Laing, einer der Protagonisten der Antipsychiatrie, entwickelt eine interessante Theorie der Schizophrenie, welche sich von herkömmlichen psychiatrischen Diagnosen auf eigentümliche Weise unterscheidet. Die sogenannte Schizophrenie dürfe Laing zufolge nicht bekämpft, sondern müsse begleitet werden, mit dem Ziel eine Wandlung der Persönlichkeit zu initiieren, die sich in einer Sequenz von symbolischem Tod und Wiedergeburt vollziehe und in der Entdeckung des "wahren Selbst" münde.
Inhalt
1. Laings Position in „Das geteilte Selbst“
2. Modifikation des Schizophrenie-Konzepts
3. Theorie der Entfremdung
3.1 Aufhebung der Entfremdung
A. Die Rolle der Psychotherapie
B. Theologische Implikationen
C. Die Schizophrenie als Initiation oder: der Durchbruch zum Transzendenten
4. Schlussbemerkungen
5.Literatur
1. Laings Position in „Das geteilte Selbst“
„Das Wort schizoid bezieht sich auf ein Individuum (Herv. d.V.), dessen Totalität der Erfahrung in zweierlei Hinsicht gespalten ist: an erster Stelle ist da ein Riß in der Beziehung zu seiner Welt und an zweiter Stelle ein Bruch in der Beziehung zu sich selbst“.[1]
Mit diesen Worten eröffnet R. D. Laing sein Frühwerk das geteilte Selbst, dessen Grundgedanke um eine auf geisteswissenschaftlicher Ebene basierende Reform der an die Naturwissenschaften angelehnten klinischen Psychiatrie und Psychopathologie kreist. Der so genannte Wahnsinn soll in einer nicht für möglich gehaltenen Form dem Verstehen zugeführt werden. Als generelle Voraussetzung eines Verständnisses des Menschen im Allgemeinen und der Geisteskrankheiten im Besonderen steht für Laing dabei, die Perspektive des Einzelnen, der Kontext des In-der-Welt-seins[2] einer Person; d.h. ihres zum Seinsganzen bezogenen Verhältnisses, dessen Spiegel Haltungen und Verhaltensweisen des Alltäglichen sind, durch welche ein spezifischer Existenzentwurf in Erscheinung tritt und aus dem Laing die Fehlformen des Daseins abzuleiten bestrebt ist. Das In-der-Welt-sein insbesondere des Schizophrenen zeichnet sich durch spezifische Angstformen aus, deren Ursache Laing in der so genannten „ontologischen Unsicherheit“[3] verankert.
Ontologisch unsicher ist das menschliche Dasein philosophisch gesehen seinem ganzen Wesen nach. Aufgrund der radikalen Kontingenz, der Überflüssigkeit des Daseins, sowie der Todverfallenheit, sah vor allem die Existenzphilosophie, an der Laing stark orientiert ist, Daseinsangst, Verzweiflung und Sorge als anthropologische Grundbestimmung an. Der Tatbestand des ontologischen Mangels und der daraus folgenden fundamentalen Gefährdung des Menschen steigert sich zu einem wirklichen Problem im Falle, dass sich die Angst, die zum mit Bewusstsein ausgestatteten, zur Selbstreflexion fähigen und damit seine eigene Nichtigkeit im Gegenüber der Natur sich gewahr werdenden Menschen unabtrennbar gehört, aus dem metaphysischen Bereich, aus den Grundlagen der Existenz auswandert und sich in menschlichen Beziehungen totalisiert. Nicht mehr das Dasein an sich, sondern die Realität der anderen wird nun zur Quelle der Angst, was psychologisch insbesondere in den Erfahrungen mit den primären Bezugspersonen wurzelt, die (lt. Laing) zur Schaffung einer stabilen Lebensgrundlage nicht beitragen konnten. (Die These ist aber durchaus umstritten, so Heinz)
Eine ontologisch unsichere, von Angst zerfaserte Person, ist ständig damit beschäftigt ihre Autonomie und Identität zu bewahren, weil sie diese zu verlieren fürchtet. Ständig lauert die phantasierte Destruktion, die Gefahr der Auflösung und Dissoziation, vornehmlich im Kontakt mit der so bedrohlich empfundenen Außenwelt. Die ontologisch unsichere Person fühlt sich nicht wie die meisten Menschen wohl von sich behaupten würden: real, lebendig, stabil gegenüber sich selbst und den anderen, verschieden vom Rest der Welt, sondern inkonsistent, zeitlich und räumlich fragil, ohne klare Ich-Grenzen, möglicherweise unlebendig und körperlos. Die gesamte Persönlichkeitsstruktur offenbart sich als Phänomenologie ontologischer Unsicherheit.
Laing attackiert in seinem Erstlingswerk die Enge des vorherrschenden materialistischen Ansatzes der Schulpsychiatrie, die ihm zufolge noch immer gemäß dem seit Mitte des 19. Jh. sich durchsetzenden naturwissenschaftlichen Paradigma geistige Phänomene nach dem Motto: Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten, auf Organisches reduzieren möchte. Dieser Herangehensweise wirft Laing Verdinglichung, Entsubjektivierung des Menschen und damit Inhumanität vor, was insbesondere in der therapeutischen Beziehung ihren Niederschlag findet. Sie lässt sich charakterisieren als ein Gefälle der Macht, in dem der „gesunde“ Therapeut seinem „kranken“ Patient heteronom, in akademischer Distanz und im Grunde beziehungslos gegenübersteht.
Im Widerspruch dazu ist Laing an einer Entgrenzung dieses hierarchischen Verhältnisses interessiert. Zwischen Normalem und Pathologischem sieht er keine klare Grenze, sondern nur fließende Übergänge. Der Unterschied ist quantitativer nicht qualitativer Natur, wodurch eine bisher von der Psychiatrie nicht integrierte und zum Teil abgewehrte Form des Verstehens des Anderen und seinen Anomalien auf Grundlage der hermeneutischen Methode der Einfühlung, also vermittels der eigenen Person möglich werden soll.
Dementsprechend fokussiert Laing in seinen existentiellen Analysen die Lebensbezüge des Einzelnen, die subjektive Sinnstruktur einer Person und versucht die oftmals wirren Mitteilungen, Gedanken, Ängste, Gefühle, Abwehrmechanismen, Spaltungen der als geisteskrank Geltenden beschreibend und einfühlend zu verstehen.
2. Modifikation des Schizophrenie-Konzepts
Doch bereits 1964 im Vorwort zur Neuauflage korrigiert er seine eher individualistisch-idealistische Betrachtungsweise, denn er konstatiert: „Ich schreibe in diesem Buch noch zuviel über sie und zuwenig über uns.“[4]
Der Schwerpunkt seines Interesses scheint sich hier zu verlagern. Laing möchte fortan die existentielle Position des Schizophrenen nicht nur als ein vom Einzelnen hervorgebrachtes Bewusstseinsphänomen betrachten, sondern ihn darüber hinaus rückkoppeln an seine Umgebung, dessen Widerschein er (auch) ist. Laing zufolge „…wurde…nirgendwo ein Schizophrener gefunden, dessen gestörte Kommunikationsstruktur sich nicht als Reflexion und Reaktion auf die gestörte und störende Struktur seiner…Ursprungsfamilie erwiesen hätte.“[5]
Hatte Laing die den Kranken einbettenden familiären und über diese hinausweisenden gesellschaftlichen Bedingungen zunächst noch nicht als unmittelbar relevant für das Verstehen des Prozesses des Schizophrenwerdens gehalten[6], so findet im weiteren Verlauf seines Werkes eine Bedeutungsverschiebung seiner Perspektive statt. Zunehmend gerät das gesellschaftliche System, die sozial vermittelten Direktiven, die sozialisierenden Instanzen, wie Familie[7] und Schule[8], sowie in besonderem Maße die Institution Psychiatrie in den kritischen Blick.
Die Schizophrenie wird nun verstärkt als ein Wechselspiel der im sozialen Kontext sich befindlichen Personen aufgefasst und damit einhergehend als abweichendes Verhalten, ohne eine in diesem liegende besondere krankhafte Qualität bestimmt. Danach ist das für schizophren zu halten, was innerhalb von Beziehungen zwischen Menschen von diesen als schizophren interpretiert und konstruiert wird. Anders ist es wohl nicht zu verstehen wenn Laing später, offenbar in Abgrenzung zu seinem Frühwerk schreibt: „Wenn ich den Terminus Schizophrenie benutze, meine ich damit nicht…eine Krankheit, sondern ein Etikett, mit dem etliche Leute andere Leute unter bestimmten sozialen Umständen versehen.“[9] Die Schizophrenie ist folglich nichts von Natur Gegebenes[10], Substantielles, unmittelbar Krankhaftes, sondern sie wird es erst qua Deutung. Sie erscheint als Folge sozialer Prozesse, in denen Menschen in Kontakt treten, sich in ein Verhältnis setzen und sich gegenseitig bestimmen. Sie ist eine Zuschreibung von der Gruppe der <<gewöhnlichen Menschen>>, für eine vom Konsens divergierende Minderheit, die auf diese Weise zum <<Außergewöhnlichen>> wird. Schizophrenie wird so zum Sammelbegriff für all das Denken, Fühlen und Handeln, dass sich den jeweils herrschenden Vorstellungen nicht anpasst und möglicherweise abgewehrt werden soll.
Unter dem Terminus Schizophrenie können so recht verschiedene ungewöhnliche Zustände subsumiert werden, die vor dem Hintergrund einer historisch-kulturellen Objektivität durch zwischenmenschliche Vorgänge der Ausgrenzung und Abwehr ihre Bestimmung erhalten, insofern wandelbar und damit relativ sind. Alles, was in einer Gesellschaft nicht als normal oder alltäglich angesehen wird, kann dieser Argumentation zufolge zum Inhalt der Schizophrenie werden. Sie bekommt in diesem Rahmen relationalen Charakter, wird zum Differenzbegriff, der an und für sich, ohne die Kenntnis der ihn gebrauchenden Sozietät bedeutungslos wird.
Ob diese soziologische Interpretation der Schizophrenie sinnvoll und berechtigt ist, bleibt fragwürdig. Allein diese Deutung erscheint mir nicht besonders viel versprechend, da ihr entgegen Laings frühen Ansichten die Tendenz innewohnt, die Phänomenologie der Persönlichkeit, die spezifischen Erfahrungen des Einzelnen in ihrer Eigengesetzlichkeit auszublenden.
Es ließe sich dem entgegensetzen, dass das, was eine Person ausmacht, daran zu erkennen ist, wozu sie sich wesentlich verhält. Dass im Verhalten einer Person zunächst geistige Einstellungen zum Ausdruck kommen, die weitaus ursprünglicher, fundamentaler und wichtiger zu nehmen sind, als bestimmte gesellschaftliche Umstände.[11] Dass letztere lediglich modifizierend wirken, aber zum wesentlichen Verständnis einer Person nicht beitragen können. Anders ausgedrückt: psychische Symptome stellen eine komplizierte Auseinandersetzung des Ichs mit den seelischen Umwelteinflüssen dar, die weder hinreichend durch die Gesellschaft, noch durch kausale Zusammenhänge etwa im Sinne eines simplifizierenden Schemas von Reiz und Reflex, von Vorbild und Abbild erklärt werden können
Der soziologische Ansatz, die Ableitung der Schizophrenie aus dem sozialen Kontext also, erspart einem unter Umständen die verstehende Einfühlung und Eruierung der seelischen Verarbeitung, wie auch immer gearteter objektiver Umstände. Die faktischen zeitbedingten Verhältnisse sozialer, ökonomischer Art und Schicksalsschläge sind das Eine, die subjektive Bedeutungsverleihung das Andere.[12] Außerdem hat die Psychotherapie nur dann Sinn, wenn dem Patient ein gewisser Spielraum der Freiheit, mithin die Möglichkeit geistiger Umstrukturierung eingeräumt wird, die eine Emanzipation von den (oft) unveränderbaren äußeren Umständen zulässt und diese durch eine neu gewonnene Bewertung an Einfluss verlieren.
3. Theorie der Entfremdung
Laing scheint offenbar vom Marxismus nicht unbeeinflusst zu sein.[13] Entscheidend ist allerdings, dass Laing keine Gesellschaftsutopie im Sinn hat, wonach andere soziale Umstände die Bedingung der Möglichkeit für eine Wandlung des Individuums darstellen; es ist nicht primär die Gesellschaft, die verändert werden soll. Für Laing ist der Mensch weiterhin keinesfalls nur das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn unentrinnbar determinieren und zum hilflosen, fremdbestimmten Opfer machen. Selbst wenn es äußerlich betrachtet so aussehen sollte, die eigentliche Wirklichkeit ist nicht so, wie sie uns erscheint. Gerade diese vermeintliche Unabwendbarkeit der Umstände, die quasi schicksalhafte Einfügung in die Gegebenheiten, hält Laing für eine Rationalisierung, mittels derer das Subjekt die Wirklichkeit auf die Notwendigkeit reduziert. Dies geschieht durch die Erfindung von Scheinerklärungen für Bestrebungen, deren wahre Motive einem selbst nicht bewusst sind, man tut aber so, als wenn sie es wären und tritt damit in ein Feld von wechselseitigem Betrug. Die fremden Interessen und Ansichten der sozialen Umgebung werden zu eigenen Anschauungen erklärt, zumeist ohne dass die Person den Prozess sowohl der fremden, als auch der eigenen Verschleierung durchschaut.
Tatsächlich scheint es nach Laing den meisten Menschen nicht zu gelingen, sich über die sozialen und geistigen Verhältnisse in die sie hineingeboren werden zu erheben. Sie würden sich demnach nicht erkennen und bleiben sich selbst mehr oder weniger fremd. Der Inhalt ihres Bewusstseins basiere auf Täuschung und Fiktion. Sie erscheinen lediglich als Produkt der gegebenen Faktizität, mit der sie unkritisch verschmelzen. Sie leben nicht persönlich, sondern sind ganz aufgehoben in den Strukturen des <<Allgemeinen>>.
[...]
[1] Laing: Das geteilte Selbst (1960) dt. 1976, S. 13
[2] Übernahme des Heideggerschen Begriffes
[3] Ebd., S. 33-53
[4] A.a.O., S. 9
[5] Laing: Phänomenologie der Erfahrung (1967), S. 103. Vgl. aber die Kritik bei J. Glatzel: Antipsychiatrie (1975), S. 54, der eine ursächliche Verbindung von Familienstruktur und Schizophrenie für unwahrscheinlich hält.
[6] Laing : Das geteilte Selbst, S. 154
[7] Vgl. Laing: Die Politik der Familie (1969), dt. 1979
[8] Ebd. S. 109, sowie Laing: Phänomenologie der Erfahrung, S. 63 ff
[9] Laing: Phänomenologie der Erfahrung, S. 93. An anderer Stelle heißt es ferner: „Unsere Gesundheit ist nicht wahre Gesundheit. Ihre Verrücktheit ist nicht wahre Verrücktheit.“ A.a.O., S. 133
[10] Obwohl Laing einen genetischen Faktor nicht ausschließt. Vgl. A.a.O., S. 109
[11] Diese Annahme steht m.E. im Einklang mit Laings Entwurf in Das geteilte Selbst.
[12] Vgl. zur Ktitik an der Etikettierungstheorie auch J. Glatzel: A.a.O., S. 51-55
[13] Eine auffallende Parallele durchzieht das Werk J. P. Sartres dessen Einfluss auf Laing nicht zu überschätzen ist. Sartre, der zunächst existentielle Bewusstseinsanalysen auf Basis des ontologischen Mangels durch das Eindringen des Nichts ins Bewusstsein aufgrund des Abfalls vom An-sich zum Für-sich-Sein des Menschen erstellte, leitete dann, nach dem 2. Weltkrieg, beeinflusst durch den Marxismus, die konkreten Erscheinungsformen des Für-sich-Seins nicht mehr ontologisch, sondern aus dem gesellschaftlich bedingten Mangel realer Lebensbedürfnisse ab. Laing sagt in einem Interview: „Und als ich Sartre las, war das, als streifte ich mir einen perfekt sitzenden Handschuh über.“ Laing: Es stört mich nicht ein Mensch zu sein (1981), S. 16
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- Tobias Fiege (Author), 2005, Das Konzept des Wahnsinns bei R. D. Laing unter besonderer Berücksichtigung der Theorie der Schizophrenie als Durchbruch zu religiöser Erfahrung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44811
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