Dass literarische Texte interkulturellen Charakters sich längst von ihrem anfänglichen marginalen Status und ihren begriffstheoretischen Ursprüngen als „Rand-“ oder „Ausländerliteratur“ emanzipiert haben, steht außer Frage. Die aktuellen Flüchtlingswellen, die Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte und das sich wandelnde politische Selbstverständnis Deutschlands, als Einwanderungsgesellschaft von wachsender ethnischer und kultureller Heterogenität, haben eine zunehmende Sensibilisierung für eine Literatur generiert, die jene Entwicklungen zu ihrem Gegenstand macht. Sofern interkulturelle Literatur die althergebrachten Kulturtheorien unterläuft, kann sie einen signifikanten Beitrag für die Aufarbeitung konventioneller Kulturkonzepte leisten und folgerichtig auch als Medium zur Vermittlung interkultureller Kompetenzen eingesetzt werden, bietet sie doch eine Vielfalt an Möglichkeiten, den kulturellen Dialog anzuregen. Die gegenwärtige Forschungs- und Praxislage offenbart allerdings, dass die kulturvermittelnde Funktion literarischer Texte oftmals unterschätzt wird. Deshalb versteht sich diese Arbeit als Plädoyer für den Einsatz interkultureller Literatur zur Verfolgung sozialdidaktischer Lernziele. Hierfür werden die literarischen Werke von vier in Deutschland lebenden und schreibenden Autoren herangezogen: Sten Nadolnys Selim oder Die Gabe der Rede; Emine Sevgi Özdamars Die Brücke vom Goldenen Horn; Rafik Schamis Die Sehnsucht fährt schwarz und Wladimir Kaminers Russendisko.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Einführung in die Untersuchungsgegenstände
1.1 Was ist Kultur?
1.1.1 Dimensionen des anthropologischen Kulturbegriffs
1.1.2 Geschlossener VS. offener Kulturbegriff
1.1.3 Multi-, Inter- und Transkulturalität
1.2 Was ist interkulturelle Kompetenz?
1.2.1 Dimensionen interkultureller Kompetenz
1.2.2 Aktuelle Herausforderungen für das Konzept interkultureller Kompetenz
1.3 Was ist transkulturelle Literatur?
1.3.1 Systematisierungsansätze mehrkultureller Literatur
1.3.2 Zum didaktischen Potenzial literarischer Texte
2. Analyse ausgewählter Werke transkultureller Literatur
2.1 Auswahl des Textkorpus
2.2 Zu den Autoren
2.3 Inhaltsstrukturen, Handlungsverläufe und Figurenkonstellationen
2.4 Interkulturelle Interaktionen und Prozesse der Selbstreflexion in ausgewählten
Textpassagen
2.4.1 Sten Nadolny: Selim oder Die Gabe der Rede
2.4.2 Emine Sevgi özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn
2.4.3 Raflk Schami: Die Sehnsucht fährt schwarz
2.4.4 Wladimir Kaminer: Russendisko
2.5 Vergleichende Aspekte
2.6 Didaktische Analyse der vorliegenden Texte auf ihr Potenzial zur Vermittlung interkultureller Kompetenzen
3. Schlussbetrachtungen und Ausblick
4. Literaturverzeichnis
Einleitung
Dass literarische Texte interkulturellen Charakters sich längst von ihrem anfänglichen marginalen Status und ihren begriffstheoretischen Ursprüngen als „Rand-“ oder „Ausländerliteratur“ emanzipiert haben, steht außer Frage. Die aktuellen Flüchtlingswellen, die Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte und das sich wandelnde politische Selbstverständnis Deutschlands, als Einwanderungsgesellschaft von wachsender ethnischer und kultureller Heterogenität, haben eine zunehmende Sensibilisierung für eine Literatur generiert, die jene Entwicklungen zu ihrem Gegenstand macht. Inter- und transkulturelle Impulse werden nunmehr in akademischen Kreisen begrüßt, wobei sich die Literatur- und Kulturwissenschaften allerdings vermehrt mit konzeptuellen Herausforderungen konfrontiert sehen. Denn das interkulturelle Narrativ stellt, als vielgestaltiges und hybrides Phänomen, zum einen den begrifflichen Rahmen der Fachgermanistik in Frage und unterläuft zum anderen die althergebrachten Kulturtheorien. Als postnationales Schreiben kann die interkulturelle Gegenwartsliteratur demnach einen erheblichen Beitrag für die Aufarbeitung konventioneller Kulturkonzepte leisten und folgerichtig auch als Medium zur Vermittlung interkultureller Kompetenzen eingesetzt werden, bietet sie doch eine Vielfalt an Möglichkeiten, den kulturellen Dialog anzuregen. Die gegenwärtige Forschungs- und Praxislage offenbart allerdings, dass die kulturvermittelnde Funktion literarischer Texte oftmals unterschätzt wird. Deshalb versteht sich diese Arbeit als Plädoyer für den Einsatz interkultureller Literatur zur Verfolgung sozi al didaktischer Lemziele. Hierfür sollen die literarischen Werke von vier in Deutschland lebenden und schreibenden Autoren herangezogen werden: Sten Nadolnys Selim oder Die Gabe der Rede; Emine Sevgi özdamars Die Brücke vom Goldenen Horn; Rafik Schamis Die Sehnsucht fährt schwarz und Wladimir Kaminers Russendisko.
In der theoretischen Annäherung an die Thematik soll einführend ein Überblick über jene Kulturtheorien geleistet werden, die in der Forschungsliteratur regen Niederschlag gefunden haben und fachübergreifende Grundlagen für das heutige Verständnis von Kultur geschaffen haben. Dabei wird deutlich, dass gegenwärtig unterschiedliche Modelle von Kultur koexistieren, wobei sich eine unverkennbare Diskrepanz zwischen kohärenz- und differenzorientierten Ansätzen vergegenwärtigt, die die aktuellen Debatten um die adäquate kulturtheoretische Fundierung der Kulturvermittlung dominiert. Die Ergründung dieser Kontroverse wird durch die unterschiedlichen Analyseansätze von Multi-, Inter-, und Transkulturalität komplettiert, um die Komplexität in der Erfassung kultureller Reziprozitätsverhältnisse zusätzlich zu demonstrieren.
Im weiteren Verlauf sollen die Komponenten interkulturellen Lernens beleuchtet werden, um zu veranschaulichen, welche Art von Wissen und Fertigkeiten für die Aneignung interkultureller Kompetenzen vonnöten sind. Der Definitionsversuch orientiert sich dabei unter anderem an schemahaften Theorieansätzen, um die Mehrdimensionalität und die Dynamik interkultureller Lernprozesse zu verdeutlichen, wenngleich angeführt werden muss, dass von einer ausgearbeiteten Definition interkultureller Kompetenz keine Rede sein kann. Darüber hinaus muss in einem weiteren Schritt auf die Diskussion um die Grundannahmen interkultureller Kompetenz hingewiesen werden, denn als disziplinübergreifendes Konzept sieht es sich unweigerlich mit konfliktträchtigen Differenzen in Bezug auf den Gegenstandsbereich und die Zielvorstellungen konfrontiert.
In einem weiteren Abschnitt wird sich den Systematisierungsansätzen mehrkultureller Literatur und deren historischer Kontextualisierung gewidmet. Wenngleich die Begriffe inter- und transkulturelle Literatur lediglich als heuristische Notlösungen für die Gegenstandsbenennung angesehen werden können, soll der Versuch unternommen werden, eine konkrete Gattungsbestimmung anhand zentraler Aspekte zu entwickeln. Es sei gleich zu Anfang bemerkt, dass sich inter-/transkulturelle Literatur im Rahmen dieser Arbeit sowohl als Literatur von einheimischen als auch von ausländischen Autoren versteht, vorausgesetzt dass sich deren Schreiben einer thematischen Interkulturalität verpflichtet. Daraufhin soll schließlich der didaktische Mehrwert literarischer Texte ergründet werden. Das interkulturelle Potenzial ist dabei anhand bestimmter Prämissen zu bemessen, die interdisziplinär auf literatur- und kulturwissenschaftliche Analyseansätze ausgerichtet sind.
Der praktische Teil der vorliegenden Arbeit widmet sich zunächst der Vorstellung der Autoren, um einen erleichterten Zugang zu deren Texten zu gewähren. Dabei wird deutlich, dass die Autoren je nach Herkunft und persönlicher Lebenssituation ein ganz eigenes Selbstverständnis und ein sehr unterschiedliches Verhältnis zur Literatur entwickelt haben. Daraufhin werden Inhalt und Handlung der jeweiligen Werke zusammenfassend dargestellt, um schließlich in den Textanalysen deren didaktisches Potenzial anhand ausgewählter Textpassagen zu ermitteln. Der Fokus soll in diesem Zusammenhang auf die unterschiedliche Ausgestaltung von interkulturellen Interaktionen und Prozessen der Selbstreflexion gelegt werden.
Die jeweiligen Textanalysen sollen weiterhin durch vergleichende Aspekte komplementiert werden. Sofern von wiederkehrenden kulturellen Dominanten ausgegangen werden kann, sollen diese auf Parallelen und Differenzen untersucht werden.
Abschließend wird der Versuch unternommen, die vorliegenden Texte unter dem Gesichtspunkt der interkulturellen Kompetenzvermittlung zu funktionalisieren. Dies geschieht unweigerlich unter Berücksichtigung der vorhergehenden Theoriediskussion. In diesem Kontext soll sich sowohl mit methodisch-didaktischen Reflexionen bezüglich des Potenzials literarischer Texte auseinandergesetzt werden als auch Grenzen für deren Einsatz in Prozessen des interkulturellen Lernens aufgezeigt werden. In einem letzten Kapitel werden die erhaltenen Erkenntnisse resümierend dargestellt, sowie offene Fragestellungen benannt.
1. Einführung in die Untersuchungsgegenstände
1.1 Was ist Kultur?
1.1.1 Dimensionen des anthropologischen Kulturbegriffs
Wenngleich die Kulturwissenschaft in der Theoriediskussion zwischen einem intellektuell-ästhetischen, einem materiellen und einem anthropologischen Kulturbegriff unterscheidet1, hat sich vornehmlich letzterer seit den 1960er Jahren etabliert. Während im deutschsprachigen Raum lange Zeit die Vorstellung von einem engen Kulturbegriff dominierte, der sich maßgeblich auf hochkulturelle Aspekte im Sinne von Ästhetik und Künstlertum bezog und folglich dem Bildungsbürgertum Vorbehalten war, vollzog sich spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts ein politischer und gesellschaftlicher Perspektivenwechsel, der die Populärkultur nunmehr in den Diskurs integrierte und Kultur demokratisierte. Der These des Soziologen Stuart Hall zufolge „besteht [Kultur] nicht länger aus der Summe des ,Besten, was je gedacht und geschrieben wurde’, als Höhepunkt einer entwickelten Zivilisation - das Ideal von Perfektion, nach dem in der früheren Bedeutung alle strebten. [...] ,Kultur’ in diesem speziellen Sinn ist etwas gewöhnliches’“2. Dieser erweiterte Kulturbegriff versteht Kultur nunmehr als eine soziale Lebenswelt, die die Gesamtheit menschlicher Denkweisen, Wertehaltungen und Handlungsmuster innerhalb eines bestimmten Kollektivs umfasst. Dieser Generalbegriff von Kultur wurde hingegen bereits im späten 17. Jahrhundert von dem Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf herausgebildet. Jener verstand Kultur als das Insgesamt derjenigen Tätigkeiten, mittels derer Menschen ihr Leben als spezifisch menschliches - im Gegensatz zu einem bloß tierischen - gestalten.3 Mit den Worten des Sozialpsychologen Geert Hofstede sei Kultur die „kollektive Programmierung des Geistes, die die Mitglieder einer Gruppe oder Kategorie von Menschen von einer anderen unterscheidet“4. Laut Alexander Thomas gründe eine Kultur für deren Angehörigen auf einem kollektiven „Orientierungssystem“, das „aus spezifischen Symbolen gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft USพ. [Organisation, Gruppe] tradiert [werde]“5.
Diesen theoretischen Annäherungen an den Terminus ist gemeinsam, dass Kultur nicht zwangsläufig auf den Bezugsrahmen eines Nationalstaates zu reduzieren ist, sondern auf allen Ebenen des menschlichen Zusammenlebens stattfindet. Alain Bertallo unterscheidet zwischen zwei Dimensionen von Kultur, nämlich der berühr- und beobachtbaren und der unsichtbaren. Während erstere sich auf kulturelle Artefakte und explizite Verhaltensweisen bezieht und auf den ersten Blick ersichtlich ist, beschreibt letztere Normen und Werte, die erst nach näherer Beschäftigung mit einer Kultur erkennbar sind.6 Daneben geht Hofstedes anthropologisches Kulturmodell einen Schritt weiter, indem er vier Tiefenebenen unterscheidet, in denen sich kulturelle Gemeinsamkeiten innerhalb einer sozialen Gruppe oder ggf. Unterschiede zwischen verschiedenen kulturellen Kollektiven manifestieren. Die erste Ebene des Hofstedeschen Modells betrifft die Symbole einer Kultur, die ähnlich wie bei Bertallo der manifesten Schicht einer Kultur entsprechen und von Bildern über Objekte bis hin zu Worten und Gesten reichen. Daneben trägt eine Kultur spezifische Identifikationsfiguren aus Politik, Kunst, Sport, usw., die langfristig im kollektiven Gedächtnis intemalisiert sind. Die dritte Kategorie betrifft Rituale, die förmlich um ihrer selbst willen ausgeübt und aufrechterhalten werden und vornehmlich der sozialen Inklusion dienen. Schließlich gründet die Essenz einer Kultur nach Hofstedes Zwiebelmodell auf zentralen Werten. Konkret wird darunter ein ideologischer Bewertungsmaßstab innerhalb eines Kollektivs verstanden, der dessen Angehörigen eine Vorstellung davon vermittelt, was als richtig oder falsch zu interpretieren ist. Demzufolge entspräche die dritte und letzte Kategorie der unsichtbaren Dimension von Kultur in der von Bertallo vorgenommenen Unterteilung. In diesem Sinne ist Kultur keinesfalls als ein statisches System zu verstehen, vielmehr ist sie von einer permanenten Dynamik geprägt, ,,[d]enn Kultur beeinflusst nicht nur das Verhalten ihrer Angehörigen, sondern die Angehörigen einer Kultur beeinflussen mit ihrem Verhalten auch wieder das kulturelle System“7. Als Beispiel für einen einschneidenden Wertewandel sei kurz auf ein verändertes Schönheitsideal verwiesen: eine blasse Haut galt in Europa bis ins frühe 20. Jahrhundert als Statussymbol einer privilegierten Gesellschaftsschicht, insofern sie als Ausdruck eines nobel geführten Lebens in einer häuslichen Sphäre zu verstehen war, wohingegen eine gebräunte Haut mit ärmlichen Lebensverhältnissen und der Arbeit auf dem Feld assoziiert wurde. Heutzutage zeugt eine gebräunte Haut umgekehrt von finanziellem Wohlstand, verbunden mit der Möglichkeit des Reisens, und gilt allemal als erstrebenswertes Schönheitsideal. Folglich wird Kultur von Menschen selbst erschaffen und aufrechterhalten oder ggf. verändert.
Wenngleich die angeführten Thesen nicht zwangsläufig auf die Bezugsgröße der Nationalkultur rekurrieren, so täuscht das doch nicht darüber hinweg, dass diese weiterhin die am häufigsten verwendete ist. Dabei werden territori al-geographische, soziale und soziokulturelle, sowie religiöse Bezugsgrößen oftmals außer Acht gelassen, wobei diese von erheblicher Wichtigkeit für die Kohäsion kultureller Entitäten sind. Hinzu kommt die Diskussion um weitere Determinanten des anthropologischen Kulturbegriffs, wie Geschlechter- und Generationsunterschiede, da diese die gesellschaftlichen Strukturen innerhalb einer Nationalkultur erheblich zu beeinflussen vermögen. Hofstede argumentiert allerdings in diesem Kontext, dass es sich bei den genannten Faktoren nicht um „integrierte soziale Systeme“ handele. „Kategorien wie Geschlecht, Generation oder Klasse stellen nur Teile sozialer Systeme dar, so daß nicht alle Dimensionen auf sie zutreffen.“8
Hofstedes Konzept der Kulturdimensionen erfreut sich bis heute, trotz reger Kritik, unerreichter Popularität. Nun haben seine Untersuchungen sowohl in wissenschaftlichen als auch in anwendungsbezogenen Bereichen in signifikantem Maße zur Persistenz der Unterscheidung von Kulturen nach ethnischen Gesichtspunkten beigetragen. In den 1960er und 1970er Jahren führte er in rund 70 Ländern Fragebögen zu kulturellen Wertvorstellungen mit Mitarbeitern des international tätigen Computerkonzems IBM durch. Die Datenerhebung erfolgte dabei über eine Korrelations- und Faktorenanalyse, anhand derer er vier grundlegende Kulturdimensionen ermittelte: Individualismus - Kollektivismus; Machtdistanz; Unsicherheitsvermeidung; Maskulinität - Femininität. Den erfassten Kulturen wurde hierbei auf Grundlage der Ergebnisse eine Zahl zugeordnet, mittels derer sie vergleichbar gemacht wurden. Die weite Rezeption des Konzepts mag maßgeblich an der breiten Datenbasis und der einfachen Nachvollziehbarkeit liegen, wobei sich allerdings mehrere Kritikpunkte hinsichtlich der methodischen Herangehensweise und des universalistischen Gültigkeitsanspruchs der Ergebnisse festhalten lassen. Unabhängig davon, dass der Großteil des Datenmaterials nunmehr rund 50 Jahre zurückliegt, lässt bereits der Fakt, dass es sich bei IBM um eine multinational ausgerichtete Firmenkultur handelt, keine automatische Generalisiemng kultureller Wertvorstellungen auf sämtliche Lebensbereiche zu. Zudem gründet Hofstedes Methode auf der Vorstellung einer klaren Quantifizierbarkeit kultureller Unterschiede, wobei qualitative Faktoren erheblich negiert werden.9
Neben Hofstedes Kulturmodell soll im Folgenden auf die Arbeit des Anthropologen Edward T. Hall eingegangen werden, dessen Kontextdimensionen Hofstede zum Teil in seine Untersuchungen inkorporierte. Beide Modelle unterscheiden sich in der Herangehensweise, insofern Halls Ansatz weniger quantitativ als vielmehr qualitativ ausgerichtet ist. Der Fokus liegt hierbei auf den zentralen Gesichtspunkten Kontext der Kommunikation, sowie Raum und Zeit, da diese Aspekte von besonderem Interesse für kulturvergleichende Untersuchungen seien. Seinen Analysen zufolge unterscheiden sich Angehörige verschiedener Kulturen in der Art und Weise, wie sie kommunizieren, je nachdem in welchem Ausmaß der Kontext mit einbezogen wird. Hall unterscheidet zwi sehen Low-Context Kulturen, die eine Information hauptsächlich anhand verbalerund expliziter Signale übermitteln und High-Context Kulturen, deren Informationsvermittlung stark an non-verbale Elemente gebunden ist und die Berücksichtigung des gesamten Kommunikationskontexts zum korrekten Verständnis verlangt. Der Aspekt des Raumes bezieht sich auf die räumliche Nähe bzw. Distanz, die in der Interaktion mit Angehörigen einer jeweiligen Kultur als angebracht empfunden wird. Zudem untergliedert Hall den Faktor Zeit in monochron und polychron, wobei monochrone Gesellschaften einem rigiden und polychrone einem eher flexiblen Zeitverständnis folgen. Die Zeitvorstellungen eines kulturellen Kollektivs sind dabei Ausdruck einer der an die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft orientierenden Perspektive.10
Im Gegensatz zu Hofstedes und Halls Forschungsbeiträgen zielen die empirischen Untersuchungen des Untemehmensberaters Fons Trompenaars nicht ausschließlich auf die Erforschung von Kulturdimensionen ab, sondern auch auf deren professionelle Vermarktung. In den 1980er und 1990er Jahren führte er in mehreren Unternehmen Befragungen durch, die einen sogenannten „Kulturkompass“ ergaben, ein praktisch orientiertes Diagnoseinstrument zur Erfassung unterschiedlicher kultureller Wertehaltungen. Die Fragebögen basierten dabei auf vorab festgelegten Kategorien, aufgrund derer er den erfassten Kulturen Skalenwerte zuordnete. Die erste Opposition beruht auf den Werten Universalismus VS. Partikularismus und betrifft die Gültigkeit und Einhaltung allgemeiner Regeln. Je nachdem, wie hoch der Akzeptanzgrad in Bezug auf Abweichungen und Umgehungen dieser Normen innerhalb einer Kultur ist, ist sie entweder gering oder hochgradig universalistisch ausgerichtet. Der zweite Vergleichsansatz fußt auf der Dimension Neutralität VS. Emotionalität und bezieht sich auf den Gebrauch affektiver Ausdrucksformen. In einigen Kulturen ist der Ausdruck von Emotionen demnach ein wünschenswerter Bestandteil in zwischenmenschlichen Interaktionen, wobei neutral geprägte Kulturen emotionale Reaktionen in der Öffentlichkeit vermehrt ablehnen. Die dritte Kulturdimension von Spezifisch VS. Diffus zielt auf die Frage ab, wie stark eine Kultur zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterscheidet. Dabei gelten diffuse Kulturen als weniger sachlich orientiert, da sie eher dazu tendieren, beide Sphären zu vermischen, wobei spezifisch ausgelegte Kulturen im Geschäfts- oder Berufsleben akribisch zwischen Person und Gegenstand unterscheiden. Eine weitere Kategorie ergibt sich aus dem Gegensatzpaar Leistung und Herkunft. Demnach werden in herkunftsorientierten Gesellschaften Menschen stärker nach ihrem sozialen Status beurteilt als in leistungsorientierten Kulturen, die den Status einer Person vorrangig auf Grundlage erbrachter Leistungen bemessen. Schließlich komplettiert Trompenaars seine Untersuchungen mit den Komponenten Verhältnis zur Natur und Umgang mit Zeit. Das menschliche Verhältnis zur Natur weist kulturspezifische Differenzen auf, insofern das ökologische Bewusstsein in vielen Kulturen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Bezug zu zeitlichen Maßstäben, wobei Trompenaars Ansatz zwischen sequentiell-orientierten und synchron-orientierten Kulturen unterscheidet, was der von Hall vorgenommen Einteilung von monochronen und polychronen Gesellschaften weitgehend entspricht.11
Des Weiteren ist Alexander Thomas’ Kulturstandardkonzept aktuell von beträchtlicher Bedeutsamkeit für die interkulturelle Theorie und deren kulturvergleichende Analysen, und das insbesondere im deutschsprachigen Raum. Wie bereits angemerkt, besteht der Kern einer Kultur laut Hofstede aus spezifischen Werten, die Thomas seinerseits mit dem Terminus der Kulturstandards definiert. Konkret versteht der Psychologe [น]nter Kulturstandards [...] alle Arten des Wahmehmens, Denkens, Wertens und Handelns [...], die von der Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich und andere als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich angesehen werden. Eigenes und fremdes Verhalten wird auf der Grundlage dieser Kulturstandards beurteilt und reguliert.12
Im Gegenteil zu Hofstedes Modell der Kulturdimensionen, das einen universalistischen Gültigkeitsanspruch erhebt, ist Thomas’ Konzept als kulturrelativistischer Theorieansatz zum Verständnis von Verhaltensunterschieden zu interpretieren, wobei dessen Ausgangspunkt auf einer Kulturdefinition fußt, die Kultur als Orientierungssystem definiert, das für ein bestimmtes Kollektiv verbindliche Deutungen und sinnstiftende Funktionen erfüllt.13 Ohne den wissenschaftlichen Mehrwert des Kulturstandardkonzepts grundsätzlich in Frage zu stellen, lässt sich doch ein zentraler Kritikpunkt feststellen: nämlich die Tendenz, Kulturen als weitgehend homogene Entitäten heraufbeschwören zu wollen. Dieser Umstand scheint dabei weniger einer pragmatischen Absicht als vielmehr der Überzeugung geschuldet zu sein, dass hybride Identitäten nach wie vor die Ausnahme bilden, obwohl sie „zweifelsohne der genaueren Betrachtung bedürfen, [...] aber deshalb noch keineswegs als typisch für die individuelle Enkulturation in unserer Gesellschaft angesehen werden können“14. Nun ist Thomas insofern zuzustimmen, als dass derartige biographische Entwicklungen womöglich noch nicht der Norm entsprechen, die Tendenz sich durch die Globalisierung und zunehmende Migrationsbewegungen in naher Zukunft allerdings unverkennbar verschärfen wird. Wenn der Wissenschaftler auch korrekt bemerkt, dass eine „genauere Betrachtung“ derartiger Phänomene vonnöten sei, so widmen seine interkulturellen Forschungsbeiträge sich diesen paradoxerweise kaum.
1.1.2 Geschlossener VS, offener Kulturbegriff
Wie dem vorhergehenden Kapitel offenkundig zu entnehmen ist, so birgt auch das zeitgenössische Verständnis von Kultur ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial, da es auf einem weit verbreiteten Theorieansatz fußt, der Kulturen mittels ethnischer Standardisierungen zu erklären versucht. Nun wird der Grundstein der theoretischen Konzeptualisierung des geschlossenen Kulturbegriffs oftmals mit dem vielzitierten Kugelmodell von Johann Gottfried Herder assoziiert15, demzufolge Kulturen vermeintlich als holistische Entitäten gedacht werden und sich somit zwar begegnen, aber nicht zu vermischen vermögen. Diesem Ansatz folgend sei das Nationalvolk mithin Träger und Produzent von Kultur. Es ist nicht zu leugnen, dass die Wirksamkeit dieser folgenreichen Kulturkonzeption bis in die Gegenwart fortdauert und die Wissenschaft disziplinübergreifend auf einschneidende Weise geprägt hat. Dabei unterminiert das Beharren auf einer geschlossenen Variante des Kulturbegriffs und der damit verbundenen Ethnisierung den notwendigen Paradigmenwechsel hin zu einer offenen Variante des Kulturbegriffs in beachtlichem Maße. In der seit mehreren Jahren fortwährenden und intensiv geführten Debatte um den Rekurs auf ein standardisiertes Kulturverständnis, sehen sich zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen mit der Forderung nach einer Gegenstandserweiterung konfrontiert. Das ist insofern verständlich, als dass viele Fachrichtungen sich notwendigerweise aus Gründen der einfacheren Handhabbarkeit dem geschlossenen Kulturbegriff verschrieben haben, der insbesondere im Zeitalter der Globalisierung angesichts internationaler Verbindungen und Austauschpraktiken jedoch zunehmend obsolet erscheint. Jürgen Bolten kritisiert in diesem Zusammenhang die Tendenz, den geschlossenen Kulturbegriff aus pragmatischer Absicht zu verwenden, da er kulturelle Reziprozitätsverhältnisse schlichtweg ignoriere:
Dies ist problematisch, weil aufgrund j ahrtausende langer Migrationsbewegungen und Kommunikationsprozesse kaum eine Lebenswelt als isolierte und von Außeneinwirkungen unbeeinflusste Kultur denkbar ist. Jede Kultur stellt ein Produkt interkultureller Prozesse dar. Dieses Problem wird in Kauf genommen, um so etwas wie ,Cultural Studies', ,Kulturkunde' etc. überhaupt durchführen oder um spezifische Merkmale bestimmter Ethnien und Gruppen beschreiben und erklären zu können.16
In diesem Zusammenhang scheint es außerdem sinnvoll, auf Herders eingangs erwähntes Kugelmodell zu rekurrieren, das in der Sekundärliteratur fälschlicherweise als Ursprung des geschlossenen Kulturbegriffs rezipiert wurde.17 Dass der Kulturtheoretiker jedoch oftmals zu einseitig interpretiert wird und nicht unbedingt als Urheber eines Kulturmodells organischer Geschlossenheit ausgewiesen werden kann, sondern auch als Wegbereiter eines offenen Kulturverständnisses zu lesen ist, soll anhand eines Auszugs einer seiner frühen Schriften demonstriert werden:
Wir glauben alle, noch jetzt väterliche und häusliche und menschliche Triebe zu haben, wie sie der Morgenländer: Treue und Künstlerfleiß haben zu können, wie sie der Ägypter besaß: phönicische Regsamkeit, griechische Freyheitsliebe, römische Seelenstärke [...]. Daß kein Volk lange geblieben und bleiben konnte was es war, daß Jedes, wie jede Kunst und Wissenschaft und was in der Welt nicht? seine Periode des Wachsthums, der Blüthe und der Abnahme gehabt [...]- daß endlich in der Welt keine zwey Augenblicke dieselben sind - daß also Ägypter, Römer und Grieche auch nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen [...] Griechenland bestand aus vielen Ländern: Athenienser und Böotier, Spartaner und Korinthier waren sich nichts minder als gleich - Trieb man nicht auch in Asien den Ackerbau? Haben nicht Ägypter einmal eben so gut gehandelt wie Phönicier? Waren die Macedoniër nicht eben so wohl Eroberer als die Römer? Aristoteles nicht eben so ein spekulativer Kopf als Leibniz? übertrafen unsre nordische Völker nicht die Römer an Tapferkeit? Waren alle Ägypter, Griechen, Römer - sind alle Ratten und Mäuse einander gleich - nein! aber sie sind doch Ratten und Mäuse!18
Wenngleich die Kulturwissenschaft Herder oftmals essenzialistische Konzeptualisierungen unterstellt, die einerseits die Dynamik und Wandlungsfähigkeit von Kulturen ignorierten und andererseits die Homogenität von Kulturen propagierten, so verlangt der vorliegende Textausschnitt doch gleichsam eine Dekonstruktion jenes Topos. Denn Herder konstatiert offenkundig die Existenz von kulturellen Überlappungen und Vermischungen, die sich bereits in der Antike erkennen ließen. Dementsprechend lässt sich aus Herders Postulat schlussfolgern, dass Kulturen zu keinem Zeitpunkt der Geschichte geschlossene und homogene Gebilde darstellten, die mit der territorialen und sprachlichen Ausdehnung eines Volkes deckungsgleich waren, sofern sie mit anderen in Kontakt traten. Ohne die wissenschaftlichen Interpretationen zu Herders Kulturtheorie für obsolet erklären zu wollen, so soll der ausgewählte Textauszug doch demonstrieren, dass Herders Botschaften oftmals eine unerkannte Ambiguität innewohnt, die zu einer Revision des berüchtigten Kugelmodells anzuregen vermögen.
Wie Herder bereits erkannte, ist die Aufhebung kultureller Grenzen kein Phänomen der Moderne, sondern Ergebnis eines andauernden historischen Prozesses, der heute angesichts der Globalisierung seine volle Entfaltung erfährt. Dabei verlangt der Umstand der zunehmenden räumlichen Ungebundenheit gegenwärtig nach einer Verabschiedung von Erklärungsansätzen wie der „Containerkultur“19. In einem komplexen Gesellschaftssystem mag das kulturelle Gedächtnis oder der kulturelle Wissensvorrat zwischen Angehörigen einer Nationalkultur im weitesten Sinne konvergierend sein, in einer weitaus größeren Tendenz werden sie jedoch vielmehr durch interkollektive Zugehörigkeiten und den individuellen Lebensprozess selbst konstruiert. „Kein Individuum kann daher Träger der Summe all jener Normen, Errungenschaften und Praktiken sein, die man heranzuziehen versucht, wenn man die Gemeinschaft, der es angehört, beschreiben will. Jeder steht zu dieser Summe in einem anderen Verhältnis [,..].“20 Die zunehmende Unschärfe kultureller Grenzen manifestiert sich beispielsweise bei der Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit von Migranten der zweiten Generation, deren Identität sich keinesfalls mittels konkreter nationalstaatlicher Fixierungen beschreiben oder erklären lässt. Vor diesem Hintergrund bemerkt Bolten: „Es kann nicht mehr darum gehen, ein Element entweder einer Menge zuzuordnen oder es auszuschließen, sondern darum, Zugehörigkeits- bzw. Vernetzungsgrade von Elementen zu einer Menge zu modellieren.“21
Weiter argumentiert Bolten mit der These des Soziologen Ulrich Beck, demzufolge der Globalisierungsprozess eine „Zweite Moderne“ repräsentiere, die durch Prozesshaftigkeit und Veränderungsdynamik geprägt sei, wobei das während der „Ersten Moderne“ beständige Gefüge von Gesellschaften und Staaten als geschlossenen Entitäten zerbricht. Der rapide Wandel hin zu einer postmodernen Ära resultiere jedoch in einem insistenten Fortbestehen traditioneller Denkweisen hinsichtlich dem Bestreben nach Kategorisierungsmechanismen und Einheitsvorstellungen.22 In dieser Hinsicht scheint es kaum verwunderlich, aber fragwürdig, dass auch viele akademische Disziplinen immer noch mit einer zu Abgrenzung neigenden Denktradition behaftet sind und den Umgang mit einem offenen differenzorientierten Kulturbegriff weiterhin scheuen. Doch werden den unterschiedlichen Fachrichtungen neue Ansätze abverlangt, die dem Globalisierungsgeschehen gerecht werden und die prozessualen kulturellen Lebensverhältnisse jenseits nationaler Bezugsgrößen berücksichtigen.
Ein offener Kulturbegriff setzt folglich voraus, dass einerseits die kulturelle Zugehörigkeit eines jeden Individuums auf der Mikroebene de facto als pluralistisch und dynamisch zu verstehen ist. Auf der Makroebene werden Kulturen andererseits aus heterogenen Subkollektiven gebildet, so dass die Beschwörung von homogenen Gebilden wie dem der Nationalkultur sich schlicht als Illusion erweist. In diesem Zusammenhang hat der Kulturwissenschaftler Klaus Peter Hansen die Termini „Multikollektivität“ und „Polykollektivität“ eingeführt.23 Hansen unterscheidet zudem zwischen unterschiedlichen Arten von Kollektiven. Die erste Ebene der Vernetzung besteht aus Individuen (Sportverein, Sekte etc.); die zweite Ebene vollzieht sich in einem Zusammenschluss von Dachverbänden (Gewerkschaften, katholische Kirche etc.); und die dritte Ebene, die Nationalstaaten, vereinen alle Unterkategorien gleichermaßen. Während sich auf der ersten Ebene noch eine homogene Tendenz erkennen lässt, weicht diese bereits bei Kollektiven zweiten Grades einer kaum greifbaren Heterogenität. Hansen räumt allerdings ein, dass die Voraussetzung einer einheitlichen Kultur im Verwaltungsapparat eines Nationalstaates zu suchen sei. Indem Kommunikations- und Interaktionsregeln durch letzteren erlassen werden, wird ein Rahmen für normative Umgangsformen geschaffen der gleichsam Homogenität erzeugt.
So einleuchtend die beschriebene Öffnung des Kulturbegriffs auch wirken mag, so sollte man diese jedoch unter einem kritischen Vorbehalt geltend machen. Es ist in diesem Zusammenhang notwendig zu betonen, dass eine solche Sichtweise sich vornehmlich an jenen Kulturen orientiert, die tatsächlich in den Globalisierungsprozess impliziert sind. Dabei wird aber außer Acht gelassen, dass Nationalstaatlichkeit sich vielerorts im Sinne einer „Ersten Moderne“ erst konstituiert. Dementsprechend ist bei der Verwendung eines angemessenen Kulturbegriffs stets der historische und soziale Kontext zu berücksichtigen.
1.1.3 Multi-, Inter- und Transkulturalität
Mit dem Bestreben, die komplexe Verfasstheit von Kulturen beschreibbar und erklärbar zu machen, bedienen sich die Geistes- und Kulturwissenschaften unterschiedlicher Analyseansätze, wobei insbesondere das Konzept der Multikulturalität in den letzten Jahrzehnten im Zuge der Postcolonial Studies erheblich an Gewicht eingebüßt hat. Der Begriff der „multikulturellen Gesellschaft“ fand erst in den 1980er Jahren in Deutschland Eingang, wurde aber bereits in den 1960er Jahren von dem US-kanadischen Soziologieprofessor Charles Hobart eingeführt und alsbald in zahlreichen kanadischen Forschungsbeiträgen aufgegriffen.24 Grundsätzlich ist der Ansatz als Antwort auf die zahlreichen Arbeitsmigrationen und Flüchtlingsbewegungen zu verstehen, indem er auf den daraus resultierenden demographischen Wandel zu reagieren versucht. In Anlehnung an Alf Mintzel empfiehlt sich folgende Definition für den Begriff der Multikulturalität:
Mit Multikulturalität wird erstens eine gesellschaftliche Tatsache bezeichnet, etwas empirisch Gegebenes, nämlich die Tatsache, daß in einer Gesellschaft bzw. einer staatlich organisierten Gesellschaft/Bevölkerung mehrere Kulturen koexistieren, sei es friedlich oder im Konflikt, sei es im Nebeneinander oder in einem integrierten Miteinander. Multikulturalität bezeichnet folglich ein sozio-kulturelles Charakteristikum einer Gesellschaft, ihre vielfältige kulturelle Differenziertheit, worauf diese Multikulturalität auch immer beruhen mag.25
Auf die Frage wie multikulturelle Gesellschaften beschaffen sein können, werden sowohl in der Forschung, als auch in der Politik unterschiedliche Positionen sichtbar, die sowohl Ähnlichkeiten als auch Differenzen aufweisen. Ein ideologisches Paradigma lässt sich dabei jedoch kaum in einen Basiskonsens fassen, da einige Vertreter Multikulturalität als Bereicherung für die Gesellschaft interpretieren, während andere Positionen das Konfliktpotenzial eines derartigen Systems unterstreichen. Grundlegend werden drei prototypische Modelle multikultureller Gesellschaften unterschieden, die diesen Extrempolen mehr oder weniger zugeordnet werden können: erstens das assimilationistische Modell, das auf die kulturelle Anpassung oder gar die gänzliche Assimilation von Minderheiten oder Einwanderern auf die Mehrheitsgesellschaft abzielt; zweitens das Apartheid-Modell, das auf einer strikten Hierarchisierung der Kulturen gründet und zugleich auf eine konsequente Rassentrennung abzielt; und drittens das polyzentrische Modell, demgemäß unterschiedliche Kulturen gleichberechtigt in einer Gesellschaft nebeneinander leben, ohne dass es eine hegemoniale Mehrheit gäbe.26 Wenngleich sich die drei Modelle hochgradig in dem Maße unterscheiden, wie eine multikulturelle Gesellschaft idealerweise zu verwalten sei, so nähern sie sich doch gewissermaßen in einem zentralen Gedanken an: nämlich in der systematischen Betonung von kulturellen Differenzen, unabhängig davon ob es sich um ein egalitär oder hegemonial ausgerichtetes Gesellschaftssystem handelt. Generell wird Multikulturalität deshalb aus aktueller Sicht als tragfähiges Forschungskonzept eher abgelehnt, da es letztlich in eine unüberwindbare Paradoxie zu führen scheint, denn „[einerseits wird eine zunehmende Pluralisierung kultureller Lebensformen, von Lebensstilen, Identitäten konstatiert; [...] [andererseits beobachten wir gesellschaftliche Prozesse, in denen bestimmte Gruppen [...] auf Ethnizität, Religion oder Herkunft festgeschrieben werden.“27
Demgegenüber strebt die Interkulturalitätsforschung nach einer Überwindung dieser starren Position, indem sie sich verstärkt dem Kontakt, sowie den Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen und deren Konsequenzen für eine Kulturgemeinschaft widmet. Interkulturalität liegt dem Terminus des métissage zugrunde, den die neuere Forschung aktuell hingegen nur unter kritischem Vorbehalt verwendet, da er auf die Periode des Kolonialismus zurückgeht und somit ideologisch vorbelastet ist. Dabei bezeichnete métissage ursprünglich Phänomene der biologischen Mischung von Angehörigen unterschiedlicher Ethnien, mutierte Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch zu einem Zentralbegriff, um weitreichendere Prozesse der kulturellen Vermischung zwischen Angehörigen der Kolonialmächte und der Kolonien zu bezeichnen. Dahingegen ist die Entstehung der Interkulturalität aus historischer Sicht eher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verorten. Im Rahmen des Zusammenbruchs der Sowjetunion, von Migrations- und Gastarbeiterbewegungen, sowie der Globalisierung, ist Interkulturalität zu einer omnipräsenten Realität geworden. Nun beschäftigt sich der Gegenstandsbereich der Interkulturalitätsforschung konkret „mit dem historischen und gegenwärtigen Verhältnis aller Kulturen und der Menschen als ihrer Träger auf der Grundlage ihrer völligen Gleichwertigkeit“28. In diesem Zusammenhang unterscheidet Hans-Jürgen Lüsebrink drei Phänomene die aus der interkulturellen Begegnung von Kulturen hervorgehen: Phänomene der Sprachmischung; Formen der Kulturmischung und Prozesse der Übernahme fremdkultureller Elemente.29 In der neueren postkolonialen Kulturtheorie etablierte sich auch der aus der Pflanzenzüchtung entlehnte Begriff der „Hybridität“ zur Beschreibung der genannten Phänomene. Der Fachausdruck geht auf das Werk The Location of Culture des Kulturtheoretikers Homi К. Bhabha zurück.30 Die Verbildlichung des Hybriden ist laut Bhabha in einem sogenannten „Dritten Raum“ zu lokalisieren, als einer Art Verbindungsgefüge, in dem divergierende kulturelle Zeichensysteme zu neuen Handlungs- und Denkmustern modelliert werden. Dabei orientiert sich Bhabhas Konzept an der konkreten Erfahrungswelt von Individuen in der postkolonialen und globalisierten Welt und strebt gleichermaßen nach einer Überwindung von fremdheits- und alteritätsbasierten Identitätskonstruktionen. „Statt in dichotomen Gegenüberstellungen von Kulturen zu verharren, konzipiert er ein Drittes, das zwischen diesen alteri si erenden Zuschreibungen liegt.“31 Jedoch scheint es kaum verwunderlich, dass die Konzepte von Interkulturalität und Hybridität trotzdem nicht ohne Kritik geblieben sind, denn ähnlich dem Modell der Multikulturalität scheinen sie auf der Kugelprämisse festhalten zu wollen, indem sie - getreu dem geschlossenen Kulturbegriff - Kulturen eine eindeutige Differenziertheit zuschreiben. Leslie Adelson gehörte zu den ersten Kritikern des Konzepts der Hybridität, denn laut ihrer These führe die Idee einer sich im Zwischenraum der Nationalkulturen entfaltenden kulturellen Hybridität in eine neue Emphase der Trennung.32 In der Tat offeriert Interkulturalität und mit ihr Hybridität die Möglichkeit der Entstehung neuartiger kultureller Strukturen, setzt aber zugleich notwendigerweise die Existenz von klaren Trennlinien voraus. In diesem Sinne lautet Stefan Riegers Erkenntnis wie folgt:
Kulturen (und mit ihnen Interkulturalität) kann es nur geben, wenn sich ein Punkt angeben läßt, an dem die eine Kultur aufhört und die nächst anfängt. [...] Doch auch wenn diese Grenze die Bedingung der Möglichkeit von Interkulturalität bildet, heißt dies nicht, daß interkulturelle Begegnungen an und auf dieser Grenze stattfinden. Die Begegnung zweier Kulturen findet vielmehr statt, wenn eine Kultur in das abgegrenzte Terrain der anderen einbricht. Interkulturalität setzt somit beides voraus: eine Grenze zwischen den Kulturen - und ihre Überschreitung.33
An diesem kontroversen Angelpunkt setzt Wolfgang Welschs Konzept der Transkulturalität an. In Anlehnung an die erstrebenswerte Öffnung des Kulturbegriffs ist Welschs Konzept als Plädoyer für die Neukonzeptualisierung heutiger kultureller Formationen zu interpretieren, denn Kulturen sind intern durch eine Pluralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf. Sie haben eine neuartige Form angenommen, die durch die klassischen Kulturgrenzen wie selbstverständlich hindurchgeht. Das Konzept der Transkulturalität bezeichnet diese veränderte Verfassung der Kulturen und versucht daraus die notwendigen konzeptuellen und normativen Konsequenzen zu ziehen.34
Dabei sei die Unzulänglichkeit des Interkulturalitätstheorems dem Umstand geschuldet, dass die Vorstellung autonomer kultureller Systeme aufgrund hochgradiger Vernetzungen heute schlichtweg obsolet geworden sei. Aus diesem Grund würden die Folgeoperationen gänzlich ergebnislos bleiben. Transkulturalität hingegen „durchstößt die Homogenitätsfiktion und verabschiedet die separatistische Vorstellung von Kultur, der wir, in der Tradition des klassischen Kulturbegriffs, noch immer allzu selbstverständlich folgen“35. Als Vordenker der modernen Transkulturalität erwähnt Welsch Friedrich Nietzsche, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts das Heranwachsen einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch in der Zukunft heraufbeschwor, insofern er den Sinn der Kultur nunmehr in einem Prozess des „gegenseitigen Sich-Verschmelzen[s] und -Befruchten[s]“36 prophezeite. Mit der Annahme, dass alle Kulturen transkulturellen Zuschnitts seien, unterstreicht Welsch das integrative Potenzial von Transkulturalität, indem es von differenzbetonten Schemata absieht und somit den Weg in eine neuartige Form der Annäherung und Gemeinschaftlichkeit ebnet.
1.2 Was ist interkulturelle Kompetenz?
1,2,1 Dimensionen interkultureller Kompetenz
Die begrifflich-theoretische Bestimmung interkultureller Kompetenz ist gewiss nicht mit einer einheitlichen Definition zu fassen, was vor allem dem Umstand geschuldet ist, dass interkulturelle Kompetenz als multidisziplinäres Konzept zu verstehen ist. Demnach kommen ihr verschiedene Schwerpunkte zu, je nachdem, in welchem Anwendungsfeld sie zum Einsatz kommt. Zudem beruht das komplexe theoretische Konstrukt auf variablen Komponenten, die ihrerseits nach einer Erläuterung verlangen. Allgemein lässt sich interkulturelle Kompetenz als die Fähigkeit definieren, mit Angehörigen anderer Kulturen „in adäquater, ihren Wertesystemen und Kommunikationsstilen angemessener Weise“37 zu interagieren und sie zu verstehen. Der Faktor „Angemessenheit“ wird in einer anderen Definition um den Aspekt der „Effektivität“ ergänzt: demnach sei interkulturelle Kompetenz die Grundvoraussetzung für eine „effective and appropriate interaction between people who identify with particular physical and symbolic environments“38. Da sich aus diesen Definitionen jedoch nicht ableiten lässt, was unter den Konstituenten Angemessenheit und Effektivität zu verstehen ist, bedürfen diese ebenfalls einer theoretischen Explikation. Von angemessenem Handeln ist die Rede, wenn „the actions of the communicators fit the expectations and demands of the situation. Appropriate communication means that people use the symbols they are expected to use in the given context.”39 Effektiv ist eine interkulturelle Interaktionssituation dann, wenn die „desired personal outcomes“40 tatsächlich erreicht werden. Beiden Definitionen ist gemeinsam, dass sie auf den handlungsbezogenen Kontext verweisen, wobei sie in keinerlei Hinsicht klären, welche psychischen Dispositionen, Wissensbestände und Fertigkeiten konkret vonnöten sind, damit interkulturelle Kompetenz tatsächlich zum Tragen kommt. In diesem Sinne sind derart kompakte Definitionen kaum geeignet, um die elementaren Bestimmungsmerkmale interkultureller Kompetenz zu erschließen. Vielmehr leisten die sogenannten Komponentenmodelle einen anschaulichen Beitrag in Anbetracht der komplexen Bestandteile interkultureller Kompetenz. Die mehrdimensionale und prozessorientierte „Lemspirale Interkulturelle Kompetenz“ von Daria K. Deardorff ist zweifellos eines der aussagekräftigsten und folglich auch eines der meistzitierten Modelle dieser Art. Im Wesentlichen fußt das besagte Modell auf vier Dimensionen, die sich gegenseitig beeinflussen und anreichern:[1]eine Motivationsebene,[2]Handlungskompetenz,[3]Reflexionskompetenz als interne und[4]konstruktive Interaktion als exteme Wirkung. Dabei bildet die Motivationsebene gewissermaßen die psychologische Gmndlage des Lernprozesses, insofern die Haltungen und Einstellungen gegenüber Angehörigen anderer Kulturen die Folgeaktionen beträchtlich zu beeinflussen vermögen. Da ein erfolgreiches interkulturelles Training auf die Eliminierung von Stereotypen und Vorurteilen abzielt, ist die affektive Ebene ein elementarer Ausgangspunkt für den Prozess der kulturellen Sensibilisiemng und der damit verbundenen Entwicklung von Ambiguitätstoleranz und Wertschätzung. Daneben sind ein umfassendes kulturelles Wissen, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit ausschlaggebend für die kognitive Dimension der Handlungskompetenz. Neben allgemein kulturellem Wissen, wie beispielsweise dem Verständnis der Rolle, der Kultur und historische Kontexte für Verhalten und Kommunikation zukommen41, schließt Handlungskompetenz auch kulturspezifisches Wissen in einem gegebenen interkulturellen Kontext mit ein, wie das Verstehen fremder Wertvorstellungen, religiöser Normen oder geschäftlicher Verhandlungsstile. Des Weiteren setzt interkulturelle Kompetenz ein gewisses Reflexionsvermögen voraus. Dabei ist die Relativiemng des eigenen Referenzrahmens entscheidend für die Entwicklung von Empathiefähigkeit. Das bedeutet zum einen, dass die „Reflexion zu einer affektiven Neubewertung der fremden Denk- und Verhaltensweisen führen [kann]“ und zum anderen, dass die „kognitiv bekannten Verhaltensweisen auch ins eigene Repertoire übernommen werden können“42 Die konstruktive Interaktion bildet schließlich die finale Phase des Lernprozesses, insofern sie die vorigen Elemente konkretisiert. Eine interkulturell kompetente Person vermeidet in einer interkulturellen Situation somit Regelverletzungen und handelt zielfokussiert, oder in anderen Worten agiert sie angemessen und effektiv.
Nun wird der wissenschaftliche Nutzen derartiger Modelle wie der Lernspirale in der Forschung keineswegs verkannt, doch sind auch solche schemaartigen Theorieansätze nicht kritiklos geblieben, denn ,,[v]on einer ausgearbeiteten Theorie interkultureller Kompetenz sollte man dennoch nicht sprechen, zumal viele dieser Listen[- und Strukturmodelle] eher nach intuitiven Plausibilitätsgesichtspunkten zusammengestellt werden, als dass sie theoretisch hinreichend durchdacht oder empirisch sorgfältig genug begründet wären“43. Ein weiteres Argument, das dieses These verstärkt, wäre, dass es keine konkrete Begriffsbestimmung interkultureller Kompetenz geben kann, sofern Kultur sich in einem fortwährenden Prozess der Entwicklung stetig verändert. Somit erschöpft sich das Konzept nicht in einer Anzahl von Elementen, sondern bedarf einer permanenten Aktualisierung, ebenso wie der individuelle Wissensbestand selbst, der potenziell ins Einendliche geht. Dabei sei bemerkt, dass die Komponentenmodelle interkultureller Kompetenz von Zielvorgaben und Idealzuständen ausgehen, die in ihrer Vollständigkeit kaum erreicht werden können. Hilfreich ist die Lemspirale in diesem Sinne jedoch allemal, da sie die Prozesshaftigkeit und Mehrdimensionalität von interkultureller Kompetenz unterstreicht und das Konzept somit nicht als statisches Gebilde darstellt.
1,2,2 Aktuelle Herausforderungen für das Konzept interkultureller Kompetenz
Angesichts der Fülle unterschiedlicher Theorieansätze scheint es kaum überraschend, dass sich die interkulturelle Kompetenzforschung derzeit mit mehreren Problemfeldern konfrontiert sieht. Wie bereits erwähnt ist interkulturelle Kompetenz ein disziplinübergreifendes Konzept, so dass Wissenschaftler der unterschiedlichsten Fachgebiete sich an der Debatte beteiligen, was zwangsläufig Differenzen im grundsätzlichen Verständnis von interkultureller Kompetenz zur Folge hat. In einem prägnanten Beitrag über die Zustandsanalyse des Konzepts interkultureller Kompetenz verweist Stefanie Rathje auf die fundamentalen Streitpunkte, an denen sich die Wissenschaftsdebatte aktuell kontinuierlich entzündet.44
Eine erste Streitfrage betrifft die Zielvorstellungen interkultureller Kompetenz. Während ökonomisch orientierte Domänen wie die Wirtschaftskommunikation oder das internationale Marketing vornehmlich Effizienzgesichtspunkte in den Vordergrund stellen, zielen die Geistes- und Kulturwissenschaften vielmehr auf den Aspekt der menschlichen Weiterentwicklung ab. Dementsprechend fungiert interkulturelle Kompetenz im wirtschaftlichen Handlungsfeld vielmehr als effektives Instrument zur erfolgreichen Zielerreichung, als dass es um die affektive Sensibilisierung der Lernenden für andere Kulturen ginge. Kritiker dieses Ansatzes warnen vor der Tendenz der Instrumentalisierung interkultureller Kompetenz zur Durchsetzung eigener Interessen mittels bewusster Manipulation. Eine weitere, aus diesem Ansatz resultierende Problematik betrifft die unzureichende Differenzierung zwischen Kompetenz und Performanz. Wird interkulturelle Kompetenz somit ausschließlich mit Erfolgskriterien assoziiert, wird sie auch haftbar für das Nichtgelingen einer interkulturellen Interaktion. Indes betont der erziehungswissenschaftliche Ansatz die persönliche Weiterentwicklung der Interaktionspartner. Alois Wierlacher unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die Teilnehmer „im Erfolgsfall eine Veränderung ihrer selbst“ erfahren, dank derer eine „[partielle] Gemeinsamkeit auf einer Sinnebene“ zu entstehen vermag.45 Wenngleich sich Wierlachers Theorie mit dem Vorwurf der Idealisierung konfrontiert sieht, da sie praktische Handlungsziele ignoriere, so ist sie doch in dem Sinne lobenswert, als dass sie das Konzept interkultureller Kompetenz nicht unter das Joch der pragmatischen Instrumentalisierung stellt.
Des Weiteren verschärft aktuell die Frage nach der Generalisierbarkeit interkultureller Kompetenz die wissenschaftlichen Debatten zum Thema. Einige Positionen vertreten die Idee, interkulturelle Kompetenz sei mit kulturspezifischer Kompetenz gleichzusetzen, beispielsweise in Bezug auf Nationalkulturen. Rathje moniert allerdings in diesem Zusammenhang, dass ein solcher Ansatz ein Kahlschlag für das Konzept interkultureller Kompetenz an sich sei, denn dieser stehe „im Widerspruch zu der Beobachtung, dass bestimmte Menschen mit Fremdheitserfahrungen in unterschiedlichen Kontexten leichter umgehen können als andere, ein Umstand, der überhaupt erst zur Entstehung des Konzepts geführt hat und seine Existenz bis heute rechtfertigt“46. Demgegenüber Stehen Vertreter einer kulturübergreifenden Kompetenz, die das Konzept nicht auf eine bestimmte Zielkultur ausgerichtet sehen wollen. Dieser universellen These folgend, sei interkulturelle Kompetenz vielmehr das Vermögen, Fremdheitserfahrungen reflexiv zu verarbeiten und für die persönliche Weiterentwicklung fruchtbar zu machen. Schließlich erbringt die Frage nach der Spezifik interkultureller Kompetenz derzeit immer häufiger Standpunkte, die das Konzept gänzlich von der rigiden Kulturgebundenheit zu befreien versuchen. Vertreter dieser Theorie sehen die Grundlage interkultureller Kompetenz vielmehr in einer allgemeinen Sozialkompetenz. Wie Ivan Novy postuliert ist „die soziale Kompetenz ganz bestimmt eine Bedingung der interkulturellen Kompetenz [...], und die Empfindlichkeit gegenüber dem Phänomen der Multikulturalität kann also nur ihre qualitative Erweiterung sein“47. Zuzustimmen ist Novy einerseits, da soziale Kompetenz unzweifelhaft als ein unerlässliches Element für die interkulturelle Kommunikationsfähigkeit anzusehen ist. Andererseits stellt sich im Gegenzug die berechtigte Frage, ob ein solcher Ansatz das Konzept interkultureller Kompetenz nicht zwangsläufig für obsolet erklärt, insofern es demnach nur als Teilelement einer übergeordneten Ordnung betrachtet werden könne.
Ein weiterer, die Gemüter spaltender Streitpunkt, betrifft die Frage, in welcher Art von Interaktion interkulturelle Kompetenz überhaupt operierbar wird. Im Wesentlichen lassen sich hierbei zwei gegensätzliche Positionen festhalten: einerseits das Paradigma der internationalen und andererseits das der inter-kollektiven Interaktion. Gemäß der klassischen interkulturellen Kompetenzforschung, befassen inter-nationale Ansätze sich mit der Interaktion zwischen Angehörigen unterschiedlicher Nationalkulturen. Dass das Paradigma der Nationalkultur im interkulturellen Training weiterhin stark vertreten ist, zeigt sich bereits an der viel verwendeten Critical-Incidents-Methode, die fast ausschließlich mit derartigen Mustern arbeitet.48 Solche Methoden bergen jedoch die Gefahr der Betonung kultureller Differenzen und der Verstärkung von Stereotypen und Vorurteilen zwischen Individuen unterschiedlicher Herkunftsländer. Kritiker bemängeln bei der Reduktion auf inter-nationale Aspekte zudem berechtigterweise sowohl die pragmatische Zweckrationalität als auch die daraus resultierende Inkonsequenz eines solchen Ansatzes.
Wenn interkulturelle Kompetenz sich primär auf Interaktionen zwischen Individuen aus unterschiedlichen Ländern bezieht, schließt diese Definition interkulturelle Probleme innerhalb von Gesellschaften (z.B. durch Migration) aus, ohne jedoch in der Lage zu sein, eine sinnvolle Grenze zwischen der inter-nationalen Spezialsituation der Interkulturalität und der innergesellschaftlichen Interkulturalität ziehen zu können. Es lässt sich nicht schlüssig begründen, warum eine Interaktionssituation zwischen einem deutschen und einem türkischen Manager anlässlich einer Firmenübemahme in Ankara in das Anwendungsgebiet interkultureller Kompetenz fällt, eine Interaktion zwischen einem Deutschen und seinem türkischstämmigen Obsthändler eventuell auch noch, aber eine Interaktion zwischen dem deutschen Politiker Joschka Fischer und seinem türkischstämmigen Parteikollegen Cem Özdemir vielleicht nicht mehr.49
Demgegenüber plädieren Vertreter eines inter-kollektiven Ansatzes für ein weiteres Anwendungsfeld interkultureller Kompetenz, unter Rücksichtnahme von Interaktionen zwischen Individuen unterschiedlicher Gruppen oder Kollektive, was inter-nationale Interaktionen selbstverständlich integriert. Ein solcher Ansatz operiert unmittelbar auf der Ebene eines erweiterten offenen Kulturverständnisses.
Die Frage nach dem - der interkulturellen Kompetenz zugrundeliegenden - Kulturbegriff bildet einen weiteren zentralen Streitpunkt der aktuellen Forschungsdebatte. Wenngleich Straub betont, „dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit,interkultureller Kompetenz’ längst von der populären Identifikation von ,Nation’ (oder auch ,Ethnie’) und ,Kultur’ verabschiedet“50 habe, widerspricht Bolten: „Dass immer wieder auf die geschlossenen Varianten des erweiterten Kulturbegriffs zurückgegriffen wird, stellt zurzeit einen der größten Widersprüche von Konzeptionen zum interkulturellen Lernen dar.“51 Der vorherrschende Dissens zwischen dem geschlossenen und dem offenen Kulturbegriff wurde weiter oben bereits ausführlich dargestellt und bedarf somit keiner weiteren Erläuterung. Mag die Akzeptanz eines geschlossenen Kulturbegriffs und die damit verbundene Tendenz zur Stereotypisierung in manchen Domänen wie dem
[...]
1 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahmehmung, Kulturtransfer. 2. Auflage. Stuttgart/Weimar 2008. S. 10
2 Stuart Hall: Die zwei Paradigmen der Cultural Studies. In: Karl H. Homing, Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Berlin 1999. S. 13-42, hier S. 17
3 Vgl. Samuel von Pufendorf: De jure naturae et gentium libri octo. 1684.
4 Geert Hofstede: Interkulturelle Zusammenarbeit. Kulturen - Organisationen - Management. Wiesbaden 1993. S. 19
5 Alexander Thomas: Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns. In: ders. (Hg.): Kulturvergleichende Psychologie. Göttingen 1993. S. 377-424, hier S. 380
6 Vgl. Alain Bertallo: Verwirrende Realitäten. Interkulturelle Kompetenz mit Critical Incidents trainieren. Zürich 2004. S.
7 Ebd.: S. 14
8 Hofstede (1993): S. 32
9 Vgl. Alexander Thomas, Astrid Utler: Kultur, Kulturdimensionen und Kulturstandards. In: Petra Genkova, Tobias Ringeisen et al. (Hg.): Handbuch Stress und Kultur. Interkulturelle und kulturvergleichende Perspektiven. Wiesbaden 2013. S. 41-58, hier S. 47
10 Vgl. Edward T. Hall: Beyond Culture. New York 1989.
11 Vgl. Fons Trompenaars: Riding the Waves of Culture. Understanding Diversity in Global Business. London 1993.
12 Alexander Thomas: Analyse der Handlungswirksamkeit von Kulturstandards. In: ders. (Hg.): Psychologie interkulturellen Handelns. Göttingen 1996. S. 107-135, hier S. 112
13 Vgl. Thomas (2013): S. 48
14 _ Ebd.: S. 48
15,,[J]ede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“ Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts. (Erstausgabe 1774) Vollständiger, durchgesehener Neusatz mit einer Biographie des Autors, bearbeitet und eingerichtet von Michael Holzinger (Hg.). Berliner Ausgabe 2013. Textgrundlage ist die Ausgabe: Peter Müller (Hg.): Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften. Bd. 1-2. Berlin/Weimar 1978. S. 22 http://www.zeno.org/Lesesaal/N/9781482559682?page=0 (Zugriff: 01.09.17)
16 Jürgen Bolten: Interkulturelle Kompetenz. 5. Auflage. Thüringen 2007. S. 25
17 Vgl. Till Dembeck: Editorische Vorbemerkung. Uber „die Schwäche des allgemeinen Charakterisirens“. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik. Nr. 2/2015. S. 156-163, hier S. 156
18 Herder (2013) 1774: S.
19 Vgl. Bolten (2007): S. 25
20 Mariola Boensch: Kulturelle Unterschiede in der deutsch-polnischen Wirtschaftskommunikation - Fiktion oder Realität? Eine soziokulturelle Umweltanalyse. Frankfurt/O. 2013. S. 26 https://opus4.kobv.de/opus4-euv/files/168/Dissertation-Mariola+Boensch.pdf (Zugriff: 29.05.17)
21 Bolten (2007): S. 31
22 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986, vgl. ebd. : S.
23 Klaus Peter Hansen: Kultur, Kollektiv, Nation. Passau 2009
24
Vgl. Sebastian Ennigkeit: Gelungene Integration? Zuwanderung und Integrationspolitik in Deutschland und den Niederlanden. Karlsruhe 2008. S. 29
25 Alf Mintzel: Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Konzepte, Streitfragen, Analysen, Befunde. Passau 1997. S. 58
26 Vgl. Lüsebrink (2008): S. 17
27 Stefan Neubert, Hans-Joachim Roth et al: Multikulturalismus - ein umstrittenes Konzept. In: dies, et al. (Hg.): Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept. Opladen 2002. S. 9-29, hier S. 22
28 Hamid Reza Yousefi, Ina Braun: Interkulturalität: Eine interdisziplinäre Einführung. Darmstadt 2011. S. 29
29 Vgl. Lüsebrink (2008): S. 14
30 Vgl. Homi К. Bhabha: The Location of Culture. London 1994. Bl
31 Eva Wiegmann: Der literarische Text als dritter Raum. Relektüre Homi Bhabhas aus philologischer Perspektive. In: German as a foreign language. Nr. 1/2016. S. 6-25, hier S.
32 Vgl. Leslie A. Adelson: Against Between - Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur und Migration. Text + Kritik. München 2006. S. 36-46.
33 Stefan Rieger, Schamma Schahadat et. al.: Interkulturalität - zwischen Inszenierung und Archiv. Vorwort. In: dies. et. al. (Hg.): Interkulturalität: zwischen Inszenierung und Archiv. Tübingen 1999. S. 926, hier S. 11
34 Wolfgang Welsch: Transkulturalität - Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen. In: Zeitschrift für Kulturaustausch. Nr. 1/1995. S. 39-44, hier S. 42
35 Wolfgang Welsch: Transkulturalität - Die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. In: Via Regia - Blätter für internationale kulturelle Kommunikation. Nr. 8/1994. http://www.via- regia.org/bibliothek/pdf/heft20/welsch transkulti.pdf (Zugriff: 01.06.17)
36 Friedrich Nietzsche: Nachlaß 1887-1889. In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. München 1999. S. 92-93, vgl. Welsch (1994)
37 Lüsebrink (2008): S. 9
38 Guo-Ming Chen, William J. Starosta: Intercultural communication competence: A synthesis. In: Brant R. Burleson (Hg.): Communication Yearbook 19. Thousand Oaks, CA 1996. S. 353-383, hier S. 358
39 Myron พ. Lustig, Jolene Koester: Intercultural Competence. Interpersonal communication across cultures. Boston 2003. S. 64
40 Ebd. : S. 64
41 1
Vgl. Bertelsmann Stiftung: Interkulturelle Kompetenz - Schlüsselkompetenz des 21. Jahhunderts? Thesenpapier der Bertelsmann Stiftung auf Basis der Interkulturellen-Kompetenz-Modelle von Dr. Daria K. Deardorff. 2006. S. 18 https://www.iugendpolitikineuropa.de/downloads/22-177- 414/bertelsmann intkomp.pdf (Zugriff: 07.06.17)
42 Ebd.: S. 10
43
Jürgen Straub, Steffi Nothnagel et al.: Interkulturelle Kompetenz lehren: Begriffliche und theoretische Voraussetzungen. In: Arne Weidemann, Jürgen Straub et al. (Hg.): Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Ein Handbuch. Bielefeld 2010. S. 15-27, hier S. 18
44 Vgl. Stefanie Rathje: Interkulturelle Kompetenz - Zustand und Zukunft eines umstrittenen Konzepts. In: Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Nr. 3/2006. http://tujoumals.ulb.tu- darmstadt.de/index.php/zif/article/view/396/384 (Zugriff: 10.06.17)
45 Alois Wierlacher: Das tragfähige Zwischen. In: Erwägen, Wissen, Ethik. Streitforum für Erwägungskultur. Nr. 1/2003. S. 215-217, hier S. 216
46 Rathje (2006): S. 5
47
Ivan Novy: Interkulturelle Kompetenz - zu viel Theorie? In: Erwägen, Wissen, Ethik. Nr. 1/2003. S. 206-207, hier S. 206
48 Laut Hans-Jürgen Heringers Definition stellt ein Critical Incident „eine typische Situation dar, in der ein Vertreter von Kultur Kl mit einem Vertreter von Kultur K2 in Interaktion tritt. Diese Situation ist für den Vertreter der Kultur Kl konfliktträchtig, rätselhaft oder ambivalent. Mit ausreichendem Wissen über K2 kann die Situation plausibel gedeutet werden.“ Hans-Jürgen Heringer: Interkulturelle Kommunikation. Grundlagen und Konzepte. Tübingen 2014. S. 226
49 Rathje (2006): S. 8
50 Straub et al. (2010): S. 16
51 Bolten (2007): S.
- Arbeit zitieren
- Nathalie Wagner (Autor:in), 2017, Interkulturelle Interaktionen und Prozesse der Selbstreflexion in transkulturellen Texten der deutschen Gegenwartsliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/450634
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