Prousts A la recherche du temps perdu ist ein Lebens-Werk in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist es natürlich das überragende Werk eines Autors, der Zeit seines Lebens auf der Suche nach dem wahren Kunstwerk zu sein schien, immer wieder Unzulänglichkeiten in seinem Schaffen entdeckte und somit seine Vorstellungen von Kunst bzw. Literatur ständig revidierte bzw. zu vervollständigen versuchte. Die Tatsache, dass sich einzelne Fragmente der Recherche schon lange vor der Vollendung des Gesamtwerkes in anderen Schriften und Veröffentlichungen finden, bestätigt ebenfalls, dass die Recherche eben nicht nur das Produkt des letzten Drittels seines Lebens darstellt. Vielmehr änderte Proust seine Kunstkonzeption und ästhetischen Theorien fortlaufend und die Recherche stellt schließlich die Vollendung dieser Suche nach einer zufriedenstellenden Poetik dar.
Gleichzeitig berichtet die Recherche vom Leben des Protagonisten und kann somit auch in dieser Hinsicht als Lebens-Werk gedeutet werden. „A la recherche du temps perdu ist die Geschichte (sowohl ‚récit’ als auch ‚histoire’) eines Lebens, erzählt von dem einzig authentischen Zeugen.“ Die Recherche handelt letztendlich von der Entwicklung des Erzählers vom sich-erinnernden Ich zum Autor des zu schreibenden Werkes.
In der vorliegenden Seminararbeit, die sich in ihren Ausführungen grundsätzlich auf den ersten Band von A la recherche du temps perdu, nämlich Du côté de chez Swann, und den letzten Band, Le temps retrouvé, beschränkt, soll untersucht werden, inwieweit die Entwicklung des Erzählers zum Künstler (bzw. zum Autor der Recherche) im Verlauf des Werkes angedeutet wird. Insbesondere soll dargestellt werden, dass der Akt des Lesens für die in Le temps retrouvé schließlich explizit formulierte Ästhetik des Werkes eine entscheidende Rolle spielt. Die Lektüre scheint, wenn sie auch nicht ausdrückliche Voraussetzung für literarisches Schaffen ist, zumindest einen ähnlichen Stellenwert bei der Suche nach der Wahrheit einzunehmen, wie das Schreiben.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Allgemeine Betrachtung der Thematisierung von Literatur in der Recherche
II.1. Rezeption von Kunst: Die Sonate von Vinteuil
II.2. Die Thematisierung der Literatur
II.2.1. Die Ansichten der Françoise
II.2.2. Der Brief des M. de Charlus
III. Momente des Lesens : Marcel und die Lektüre
III.1. François le Champi
III.2. Lektüre im Garten von Combray
III.3. Lektüre der Bücher von Bergotte
III.4. Le Journal des Goncourt
IV. Lektüre und Ästhetik
IV.1. Lektüre als Rahmenhandlung
IV.2. Lesen im inneren Buch als kreativer Akt
IV.3. Der Leser der Recherche als Leser seiner selbst
V. Schlussfolgerungen
VI. Bibliographie
I. Einleitung
Prousts A la recherche du temps perdu ist ein Lebens-Werk in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist es natürlich das überragende Werk eines Autors, der Zeit seines Lebens auf der Suche nach dem wahren Kunstwerk zu sein schien, immer wieder Unzulänglichkeiten in seinem Schaffen entdeckte und somit seine Vorstellungen von Kunst bzw. Literatur ständig revidierte bzw. zu vervollständigen versuchte. Die Tatsache, dass sich einzelne Fragmente der Recherche schon lange vor der Vollendung des Gesamtwerkes in anderen Schriften und Veröffentlichungen finden, bestätigt ebenfalls, dass die Recherche eben nicht nur das Produkt des letzten Drittels seines Lebens darstellt. Vielmehr änderte Proust seine Kunstkonzeption und ästhetischen Theorien fortlaufend und die Recherche stellt schließlich die Vollendung dieser Suche nach einer zufriedenstellenden Poetik dar.
Gleichzeitig berichtet die Recherche vom Leben des Protagonisten und kann somit auch in dieser Hinsicht als Lebens-Werk gedeutet werden. „A la recherche du temps perdu ist die Geschichte (sowohl ‚récit’ als auch ‚histoire’) eines Lebens, erzählt von dem einzig authentischen Zeugen.“[1] Die Recherche handelt letztendlich von der Entwicklung des Erzählers vom sich-erinnernden Ich zum Autor des zu schreibenden Werkes.[2]
In der vorliegenden Seminararbeit, die sich in ihren Ausführungen grundsätzlich auf den ersten Band von A la recherche du temps perdu, nämlich Du côté de chez Swann, und den letzten Band, Le temps retrouvé, beschränkt, soll untersucht werden, inwieweit die Entwicklung des Erzählers zum Künstler (bzw. zum Autor der Recherche) im Verlauf des Werkes angedeutet wird. Insbesondere soll dargestellt werden, dass der Akt des Lesens für die in Le temps retrouvé schließlich explizit formulierte Ästhetik des Werkes eine entscheidende Rolle spielt. Die Lektüre scheint, wenn sie auch nicht ausdrückliche Voraussetzung für literarisches Schaffen ist, zumindest einen ähnlichen Stellenwert bei der Suche nach der Wahrheit einzunehmen, wie das Schreiben.
Um einen allgemeineren Zugang zum Thema der Kunstästhetik, der Produktion und Rezeption von Kunst innerhalb der Recherche zu ermöglichen, soll zunächst dargestellt werden, wie die Rezeption eines Kunstwerkes (die Sonate von Vinteuil), sowie das Lesen bzw. Schreiben von Literatur und das literarische Umfeld im Allgemeinen im Werk Prousts behandelt werden. Da dieser Teil der Arbeit eher einleitenden Charakter hat, wird sich die Untersuchung zwangsläufig auf wenige Beispiele beschränken müssen, die nichtsdestotrotz schon erahnen lassen, welche Rolle die Rezeption von Kunst im Allgemeinen und Literatur im Besonderen für die Romanfiguren hat.
Anschließend soll im Hauptteil der Arbeit die Entwicklung des Erzählers hinsichtlich seiner Rezeption von Literatur untersucht werden. Innerhalb der Recherche lassen sich mehrere Szenen finden, in denen der Erzähler als Rezipient von Literatur dargestellt wird. Anhand dieser Szenen soll gezeigt werden, dass, unabhängig von der parallel verlaufenden schriftstellerischen Entwicklung, dem Erzähler durch die Lektüre wichtige Erkenntnisse vermittelt werden, die später sowohl die Thematik als auch die Konzeption des Werkes mitbestimmen.
Abschließend soll dann der Versuch unternommen werden, die dem Gesamtwerk der Recherche zugrunde liegende Ästhetik mit der aufgezeigten Entwicklung der Lektüre in Verbindung zu bringen. Die Ästhetik der Lektüre, so viel sei vorweggenommen, scheint für die Konstitution des Werkes und dessen Poetik eines der Grundelemente zu sein.
II. Allgemeine Betrachtung der Thematisierung von Literatur in der Recherche
Einen wesentlichen Bestandteil von A la recherche du temps perdu bilden die verschiedenen Betrachtungen über Kunst, Kunstwerke und Künstler.[3] So tauchen neben den Autoren Balzac, Baudelaire, Racine, Dostojewski, Hugo und Zola (sowie den Komponisten Wagner, Debussy und dem Maler Monet, um nur einige zu nennen) auch drei fiktive Künstler auf: der Komponist Vinteuil, der Maler Elstir und der Schriftsteller Bergotte. Bevor auf die Thematisierung von Literatur in der Recherche eingegangen wird, soll nun zunächst am Beispiel der Figur des Charles Swann aufgezeigt werden, welche wichtige Rolle die Kunst, hier speziell die Rezeption von Kunstwerken, innerhalb der Recherche einnimmt.
II.1. Rezeption von Kunst: Die Sonate von Vinteuil
Vinteuil, der Komponist, bzw. seine Sonate für Violine und Klavier spielen in Un amour de Swann eine wichtige Rolle bezüglich des Handlungsablaufs, aber auch hinsichtlich der immanenten Ästhetik.
Proust entwirft in Swann ein Gegenbild zum einsichtigen Marcel im letzten Teil von Le temps retrouvé: Swann, und über ihn auch der Leser, wird in mehreren Szenen zum Rezipienten von Kunstwerken. Die Liebe des Charles Swann zu Odette de Crécy entsteht erst aufgrund eines musikalischen Kunsterlebnisses, bei dem Swann die Sonate Vinteuils hört, die er bereits zu anderer Gelegenheit gehört hatte, es jedoch nie geschafft hatte, den Namen des Komponisten herauszufinden. Die positiven Gefühle, die ihn bei dem Stück von Vinteuil überkommen, kann er allerdings nicht als Kunsterlebnis, als einen durch Kunst vermittelten Eindruck deuten. Vielmehr überträgt Swann „ein erotisch gefärbtes Kunsterlebnis, die Begegnung mit der ‚petite phrase’ einer Sonate für Violine und Klavier, auf die entstehende Beziehung zu Odette de Crécy.“[4] Zweifellos ein Kunstkenner und Liebhaber, ist er weder in der Lage zwischen Kunst und Leben klar zu trennen, noch zu erkennen, in wie fern die beiden Bereiche miteinander kommunizieren und wie problematisch diese Kommunikation sich gestaltet.[5] Er vermag nur, „das Leben zu ästhetisieren“[6], nicht aber die Oberfläche von (Kunst-) Eindrücken zu durchbrechen und dadurch eine tiefere Wahrheit zu entdecken, weder in den Leiden, die er in seinem Leben erfährt, noch in den Kunsterlebnissen.
Er verleugnet regelrecht die künstlerische Natur der Sonate, wenn er bedauert, dass dieses Musikstück, Swanns und Odettes „air national de leur amour“[7], ihre Liebe nicht als Ursprung hat, sich noch nicht mal ausschließlich an die beiden wendet, da sie sie gar nicht kennt:[8]
Et même, souffrant de songer, au moment où elle [la petite phrase] passait si proche et pourtant à l’infini, que tandis qu’elle s’adressait à eux, elle ne les connaissait pas, il regrettait presque qu’elle eût une signification, une beauté intrinsèque et fixe, étrangère à eux […].[9]
Unfähig, die Einzigartigkeit der Musik mit ihrer gleichgültigen Universalität zu versöhnen, die die Liebe von Swann und Odette auszuschließen scheint, weigert er sich schließlich auch, die Bedeutung der Sonate anzuerkennen.[10]
[...] il la [i.e. la petite phrase] considérait moins en elle-même – en ce qu’elle pouvait exprimer pour un musicien qui ignorait l’existence et de lui et d’Odette quand il l’avait composée, et pour tous ceux qui l’entendraient dans des siècles – que comme un gage, un souvenir de son amour qui, même pour les Verdurin, pour le petit pianiste, faisait penser à Odette en même temps qu’à lui, les unissait […].[11]
Nicht zuletzt aus diesem Grunde, seiner defizienten Rezeption von Kunst, bleiben, im Gegensatz zu Marcels literarischen Ambitionen, seine Bemühungen selber künstlerisch-schaffend tätig zu sein erfolglos und er schafft es nicht, eine Untersuchung über den Künstler Vermeer van Delft zu vollenden. Das Scheitern Swanns als Autor seines Lebens sowie seiner Studie wird am Beispiel einer Situation dargestellt, in der er Rezipient von Kunst ist, nicht etwa Produzent. Es manifestiert sich also schon an seiner Unfähigkeit, die Rezeption eines Kunstwerkes, bzw. die Eindrücke, die diese hervorruft, von der Lebenssituation zu trennen. Dieses tiefere Eindringen in die Eindrücke (seien sie durch ein Kunsterlebnis oder durch ein Erlebnis im Alltag des Erlebenden entstanden) scheint aber die Grundvoraussetzung für das Finden der Wahrheit zu sein.
Bezeichnenderweise findet Swann später die Wahrheit, nämlich die Wahrheit über sich selbst, über seine Liebe zu Odette, eben genau durch dasselbe Musikstück von Vinteuil. Bei einer Abendgesellschaft der Marquise de Sainte-Euverte hört er es nach langer Zeit, die er mit Odette verbracht hat.
[...] tous ses souvenirs du temps où Odette était éprise de lui, et qu’il avait réussi jusqu’à ce jour à maintenir invisibles dans les profondeurs de son être, trompés par ce brusque rayon du temps d’amour qu’ils crurent revenu, s’étaient réveillés et, à tire-d’aile, étaient remontés lui chanter éperdument, sans pitié pour son infortune présente, les refrains oubliés du bonheur.[12]
Jedoch bringt die Erinnerung an die glücklichen Stunden nur für einen kurzen Moment das Glück zurück, bevor er sich dann über seine gegenwärtige Lage, sein Unglück bewusst wird. Swann vermag sich also bei seinem Sinneseindruck (der wiederum durch ein Kunstwerk hervorgerufen wird) nicht vollends von der gegenwärtigen Situation zu befreien, wie es Marcel im letzten Teil der Recherche schließlich gelingt. Der Zauber Odettes, der ihm für kurze Zeit wieder ins Gedächtnis gerufen wird, tritt sofort wieder hinter die Angst und den Schmerz, den seine jetzige Situation ihm bereitet; dieser Schmerz wird durch die Gegenüberstellung mit dem erinnerten Glück gerade noch verstärkt.
Sicherlich lassen sich die Kunsteindrücke Swanns, wie er sie beim Hören der Sonate von Vinteuil erlebt nicht direkt mit der Art von Eindrücken vergleichen, denen Marcel am Ende der Recherche mehrfach begegnet. Swanns Erinnerungen an die glückliche Zeit mit Odette entstehen aufgrund eines Musikstückes, welches während der gesamten Zeit, die er mit Odette verbracht hat, eine überaus wichtige Rolle gespielt hat, eines Stückes, das sie beide als „air national de leur amour“[13] bezeichneten und schon allein deshalb nicht mit singulären Erlebnissen, wie denen, die Marcel am Ende der Recherche erinnert, vergleichbar ist. Nichtsdestotrotz findet Swann erst durch das plötzliche und unwillkürliche Erleben dieses Stückes zur Wahrheit bezüglich seiner Liebe zu Odette:
Et Swann aperçut, immobile en face de ce bonheur revécu, un malheureux qui lui fit pitié parce qu’il ne le reconnut pas tout de suite, si bien qu’il dut baisser les yeux pour qu’on ne vît pas qu’ils étaient pleins de larmes. C’était lui-même.[14]
Erst durch das Musikstück wird sich Swann seines ganzen Unglücks und Schmerzes bewusst, findet die Wahrheit über seinen Zustand, die tief in seinem Innern verborgen war und erst durch das Stück hervorgerufen wurde, heraus. So wie Swann sich also zunächst - aufgrund eines Kunsterlebnisses – über die Liebe zu Odette täuschen ließ, so erhält er jetzt – durch das Erleben desselben Kunstwerkes - einen Eindruck, der ihm die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze Wahrheit, da ihm das geheimnisvolle Wesen der Sonate als ein Kunstwerk weiterhin verborgen bleibt, über seine Situation und seine Liebe zu Odette vermittelt.
Die Entwicklung Swanns lässt bereits Marcels Entwicklung, seine Illusionen und Täuschungen in Bezug auf die Literatur anklingen (die in dieser Seminararbeit noch an anderer Stelle thematisiert werden) und nimmt somit, für den Leser zu diesem Zeitpunkt nicht erkennbar, einen Teil der Erkenntnis des Erzählers am Ende von Le temps retrouvé vorweg.
Am Beispiel der Sonate von Vinteuil (wie im übrigen auch an anderen Beispielen, zum Beispiel der Zéphora von Botticelli[15] ) lässt sich also gut nachvollziehen, in wie weit auch die Rezeption von Kunstwerken innerhalb der Recherche thematisiert wird bzw. in wie fern sie sowohl Bestandteil der Handlung, aber eben auch der impliziten Kunst-Ästhetik ist. Es wird auch deutlich, dass die Kunst in der Lage ist, eine Wahrheit zu vermitteln. Nicht immer wird sie jedoch auch vom Rezipienten gefunden.
II.2. Die Thematisierung der Literatur
Nachdem nun generell ein Eindruck davon gegeben wurde, welche wichtige Rolle die Kunst im Vordergrund der Handlung und für die Kunstästhetik des Werkes spielt, soll nun an einigen Beispielen verdeutlicht werden, dass auch in kurzen Andeutungen, in fast beiläufigen Bemerkungen, die Kunst, insbesondere aber die Literatur, immer wieder thematisiert wird. Es sind dies zum großen Teil Stellen, die zwar für den Handlungsablauf nicht entscheidend sind, uns aber dennoch, oder vielleicht gerade weil sie so nebensächlich wirken, deutlich zeigen, welches Bild Proust von der Literatur entwirft. Die gewählten Beispiele stellen nur einen Bruchteil der Gesamtanzahl von Szenen dar, in denen Literatur abseits der fortschreitenden Handlung erwähnt wird.
II.2.1. Die Ansichten der Françoise
Das erste Beispiel findet sich schon in Combray, dem ersten Teil von Du côté de chez Swann. Die Familie des Erzählers betrauert den Tod der Tante, allerdings nicht in der Form, die Françoise, die Köchin der Tante, für angemessen hält. Françoise, von der der Erzähler schon ganz zu Beginn dieses Abschnittes sagt, sie verfüge über einen unumstößlichen „code“, einen Kodex bezüglich der Dinge, die getan werden oder nicht getan werden konnten[16], hat ganz eigene Vorstellungen hinsichtlich der Farbe der Kleidung, die es zu tragen gilt, und der Art und Weise, wie man über die tote Tante zu sprechen hat. Auch die Tatsache, dass kein Leichenschmaus veranstaltet wurde, widerspricht dem Kodex der Françoise. Der Erzähler distanziert sich zwar von diesen Vorstellungen von einer reglementierten Trauer, in einem Buch, so sagt er allerdings, wäre ihm die Auffassung der Françoise sympathisch gewesen:
Je suis sûr que dans un livre – et en cela j’étais bien moi-même comme Françoise – cette conception du deuil d’après la Chanson de Roland et le portail de Saint-André-des-Champs m’eût été sympathique.[17]
Den Verhaltenskodex, den der Erzähler im Leben ablehnt, akzeptiert er also in der Literatur. Die Literatur stellt für ihn anscheinend eine so hohe Autorität dar, dass er alles, was sie behandelt und darstellt, als Wahrheit und deshalb als angemessen bzw. sympathisch empfindet. Man darf nicht vergessen, dass der Erzähler zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind ist bzw. dass er in Combray seine Kindheit erinnert. Der scheinbare Widerspruch zwischen der Ablehnung der Art von Trauer bei Françoise und dem Akzeptieren dieser Auffassung in einem Buch entsteht dadurch, und das wird auch aus der Szene deutlich, dass das Kind Gefallen daran findet, Françoise zu verärgern, indem er sich bewusst entgegen ihrer Vorstellungen verhält.
Letztendlich entspricht es sicherlich nicht einem kindlichen Trieb, sich gemäß irgendwelcher Verhaltensregeln zu benehmen. Da auch die Eltern, die ja für den Jungen zunächst die greifbare Autorität darstellen, nicht Françoises Vorstellungen über einen Trauer-Kodex teilen, ist es für den Jungen sehr einfach, sich gegen Françoise zu wenden, sie geradezu aufzuziehen, indem er Redewendungen benutzt, die er in einem Buche für vollkommen unangebracht gehalten hätte.[18] Der Kommentar des Erzählers, der ein Kommentar des sich-erinnernden Ichs ist, also aus der Rückschau resultiert, scheint zu verdeutlichen, dass schon zu diesem frühen Zeitpunkt, für den Jungen noch unbemerkt, die Literatur eine enorme Autorität darstellt.
Der Erzähler stellt sogar eine Ähnlichkeit zwischen dem jungen Marcel und Françoise fest, die darauf beruht, dass beide ähnliche Vorstellungen und Ideen haben: Während Françoise diese allerdings umsetzt, sind sie Marcel nur aus seinen Büchern geläufig und sympathisch. Die Literatur dient also als Ausgangspunkt für diesen Vergleich. Die Beziehung zwischen den Ideen der Françoise und der Literatur wird noch verdeutlicht, indem der Erzähler ihre Gedanken mit denen eines Dichters vergleicht. Françoise erschien ihm
[...] remplie comme un poète d’un flot de pensées confuses sur le chagrin, sur les souvenirs de famille […].[19]
Ein weiterer interessanter Aspekt, der aber an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, ist die Tatsache, dass die Thematisierung von Literatur mit der Thematisierung von Trauer und Schmerz einhergeht. Die Bedeutung des Schmerzes für die Literatur scheint dem Leser Marcel, der seine Ideen von Trauer aus Büchern nimmt, schon bekannt zu sein. Als Schriftsteller kommt er erst viel später zu der Einsicht, welche große Rolle dem Schmerz bei der Konzeption seines Werkes zukommt.
II.2.2. Der Brief des M. de Charlus
Briefe und ähnliche eher alltägliche Schrift-Produkte werden immer wieder mit Literatur verglichen. Ein interessantes Beispiel findet sich in Le temps retrouvé, als der Erzähler von dem Brief berichtet, den M. de Charlus ihm hinterlässt. Jener bekennt sich in diesem Brief dazu, dass er, nachdem er von seinem Geliebten Morel verlassen worden war, von Eifersuchtsgedanken geplagt wurde, die schließlich zu Mordgedanken führten. Morel, der die Eifersucht des M. de Charlus gefürchtet und ihn deshalb bis zu seinem Tode gemieden hatte, so bekennt M. de Charlus, wäre nicht lebend davon gekommen, hätte er seine Bitten erhört und wäre zu ihm zurückgekehrt. Dieses Bekenntnis des M. de Charlus, welches offensichtlich den Zweck erfüllen soll, seinem Freund Marcel etwas mitzuteilen, was ihm auf dem Herzen lag, eine dunkle Wahrheit zu enthüllen, wird vom Erzähler als „Literatur“ bezeichnet.
Alors je compris la peur de Morel; certes il y avait dans cette lettre bien de l’orgeuil et de la littérature. Mais l’aveu était vrai.[20]
Es stellt sich die Frage, ob sich die Kennzeichnung des Briefes als Literatur (oder zumindest als etwas, das Literatur enthält) sich einzig auf die Art und Weise zu schreiben bezieht. Auf den ersten Blick scheint dies die naheliegende Interpretation zu sein, da der Brief tatsächlich eine ganze Reihe von Stilmitteln aufweist, die – ganz und gar nicht alltäglich – einem literarischen Schreibstil gleich kommen. So verwendet M. de Charlus Allegorien, die zum großen Teil an biblische und antike Mythen angelehnt sind und die den Brief aufgrund ihrer Bildhaftigkeit und Symbolizität, ihrer Intensität, sogar von der Rahmenhandlung, die ja eigentlich die tatsächliche „Literatur“ darstellt, abheben, diese in einem gewissen Maße profanisieren. Dadurch, dass diese Allegorien der Bibel, als dem „Buch der Bücher“, der Grundlage der Literatur, entnommen sind, wird der literarische Anspruch des Briefes geradezu unbestreitbar.
[...]
[1] Corbineau-Hoffmann (1993:52)
[2] Vgl. Corbineau-Hoffmann (1993:2)
[3] Vgl. Keller (1983:153)
[4] Corbineau-Hoffmann (1993:62)
[5] Vgl. Corbineau-Hoffmann (1993:62)
[6] Corbineau-Hoffmann (1993:65)
[7] Du côté de chez Swann: 215
[8] Vgl. Stambolian (1972 :125)
[9] Du côté de chez Swann: 215
[10] Vgl. Stambolian (1972 :125)
[11] Du côté de chez Swann:215
[12] Du côté de chez Swann:339
[13] Du côté de chez Swann: 215
[14] Du côté de chez Swann: 341
[15] Du côté de chez Swann : 219
[16] Du côté de chez Swann : 28
[17] Du côté de chez Swann : 152
[18] Vgl. Du côté de chez Swann : 152
[19] Du côté de chez Swann : 152
[20] Le temps retrouvé: 113
- Citar trabajo
- Philipp Rott (Autor), 2002, Die Bedeutung der Lektüre in Prousts "A la recherche du temps perdu", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45360
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