Die Debatte um das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist nicht neu. Man redet „auf politikwissenschaftlichen Tagungen [...] so viel davon, dass es anfängt, einem bei den Ohren wieder herauszukommen.“ (Heidrun Abromeit)
Doch genau dies zeigt die Notwendigkeit und Bedeutung dieser Debatte, auch wenn bisher keine endgültigen und allseits akzeptierten Lösungsvorschläge gefunden werden konnten.
Gerade in der heutigen Zeit, wo der Ratifikationsprozess für die Verfassung der EU durch negative Volksentscheide in Frankreich und den Niederlanden zwischenzeitlich gestoppt wurde, drängt sich die Frage nach der Demokratiefähigkeit der
EU wieder stark in den Vordergrund.
Neben Erklärungsansätzen zum europäischen Demokratiedefizit, soll sich diese Arbeit vorwiegend der Frage nach einer europäischen Identität zuweden.
Europa muss seinen Bürger finden. Doch gibt es eigentlich den Europäischen Bürger?
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union
2. Möglichkeiten zur Behebung des Demokratiedefizits der EU
2.1 Parlamentarisierung
2.2 Post-Parlamentarismus
2.3 Deliberative Gremien
2.4 Demokratischer Funktionalismus
2.5 Direktdemokratische Elemente
3. Warum braucht es eine Europäische Identität?
3.1 Politische und kulturelle Identität
3.2 Politische Kultur
3.3 Europäische und nationale Identität
4. Herausbildung einer europäischen Identität
5. Wahrnehmung der Europäischen Union bei den Bürgern
6. Fazit und Ausblick
Literatur
Einleitung
Die Debatte um das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist nicht neu. Wie Heidrun Abromeit bemerkte, redet man „auf politikwissenschaftlichen Tagungen (...) so viel davon, daß es anfängt, einem bei den Ohren wieder herauszukommen.“[1] Doch genau dies zeigt die Notwendigkeit und Bedeutung dieser Debatte, auch wenn bisher keine endgültigen und allseits akzeptierten Lösungsvorschläge gemacht werden konnten. Gerade in der heutigen Zeit, wo der Ratifikationsprozess für die Verfassung der EU durch negative Volksentscheide in Frankreich und den Niederlanden zwischenzeitlich gestoppt wurde, drängt sich die Frage nach einer Demokratiefähigkeit der EU wieder stark in den Vordergrund.
Mittels dieser Arbeit sollen zunächst die geläufigsten wissenschaftlichen Erklärungsansätze des europäischen Demokratiedefizits aufgezeigt werden. Hierzu werde ich mich der Übersichtlichkeit zuliebe auf die umfassenden und vielseitigen Arbeiten von Abromeit sowie Follesdal und Hix beziehen. Wie ein roter Faden zieht sich durch nahezu alle Ideen zur Erklärung und Bewältigung des Demokratiedefizits das Problem einer europäischen Öffentlichkeit oder einer europäischen Identität. Wie Werner Weidenfeld treffend sagte, muss Europa um „den Weg zum Zusammenwachsen des Kontinentes zu ebnen, (...) vor allem eine überzeugende Antwort auf die Frage nach seiner Identität geben, denn hierin liegt der Schlüssel zur Erklärung der europäischen Misere.“[2] Europa muss seinen Bürger finden. Doch gibt es eigentlich den Europäischen Bürger? Einen Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage geben die Umfragen der Europäischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers.
Entgegen der Meinung verschiedener Autoren[3], dass eine kollektive Identität nicht Voraussetzung für eine europäische Verfassung und die Behebung des Demokratiedefizits sei, sondern vielmehr eine europäische Verfassung später eine Identität konstituiert,[4] lautet meine These, dass es erst einer Identität bedarf, bevor sich das Demokratiedefizit der EU lösen lässt! Der dritte Teil der Arbeit wird sich dementsprechend mit den Fragen beschäftigen, warum wir eine europäische Identität brauchen, wie sie zu verstehen ist und ob die Herausbildung einer solchen nur zu Lasten der nationalen Identitäten erfolgen kann.
Das vierte Kapitel betrachtet dann die gegebenen Voraussetzungen und die besonderen Probleme, die die EU bei der Herausbildung einer Identität zu bewältigen hat. Besondere Aufmerksamkeit werde ich hier der Argumentation von Peter Graf Kielmansegg widmen, welcher schon 1995 argumentierte, dass es keine Identität der Europäer als solche gibt.[5]
Ob sich die Bürger als Angehörige ihres Nationalstaates oder aber als Bürger Europas sehen, ist ein wichtiger Anhaltspunkt für den Grad der Herausbildung einer europäischen Identität. Diese selbst wahrgenommene Zugehörigkeit der Bürger der EU der 15 soll Inhalt des 5. Kapitels sein. Zu den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten liegen leider noch keine Umfrageergebnisse im Rahmen des Eurobarometers vor, jedoch sollen einige Ideen zur besonderen Situation in der neuen EU der 25 Mitgliedsstaaten angestellt werden.
Auch wenn insgesamt ein Fehlen einer ausreichenden europäischen Identität zur Bewältigung des Demokratiedefizits angemahnt wird, so gibt es doch Potentiale zur Verbesserung dieser Situation in der Zukunft. Einige Ideen und Ansätze dazu bilden dem Abschluss dieser Arbeit.
1. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union
Das Demokratiedefizit der Europäischen Union beinhaltet nach Follesdal und Hix fünf Hauptpunkte. Die größte Wertigkeit räumen sie der steigenden Macht der Exekutive bei sinkender Kontrolle der nationalen Parlamente ein. Politik wird auf europäischer Ebene durch die Exekutive und dementsprechend von den Ministern im Ministerrat und von Kommissionsmitgliedern bestimmt. Nationale Politiker sind von ihren Wählern für nationale Belange, jedoch kaum für europäische Politik legitimiert. Zweitens argumentieren sie, dass das Europäische Parlament, trotz gestiegener Kompetenzen, immer noch zu schwach sei. Zwar muss es seit dem Vertrag von Amsterdam „der Nominierung des Kommissionspräsidenten und der Ernennung der Kommission als Kollegialorgan zustimmen (...) (und kann) die Kommission als Kollegium durch ein Misstrauensvotum zum Rücktritt zwingen“[6], jedoch sind die eigentlichen Kompetenzen erheblich schwächer als die eines nationalen Parlamentes. Das einzige, direkt vom europäischen Volk gewählte Organ der EU hat keinen Einfluss bei der Auswahl und Ernennung der Kommissare, welche in der Europäischen Kommission große Kompetenzen haben.[7] Die größte Macht besitzt der Ministerrat, welcher sich aus den jeweiligen Fachministern der nationalen Regierungen zusammensetzt. Er trifft „seine Entscheidungen auf der Grundlage der Vorschläge einer Kommission, die aus nicht-gewählten Beamten besteht und selbst über keine demokratische Legitimation“[8] durch die Bürger der EU verfügt.
Weiter argumentierten Follesdal und Hix, dass es bis heute keine europäischen Wahlen gibt. Die Wahlen zum Europäischen Parlament weisen sehr geringe Beteiligungsquoten auf. Bei der letzten Wahl zum Europaparlament im Jahr 2004 lag die Wahlbeteiligung im EU-Durchschnitt bei 45,7%. Diese Zahl fügt sich nahtlos in das Bild der stetig sinkenden Wahlbeteiligungen ein. 1979 gingen noch 63% der Wahlberechtigten zur Urne, 1989 waren es 58,5% und 1999 nur noch 49,8%.[9] Diese Entwicklung ist nicht zwangsläufig als ein Votum gegen die Europäische Union zu sehen, vielmehr ist sie „Ausdruck der verbreiteten Überzeugung, daß die Wahlen zum Europäischen Parlament bedeutungslos weil folgenlos seien.“[10] Auch werden sie von den Bürgern der Nationalstaaten, aber auch von den Medien und den nationalen Parteien als Möglichkeit genutzt, die jeweiligen Regierungen zu bestätigen oder abzustrafen („mid-term national contests“[11] ).
Ein weiterer Grund für das Demokratiedefizit in der Europäischen Union sehen Follesdal und Hix in der Distanz der EU zum Wähler. Einerseits sei die Legitimationskette für Entscheidungsträger zu lang, andererseits ist das Verständnis für das System der EU beim Bürger nicht ausgereift genug, da es in der Wahrnehmung der Bürger zu verschieden von den jeweiligen nationalen Systemen ist. Der Bürger kann sich mit diesem nicht identifizieren, da er es nicht vollständig versteht und durchschaut. Schlussendlich bewirkt die Europäische Integration, dass die eigentlichen Politikinhalte der EU immer mehr von den Politikpräferenzen und Interessen der Bürger abweichen. Auf europäischer Ebene können die Regierungen Politikbereiche bearbeiten, bei denen sie auf nationaler Ebene auf großen Widerstand bei den Parlamenten, den Interessengruppen und Gerichtshöfen stoßen. Die Ergebnisse und Beschlüsse der EU sind dann für die einzelnen Nationen rechtsverbindlich.[12]
Im Folgenden sollen nun einige Vorschläge und Möglichkeiten zur Behebung des Demokratiedefizits der Europäischen Union aufgezeigt werden. Der Umfang und das Thema dieser Arbeit erlauben jedoch eine genauere Untersuchung und Kommentierung dieser Ansätze nicht, es soll bei einer rein deskriptiven Untersuchung bleiben.
2. Möglichkeiten zur Behebung des Demokratiedefizits der EU
2.1 Parlamentarisierung
Die vergleichsweise geringen Kompetenzen des Europäischen Parlaments (EP) werden in der Standardkritik des Demokratiedefizits am meisten beanstandet. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass die Parlamentarisierung der EU als eine viel versprechende Möglichkeit angesehen wird, dieses zu überwinden. Jedoch herrscht bis heute weitestgehend Unklarheit darüber, wie eine solche Parlamentarisierung aussehen soll. Abromeit bemerkt, „dass eine „richtige“ parlamentarische Demokratie nach dem Westminster-Modell auf ein komplexes Gebilde wie die Union unmöglich passen kann.“[13] Die unterschiedlichen politischen Kulturen in den einzelnen Mitgliedsstaaten scheinen es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu machen eine EU zu formen, welche den demokratischen Grundverständnissen aller Mitgliedsstaaten entspricht. Dementsprechend gibt es viele Visionen und Vorschläge wie eine solche Parlamentarisierung aussehen soll und aussehen kann. Joschka Fischer sprach sich z.B. in seiner Rede an der Humbold-Universität in Berlin vom 12. Mai 2000 für eine volle Parlamentarisierung der EU aus und betonte gleichermaßen, dass ein europäisches Parlament immer ein „Europa der Nationalstaaten und ein Europa der Bürger“[14] repräsentieren muss. Für ihn ist dieses Ziel nur über ein, in zwei Kammern aufgeteiltes EP möglich, wobei eine Kammer durch Abgeordnete besetzt sein sollte, welche gleichzeitig Angehörige ihrer nationalen Parlamente sind. Auf diesem Weg würden die Interessen der Nationalstaaten gewahrt werden. Für die zweite Kammer dieses EP macht er zwei Vorschläge. Beispielsweise könnte er sich eine dem amerikanischen Senatsmodell ähnliche Kammer vorstellen, aber auch eine dem deutschen Bundesrat entlehnte.
Eine Aufwertung des EP würde zwangsläufig auch eine Veränderung der europäischen Exekutive bedeuten müssen. Der Rat müsste die Rolle einer „europäischen Regierung“[15] übernehmen, oder aber ein direkt gewählter Kommissionspräsident mit weitgehenden exekutiven Kompetenzen ausgestattet werden.
Bei aller Diskussion um eine Parlamentarisierung der EU wird jedoch oft darauf hingewiesen, dass eine reine Parlamentarisierung das Demokratiedefizit nicht beheben kann, da es keine europäische Identität und keine „europäischen Demos“ gibt. Ohne Demos können Wahlen zum EP keine legitimierende Wirkung entfalten.[16]
2.2 Post-Parlamentarismus
Gegen das Argument der Parlamentarisierung der EU spricht die Tatsache, dass „die nationalstaatlichen Parlamente längst nicht mehr (alle) die Positionen inne (haben), die ihnen lehrbuchmäßig zuzukommen hätte.“[17] Längst werden nicht mehr alle Entscheidungen in den Parlamenten getroffen, sondern vielmehr in Verhandlungssystemen zwischen Exekutive und Interessengruppen. Warum also die EU parlamentarisieren, wenn dies schon auf nationaler Ebene nicht mehr „recht zu realisieren ist“[18] ?
Arthur Benz argumentierte, dass es in Europa Strukturen repräsentativer Herrschaft gibt, in denen die Arbeit der Minister im Ministerrat um „Formen der Verbändebeteiligung und der parlamentarischen Demokratie“[19] ergänzt wurden. Benz sieht auf europäischer Ebene drei Repräsentationsformen, welche in keiner Hierarchie zueinander stehen. Er unterscheidet zwischen „governementalen Repräsentation“ (durch Europäischen Rat und Ministerrat), „parlamentarischen Repräsentation“ und „assoziativen Repräsentation“[20] (durch Verbände in Ausschüssen).
[...]
[1] Abromeit, Heidrun, Möglichkeiten und Ausgestaltung einer europäischen Demokratie, in: Klein, Ansgar (Hrsg.), Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa, Opladen 2003, S. 31-54, hier S. 31.
[2] Weidenfeld, Werner, Europa – aber wo liegt es?, in: Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 442) Bonn 2004, S. 15-48, hier S. 15.
[3] vgl. hier z.B. Habermas, Jürgen, Warum brauch Europa eine Verfassung?, Die Zeit Juli 2001
[4] vgl. z.B. van de Steeg, Marianne, Bedingungen für die Entstehung von Öffentlichkeit in der EU, in: Klein, Ansgar/ Koopmanns, Ruud/ Trenz, Hans-Jörg/Klein, Ludger/ Lahusen, Christian/ Ruch, Dieter (Hrsg.), Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa, Opladen 2003, S. 169-190, hier S. 176.
[5] vgl. Kielmansegg, Peter Graf, Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs, Markus / Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Europäische Integration, 2. Auflage, Opladen 2003, S. 49-83, hier S. 58.
[6] Schmidt, Manfred G., Demokratietheorien. Eine Einführung, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 2000, S. 430.
[7] vgl.: Follesdal, Andreas/ Hix, Simon, Why There is a democratic Deficit in the EU. A Response to Majone and Moravcsik (= European Governance Papers (EUROGOV), No. C-05-02), http://www.connex-network.org/eurogov/pdf/egp-connex-C-05-02.pdf 2005, S. 5.
[8] Grande, Edgar, Demokratische Legitimation und europäische Integration, in: Leviathan 24, 1996, S. 339-360, hier S. 342.
[9] Vgl. www.elections2004.eu.int
[10] Kielmansegg, Integration und Demokratie, S. 52.
[11] Follesdall/ Hix, Why There is a democratic Deficit in the EU, S. 5-6.
[12] vgl.: ebd. S. 6.
[13] Abromeit, Heidrun, Möglichkeiten und Ausgestaltung einer europäischen Demokratie, S. 32.
[14] Fischer, Joschka, Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität Europas. Rede in der Humbold-Universität in Berlin am 12. Mai 2000, Frankfurt am Main 2000, S. 25f.
[15] Ebd., S. 28.
[16] Abromeit, Heidrun, Möglichkeiten und Ausgestaltung einer europäischen Demokratie, S. 34.
[17] Abromeit, Heidrun, Wozu brauch man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie, Opladen 2002, S. 30.
[18] Abromeit, Heidrun, Möglichkeiten und Ausgestaltung einer europäischen Demokratie, S. 34.
[19] Benz, Arthur, Ansatzpunkte für ein europafähiges Demokratiekonzept, in: Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen Sonderheft 29 der PVS. Opladen 1998, S. 345-368, hier S. 350.
[20] vgl. Ebd., S. 350f.
- Citation du texte
- Marie George (Auteur), 2005, Die Europäische Identität - Grundlage für die Behebung des Demokratiedefizits der Europäischen Union?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44925
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