Nach dem zweiten Weltkrieg erschuf die Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland, getrieben von dem Wunsch, Wirtschaft und Politik sowie Wirtschaft und Staat voneinander unabhängig zu machen, ein System, dass es den großen gesellschaftlichen Gruppierungen erlaubte, Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen selbst auszugestalten. Durch Teilung der Kompetenzen bekamen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zukünftig jene Freiheiten zugestanden. Das System der Tarifautonomie in seiner jetzigen Form entstand. Einige Jahrzehnte hindurch war dieses Modell Garant wirtschaftlichen Aufschwungs und wurde vor allem wegen seiner friedensstiftenden Funktion gelobt. Unter Rechtfertigungsdruck geriet es Anfang der neunziger Jahre. Globalisierung und verschärfter internationaler Wettbewerbsdruck, gepaart mit Massenarbeitslosigkeit und strukturellen Problemen des Standorts Deutschland stellten es zunehmend in Frage. In Wirtschaft und Politik begann eine Debatte um die Grundstrukturen des deutschen Tarifsystems, die bis heute andauert.
Kritikpunkte bildeten sich hauptsächlich drei heraus:
•Undifferenziertheit, erkennbar an einer bloßen Orientierung an Branchen und Regionen einerseits und einer weitgehende Gleichbehandlung von Arbeitnehmergruppen andererseits,
•Inflexibilität, die sich vor allem in der ungenügenden Anpassungsfähigkeit des Systems an veränderte Bedingungen zeigt und schließlich noch,
•die durch zu hohe Arbeitskosten bedingte Kostenintensivität des Systems.
Obwohl aus einigen Teilen der Wirtschaft und Politik Stimmen laut wurden, die aufgrund dieser Zustände eine vollständige Abschaffung dieses Tarifsystems zugunsten betrieblicher Regelungen fordern, blieb das jetzige System um den Verbandstarifvertrag (VTV) bis zum heutigen Tag prägende Ordnungsgröße deutscher Arbeitsbeziehungen. Unbestritten bleibt allerdings die mehrheitliche Meinung, dass die Tarifstruktur in Deutsch- land verkrustet sei und einer grundlegenden Reform bedarf. Professor Franz, Mitglied des
- 6 -Sachverständigenrats unterstrich diese verbreitete Anschauung einst mit folgendem Zitat: „Der Flächentarifvertrag ist nicht überholt, aber er ist dringend überholungsbedürftig.“ Tatsache ist dabei aber auch, dass sich das Tarifsystem seit nunmehr rund fünfzehn Jahren in einem stetigen Wandelprozess befindet und sich den Reformerfordernissen zu stellen versucht.
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Übersichtenverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Vorgehensweise
1.3 Die Transaktionskostentheorie
2 Das Tarifvertragssystem in Deutschland - Begriffserklärungen
2.1 Rechtsgrundlagen und Aufbau
2.2 Die Tarifvertragsparteien
3 Das Problemfeld Verbandstarifvertrag
3.1 Einordnung in den Rahmen des Tarifvertragssystems
3.2 Argumente für Verbandstarifverträge
3.3 Verbandstarifverträge in der Kritik
3.4 Die Abkehr vom Tarifvertrag
4 Reformgedanken und Lösungsansätze der Tarifvertragsparteien
4.1 Öffnungsklauseln
4.1.1 Tarifvertragliche Öffnungsklauseln
4.1.2 Gesetzliche Öffnungsklauseln
4.1.3 Der Standpunkt der Gewerkschaften
4.1.4 Der Standpunkt der Arbeitgeber
4.1.5 Transaktionskostentheoretische Betrachtungen
4.2 Günstigkeitsprinzip
4.2.1 Neudefinition des Günstigkeitsprinzips durch reformierten Sachgruppenvergleich
4.2.1 Der Standpunkt der Gewerkschaften
4.2.2 Der Standpunkt der Arbeitgeber
4.3 Begleitende Reformmaßnahmen
4.3.1 Begrenzung der Tarifgebundenheit
4.3.2 Einschränkung der Nachwirkung von Tarifnormen
4.3.3 Tariftreuegesetz und Allgemeinverbindlichkeitserklärung
4.3.4 Der Standpunkt der Gewerkschaften
4.3.5 Der Standpunkt der Arbeitgeber
4.4 Änderungen im Streikrecht zur Unterstützung des Reformprozesses
4.4.1 Das Ungleichgewicht der Kampffähigkeit der Tarifvertragspartner
4.4.2 Der Standpunkt der Arbeitgeber
4.4.3 Der Standpunkt der Gewerkschaften
5 Reformen am Beispiel der Metall- und Elektroindustrie
5.1 Branchenüberblick und Entwicklung des VTV
5.2 Reaktionen, Konzepte und Gegenmaßnahmen der Verbände
6 Die Sichtweise der Betriebs- und Personalräte zum Wandelprozess
7 Fazit
8. Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Übersichtenverzeichnis
Tab. 1: Öffnungsklauseln in Unternehmen
Tab. 2: Beurteilung einer Verbetrieblichung durch die Betriebs- und Personalräte
Abb. 1: Tarifbindung
Abb. 2: Verbandstarifvertragsbindung der Beschäftigten
Abb. 3: Häufigkeit von Arbeitskämpfen
Abb. 4: Bindung an Gesamtmetall
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
Nach dem zweiten Weltkrieg erschuf die Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland, getrieben von dem Wunsch, Wirtschaft und Politik sowie Wirtschaft und Staat voneinander unabhängig zu machen, ein System, dass es den großen gesellschaftlichen Gruppierungen erlaubte, Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen selbst auszugestalten. Durch Teilung der Kompetenzen bekamen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zukünftig jene Freiheiten zugestanden. Das System der Tarifautonomie in seiner jetzigen Form entstand. Einige Jahrzehnte hindurch war dieses Modell Garant wirtschaftlichen Aufschwungs und wurde vor allem wegen seiner friedensstiftenden Funktion gelobt. Unter Rechtfertigungsdruck geriet es Anfang der neunziger Jahre. Globalisierung und verschärfter internationaler Wettbewerbsdruck, gepaart mit Massenarbeitslosigkeit und strukturellen Problemen des Standorts Deutschland stellten es zunehmend in Frage. In Wirtschaft und Politik begann eine Debatte um die Grundstrukturen des deutschen Tarifsystems, die bis heute andauert.
Kritikpunkte bildeten sich hauptsächlich drei heraus:
- Undifferenziertheit, erkennbar an einer bloßen Orientierung an Branchen und Regionen einerseits und einer weitgehende Gleichbehandlung von Arbeitnehmergruppen andererseits,
- Inflexibilität, die sich vor allem in der ungenügenden Anpassungsfähigkeit des Systems an veränderte Bedingungen zeigt und schließlich noch,
- die durch zu hohe Arbeitskosten bedingte Kostenintensivität des Systems.
Obwohl aus einigen Teilen der Wirtschaft und Politik Stimmen laut wurden, die aufgrund dieser Zustände eine vollständige Abschaffung dieses Tarifsystems zugunsten betrieblicher Regelungen fordern, blieb das jetzige System um den Verbandstarifvertrag (VTV) bis zum heutigen Tag prägende Ordnungsgröße deutscher Arbeitsbeziehungen. Unbestritten bleibt allerdings die mehrheitliche Meinung, dass die Tarifstruktur in Deutschland verkrustet sei und einer grundlegenden Reform bedarf. Professor Franz, Mitglied des
Sachverständigenrats unterstrich diese verbreitete Anschauung einst mit folgendem Zitat: „Der Flächentarifvertrag ist nicht überholt, aber er ist dringend überholungsbedürftig.“[1] Tatsache ist dabei aber auch, dass sich das Tarifsystem seit nunmehr rund fünfzehn Jahren in einem stetigen Wandelprozess befindet und sich den Reformerfordernissen zu stellen versucht.
Ziel dieser Arbeit soll es sein, dem Leser die Möglichkeiten einer Reform des deutschen Tarifvertragssystems nahezubringen, den gegenwärtigen Stand der Reformen darzulegen und durch Gegenüberstellung der Standpunkte der Tarifvertragsparteien mögliche Veränderungen zu diskutieren. Betrachtet werden dabei sowohl Einflüsse gesetzesgeberischer Maßnahmen auf das Tarifvertragsgesetz, als auch Mittel und Möglichkeiten der Tarifvertragsparteien selbst Reformen zu verwirklichen.
1.2 Vorgehensweise
Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist eine kurze Einführung in das Tarifvertragssystem Deutschlands. Nachdem der VTV abgrenzt und in dieses eingeordnet wurde, erfolgt eine kritische Darstellung seiner Vor- und Nachteile sowie empirische Belege für dessen Degeneration. Im anschließenden Hauptteil werden verschiedene Reformvorschläge angeführt und dazugehörige Arbeitnehmer- als auch Arbeitgeberpositionen kontrovers diskutiert. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Reformpunkt Öffnungsklauseln, das wohl in der Praxis am häufigsten diskutierte Reforminstrument. Zusätzlich zum üblichen Argumentationsstrang soll dieses Instrument daraufhin untersucht werden, wie sich sein Einsatz aus Kostensicht für das jeweilige Unternehmen auswirkt. Hintergrund dieser Betrachtung ist es, einige Denkanstöße zur Wahl der Regelungsebene für Arbeits- und Einkommensbedingungen zu geben. Als theoretische Grundlage hierfür soll die Transaktionskostentheorie dienen. Dem Hauptteil schließt sich ein kurzer Einblick in die Reformprozesse einer repräsentativen Beispielbranche an. Die Metall- und Elektroindustrie, als bedeutendste Branche der deutschen Industrie, scheint dafür mehr als geeignet. Um einen noch objektiveren Blick über die Reformen der Tarifpolitik zu bekommen, endet die Arbeit mit der Sichtweise der Betriebsräte zu den Reformen. Zweck dieser Vorgehensweise soll es sein, den Meinungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter noch einen dritten Standpunkt gegenüberzustellen, um so auf die betriebliche Sichtweise einzugehen.
1.3 Die Transaktionskostentheorie
Da in der Arbeit der transaktionskostentheoretische Ansatz verwendet wird, sollen in diesem Abschnitt die Grundlagen sowie zentrale Begriffe dieser Theorie umrissen werden.
Als Begründer der Transaktionskostentheorie gilt Coase, der erstmals 1937 diesen Begriff in die Ökonomie einführte.[2] Er behauptete, dass die Nutzung des Preismechanismus mit Kosten verbunden ist und die Unternehmung als eine effiziente Koordinationsform wirtschaftlicher Aktivitäten eine Alternative zum Markt darstellt.[3] Er ging der Frage nach, warum nicht alle Transaktionen über Märkte, sondern auch unternehmensintern abgewickelt und organisiert werden. Der Begriff Transaktion wird in der Literatur unterschiedlich definiert. Picot bezeichnet Transaktionen im Rahmen der Transaktionskostentheorie als eine Übertragung von Verfügungsrechten.[4] Verfügungsrechte „... sind die mit materiellen und immateriellen Gütern verbundenen, institutionell legitimitierten Handlungsrechte eines oder mehrerer Wirtschaftssubjekte.“[5].
Dieser Auffassung folgend sind die „... im Zusammenhang mit der Bestimmung, Übertragung und Durchsetzung von Verfügungsrechten entstehenden Kosten ...“[6] Transaktionskosten. Dazu gehören hauptsächlich „... Informations- und Kommunikationskosten, die bei der Anbahnung, Vereinbarung, Kontrolle und Anpassung wechselseitiger Leistungsbeziehungen auftreten.“[7].
Williamson, der wohl bekannteste Vertreter des Transaktionskostenansatzes, entwickelte diese Theorie weiter und stellte sie auf zwei Grundannahmen, die er miteinander verband.[8] Zum einen nimmt er an, dass Wirtschaftssubjekte nur begrenzt rational handeln. Zurückzuführen sei dies vor allem darauf, dass Individuen nur begrenzte kognitive Fähigkeiten besitzen, Informationen aus der Umwelt zu verarbeiten und zudem unvollständig mit diesen ausgestattet sind. Zum anderen unterstellt er den Wirtschaftssubjekten Opportunismus - also vorausschauendes Handeln - mit der Absicht, eigene Interessen auch zum Nachteil anderer zu realisieren und ggf. soziale Regeln zu missachten.
Neben diesen Verhaltensannahmen beschreibt die Transaktionskostentheorie verschiedene Erklärungsmerkmale von Transaktionen.[9] Faktorspezifität, mit Transaktionen verbundene Unsicherheit und Häufigkeit von Transaktionen sind dabei die Hauptgrößen. Das wohl wichtigste Beschreibungsmerkmal von Transaktionen ist die Faktorspezifität. Williamson definiert sie als eine „... dauerhafte, nicht triviale Investition zur Stützung von Transaktionen.“.[10] Sie gibt dabei das Ausmaß idiosynkratischer Investitionen, d. h. auf bestimmte Transaktionen spezialisierte Investitionen an, die bei der Organisation und Abwicklung einer Transaktion getätigt werden.[11] Verdeutlichen lässt sich dieser Begriff auch anhand von Quasi-Renten.[12] Eine Quasi-Rente ist die Differenz des Wertes eines Verfügungsrechts im Rahmen einer Transaktion und seines Wertes bei der nächstbesten Verwendungsmöglichkeit. Je größer dieser Betrag ist, desto größer ist die Faktorspezifität.
Unsicherheit von Transaktionen, als weiteres Beschreibungsmerkmal, muss man unterscheiden in parametrische Unsicherheit und Verhaltensunsicherheit.[13] Parametrische Unsicherheit liegt vor, wenn über situativen Bedingungen einer Transaktion und deren Entwicklung in der Zukunft Unsicherheit herrscht. Von Verhaltensunsicherheit spricht man, wenn Unsicherheit darüber herrscht, ob und wie ein Transaktionspartner seine Verpflichtungen erfüllt.
2 Das Tarifvertragssystem in Deutschland - Begriffserklärungen
2.1 Rechtsgrundlagen und Aufbau
Seit der Verankerung der Koalitionsfreiheit im April 1949 in das Grundgesetz (GG) werden Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen auf Betriebs- bzw. Branchenebene in Deutschland überwiegend kollektiv geregelt.[14] Die Koalitionsfreiheit gewährt dabei Arbeitgebern und Arbeitnehmern das Recht „... zur Wahrung und Förderung der Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden.“[15]. Durch die negative Koalitionsfreiheit darf hingegen niemand gezwungen werden, einer Vereinigung beizutreten.[16] Mit der verfassungs-rechtlichen Gewährung dieser Tarifautonomie im Art. 9 Abs. 3 GG können die Tarifvertragsparteien, welche maßgeblich die Tarifpolitik bestimmen, unabhängig staatlicher Einflussnahme, Arbeitsverhältnisse selbstständig vertraglich ausgestalten und bekommen dadurch vor dem Gesetz eine besonders hervorgehobene Stellung. Unter Tarifpolitik versteht man die Handhabung des Tarifvertragssystems durch die Tarifvertragsparteien.[17]
Die formalen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Tarifpolitik, die Anforderungen an Tarifvertragsparteien und Tarifverträge, werden durch das Tarifvertragsgesetz geregelt, wobei dessen Wirkungskreis sich nur auf Angehörige der Tarifvertragsparteien beschränkt.[18] Innerhalb dieses rechtlichen Rahmens haben die Tarifvertragsparteien weitgehende Handlungsfreiheit. Regelungen zu Inhalt und Ablauf von Tarifverhandlungen sind in diesem Rahmengesetz nicht enthalten.
Der Tarifvertrag, der zur Aushandlung von Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen in Deutschland der Vertrag mit der größten Bedeutung und dem weitesten Geltungsbereich ist, ist ein bürgerrechtlicher Vertrag zwischen tariffähigen Parteien.[19] Er bedarf grundsätz-
lich der Schriftform. Er umfaßt den schuldrechtlichen Teil, der Regelungen zu Rechten und Pflichten der Tarifvertragsparteien enthält. Dies sind u.a. die Friedenspflicht und die Durchführungspflicht.[20] Bei der Friedenspflicht dürfen die Tarifvertragsparteien den Tarifvertrag nicht während seiner Laufzeit mit Mitteln eines Arbeitskampfes abändern. Die Durchführungspflicht verpflichtet die Tarifvertragsparteien, den Tarifvertrag bestmöglich umzusetzen. Zusätzlich können die Tarifvertragsparteien weitere schuldrechtliche Verpflichtungen im Tarifvertrag vereinbaren. Der normative Teil regelt arbeitsrechtliche Normen wie „... Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ...“[21]. Die normativen Regelungen können von den Tarifvertragsparteien innerhalb der allgemeinen Rechtsordnung frei ausgehandelt werden.[22] Für jeden unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Tarifgebundenen gelten diese Regelungen unmittelbar und zwingend sowie für die gesamte Laufzeit des Tarifvertrags. Jeder abgeschlossene Tarifvertrag muss dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales bekannt gegeben werden und wird im Tarifregister eingetragen.
2.2 Die Tarifvertragsparteien
Das Tarifvertragsgesetz legt fest, dass auf Arbeitnehmerseite Gewerkschaften und deren Spitzenorganisationen, auf Arbeitgeberseite Arbeitgeberverbände oder einzelne Arbeitgeber die Tarifvertragsparteien bilden, wobei auf eine genaue Definition im Tarifvertragsgesetz verzichtet wurde.[23] Durch den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG ergibt sich aber eine genauere Beschreibung. Um tariffähig zu werden, müssen die Tarifvertragsparteien bestimmte Mindestanforderungen erfüllen. Dazu zählen eine Reihe von Kriterien. Tarifvertragsparteien müssen sich freiwillig zusammengeschlossen haben, auf Dauer angelegt sein, überbetrieblich organisiert sein, keine Angehörige der Gegenseite als Mitglieder haben, wirtschaftlich unabhängig sein, weisungsunabhängig sein, die verfassungsmäßige Ordnung Deutschlands anerkennen, den Abschluss von Tarifverträgen in ihre Satzung aufgenommen haben und letztendlich auch gegenüber ihrer Gegenseite, durchsetzungsfähig sein, d.h. die erforderlichen Finanzkraft und Mitgliederstärke aufweisen um wirksame Gegenmacht ausüben zu können.
Die Gewerkschaften als eine der Repräsentanten der Tarifvertragsparteien, sind Organisationen und Vereinigungen der Arbeitnehmer, die nach Industriezweigen, Berufen sowie nach politischen oder religiösen Richtungen gegliedert sind.[24] In Deutschland entwickelten sie sich seit Anfang der sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts.[25] Zu dieser Zeit vertraten sie die Arbeitnehmer zunächst innerhalb der einzelnen Berufe auf regionaler, betrieblicher Ebene. Bis in die heutige Zeit hinein schlossen sich diese Lokalverbände dann schrittweise zu Zentralverbänden zusammen. Der größte, heute existierende Zentralverband ist der Deutsche Gewerkschaftsbund, der ein Zusammenschluss von acht Einzelgewerkschaften ist.[26] Zu den wichtigsten Aufgabenbereichen einer Gewerkschaft zählen die Aushandlung und der Abschluss von Tarifverträgen, die Gewährung von Streikgeld aber auch Rechtsberatung und -vertretung. Hinzu kommt die Öffentlichkeitsarbeit, Interessenvertretung vor Institutionen wie Gerichten und Sozialversicherungen, und der Einfluss auf die Gesetzgebung, insbesondere in der Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik.[27]
Den Gegenpart zu Gewerkschaften bilden Arbeitgeber, die sich ebenso zu Verbänden zusammenschließen können.[28] Zwar sind auch einzelne Arbeitgeber zu Verhandlungen mit Gewerkschaften fähig, doch spielen tarif- und sozialpolitisch Arbeitgeberverbände die entscheidende Rolle in Deutschland. Zweck dieser Verbände ist es, gemeinsame arbeitsrechtliche und sozialpolitische Interessen wahrzunehmen.[29] Meist sind sie privatrechtliche Vereine. Die Organisationsstruktur dieser Verbände ist fachlich und regional untergliedert.[30] So gibt es neben Orts- und Bezirksfachverbänden auch Landesfachverbänden, überfachliche Landesverbänden und Fachspitzenverbände. Alle überfachlichen Landesverbände und Fachspitzenverbände gehören der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) an, die insgesamt über tausend Arbeitgeberverbände in sich vereint. Einzig der Arbeitgeberverband der Eisen- und Stahlindustrie sowie die öffentlichen Arbeitgeber sind nicht im BDA organisiert. Zu den wichtigsten Aufgabenbereichen der Arbeitgeberverbände gehört die Aushandlung und der Abschluss von Tarifverträgen, Vertretung ihrer Mitglieder vor Institutionen wie Gerichten, Einigungsstellen usw., Information ihrer Mitglieder über rechtliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklung und die Einwirkung auf die Gesetzgebung in verbandspolitischen Fragen sowie Öffentlichkeitsarbeit.
3 Das Problemfeld Verbandstarifvertrag
3.1 Einordnung in den Rahmen des Tarifvertragssystems
Aus juristischer Sicht unterscheidet das Tarifvertragsgesetz nur indirekt verschiedene Arten von Tarifverträgen, z. B. solche, die je nach Inhalt bestimmte rechtliche Folgen nach sich ziehen.[31] Aus geläufiger Sicht gibt es aber noch weitere Unterscheidungen, die es ermöglichen, Tarifverträge zu differenzieren. So ist eine Trennung nach Vertragsparteien oder Vertragsinhalt möglich.[32] Aus erster Trennungsoption ergibt sich der Firmen- und der Verbandstarifvertrag, wobei letztgenannter, in den Medien auch als Flächentarifvertrag bezeichnet, in Deutschland eine dominierende Rolle einnimmt. Charakterisiert ist er dadurch, dass bei Tarifverhandlungen auf Arbeitgeberseite immer ein Verband auftritt.[33] Er ist für die Lohnfindung in Deutschland typisch.[34] Dies ergibt sich hauptsächlich dadurch, dass Arbeitgeber im Verband ein viel stärkeres Gegengewicht zu den Gewerkschaften bilden können.
Nach bisher vorliegenden Daten von Ende 2003 existierten in Deutschland rund 59600 gültige Tarifverträge, von denen 33100 Verbandstarifverträge und 26500 Firmentarifverträge waren.[35] Die Zahl der Firmentarifverträge war dabei fast drei mal so hoch wie noch 1990. Insgesamt galten Tarifverträge für fast vierundachtzig Prozent aller abhängig Beschäftigten vollständig oder hauptsächlich.[36] In den westlichen Bundesländern gibt es mit Tarifverträgen in mehr als zweihundert Branchen eine sehr feine Untergliederung auf sektoraler Ebene.[37] Diese ausdifferenzierte Struktur ist im Osten Deutschlands auch als Folge der sich immer noch entwickelnden Tariflandschaft, nicht so ausgeprägt. Die Aufteilung aller abhängig Erwerbstätigen auf tariflich bzw. nicht tariflich organisierte Arbeitsplätze, sowie die Art der Tarifbindung, zeigen folgende Kreisdiagramme.
Tarifbindung in den Alten bzw. Neuen Bundesländer 2003
- Beschäftigte in Prozent -
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Tarifbindung
Quelle: entworfen nach DGB Bezirk Berlin-Brandenburg (2004)
3.2 Argumente für Verbandstarifverträge
Das kollektive aushandeln von Löhnen und Arbeitsbedingungen besitzt in Deutschland eine langjährige Tradition und gilt als prägender Faktor der Arbeitsbeziehungen. Die Gründe dafür sind vor allem in den rechtlichen Funktionen der VTV zu sehen. Zum einen entfaltet der VTV eine Schutzfunktion für die Arbeitnehmer. Ohne diese wäre der Arbeitgeber leichter in der Lage die Arbeitsbedingungen einseitig festzulegen.[38] So wird z. B. der Preis des Faktors Arbeit aus den Marktbeziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber herausgehalten, um die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber auszugleichen und Preiskonkurrenz zwischen Unternehmen zu entschärfen.[39] Die Ordnungsfunktion hingegen schafft ein einheitliches Arbeitsrecht im Geltungsbereich des VTV, wobei die Friedensfunktion die im Tarifvertrag geregelten Fragen während dessen Laufzeit vor Arbeitskämpfen schützt. Weiterhin lässt der VTV die Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Fortschritt sowie an der Aushandlung ihrer Arbeitsbedingungen teilhaben.[40]
Als wichtige ökonomische Funktion wird in der Literatur vielfach die Aufgabe der Transaktionskostensenkung angeführt.[41] Im Gegensatz zu Einzelarbeitsverträgen können durch die Standardisierung von Entgelten, Arbeitsbedingungen und Qualifikationen auf Verbandsebene Transaktionskosten, die durch zeit- und kostenintensive Verhandlungen der Beteiligten entstehen, eingespart werden. Eine Einsparung von Transaktionskosten findet auch durch die Verlagerung der Konflikte von der Unternehmens- auf die Verbandsebene statt.[42] Des Weiteren bietet ein VTV - gerade in einer zunehmend flexiblen und stark vernetzten Arbeitswelt - in Bezug auf die Arbeitsbeziehungen eine gewisse Sicherheit bei der Planung und nimmt Betrieben durch defizitäres Wissen auf rechtlicher Ebene erzeugte Unsicherheiten. Als weiterer Vorteil gilt die Internalisierung externer Effekte durch den VTV. So kann es passieren, dass bei der Aushandlung von Löhnen auf Betriebsebene ein im Vergleich zum Branchendurchschnitt unterdurchschnittlich abgeschlossener Tarifvertrag vereinbart wird, was wiederum Kunden und Lieferanten mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unternehmens signalisieren kann.[43] Durch kollektiv ausgehandelte Löhne sind derartige Schlussfolgerungen zur Unternehmenslage nicht möglich. Zentral geführte Verhandlungen lassen es zudem zu, makroökonomische Ziele viel eher zu realisieren als dezentral geführte. Hier werden nicht nur die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer, auch Insider genannt, sondern ebenfalls die anderer Wirtschaftsakteure wie Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Arbeitslose und Steuerzahler, Outsider genannt, berücksichtigt. So müssen zentral verhandelnde Parteien z. B. die Folgen überhöhter Lohnabschlüsse in Form von Arbeitslosigkeit viel eher mit in ihre Verhandlungen einkalkulieren, da sie für einen viel größeren Arbeitnehmerkreis die Verantwortung tragen.
Nicht zu vergessen sind schließlich noch ethische Ziele, die eine Befürwortung des VTV zulassen.[44] Die Lohnfindung im Verbandstarifsystem entspricht noch am ehesten dem Gerechtigkeitsprinzip des speziell von Gewerkschaften verfolgten Ziels, dass gleiche Arbeit mit gleichem Lohn abgegolten werden muss.
3.3 Verbandstarifverträge in der Kritik
Den zahlreichen Argumenten, die für eine zentrale Festlegung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sprechen, stehen einige schwerwiegende entgegen. Vielfach wird das Argument angeführt, dass VTV zu undifferenziert und unflexibel seien. Es fehle an einer stärkeren Differenzierung der Löhne und Arbeitsbedingungen nach Branchen, Regionen und Qualifikationen.[45] Aufgrund eines zunehmend verschärften Globalisierungswettbewerbs, eines immer schneller voranschreitenden technischen Fortschritts und einer zunehmenden Individualisierung scheint es, dass ein solch einheitliches Tarifsystem für alle Unternehmen einer Branche nicht mehr zeitgemäß ist.[46] Tatsächlich erlaubt eine Lohnfindung auf betrieblicher Ebene eher „... eine genaue und flexible Orientierung an der wirtschaftlichen Lage und Leistungsfähigkeit sowie an spezifischen Problemen der Unternehmen.“[47] Dies wird allerdings nur dann erreicht, wenn die Beschäftigten sich allein an der wirtschaftlichen Situation des eigenen Betriebes orientieren und nicht an Lohnabschlüssen anderer Unternehmen oder Pilotabschlüssen einer vergleichbaren Branchengewerkschaft.[48] Eine solche betriebsnahe Lösung ist vor allem in den Neuen Bundesländern nötig, da dort die Produktivitätsunterschiede zwischen den Betrieben viel höher sind als in den Alten Bundesländern.[49] Kritik zur mangelnden Differenzierung kommt auch von Seiten der Principal Agent Theorie.[50] Gewerkschaften verstehen sich gern als Informationsagenturen, die asymetrische Informationen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber abbauen sollen. Möschel hingegen sieht diese Funktion auch vom Markt erfüllt. So könnten z. B. bessere Bilanzierungsvorschriften dem Arbeitnehmer detailliertere Informationen zur betrieblichen Unternehmenslage geben. Auch bei der Arbeitszeit neigen Gewerkschaften hinsichtlich der Festlegung der Dauer eher zu einheitlichen Lösungen.[51] Lage und Verteilung sind dagegen in den letzten Jahren verstärkt Inhalt flexiblerer Regelungen geworden, so dass zumindest hier eine Anpassung an unterschiedliche Arbeitnehmerpräferenzen sowie an betriebliche Erfordernisse stattgefunden hat.
Ein weiteres Problem des Verbandstarifsystems wird in der durch übermäßig hohe Lohnabschlüsse verursachten Arbeitslosigkeit gesehen. So wird kritisiert, dass in den letzten Jahren Tariflöhne ausgehandelt wurden, die einen Abbau von Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht zuließen. So empfiehlt der Sachverständigenrat im aktuellen Jahresgutachten, dass sich Lohnabschlüsse nur dann beschäftigungsfreundlich auswirken, wenn die gesamtwirtschaftlichen Lohnsteigerungen die Höhe des um Entlassungseffekte bereinigten Produktivitätsfortschritts nicht übersteigen.[52] Zusätzlich sollte die Höhe des Produzentenpreisanstiegs in der Lohnsteigerungsrate nur teilweise berücksichtigt werden. Eine Untersuchung der Lohnentwicklung seit den siebziger Jahren in Deutschland gibt zu erkennen, dass die Entgelte der Arbeitnehmer in insgesamt vierzehn Jahren diesem Grundsatz des Sachverständigenrat nicht entsprachen.[53] In diesen Jahren mussten Unternehmen den nicht gedeckten Lohnkostenanstieg entweder über höhere Güterpreise ausgleichen oder Arbeitsplätze abbauen.
3.4 Die Abkehr vom Tarifvertrag
Den Kritikpunkten Rechnung tragend, haben sich in den letzten Jahren immer mehr Arbeitgeber aus dem Tarifsystem gelöst. Waren 1995 noch zweiundsiebzig Prozent aller Beschäftigten in Westdeutschland vom VTV erfasst, sind es dort heute gut zehn Prozent weniger.[54] Noch deutlicher sieht die Lage in Ostdeutschland aus, wo die Abnahme der Bindung im vergleichbarem Zeitraum mehr als zehn Prozent betrug. Nur noch dreiundvierzig Prozent der Beschäftigten sind dort an den VTV gebunden. Eine Untersuchung ergab, dass die Tarifdeckung mit der Unternehmensgröße positiv korreliert, also speziell kleine Unternehmen eine mindere Deckung aufweisen und wahrscheinlich häufiger aus dem VTV ausgetreten sind.[55] Festzustellen ist dabei, dass es den meisten Betrieben die ausgetreten sind, nicht darum ging, die Lohnhöhe abzusenken, sondern eher den Lohn flexibler auszugestalten.[56] Auch die Forderung nach flexibleren Arbeitszeiten und den damit verbundenen Arbeitskosteneinsparungen durch Variablisierung der Verteilung und Lage der Wochenarbeitszeit begründete in großem Maße den Wunsch nach Verbandsaustritt. Um den heutigen Flexibilisierungserfordernissen nachkommen zu können, gibt es neben dem Austritt aus dem Arbeitgeberverband noch andere Möglichkeiten Anpassungen vorzunehmen. Obwohl verlässliche Zahlen nicht vorliegen, kann man davon ausgehen, dass einige tarifgebundene Unternehmen sich nicht an die Vorgaben von Tarifverträgen halten und Tarifbrüche begehen, indem sie „... unter der Hand durch Absprache mit Arbeitnehmern oder Betriebsräten eine modifizierende Lösung suchen.“[57]
Dabei gibt es für die Tarifvertragsparteien noch andere Alternativen als diese „wilde Dezentralisierung“.[58] Zu nennen sind an dieser Stelle tarifvertragliche Öffnungs- bzw. Härtefallklauseln, die in den letzten Jahren zunehmend zu einer Verbetrieblichung der Tarifpolitik führten, also zu einer Verlagerung der Verhandlung über und Arbeits- und Einkom-
mensbedingungen von der Verbands- auf die Betriebsebene. Folgender Abschnitt beschäftigt sich mit diesem Thema näher. Die nächste Abbildung verdeutlicht noch einmal die stetig wachsend ablehnende Haltung der Unternehmen zum VTV durch eine Veranschaulichung seiner Bindungswirkung im Zeitablauf.
Bindung der Beschäftigten an den VTV
- vom VTV erfassten Beschäftigten in Prozent in den Jahren 1996 bis 2003 -
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Verbandstarifvertragsbindung der Beschäftigten
Quelle: entworfen nach IAB (2003)
Nicht nur die Arbeitgeberseite ist vom abnehmenden Organisationsgrad betroffen, sondern auch die Gewerkschaften. Diese verzeichnen seit Anfang der neunziger Jahre einen stetigen Rückgang der Mitgliederzahlen. So ist heute nur noch ca. jeder vierte abhängig Erwerbstätige gewerkschaftlich organisiert.[59] Ursachen gibt es auch hier verschiedene: Individualität, das Gefühl sich nicht mit der Struktur und den Programmen der Gewerkschaften zu identifizieren und letztlich auch der Gewerkschaftsbeitrag, der von vielen als unnötige Ausgabe empfunden wird, sind nur einige Gründe dieses Mitgliederschwunds.[60]
4 Reformgedanken und Lösungsansätze der Tarifvertragsparteien
4.1 Öffnungsklauseln
4.1.1 Tarifvertragliche Öffnungsklauseln
Eine Strategie den heutigen Flexibilisierungserfordernissen gerecht zu werden und möglicherweise einer weiteren Erosion des VTV entgegenzuwirken, bietet die tarifvertragliche Öffnungsklausel. Diese erlaubt es, dass von den Regelungen im Tarifvertrag durch ergänzende Betriebsvereinbarungen oder Bestimmungen im Einzelarbeitsvertrag abgewichen werden kann.[61] Die Betriebe können damit ihre betriebspezifischen Probleme direkt vor Ort lösen, indem der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat oder dem einzelnen Arbeitnehmer Abmachungen trifft, deren Regelungsfragen sonst dem Tarifvorbehalt unterliegen.[62] Eine gesetzliche Grundlage findet dieses Flexibilisierungsinstrument im Tarifvertragsgesetz sowie im Betriebsverfassungsgesetz.[63] Der Gesetzeswortlaut des Tarifvertragsgesetz besagt: „Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten.“[64] Ob überhaupt Öffnungsklauseln in Tarifverträge implementiert werden, können nur die Tarifvertragsparteien entscheiden. Die Abmachungen bedürfen grundsätzlich der Schriftform.[65]
Der Regelungsbereich einer Öffnungsklausel kann sich auf tarifliche Rahmenbedingungen wie z. B. die Ausgestaltung der Arbeitszeit oder auf Abweichungen von Mindeststandards z. B. des Lohns beziehen.[66] Unterschieden werden können Öffnungsklauseln aber auch nach dem Umfang der Verhandlungskompetenz. Bei echten Öffnungsklauseln wird
die Verhandlungs- und Entscheidungskompetenz über den Inhalt, Umfang und die Bedingungen der Abweichung vom Tarifvertrag vollständig auf den Betriebsrat übertragen.[67]
Auch durch die Tarifvertragsparteien selbst kann eine Öffnungsklausel im Tarifvertrag ausgestaltet werden. Die betrieblichen Akteure haben dann nur noch den Entscheidungsspielraum, ob sie von der Möglichkeit einer Öffnung Gebrauch machen oder nicht. Weitere Arten von Öffnungsklauseln sind Härtefall- und Kleinbetriebsklauseln. Härtefallklauseln erlauben es dem Arbeitgeber oder Betriebsrat „... in begründeten Härtefällen, das heißt zur Abwendung einer drohenden Insolvenzgefahr, zur Sicherung von Arbeitsplätzen oder zur Verbesserung der Sanierungschancen ... eine tarifliche Sonderregelung ...“ zu beantragen.[68] Für Unternehmen mit bis zu zwanzig Mitarbeitern sind Kleinbetriebsklauseln vorgesehen. Im Rahmen von Korridoren können sie Löhne und Arbeitszeiten an den Bedürfnissen des Betriebes ausrichten.[69] Über Einstiegstarife, die vor allem für Langzeitarbeitslose angedacht sind, kann z. B. das Entgelt variabel ausgestaltet werden. Hier liegt das Einstiegsgehalt bis zu einem Zehntel unter dem Tariflohn.[70]
Inhaltlich hat es in den letzten zwanzig Jahren einen stetigen Wandelprozess bei Öffnungsklauseln gegeben. Klassischer Schwerpunkt der Flexibilisierung von Tarifverträgen war und ist die Arbeitszeit. 1984 gab es mit der Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit in der Metallindustrie erste Flexibilisierungstendenzen im Bereich Arbeitszeit.[71] Später wurden Lage und Verteilung der Arbeitszeit zunehmend flexibilisiert. Eine zweite Öffnungswelle kam Mitte der 90er Jahre in den Neuen Bundesländern auf, in der es vor allem um tarifliche Löhne und Gehälter ging.[72] Aufgrund der damals schlechten Konjunkturentwicklung gerieten zunehmend Einkommen in die Debatte von Flexibilisierungsmaßnahmen. Vorreiter war auch hier die Metallindustrie. 1993 wurde vereinbart, dass Betriebe in schwieriger ökonomischer Lage Härtefallklauseln im Lohnbereich anwenden durften.[73] Waren zuerst nur zusätzliche Vergütungsbestandteile wie z. B. Urlaubsgeld von den Flexibilisierungsmaßnahmen betroffen, folgten in späteren Jahren auch Einschnitte bei Monatsentgelten.[74] In der schließlich letzten Etappe der Entwicklung von Öffnungsklauseln wurden wiederum Teile des Entgelts Diskussion von Anpassungsdebatten. Einkommensbestandteile, vorwiegend Jahressonderzahlungen, wurden in bestimmten Branchen z. B. bei privaten Banken an die Ertragslage des jeweiligen Unternehmens gekoppelt, so dass das Entgelt auch hier in einer bestimmten Spanne zeitlich unbefristet nach oben oder unten schwanken konnte. An der derzeitigen Verbreitung von Öffnungsklauseln lässt sich erkennen, dass fünfunddreißig Prozent der Betriebe und zweiundzwanzig Prozent der Dienststellen tarifvertragliche Öffnungsklauseln nutzen.[75] Festzustellen ist dabei, dass insbesondere die Arbeitszeitpolitik Inhalt von Öffnungsklauseln ist und entgeltbezogene Fragen im Gegensatz dazu noch immer unterrepräsentiert sind.[76]
4.1.2 Gesetzliche Öffnungsklauseln
Kritiker unzureichender Flexibilität bringen vielfach das Argument hervor, dass tarifvertragliche Öffnungsklauseln in der Praxis noch ungenügend genutzt werden. Sie fordern deshalb zur weiteren Flexibilisierung von VTV die Einführung von gesetzlichen Öffnungsklauseln.[77] Ihre Reformbemühungen zielen auf das Betriebsverfassungsgesetz ab, das dem Tarifvertrag absoluten Vorrang vor einer Betriebsvereinbarung einräumt und jede sich mit dem Tarifvertrag überschneidende Betriebsvereinbarung verbietet.[78] Auch den Arbeitnehmer günstiger stellende Betriebsvereinbarungen sind davon betroffen. Dieser Tarifvorrang soll aufgehoben werden. Damit wäre der Weg für die Betriebspartner (Arbeitgeber und Betriebsrat) frei, Regelungen auch abseits und entgegen den tarifvertraglichen Vereinbarungen zu treffen.[79]
Unterscheiden muss man zwischen allgemein gesetzlichen und beschränkt gesetzlichen Öffnungsklauseln. Generell von tariflichen Regelungen abweichen lässt sich durch allgemein gesetzliche Öffnungsklauseln, wo hingegen eine beschränkt gesetzliche Öffnungsklausel eine Abweichung durch Betriebsvereinbarung nur in bestimmten durch das Gesetz beschriebenen Fällen zulässig macht. Kommt es zur Einführung allgemein gesetzlicher Öffnungsklauseln, würde dies eine beachtliche Dezentralisierung in der Tarifpolitik bedeuten. Nach gegenwärtigen Stand der Rechtssprechung ist diese Form der Dezentralisierung völkerrechtlich nicht gangbar und auch mit dem GG unvereinbar. Die Bundesregierung hält sich in bezug auf Gesetzesänderungen, trotz Mahnungen an die Tarifvertragsparteien zu mehr Flexibilität, derzeit aber noch zurück.[80]
4.1.3 Der Standpunkt der Gewerkschaften
Die langanhaltenden Diskussionen über die Starrheit des Tarifvertragssystems und der immer noch andauernde Trend zur Flexibilisierung haben bei den Gewerkschaften einen Wandel ausgelöst. Bis vor wenigen Jahren ging es für sie noch darum, ob sich auf eine Verbetrieblichung der Tarifpolitik überhaupt eingelassen werden solle. Jetzt wird vielfach nur noch über die Strategie der Dezentralisierung diskutiert. Die einen versuchen ein zuviel an Flexibilisierung zu verhindern, andere haben bereits zusammen mit den Arbeitgebern vielfältig Öffnungsklauseln in Tarifverträge integriert, in der Hoffnung damit den VTV zu stabilisieren. So z. B. die Industriegewerkschaft Bergbau Chemie und Energie in der chemischen Industrie.[81] Die Mehrheit der Gewerkschaften befürchten aber, dass ein zu großes Ausmaß an Öffnung den Einfluss und die Gestaltungskraft von Tarifverträgen einengen und die Tarifautonomie dadurch ausgehöhlt wird.[82] So argumentieren sie, dass es in der deutschen Wirtschaft bereits genügend Flexibilisierungsmöglichkeiten gibt.[83] Sie stützen sich dabei auf den unter Punkt 4.1.1 aufgeführten Verbreitungsgrad tarifvertraglicher Öffnungsklauseln. Besonders im Bereich Arbeitszeit sei bereits viel für eine Flexibilisierung von VTV getan worden.
Eine gänzliche Verlagerung der Regelungsbefugnis auf Betriebsebene und der damit verbundenen vollständigen Öffnung von Tarifverträgen lehnen Gewerkschaften grundsätzlich ab.[84] Noch ablehnender werden von ihnen Öffnungsklauseln angesehen, die gesetzlich verankert werden sollen. Die Arbeitnehmervertreter sehen dies als ein „... Angriff auf die im GG festgelegte Tarifautonomie.“.[85] Eher bevorzugen Gewerkschaften noch die Lösung, dass Unternehmen Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Bausteinen der Öffnung haben. So können sich Unternehmen bereits abgeschlossene Tarifregelungen betriebsindividuell zusammenstellen.[86] Ein anderes Instrument akzeptieren Gewerkschaften in Ergänzungstarifverträgen. Dies sind Vereinbarungen, die unternehmensspezifische Lösungen enthalten und zusätzlich zum geltenden VTV abgeschlossen werden können.[87] Ein Beispiel dafür ist der Ergänzungstarifvertrag, der im Juni 2004 bei Siemens abgeschlossen wurde.[88]
[...]
[1] Franz zitiert in Stumpfe (1998), S. 289.
[2] Vgl. Picot, Dietl (1990), S. 178.
[3] Vgl. folgend Coase (1937), S. 388-389.
[4] Vgl. Picot, Dietl (1990), S. 178.
[5] Picot, Dietl (1990), S. 178.
[6] Tietzel (1981) S. 211 zitiert in Picot, Dietl (1990), S. 178.
[7] Picot (1982), S. 270.
[8] Vgl. folgend Williamson (1996), S. 6.
[9] Vgl. Williamson (1996), S. 13-17.
[10] Williamson (1985), S. 53 zitiert in Kabst (2004), S. 46-47.
[11] Vgl. Williamson (1979), S. 239-240.
[12] Vgl. folgend Picot, Dietl (1990), S. 179.
[13] Vgl. folgend Kieser, Walgenbach (2003), S. 53.
[14] Vgl. Wiedemann (1999), S. 78-79 sowie Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 3709.
[15] Art. 9 Abs. 3 GG.
[16] Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 2152.
[17] Vgl. Schleusener (1998), S. 168.
[18] Vgl. folgend Schnabel (2000), S. 9.
[19] Vgl. folgend Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 3713 und Schnabel (2000), S. 29.
[20] Vgl. folgend Schwamborn (o.J.).
[21] § 1 Abs. 1 TVG.
[22] Vgl. folgend Schnabel (2000), S. 31 und 36.
[23] Vgl. folgend Schnabel (2000), S. 9-11.
[24] Sinngemäß aus Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 1587.
[25] Vgl. folgend Koopmann (2000), S. 26-31.
[26] Vgl. DGB (o.J. a) in www.dgb.de.
[27] Vgl. Schnabel (2000), S. 13.
[28] Vgl. folgend Schnabel (2000), S. 21-27.
[29] Vgl. folgend Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 182.
[30] Vgl. folgend Schnabel (2000), S. 21-27.
[31] Vgl. Wiedemann (1999), S. 335.
[32] Vgl. Däubler (1993), S. 55.
[33] Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 4006.
[34] In Anlehnung an Konzen (1996), S. 31.
[35] Zahlen folgend übernommen aus Clasen (2004), S. 20.
[36] Vgl. Clasen (2004), S. 20.
[37] Hans-Böckler-Stiftung (o.J. a) in www.boeckler.de.
[38] Vgl. folgend Schnabel (2000), S. 29-30 und Schnabel (2001), S. 257-258.
[39] Vgl. folgend Bispinck (2003 a) in www.fr-aktuell.de.
[40] Vgl. Lesch (2004 a), S. 25.
[41] Vgl. folgend Wagner (1999), S. 144 sowie Schnabel (2001), S. 258.
[42] Weitergehende Untersuchungen im Kapitel 4.1.5.
[43] Vgl. folgend Franz (1996), S. 34.
[44] Vgl. folgend Wagner (1999), S. 144.
[45] Vgl. Schnabel (2004 a), S. 34.
[46] Vgl. Stumpfe (1998), S. 290.
[47] Schnabel (2004 b), S. 12.
[48] Vgl. Schnabel (2004 b), S. 12.
[49] Vgl. Mummert, Wohlgemuth (1998), S. 31.
[50] Vgl. folgend Möschel (1996), S. 18.
[51] Vgl. folgend Seitel (1995), S. 179.
[52] sinngemäß übernommen aus Sachverständigenrat (2004/2005), S. 501.
[53] Vgl. folgend Lesch (2004 b), S. 4.
[54] Daten übernommen aus IAB (2003) in www.iab.de.
[55] Vgl. Bispinck, Schulten (2003), S. 158 und Lehmann (2002), S. 304.
[56] Vgl. folgend Lehmann (2002), S. 304.
[57] Vgl. Bahnmüller (2002), S. 405 und Zitat Buchner (1996), S. 4.
[58] Schnabel (2003), S. 159.
[59] Daten übernommen aus Gesis (2002) in www.gesis.org.
[60] Vgl. Blanke (1995), S. 24 sowie Buchner (1996), S. 4.
[61] Vgl. Hans-Böckler-Stiftung (o.J. b) in www.boeckler.de.
[62] Vgl. Lehmann (2002), S. 308 und Ackermann, Kammüller (1999), S. XI..
[63] Vgl. §§ 4 Abs. 3 TVG und 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG.
[64] § 4 Abs. 3 TVG.
[65] Weiterführendes zur rechtlichen Einordnung in Lohs (1996), S. 134-137.
[66] Vgl. Hans-Böckler-Stiftung (o.J. b) in www.boeckler.de.
[67] Vgl. Iwd (1997), S. 8 und Lehmann (2002), S. 308-309.
[68] Schnabel (2000), S. 102; zur Problematik des Notfallbegriffs Römer (1994) S. 144-156.
[69] Vgl. Henssler (1994), S. 503.
[70] Vgl. Iwd (2003).
[71] In Anlehnung an Oechsler (1995), S. 25 und Schnabel (1998), S. 84.
[72] Vgl. Bispinck (2004), S. 238.
[73] Vgl. Sontowski (1997), S. 193 ff..
[74] Vgl. folgend Bispinck (2004), S. 238.
[75] Vgl. Bispinck (2003 b), S. 6 in www.boeckler.de.
[76] Vgl. Bispinck, Schulten (2003), S. 160.
[77] So z. B. Monopolkommission (1994), Rdnr. 936 ff.
[78] Sinngemäß in § 77 Abs. 3 BetrVG.
[79] Vgl. folgend Schleusener (1998), S. 155.
[80] Vgl. Hans-Böckler-Stiftung (2003) in www.boeckler.de.
[81] Vgl. Bispinck (2003 c), S. 399.
[82] Vgl. u.a. IG Metall (o.J. a) in www.igmetall.de und DGB (2004 a), S. 28 in www.dgb.de .
[83] Vgl. DGB (2004 a), S. 28 in www.dgb.de.
[84] Vgl. folgend Forschungsinstitut für Ordnungspolitik (1998), S. 1 in www.fio-koeln.de.
[85] o.V. (2003 a), S. 3.
[86] Folgend in Anlehnung an Stumpfe (1998), S. 290.
[87] Vgl. Hans-Böckler-Stiftung (o.J. b) in www.boeckler.de.
[88] Weiterführendes in Lesch (2004 a), S. 29.
- Quote paper
- Uwe Wiedenhöft (Author), 2005, Die Reform der Tarifpolitik in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44741
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