Diese Arbeit soll aufzeigen, wie Hoffmann gemäß der romantischen Naturphilosophie und der Auffassung über die Entstehung der Welt und der Sprache die Rückkehr zu einem paradiesischen Zustand dank der Poesie darstellt. Dies gelingt im Goldnen Topf durch die Verbindung zweier wichtiger Motive, dem Schreiberdienst- und dem Gartenmotiv, welches den Raum mit der Handlung verbindet. Der Schreiberdienst als vorantreibendes Handlungselement findet in einer gartenähnlichen Umgebung statt, so daß die wiederzuentdeckende Einheit von Schrift und Natur bereits im Text realisiert ist. Diese Motive sollen an Hand der Hauptfigur Anselmus, deren Wendepunkte in ihrem Schicksal zum einen durch den Schreiberdienst bestimmt sind und zum anderen sich in Gärten abspielen, analysiert werden. Die Darstellung der Gärten im Text hängt zudem von Anselmus’ Wahrnehmung ab, die sich je nach Einflußnahme der phantastischen Kräfte oder der ihnen entgegengesetzten wandelt. Eine Untersuchung des Dualismus zwischen phantastischer und bürgerlicher Welt ist daher ebenfalls angebracht, zumal dieser zusätzlich durch die Struktur des Textes mit dem Schreiberdienstmotiv verbunden ist.
Wie Hoffmann das Gedankengut der romantischen Naturphilosophie im Text verarbeitet und aus welchen Quellen es stammt, soll im Vorfeld an Hand der Darstellung des phantastischen Reichs Atlantis geklärt werden. Es ist das Ziel, auf das Anselmus Tätigkeit ausgerichtet ist, weshalb zunächst beleuchtet wird, warum es als so erstrebenswert gilt. Hoffmanns Quellen waren Werke von Schelling und Schubert, durch deren Verarbeitung im Atlantis-Mythos dessen Funktion als Paradiesvorstellung besonders betont wurde. Des weiteren soll untersucht werden, wie der Mythos in die Handlung eingebettet ist und diese motiviert.
Inhalt
1. Einleitung
2. Der Atlantis-Mythos
2.1 Hoffmanns Quellen
2.2 Handlungsmotivation durch den Atlantis-Mythos
3. Anselmus’ Weg nach Atlantis
3.1 Dualismus zwischen bürgerlicher und phantastischer Welt
3.2 Dualismus und Handlungsverlauf in der Textstruktur
3.3 Das Schreiben in den Gärten
3.3.1 Anselmus’ Vorbereitung
3.3.2 Anselmus’ Entwicklung zum Dichter
3.3.3 Krise und Erlösung
4. Schluß
5. Bibliographie
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
Gärten sind immer eine Rekonstruktion des ersten Gartens, des Paradieses, und damit Wunschbilder der Welt. Das Bild des Paradieses wandelte sich jedoch im Laufe der Geschichte entsprechend den unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen. Seit dem Mittelalter herrschten in Gärten geometrische Gestaltungsprinzipien vor als Symbol für die mathematisch-kosmische Gesetzlichkeit von Welt- und Staatsordnung. Dies fand seinen Höhepunkt in der barocken Gartenkunst, die durch die für Ludwig XIV. geschaffenen Parkanlagen von Versailles geprägt wurde, welche für die Beherrschung der Natur durch den Menschen standen. Dagegen richtete sich schließlich die Gartenrevolution, die um 1720 in England den Landschaftsgarten hervorbrachte, der sich in ganz Europa, Rußland und Amerika verbreitete. Als Abbild der freien Landschaft war der Landschaftsgarten Ausdruck einer neuen, liberalen Paradiesvorstellung und zielte auf individuelle, sinnliche Naturempfindung und Freiheitsdenken. Die Gartengestaltung löste sich damit von der Architektur als Vorbild ab.[1] Vorbereitet wurde diese neue Gartenkonzeption von der Landschaftsmalerei und der Literatur, woran sie sich weiterhin orientierte.
In der ersten Theorie der Gartenkunst in Deutschland, die 1779 von Hirschfeld verfaßt wurde, wird ebenfalls der Landschaftsgarten dem geometrischen gestalteten Garten vorgezogen, da durch Bewegung, Kontrast und Verschiedenheit eine größere Wirkung der Natur auf das menschliche Gemüt erreicht wird.[2] Schlegel hingegen lehnte den englischen Landschaftsgarten ab, da dieser versucht, eine Illusion der Einheit von Kunst und Natur zu erzeugen, und dadurch der Gegensatz zwischen Natur und menschlicher Kunstfertigkeit besonders deutlich zutage tritt. Reale Gärten sind demnach der Natur unterlegen, da sie von ihr bzw. der göttlichen Schöpfung abhängen, während die in der Kunst dargestellten Gärten der göttlichen Schöpfung gleichkommen.
Diese Auffassung ist auch in der romantischen Dichtung präsent, in der der Begriff des Gartens als Leitmotiv die Spannung zwischen dem Verlust des Paradieses und dessen zukünftigem Wiedererlangen aufzeigt.[3] Mit der Wiedererlangung des Paradieses ist die Vorstellung verbunden, die ursprüngliche Einheit der Erscheinungen der Welt wiederherzustellen und damit den Sinn der Welt zu erkennen. In der Romantik sollte dies durch die Kunst möglich sein, hauptsächlich durch die Poesie, welche den Schöpfungsakt als Einheit von Wort und Tat wiederholt. Demzufolge liegt der Schlüssel zum Ursprung in der Sprache, da nach Hamann die Schöpfung Gottes nur als Sprache gedacht werden kann. So wie die Poesie verweist vor allem das Bild des Gartens durch die Erinnerung an das Paradies an die anfänglich herrschende Einheit von Sprache und Wirklichkeit und ist daher von vornherein poetisch.[4]
Ein Werk der Romantik, in dem diese Aspekte besonders deutlich erkennbar sind, ist Der goldne Topf von E.T.A. Hoffmann. 1814 Als dritter Band der Fantasiestücke erschienen, galt es bereits damals als eins seiner Meisterwerke. Das „Märchen aus der neuen Zeit“, wie es im Untertitel genannt wird, handelt vom ungeschickten Studenten Anselmus, der durch eine Anstellung als Kopist beim Archivarius Lindhorst die poetische Welt in seinem Innern entdeckt. Mittels der Tätigkeit des Schreibens verfolgt er die Entwicklung der Sprache zu ihrem Anfangspunkt zurück, wodurch er schließlich in das phantastische Reich Atlantis gelangt, welches die ursprüngliche Einheit aller Erscheinungen der Welt repräsentiert. Bis er dieses jedoch erreicht, ist Anselmus dem Widerstreit zwischen bürgerlich-philiströser und phantastischer Welt ausgesetzt, deren Kräfte beide um den Studenten kämpfen.
Diese Arbeit soll aufzeigen, wie Hoffmann gemäß der romantischen Naturphilosophie und der Auffassung über die Entstehung der Welt und der Sprache die Rückkehr zu einem paradiesischen Zustand dank der Poesie darstellt. Dies gelingt im Goldnen Topf durch die Verbindung zweier wichtiger Motive, dem Schreiberdienst- und dem Gartenmotiv, welches den Raum mit der Handlung verbindet[5]. Der Schreiberdienst als vorantreibendes Handlungselement findet in einer gartenähnlichen Umgebung statt, so daß die wiederzuentdeckende Einheit von Schrift und Natur bereits im Text realisiert ist. Diese Motive sollen an Hand der Hauptfigur Anselmus, deren Wendepunkte in ihrem Schicksal zum einen durch den Schreiberdienst bestimmt sind und zum anderen sich in Gärten abspielen, analysiert werden. Die Darstellung der Gärten im Text hängt zudem von Anselmus’ Wahrnehmung ab, die sich je nach Einflußnahme der phantastischen Kräfte oder der ihnen entgegengesetzten wandelt. Eine Untersuchung des Dualismus zwischen phantastischer und bürgerlicher Welt ist daher ebenfalls angebracht, zumal dieser zusätzlich durch die Struktur des Textes mit dem Schreiberdienstmotiv verbunden ist.
Wie Hoffmann das Gedankengut der romantischen Naturphilosophie im Text verarbeitet und aus welchen Quellen es stammt, soll im Vorfeld an Hand der Darstellung des phantastischen Reichs Atlantis geklärt werden. Es ist das Ziel, auf das Anselmus Tätigkeit ausgerichtet ist, weshalb zunächst beleuchtet wird, warum es als so erstrebenswert gilt. Hoffmanns Quellen waren Werke von Schelling und Schubert, durch deren Verarbeitung im Atlantis-Mythos dessen Funktion als Paradiesvorstellung besonders betont wurde. Des weiteren soll untersucht werden, wie der Mythos in die Handlung eingebettet ist und diese motiviert.
2. Der Atlantis-Mythos
2.1 Hoffmanns Quellen
Nach Auffassung der Romantiker sind Märchen und Mythen Darstellungen einer Zeit, in der die Sprache der Natur deutlich und bedeutsam war.[6] Im Goldnen Topf steht dafür der Mythos von Atlantis, welches in der Literatur als das Paradies der Künstler gilt. Verbunden mit dem Bild des Paradieses sind stets Wunschvorstellungen von Zeiten vollkommener Harmonie zwischen Mensch und Natur sowie Kritik am gegenwärtigen Zustand der menschlichen Entartung.[7] Hoffmann führt den Atlantis-Mythos in der dritten Vigilie durch den Archivarius Lindhorst ein, der von seinen Vorfahren berichtet. In der achten Vigilie wird die Geschichte von Serpentina weitererzählt, was mit einem Hinweis auf die mögliche Wiedererlangung des ursprünglichen harmonischen Zustands endet. Der Mythos als Vorgeschichte der Rahmenerzählung konstituiert somit eine zeitliche Abfolge der verschiedenen Handlungsebenen: Der vorgeschichtliche Einklang mit der Natur ging der bürgerlich geprägten Wirklichkeit voraus, welcher wiederum der neue, durch die Poesie erlangte Einklang folgen wird. Angelehnt ist dies an die idealistische Dreischrittlehre, wie sie vor allem Novalis in seinen Märchen einarbeitete,[8] sowie an Schuberts triadischem Geschichtsmodell aus seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Auch in der näheren Beschreibung bedient sich Hoffmann nicht nur am Schöpfungsbericht der Bibel[9], sondern teilweise wortwörtlich bei Schubert. Demnach haben im Land Atlantis die Menschen in Harmonie mit der Natur gelebt und wurden von ihr gelenkt. Diese Einheit wurde durch den Menschen in dem Moment zerstört, als er anfing, nach einem ursprünglicheren als dem natürlichen Gesetz zu suchen. Die Natur hörte auf, zum Menschen zu sprechen, und damit auch das Unendliche, das göttliche Sein, das durch sie gesprochen hatte. In seinem Innern trägt der Mensch jedoch weiterhin das Göttliche in Form eines versteckten Poeten, mit dessen Wiederfinden er auch erneut zu Gott findet.[10]
Wörtliche Anleihen bei Schubert sind z.B. Atlantis als Reich des Urvolks, der Charakter des Phosphorus, der in antiken Mythen als Symbol der Gleichzeitigkeit von Liebe und Tod angesehen wird, sowie die Feuerlilie, welche als Symbol der harmonischen Erfüllung gilt.[11] Es zeigt sich also, daß der Zustand der ursprünglichen Harmonie sogar in Einzelheiten betont wird, um seine Wiedererlangung um so erstrebenswerter zu machen.
Laut Schubert kann die Einheit aller Erscheinungen der Natur wiedererkannt werden, wenn die Phänomene, die von den klassischen Naturwissenschaften vernachlässigt wurden, ebenfalls erforscht werden. Zu diesen, die Schubert als Mittel zum Erreichen eines neuen Zeitalters ansieht, gehört u.a. der animalische Magnetismus, auf den Hoffmann in zahlreichen seiner Werke anspielt. Der animalische Magnetismus (oder Mesmerismus) geht zurück auf F.A. Mesmer (1734 – 1815), der damit in seiner Praxis in Paris therapierte. Nach seiner Theorie gibt es ein magnetisches Fluidum, bei dessen Behinderung Krankheiten entstehen und das darüber hinaus als eine Kraft, die das menschliche Bewußtsein erweitern kann, angesehen wird.[12]
Beispiele für Magnetismus im Goldnen Topf sind die aus Atlantis stammenden Figuren des Archivarius Lindhorst, der eigentlich ein Salamander und Geisterfürst ist, und seine Tochter Serpentina, die aus der Verbindung mit der Feuerlilie entstanden ist. Ihre magnetischen Kräfte zeigen sich in Formen von Feuer und Elektrizität (was damals mit dem Magnetismus in Verbindung gesehen wurde); entsprechend oft ist im Märchen von Funken, elektrischen Schlägen und Flammen die Rede.[13]
Generell ist der animalische Magnetismus in der Romantik eine Erklärungsmöglichkeit für die Zusammenhänge des Universums, welches durch eine sogenannte Weltseele zusammengehalten wird. Diese Auffassung übernahm E.T.A. Hoffmann von Schelling, auf dessen Werke auch Schuberts Theorien aufbauen. Gemäß Schelling gibt es einen allgemeinen Dualismus, der die ganze Schöpfung durchzieht und der sich beispielhaft im Licht zeigt. Überall in der Natur stehe die positive Kraft, durch die alles vorwärts strebt, der negativen Kraft gegenüber, die alles zurückführt. Beide Prinzipien werden jedoch von der Weltseele erfaßt, die somit in Form des Unendlichen eine Einheit stiftet. Demnach liegen das Unendliche und das Endliche, die positive und die negative Kraft ineinander und erkennen sich gegenseitig, da das eine nicht ohne das andere existieren kann. Die Wahrheit liegt in der Vereinigung beider Prinzipien, was auch die Erkenntnis ist, die Hoffmann durch die Kunst vermittelt sehen möchte.[14]
Im Atlantis-Mythos ist dies durch die Entstehungsgeschichte der Feuerlilie vertreten, welche aus der Sonne entsteht und sich dieser zuwendet. Die Sonnenstrahlen stehen für das Unendliche, das sich gegen die Ausdünstungen aus der Erde, die das Endliche verkörpern, durchsetzt. Daher symbolisiert die Lilie „jene unbewußte Einheit mit dem Unendlichen, die das Leben in der Urzeit noch auszeichnete“[15]. Als sie sich jedoch in Phosphorus verliebt und sich damit einem endlichen Wesen zuwendet, wird in ihr der Gedanke geweckt, was sie vom Weltgeist entfremdet. In diesem Gedanken liegt allerdings immer noch die Erinnerung an die ursprüngliche Einheit, die wiederhergestellt werden kann, sobald man sich ihrer bewußt wird. Durch die Liebe zu Phosphorus keimt die Lilie aber als neues Wesen empor. Mit dem Sieg über den Drachen kann jener die Feuerlilie von der Kraft des dämonischen Prinzips befreien, so daß sie erneut in harmonischer Einheit mit der Natur leben können.[16]
2.2. Handlungsmotivation durch den Atlantis-Mythos
E.T.A. Hoffmann setzt den Atlantis-Mythos im Goldnen Topf nicht nur im naiven Glauben an den harmonischen Urzustand der Welt ein, wie durch die romantische Naturphilosophie vertreten, sondern auch als motivierendes Handlungsmoment, da es die Harmonie wiederherzustellen gilt. In Verbindung mit dem Schreiberdienstmotiv entfaltet sich also erst die volle Bedeutung der mythischen Erzählung im Märchen.[17]
In der dritten Vigilie lernt Anselmus seinen zukünftigen Arbeitgeber Lindhorst kennen, von dem er zuvor durch den Registrator Heerbrand erfahren hatte, daß er „ein alter wunderlicher, merkwürdiger Mann“[18] sei, der „eine Anzahl zum Teil arabischer, koptischer und gar in sonderbaren Zeichen, die keiner bekannten Sprache angehören, geschriebener Manuskripte“ (H 22) besitze, die er kopieren lassen möchte. Lindhorst erzählt nun die Geschichte seiner Vorfahren im Reich Atlantis, von der der Student als einziger Hörer beeindruckt ist. Der Mythos weckt in ihm Interesse und verstärkt seine unbekannte Sehnsucht nach einem höheren Sein; die in verlockenden Einzelheiten dargestellte paradiesische Harmonie reizt ihn, da er sich der bürgerlichen Gesellschaft nicht vollends zugehörig fühlt. Die Rolle des Archivarius Lindhorst dient dazu, Anselmus’ dichterische Fähigkeiten zum Vorschein zu bringen: ein Ziel, das durch den zweiten Teil des Mythos in der achten Vigilie begründet wird. Darin erzählt nämlich Serpentina, daß der in Ungnade gefallene Salamander wieder nach Atlantis zurückkehren kann, sobald er seine drei Töchter mit Jünglingen vermählt, die ein poetisches Gemüt besitzen, was sie dazu befähigt, die Sprache der Natur zu verstehen. Diese Jünglinge würden dann selbst nach Atlantis gelangen.
Als Anselmus’ wichtigste Verbindung in dieses höhere Reich fungiert das Kopieren der Manuskripte, mit denen er die Entwicklung der Sprache zurückverfolgt. Nach Auffassung der Romantiker wurde nämlich der Orient als Wiege der Zivilisation und als Entstehungsort der menschlichen Sprache angesehen. Gemäß Herder ist zudem die Sprache nicht göttlichen Ursprungs, sondern entstand durch die Imitation von Lauten in der Natur. Im Laufe ihrer Entwicklung wurde sie immer komplexer, so daß die enge Verbindung zwischen dem Wort als Symbol und dem bezeichneten Objekt verlorenging.[19] Da, wie bereits erwähnt, Schöpfung und Sprache zusammenhängen, zieht Hoffmann hier ebenfalls eine enge Verbindung zwischen dem Ursprungsmythos und dem Schreiberdienstmotiv, indem dem nach Atlantis strebendem Jüngling versprochen wird, daß er dort „im Einklang mit der Natur [...] ihre Sprache, die Wunder [des] Reiches verstehen“ (H 88) werde.
So spiegelt sich auch die Geschichte der Feuerlilie in Anselmus’ Werdegang als Kopist. Durch seine Liebe zu Serpentina wird in ihm die Sehnsucht nach einer höheren Existenz geweckt, die er mit Hilfe der magnetischen Kräfte des Archivarius Lindhorst erreicht. Jener ist zudem ein Nachfahr des Phosphorus und siegt gegen das Äpfelweib, welches als Nachfahre des Drachen, gegen den Phosphorus kämpfen mußte, das der positiven Kraft des Magnetismus entgegengesetzte Prinzip verkörpert.[20]
3. Anselmus’ Weg nach Atlantis
3.1 Dualismus zwischen bürgerlicher und phantastischer Welt
Bis Anselmus das höhere Dasein in Atlantis erlangen kann, gibt es einige widrige Umstände zu überwinden. Wie schon im Untertitel „Ein Märchen aus der neuen Zeit“ angedeutet, ist der Goldne Topf geprägt durch die antithetische Verquickung von alltäglichem und mythischem Geschehen. Wo Märchen normalerweise mit dem formelhaften „Es war einmal“ beginnen, was sie als Erzählungen aus einer zeitlosen, mystischen Welt auszeichnet, stehen beim vorliegenden Werk konkrete Orts- und Zeitangaben, die eine nüchterne Alltagswelt konstituieren.[21] Doch schon von Beginn an wird deutlich, daß es eine zweite, phantastische Sphäre der Wirklichkeit gibt, da, als Anselmus den Korb des alten Äpfelweibes umstößt, dieses ihm einen Fluch hinterher ruft, so daß der Student von einem „unwillkürlichem Grausen ergriffen“ (H 6) wird. Diese zweite Sphäre des Wunderbaren eröffnet ihm bald auch die poetische Erlebnisdimension, in der die Natur in einer immer verständlicheren Sprache zu ihm spricht.
Zunächst ist Anselmus aber zwischen diesen beiden Erscheinungsformen der Wirklichkeit hin- und hergerissen. Die erste Vigilie charakterisiert ihn als Tolpatsch, der in der bürgerlichen Gesellschaft Dresdens nicht heimisch wird, weil er durch sein „Ungeschick sowie den ganz aus dem Gebiete aller Mode liegenden Anzug“ (H 6) ständig auffällt und als Außenseiter markiert wird. Er scheint unter einem „Unstern“ (H 9) geboren, da alle seine Versuche, gesellschaftlichen Konventionen nachzukommen, scheitern.[22] Dennoch möchte er in der bürgerlichen Welt vorankommen und hat das Ziel im Auge, Hofrat zu werden. Seine Umgebung, die ihn darin bestärkt, besteht aus Bürokraten, die nach materieller Sicherheit und gesellschaftlicher Anerkennung streben. So ist zum Beispiel das einzige Ziel von Veronika, der Tochter des Konrektors Paulmann, einen Hofrat zu heiraten und als angesehene Dame ein bequemes Leben im materiellen Luxus zu führen. Das Gegenstück dazu ist Serpentina, welche die poetische und damit tiefere Liebe verkörpert und Anselmus ein erfülltes Dasein in Atlantis verheißt. Sie und der Archivarius Lindhorst sind Vertreter des phantastischen Reichs der Poesie und wecken die kreativen Kräfte des jungen Studenten.[23]
Es ist zu beachten, daß der bürgerliche und der phantastische Lebensbereich nicht zwei getrennte Welten sind, sondern zwei Dimensionen einer Realität, die übereinander projiziert werden. Dies wird daran ersichtlich, daß diese unterschiedlichen Sphären nicht räumlich getrennt sind, sondern an ein und demselben Ort erfahren werden können. Die Schwellenüberschreitung von einer Realität in die andere vollzieht sich nämlich stets als Veränderung im Sehen. Was im alltäglichen Erfahrungsbereich als Täuschung oder Verwirrung der Augen erscheint, kann zur Offenbarung einer zweiten Wirklichkeit werden, wenn sich die Sehinterpretation verschiebt. Jede Person im Goldnen Topf ist somit durch ihre Stellung zum Phantastischen und durch die Bereitschaft, eine andere Sichtweise einzunehmen, gekennzeichnet.[24]
Ausgehend davon ist das Märchen mit Phänomenen durchzogen, bei denen der Leser im unklaren gelassen wird, welchem Bereich sie endgültig zuzuordnen sind bzw. welche Interpretation die richtige ist. Die Personen der bürgerlichen Sphäre neigen z.B. dazu, rationale Erklärungen für alle Ereignisse zu finden und das poetische Erleben des Anselmus für Anzeichen des Wahnsinns zu halten, während er selbst mit seiner lebhaften Vorstellungskraft Alltagsphänomene eher als phantastische interpretiert.[25] Daraus schließt sich, daß die biederen Bürger der logischen Realität der Außenwelt vornehmlich ihren Glauben schenken und die wunderbare Wirklichkeit der Innenwelt den poetisch veranlagten Figuren vorbehalten ist.
[...]
[1] Vgl. Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten, München 1980, S. 7ff.
[2] Vgl. Friedmar Apel: Die Kunst als Garten. Zur Sprachlichkeit der Welt in der deutschen Romantik und im Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1983, S. 15.
[3] Vgl. Friedmar Apel: Die Zaubergärten der Phantasie, Heidelberg 1978, S. 108f.
[4] Vgl. Apel 1983, S. 10ff.
[5] Vgl. Horst S. u. Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, Tübingen/Basel 1995, S. 172.
[6] Vgl. Apel 1983, S. 26.
[7] Vgl. Daemmrich, S. 274f.
[8] Vgl. Knud Willenberg: Die Kollision verschiedener Realitätsebenen als Gattungsproblem in E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 95 (1976), S. 107.
[9] Vgl. Brigitte Feldges, Ulrich Stadler: E.T.A. Hoffmann. Epoche – Werk – Wirkung, München 1986, S. 77.
[10] Vgl. Stefan Ringel: Realität und Einbildungskraft im Werk E.T.A. Hoffmanns, Köln 1996, S. 99ff.
[11] Vgl. Liane Bryson: Romantic Science: Hoffmann’s Use of the Natural Sciences in Der goldne Topf, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 91 (1999), S. 246.
[12] Ebd., S. 242ff.
[13] Vgl. Maria M. Tatar: Mesmerism, Madness, and Death in E.T.A. Hoffmann’s Der goldne Topf, in: Studies in Romanticism 14 (1975), S. 369ff.
[14] Vgl. Ringel, S. 117f.
[15] Ebd., S. 119.
[16] Ebd., S. 120ff.
[17] Vgl. Louisa C. Nygaard: Anselmus as Amanuensis: The Motif of Copying in Hoffmann’s Der goldne Topf, in: Seminar,A journal of Germanic studies 19 (1983), S. 80.
[18] E.T.A. Hoffmann: Der goldne Topf, Stuttgart 1993, S. 22. Im folgenden zitiert als Sigel (H plus Seitenzahl).
[19] Vgl. Nygaard, S. 84ff.
[20] Vgl. Bryson, S. 246.
[21] Vgl. Feldges u.a., S. 74.
[22] Ebd. S. 81.
[23] Vgl. Hartmut Steinecke, Wulf Segebrecht (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Sämtliche Werke in sechs Bänden, Frankfurt am Main 1983, Bd. 2, S. 765ff.
[24] Vgl. Norbert Miller: E.T.A. Hoffmanns doppelte Wirklichkeit. Zum Motiv der Schwellenüberschreitung in seinen Märchen, in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie, Festschrift Wilhelm Emrich, Berlin/New York 1975, S. 368ff.
[25] Vgl. Tatar, S. 372ff.
- Citation du texte
- Eleni Stefanidou (Auteur), 2002, Anselmus' Weg nach Atlantis: Schrift und Natur in E.T.A. Hoffmanns "Der goldne Topf", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45217
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