Zunächst werde ich die Skepsis in dem Zitat von S. Empiricus näher untersuchen, um anschließend anhand der Ergebnisse einige Vergleiche zu Descartes erster Meditation anzustellen. Schlussendlich werde ich dann zu einem abschließenden Urteil bezüglich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der pyrrhonischen Skepsis und des kartesischen Zweifels kommen.
Humboldt Universität zu Berlin | Institut für Philosophie | Wintersemester 2014/15 Kurs: Einführung in die Philosophie Abgabetermin: 02.01.2015
Verfasser: Paul-Hermann Friedenstab
Essay: Skepsis und Zweifel im Sinne von S. Empiricus und R. Descartes
Pyrrhon von Elis war einer der bekanntesten Vertreter des antiken Skeptizismus. Da er selber keine Schriften verfasst hat, muss man sich, wenn man sich mit seiner Philosophie auseinandersetzen möchte, auf die Werke anderer Philosophen beziehen, die seine Lehren niedergeschrieben haben. Pyrrhons Prinzip der sogenannten ‚pyrrhonischen Skepsis‘ findet sich u.a. in der Schrift des Sextus Empiricus Grundriss der pyrrhonischen Skepsis wieder. In meinem Essay möchte ich diese pyrrhonische Skepsis mit dem Zweifel in R. Descartes‘ erster Meditation vergleichen und nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragen. Dabei beziehe ich mich, der inhaltlichen Eingrenzung wegen, zusätzlich zur ersten Meditation von R. Descartes v.a. auf folgendes Zitat von Sextus Empiricus aus dem oben genannten Werk:
Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen.1
Dieser Vergleich ist deswegen interessant, weil es in der Philosophie nahezu unumstritten ist, dass Descartes kein Skeptiker ist, obwohl es auf den ersten Blick mehr als nur ansatzweise möglich zu sein scheint, da er in seiner ersten Meditation scheinbar alles anzweifelt.
Zunächst werde ich die Skepsis in dem Zitat von S. Empiricus näher untersuchen, um anschließend anhand der Ergebnisse einige Vergleiche zu Descartes erster Meditation anzustellen. Schlussendlich werde ich dann zu einem abschließenden Urteil bezüglich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der pyrrhonischen Skepsis und des kartesischen Zweifels kommen.
Meiner Meinung nach werden in dem von mir ausgewählten Zitat von Sextus Empiricus vier Dinge deutlich:
1. Bei der pyrrhonischen Skepsis handelt es sich um eine Fähigkeit.
Denn S. Empiricus sprichtvon einer „Kunst“2.
2. Das Ergebnis der pyrrhonischen Skepsis ist, dass sich der pyrrhonische Skeptiker jeder Position enthält, da sich zu jeder Position eine gleichwertige Gegenposition vertreten lässt.
Das geht daraus hervor, dass S. Empiricus sagt, dass jedes Ding ein gleichwertiges, entgegengesetztes Ding habe und dass man aus der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Argumente zur Zurückhaltung gelange.3
3. Die Motivation der pyrrhonischen Skepsis ist der Wunsch des Erlangens des Zustandes der absoluten Entspannung, der Seelenruhe. Dies wird deutlich, da S. Empiricus die Skepsis als Kunst darstellt, von der aus man zur Seelenruhe gelange.4
4. Die pyrrhonische Skepsis ist grundlegend5 und erfüllt einen bestimmten Zweck.
Das folgt aus den ersten drei Punkten, denn es wird grundsätzlich alles angezweifelt und der Zweck besteht darin, die Seelenruhe zu erlangen.
Der vierte Punkt trifft auch auf den Zweifel in Descartes‘ erster Meditation zu. Denn schon im ersten Satz sagt Descartes, dass er merke „wie zweifelhaft alles ist“6 und dass er „daher einmal im Leben alles von Grund aus umstoßen und […] neu beginnen müsse, wenn [er] jemals für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt schaffen wollte“7. Descartes zweifelt also erstmal grundsätzlich alles an und der Zweck besteht darin, etwas zu erreichen, das man nicht mehr anzweifeln kann8. Also sind sowohl die pyrrhonische Skepsis als auch der kartesische Zweifel grundlegend und erfüllen einen bestimmten Zweck.
Allerdings unterscheiden sie sich darin, worin der Zweck besteht, denn im Falle der pyrrhonischen Skepsis soll die Seelenruhe erreicht werden und beim kartesischen Zweifel die nicht mehr anzweifelbare Tatsache. Also ist die Motivation in beiden Fällen eine komplett unterschiedliche, da man etwas ganz anderes erreichen möchte. Vielleicht wäre Descartes absolut entspannt und seine Seele vollkommen ruhig, wenn er zu seiner unanzweifelbaren Tatsache gelangt wäre. Aber dies wäre nur ein Nebeneffekt gewesen und nicht der Grund, warum er zunächst alles angezweifelt hat, denn er hat ja erstmal alles angezweifelt, um zu der unanzweifelbaren Tatsache zu gelangen. Punkt 4 trifft also auch auf den Zweifel in Descartes‘ erster Meditation zu, Punkt 3 hingegen nicht.
Wie sieht es mit Punkt 2, also dem Ergebnis der pyrrhonischen Skepsis bzw. des kartesischen Zweifels aus? Wenn man den kartesischen Zweifel anwendet, kommt man entweder zu dem Schluss, dass es eine unanzweifelbare Tatsache gibt oder eben nicht. Schaut man sich Descartes‘ erste Meditation an, wird deutlich, dass er sich inhaltlich steigert. Er fängt mit Dingen an, die relativ einfach anzuzweifeln sind. Dass Sinneswahrnehmungen nicht unbedingt richtig sind, ist relativ unstrittig, man denke z.B. an optische Täuschungen. Und dann wird er anspruchsvoller bis mit dem Täuschergott9 ein Argument kommt, dem man relativ wenig entgegensetzen kann. Denn alles was man sich irgendwie als wahr vorstellen könnte, könnte ja eine Vision von dem Täuschergott und daher eigentlich falsch sein. Also könnte ich alles anzweifeln. Aber selbst wenn der Täuschergott einen glauben macht, man würde zweifeln und man zweifelt deshalb daran, dass man zweifelt, so zweifelt man doch in jedem Fall. Das heißt, es gibt immer jemanden, der zweifelt. Also kommt man mit dem kartesischen Zweifel zu einer unanzweifelbaren Tatsache. Der pyrrhonische Skeptiker aber würde diese Position nie annehmen, da sich seiner Philosophie zufolge eine gleichwertige Gegenposition vertreten ließe. Also ist auch das Ergebnis der beiden Methoden ein anderes.
Im letzten zu untersuchenden Punkt, also Punkt 1, lässt sich über das Resultat streiten. Man könnte den kartesischen Zweifel durchaus als Fähigkeit, grundsätzlich erstmal alles anzweifeln zu können, ansehen. Auch wenn Descartes dadurch, dass er meint, das nicht (zumindest nicht immer) zu können10, aussagt, dass er dann diese Fähigkeit nicht hat. Man könnte den kartesischen Zweifel aber genauso eher als Gedankenexperiment verstehen, mit dessen Hilfe man versucht, herauszufinden, was passiert, wenn man erstmal alles anzweifelt. Oder aber man versteht ihn als Methode, alles zu verwerfen, sobald es auf irgendeine Weise zweifelhaft ist. Allerdings liegt in jedem der drei Fälle sowohl dem kartesischen Zweifel als auch der pyrrhonischen Skepsis ein Denkprinzip zu Grunde, dass zunächst alles zu hinterfragen verlangt.11
Man kann also festhalten, dass sich der kartesische Zweifel und die pyrrhonische Skepsis in ihrer Struktur (grundlegend, einen bestimmten Zweck erfüllend) ähnlich sind, wohingegen sie sich in ihrem Ergebnis und ihrer Motivation fundamental unterscheiden.
Der entscheidende Punkt ist meiner Meinung nach das grundsätzlich unterschiedliche Ergebnis der pyrrhonischen Skepsis und des kartesischen Zweifels. Denn das Ergebnis des kartesischen Zweifels ist, dass man eine Ansicht als wahr und gerechtfertigt als wahr annehmen zu können glaubt. Aber Skeptiker vertreten die Auffassung, dass genau dies grundsätzlich nicht möglich ist. Also ist Descartes in der Tat kein Skeptiker, denn er versteht Skepsis und Zweifel im Gegensatz zu Pyrrhon und Sextus Empiricus nicht als Überzeugung, dass es keine gesicherte Erkenntnis gibt, sondern betrachtet sie eher als Mittel zum Zweck, um zu gesicherten Erkenntnissen gelangen zu können.
Literaturverzeichnis
Descartes, René; Gäbe, Lüder [Hrsg.]: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Durchgesehen von Hans Günter Zekl; Mit neuem Register und Auswahlbiografie versehen von George Heffernan, Hamburg 1992. (Kurzzitierweise: Descartes: Meditationen)
Empiricus, Sextus; Hossenfelder, Malte [Übersetzer]: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt a.M. 1968. (Kurzzitierweise: Empiricus: Grundriss)
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1 Empiricus, Sextus; Hossenfelder, Malte [Übersetzer]: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt a.M. 1968, S. 94. (Kurzzitierweise: Empiricus: Grundriss)
2 Empiricus: Grundriss, S. 94.
3 Vgl. ebd.
4 Vgl. ebd.
5 Mit grundlegend meine ich, dass (zumindest erstmal) grundsätzlich alles angezweifelt wird.
6 Descartes, René; Gäbe, Lüder [Hrsg.]: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Durchgesehen von Hans Günter Zekl; Mit neuem Register und Auswahlbiografie versehen von George Heffernan, Hamburg 1992, Seite 31. (Kurzzitierweise: Descartes: Meditationen)
7 Descartes: Meditationen, S. 31.
8 Das muss nicht heißen, dass Descartes wirklich so etwas erreicht! Es ist nur das Ziel. Ob man es dann auch wirklich erreicht, ist eine ganz andere Frage. (vgl. Descartes: Meditationen, S. 41)
9 Vgl. Descartes: Meditationen, S. 37.
10 Vgl. Descartes: Meditationen, S. 41.
11 Das macht erneut deutlich, dass sowohl der kartesische Zweifel als auch die pyrrhonische Skepsis grundlegend sind.
- Citation du texte
- Paul-Hermann Friedenstab (Auteur), 2015, Skepsis und Zweifel im Sinne von S. Empiricus und R. Descartes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/450095