender gesetzgeberischer Maßnahmen. Was ist legitim? Rechtspositivistisch zweifellos das aktuelle geschriebene und gesprochene Recht. Und in Fällen staatlicher Willkür? Oder gar in Unrechtsstaaten? Da hilft zunächst wohl nur die naturrechtliche Anerkennung des Eigenwerts der Natur und des Selbstzwecks der Person, die auch in Kants Zweckformel des Kategorischen Imperativs enthalten ist, wozu meine Naturformel lediglich als Ergänzung dient.
Wenn mit Schelling die schöpferische Natur (‚natura naturans‘) als ihre „eigene Gesetzgeberin“ anzunehmen ist, gilt dies sowohl für die Natur im Menschen als auch für die außermenschliche Natur. „Was „legitim“ ist, muss ethisch und moralisch überprüft und begründet werden. Es sind allgemeine, naturrechtlich verankerte Grundrechte (wie z.B. die Menschenwürde, die Freiheit der Person, die Natur- und Umweltrechte), die jedem Öffentlichen Recht vorzuordnen sind.“21 – Den Anspruch der Inhalte dieser Zitate aus dem Jahre 2015 kann ich nur erneut bekräftigen. Mögen sie zu beherzigen sein!
Literaturverzeichnis
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Bloch, Ernst 1975: Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Heraus-bringens, Praxis, Frankfurt a.M.
Brensing, Karsten 2013: Persönlichkeitsrechte für Tiere, Freiburg
Fink, Helmut / Rosenzweig, Rainer (Hrsg.) 2013: Das Tier im Menschen. Triebe, Reize, Reaktionen, Münster
Jonas, Hans 1979: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.
Kant, Immanuel 1965: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg
Kant, Immanuel 1990: Die Metaphysik der Sitten, Stuttgart
Lorenz, Konrad 1974/1983: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, München
Meier, E. 2009: „ Gut oder Böse – was ist des Menschen Natur? “, in: www.figu.org./ch/verein/periodika/bulletin/2009/nr-66/g...
Robra, Klaus 1987: „ Sprache und Gehirn. Ein Diskussionsbeitrag zur neueren Forschung“, in: ‚französisch heute‘ 4/Dez. 1987, S. 295-309
Robra, Klaus 2015: Wege zum Sinn, Hamburg
Robra, Klaus 2017: Person und Materie. Vom Pragmatismus zum Demokratischen Öko-Sozialismus, München, www.grin.com/de/e-book/375344/
Rolston, Holmes 1997: „ Werte in der Natur und die Natur der Werte“, in: Krebs, Angelika (Hrsg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, S. 247-270
Ruschig, Ulrich 2004: Kant und Marx, https://www.uni-oldenburg.de/fileadmin/user_upload/philosophie/ulrich ruschig/Kant+Marx-2.1.pdf
Sartre, Jean-Paul 1983: Cahiers pour une morale, Paris
Scheler, Max 1954: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern
Schulz, Walter 1972: Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen
Sojka, Klaus 1987: Öko-Ethik, Göttingen
Vogel, Christian 1989: Vom Töten zum Mord. Das wirkliche Böse in der Evolutionsgeschichte, München / Wien
Zimmermann, Rainer E.: Natursubjekt, in: Bloch-Wörterbuch, hrsgg. von Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer E. Zimmermann, Berlin / Boston 2012
1 Ist es Zufall, dass der älteste Teil des menschlichen Gehirns, das „Urgehirn“, auch „Reptiliengehirn“ oder „Krokodilsgehirn“ genannt wird? Vgl. Robra 1987, S. 298 ff.
2 Lorenz 1974, S. 205
3 Schulz 1979, S. 719 f.
4 Bauer 2012, S. 48
5 Meier 2009, S. 2
6 Krämer in: Fink / Rosenzweig 2013, S. 46
7 Mohr in: Vogel, Ch. 1989, S. 110
8 „Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Die Selbstzweckformel lautet: „Handle so, dass Du die Menschheit, sowohl in Deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (‚brauchst‘ hier gleich: ‚gebrauchst‘) S. auch Wilhelm Vossenkuhl: ‚Kant und der Kategorische Imperativ‘, Video auf ‚youtube‘: https://www.youtube.com/watch?v=Q_0BgfD8zhY
9 Sartre 1983, S. 248. („der Imperativ: behandele in Dir selbst und im Anderen die Freiheit als Zweck!“)
10 Vgl. Kant 1965, S. 59 f.
11 Kant 1965, S. 20
12 Vgl. „die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens “, in: Kant 1965, S. 54. Rousseaus ‚volonté générale‘ (Allgemeinwille) und ‚volonté de tous‘ (Wille aller Einzelnen) lassen grüßen!
13 Kant a.O. S. 58; hierzu auch ebd. S. 22
14 Kant 1990, S. 58
15 Scheler: 1954, S. 85. Hierzu auch: Robra 2015, S. 254 ff.
16 Zitiert von Ruschig 2004, S. 4.
17 s. Bloch 1975, S. 218. Hierzu auch: Rainer E. Zimmermann 2012, S. 374-403
18 Rolston 1997, S. 262
19 Sojka 1987, S. 59
20 Vgl. Brensing 2013, S. 198 f.
21 Vgl. Robra 2015, S. 518; s. auch: Robra 2017
- Citar trabajo
- Dr. Klaus Robra (Autor), 2019, Kants Ethik reloaded. Eine wertphilosophische Sicht, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/454042
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