In der Arbeit werde ich zunächst den Personenkreis, auf den ich mich beziehe, näher eingrenzen (Kapitel 2). Dazu werde ich sowohl auf den Begriff der „geistigen Behinderung“ eingehen, als auch Besonderheiten des Erwachsenseins und Erwachsenwerdens von Menschen mit „geistiger Behinderung“ aufzeigen.
Im Anschluss daran werde ich die theoretischen Grundlagen von politischer Bildung klären (Kapitel 3.1). Aufgaben und Ziele politischer Bildung werden dargestellt und Besonderheiten von politischem Unterricht aufgezeigt. Danach werde ich kurz die aktuelle Situation von politischer Bildung für Menschen mit „geistiger Behinderung“ darstellen (Kapitel 3.2).
Im vierten Kapitel werde ich versuchen, auf Grundlage der vorangegangenen Kapitel und unter Einbeziehung der - aus der Religionspädagogik stammenden - Idee der Elementarisierung ein Konzept für die politische Bildung von Menschen mit „geistiger Behinderung“ zu erstellen. Dies soll am Beispiel des Themas „Bundestagswahl“ geschehen.
Die vorliegende Arbeit ist eine Literaturarbeit. Die vorhandene Literatur zu den Themen „politische Bildung“, „geistige Behinderung“, „Erwachsensein“ und „Erwachsenenbildung“ soll dargestellt und untersucht werden. Soweit dies möglich ist, werde ich nur Literatur verwenden, die jünger als 20 Jahre ist, da sich in dieser Zeit sowohl in der Heil- und Sonderpädagogik als auch in der Politikdidaktik vieles verändert hat. Zu den Punkten, zu denen ich keine Literatur finden kann, werde ich versuchen, Informationen bei verschiedenen Institutionen einzuholen. Eine umfangreiche, repräsentative Studie werde ich aber nicht durchführen, da der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der theoretischen Erarbeitung eines didaktischen Konzeptes liegen soll, nicht auf einer umfangreichen Darstellung der aktuellen Situation.
Da zum einen die nächste Bundestagswahl erst im Jahr 2006 stattfindet und zum anderen der zeitliche Rahmen für diese Arbeit begrenzt ist, werde ich darauf verzichten, dass Konzept in der Praxis zu erproben.
Ich möchte an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass ich aus Gründen der besseren Lesbarkeit bei Personengruppen darauf verzichten werde, ebenfalls die feminine Form zu nennen. Es sind immer beide Geschlechter gemeint, soweit es nicht ausdrücklich anders angegeben ist!
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Begründung der Themenwahl und Zielsetzung der Arbeit
1.2 Aufbau und Methode der Arbeit
2 Zum Personenkreis „junge Erwachsene mit geistiger Behinderung“
2.1 Zum Menschenbild und zum Begriff der „geistigen Behinderung“
2.2 Erwachsenwerden / Erwachsensein von Menschen mit „geistiger Behinderung“
2.2.1 Allgemeines Begriffsverständnis
2.2.2 Erwachsenwerden im Kontext „geistiger Behinderung“
2.2.3 Kriterien für das Erwachsenwerden nach Wohlhüter
3 Politische Bildung
3.1 Politikbegriff
3.1.1 Die Dimensionen des Politischen
3.1.2 Der Politikzyklus
Exkurs: Beutelsbacher Konsens
3.2 Politische Bildung im Unterricht
3.3 Politische Bildung von Menschen mit „geistiger Behinderung“
4 Elementarisierung
4.1 Elementarisierung als politikdidaktische Aufgabe
4.2 Entwicklung des Elementarisierungsgedankens in der Allgemeinen Didaktik
4.3 Elementarisierung als Modell für die Planung von Unterricht
4.3.1 Elementare Strukturen
Exkurs: Bezugswissenschaften in der politischen Bildung
4.3.2 Elementare Wahrheiten
4.3.3 Elementare Erfahrungen
4.3.4 Elementare Zugänge
4.3.5 Suche nach geeigneten Lernformen
4.4 „Bundestagswahl! Wir machen mit!“ – Darstellung eines Konzeptes für die Vorbereitung auf die Bundestagswahl
4.4.1 Phase 1: Einstieg
4.4.2 Phase 2: Grundkenntnisse
4.4.3 Phase 3: Erarbeitung
4.4.4 Phase 4: Abstraktion
5 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anhang
„Die Würde des Menschen
ist seine Wahl!“
(Max Frisch)
„Alles Denken ist jedoch Forschung,
alle Forschung ist eigene Leistung dessen,
der sie durchführt, selbst wenn das, wonach er sucht, bereits der ganzen übrigen Welt restlos und zweifelsfrei bekannt ist.“
(John Dewey)
1 Einleitung
1.1 Begründung der Themenwahl und Zielsetzung der Arbeit
Seit etwa einem Jahr arbeite ich regelmäßig in einer Werkstufenklasse einer Schule für Geistigbehinderte (SfGB) in Köln. Die Schüler dieser Klasse befinden sich gerade auf dem schwierigen Weg erwachsen zu werden. Die Beobachtungen, die ich bei diesen Schülern machte, weckten in mir den Wunsch, mich intensiver mit dem Erwachsenwerden von Menschen mit „geistiger Behinderung“ zu befassen. In meinem bisherigen Studium habe ich mich viel mit den Themen Integration / Inklusion und den Möglichkeiten politischer Teilhabe von Menschen mit „geistiger Behinderung“ beschäftigt. Aus den Erfahrungen, die ich während meiner Arbeit in der Schule und im Studium gesammelt habe, heraus entwickelte sich der Wunsch, mehr über politische Bildung dieses Personenkreises zu erfahren.
Da ich in der Arbeit nicht alle Aspekte politischer Bildung berücksichtigen kann habe ich mich dafür entschieden, die Vorbereitung von jungen Erwachsenen mit „geistiger Behinderung“ auf die Bundestagswahl in den Mittelpunkt zu stellen. Daraus ergaben sich einige Arbeitsfragen, die ich in der Arbeit zu beantworten versuche:
- Ist politische Bildung mit Menschen mit „geistiger Behinderung“ notwendig?
- Welchen Anforderungen aus politikdidaktischer Sicht muss ein didaktisches Konzept für politische Bildung genügen?
- Welchen Anforderungen in Bezug auf den Personenkreis muss ein didaktisches Konzept für politische Bildung genügen?
- Gibt es bereits Konzepte zur politischen Bildung von Menschen mit „geistiger Behinderung“ bzw. zur Vorbereitung dieser auf die Bundestagswahl?
- Wie können Menschen mit „geistiger Behinderung“ auf die Bundestagswahl vorbereitet werden?
Ziel der Arbeit ist die Erstellung eines Konzeptes für die Vorbereitung junger Erwachsener mit „geistiger Behinderung“ auf die Bundestagswahl.
1.2 Aufbau und Methode der Arbeit
In der Arbeit werde ich zunächst den Personenkreis, auf den ich mich beziehe, näher eingrenzen (Kapitel 2). Dazu werde ich sowohl auf den Begriff der „geistigen Behinderung“ eingehen, als auch Besonderheiten des Erwachsenseins und Erwachsenwerdens von Menschen mit „geistiger Behinderung“ aufzeigen.
Im Anschluss daran werde ich die theoretischen Grundlagen von politischer Bildung klären (Kapitel 3.1). Aufgaben und Ziele politischer Bildung werden dargestellt und Besonderheiten von politischem Unterricht aufgezeigt. Danach werde ich kurz die aktuelle Situation von politischer Bildung für Menschen mit „geistiger Behinderung“ darstellen (Kapitel 3.2).
Im vierten Kapitel werde ich versuchen, auf Grundlage der vorangegangenen Kapitel und unter Einbeziehung der – aus der Religionspädagogik stammenden – Idee der Elementarisierung ein Konzept für die politische Bildung von Menschen mit „geistiger Behinderung“ zu erstellen. Dies soll am Beispiel des Themas „Bundestagswahl“ geschehen.
Die vorliegende Arbeit ist eine Literaturarbeit. Die vorhandene Literatur zu den Themen „politische Bildung“, „geistige Behinderung“, „Erwachsensein“ und „Erwachsenenbildung“ soll dargestellt und untersucht werden. Soweit dies möglich ist, werde ich nur Literatur verwenden, die jünger als 20 Jahre ist, da sich in dieser Zeit sowohl in der Heil- und Sonderpädagogik als auch in der Politikdidaktik vieles verändert hat. Zu den Punkten, zu denen ich keine Literatur finden kann, werde ich versuchen, Informationen bei verschiedenen Institutionen einzuholen. Eine umfangreiche, repräsentative Studie werde ich aber nicht durchführen, da der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der theoretischen Erarbeitung eines didaktischen Konzeptes liegen soll, nicht auf einer umfangreichen Darstellung der aktuellen Situation.
Da zum einen die nächste Bundestagswahl erst im Jahr 2006 stattfindet und zum anderen der zeitliche Rahmen für diese Arbeit begrenzt ist, werde ich darauf verzichten, dass Konzept in der Praxis zu erproben.
Ich möchte an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass ich aus Gründen der besseren Lesbarkeit bei Personengruppen darauf verzichten werde, ebenfalls die feminine Form zu nennen. Es sind immer beide Geschlechter gemeint, soweit es nicht ausdrücklich anders angegeben ist!
„Before we ask
»What can we do?«
we have to ask
»How should we think?«“
(Joseph Beuys)
2 Zum Personenkreis „junge Erwachsene mit geistiger Behinderung“
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Erstellung eines Konzeptes für die politische Bildung von jungen Erwachsenen mit „geistiger Behinderung“. Damit die eventuellen Besonderheiten des Lehrens und Lernens dieser Menschen berücksichtigt werden können, ist es notwendig, den Personenkreis näher zu beschreiben. Dazu wird sowohl der Begriff der „geistigen Behinderung“ erläutert als auch die Besonderheiten des Erwachsenwerdens und Erwachsenseins junger Menschen mit „geistiger Behinderung“ herausgestellt.
2.1 Zum Menschenbild und zum Begriff der „geistigen Behinderung“
Um Aussagen über spezielle pädagogische Maßnahmen für Menschen mit einer „geistigen Behinderung“ machen zu können, muss zunächst einmal geklärt werden, was unter dem Begriff der „geistigen Behinderung“ zu verstehen ist.
Auf Grund der individuellen Erscheinungsbilder von „geistiger Behinderung“ und der subjektiven Sichtweise der jeweils definierenden Person ist eine allgemeingültige Bestimmung des Begriffs schwierig. Den Menschen mit „geistiger Behinderung“ gibt es nicht, das Ergebnis von Definitionsversuchen wäre daher zu allgemein und würde die vielen Aspekte des Phänomens „geistige Behinderung“ nicht berücksichtigen können. Hinzu kommt, dass – abhängig von der Bezugswissenschaft, vor deren Hintergrund eine Begriffsbestimmung versucht wird – andere Aspekte im Vordergrund stehen.[1]
Die medizinisch-biologische Betrachtungsweise definiert „geistige Behinderung“ als Folge einer Schädigung des Zentralnervensystems, vor allem des Gehirns.[2]
Die beiden Kinder- und Jugendpsychiater Steinhausen und Neuhäuser stellen in ihrem Buch „Geistige Behinderung“ (1990) klar, dass „geistige Behinderung“ nicht als Krankheit angesehen werden kann, sondern ausschließlich eine Bezeichnung für ein sehr komplexes Phänomen ist. Dennoch bleibt die medizinisch-biologische Sicht defizitorientiert, „geistige Behinderung“ gilt als konstanter, quasi unheilbarer, Defekt, „als Zustand und Eigenschaft“[3] des Menschen.[4]
Während die Medizin versucht die Ursachen bzw. die Entstehungsgeschichte einer „geistigen Behinderung“ zu klären, besteht die Aufgabe der psychologischen Diagnostik darin, die Auswirkungen, die eine organische Schädigung auf die Entwicklung hat, aufzuzeigen. Meist wird „geistige Behinderung“ aus psychologischer Sicht als permanenter Zustand definiert, der durch eine Intelligenzminderung bedingt wird.
Dabei wird „die statistische Norm zum Maßstab für Klassifizierung, Behinderungszuschreibung und Aussonderung“[5]. Die sogenannte Intelligenzleistung, die ein Mensch in einer Testsituation zeigt, wird mit der erwarteten Altersnorm verglichen. Bleibt ein Mensch deutlich hinter den Leistungen seiner Altersgenossen zurück, gilt er als „geistig behindert“. Die Einteilung der Grenzwerte, die einem Menschen das Attribut „geistige Behinderung“ zuschreiben, schwanken von Autor zu Autor stark, wurden scheinbar willkürlich gesetzt. Darüber hinaus sind die meisten Intelligenztests für Menschen mit einer schweren Behinderung untauglich, da sie meist einen hohen Anteil an verbalen oder feinmotorisch anspruchsvollen Aufgaben enthalten. Dennoch werden sie auch heute noch – als Ergänzung zu Verhaltensbeobachtungen – eingesetzt, wenn es darum geht, den eventuell vorliegenden sonderpädagogischen Förderbedarf einer Person festzustellen.[6]
Während die medizinisch-biologischen und die entwicklungspsychologischen Definitionsversuche vor allem einen zu Grunde liegenden Defekt hervorheben, sind die Ansätze der Soziologie und der Pädagogik entwicklungsorientiert. Beide Wissenschaften sehen „geistige Behinderung“ als Phänomen an, das durch Entwicklungsprozesse und erzieherische Einflüsse veränderbar ist.[7]
Aus den Erkenntnissen der Deprivationsforschung ist bekannt, dass für die Entstehung einer „geistigen Behinderung“ auch soziokulturelle und sozioökonomische Faktoren mitverantwortlich sein können. So hat sich gezeigt, dass das Verhalten von Menschen mit „geistiger Behinderung“ stark vom persönlichen Lebensumfeld abhängig ist. Eine soziale oder sensorische Deprivation oder eine sozial anregungsarme Umwelt wirken sich hemmend auf die Entwicklung eines Kindes aus, unabhängig davon, ob eine Beeinträchtigung der Motorik, Kognition, Sprache oder eines anderen Bereiches, vorliegt.[8]
„Die Umweltfaktoren prägen das Leben eines jeden Menschen und machen erst gemeinsam mit den individuellen Schädigungen und Beeinträchtigungen die geistige Behinderung aus“[9].
In pädagogisch geprägten Definitionen wird das Individuum mit seinem spezifischen Erziehungsbedarf in den Vordergrund gestellt. Dabei wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch Erziehung benötigt und dass jeder Mensch über individuell unterschiedliche Lernmöglichkeiten und Lernbedürfnisse verfügt. Erziehung – als „Hilfe zur Lebensverwirklichung“[10] – muss sich demnach in jedem Fall sowohl an den individuellen Erziehungsbedürfnissen des Kindes als auch den gesellschaftlichen Erwartungen orientieren. Kinder mit „geistiger Behinderung“ werden in diesem Verständnis als Kinder mit speziellen Erziehungsbedürfnissen gesehen, deren Erziehung sich nach Speck an den folgenden Thesen orientieren soll.[11]
„- Geistige Behinderung gilt als normale (übliche) Variante menschlicher Daseinsformen.
- Die Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung orientiert sich an den allgemeinen edukativen Erfordernissen, Werten und Normen.
- Die Spezifizierung des Pädagogischen orientiert sich an den besonderen individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten ebenso wie an den sozialen Bedingungen und Erfordernissen im Sinne einer wirksamen Verbesserung der gemeinsamen Lebenssituation.“[12]
„Geistige Behinderung“ ist und bleibt ein hypothetisches Konstrukt. Die individuellen Unterschiede eines Menschen, die speziellen Bedürfnisse, das unterschiedliche soziale Umfeld und die physischen Besonderheiten jedes Menschen machen eine eindeutige Definition unmöglich. Ich halte es daher für wichtig, sich von den bisherigen Klassifikationen für „geistige Behinderung“ abzuwenden und stattdessen – vor dem Hintergrund der vielfältigen subjektiven Lebenswelten – die individuellen Unterschiede und speziellen Bedürfnisse einer Person in den Vordergrund zu stellen.
Blasel bemerkt dazu, dass von zentraler Bedeutung ist, „daß für den geistig behinderten Menschen dasselbe Menschenbild Gültigkeit hat wie für jeden anderen Menschen.“[13] Auch Speck vertritt diesen anthropologischen Standpunkt und macht deutlich:
„Mensch ist Mensch. Die Würde des Menschen ist unteilbar. ... Menschen mit und Menschen ohne zu definierende geistige Behinderung sind demnach Menschen und nichts anderes.“[14]
Meiner Meinung nach ist es unbedingt erforderlich – in Bezug auf den Umgang mit Menschen mit „geistiger Behinderung“ – diesen Menschen die gleichen Wünsche, Bedürfnisse und Rechte zuzugestehen, wie jedem anderen Menschen auch.
Die heute verwendete Formulierung „Mensch mit geistiger Behinderung“ wurde von der Internationalen Liga von Vereinigungen für Menschen mit geistiger Behinderung vorgeschlagen und löst die lange gebrauchten Begriffe „Geistigbehinderter“ und „geistigbehinderter Mensch“ ab. Durch das Voranstellen des Wortes „Mensch“ (bzw. „Schüler“, „Kind“, „Erwachsener“, ...) wird zunächst die Zugehörigkeit der Person zu einer allgemeinen Kategorie von Personengruppen betont.[15] Erst danach folgt der Zusatz „geistige Behinderung“,
„die Behinderungsproblematik wird als sekundäres Merkmal oder besser als Kennzeichnung einer besonderen Lebenslagenproblematik beschreibend hinzugefügt“[16].
Da eine andere Begrifflichkeit, die das Phänomen „geistige Behinderung“ treffend beschreibt, fehlt, werde ich an der heute üblichen Sprachregelung festhalten. Die Uneindeutigkeit des Begriffes wird formal durch das Setzen der Anführungszeichen ausgedrückt.
2.2 Erwachsenwerden / Erwachsensein von Menschen mit „geistiger Behinderung“
Um den Personenkreis „junge Erwachsene mit geistiger Behinderung“ genauer einzugrenzen, muss die Bedeutung der Begriffe Erwachsenwerden bzw. Erwachsensein geklärt werden.
2.2.1 Allgemeines Begriffsverständnis
Auf den ersten Blick scheint jedem klar zu sein was es heißt, erwachsen zu sein. Eine Suche nach einer allgemeinen Definition des Erwachsenenbegriffs verläuft jedoch unbefriedigend, da die Ausführungen in den meisten Lexika nur sehr kurz sind. Als Beispiel dafür wird im Folgenden die Definition des Duden angeführt: „erwachsen: <Adj.> dem Jugendalter entwachsen, volljährig“[17]. Auch die ausführlichere Definition, die das Bertelsmann Lexikon[18] anbietet, kann letzten Endes nicht klären, was es heißt erwachsen zu sein:
„Erwachsenenalter, Entwicklungsphase, die sich an das Jugendalter anschließt u. bis zum Greisenalter reicht. Das frühe E. (ca. 22-32 Jahre) ist gekennzeichnet durch den Aufbau der Persönlichkeit, starke Vitalität u. Leistungswünsche. Das mittlere E. (ca. 32-44 J.) gilt als Kernstück u. Höhepunkt des Lebens mit einer allg. Stabilisierung. Das späte E. (ca. 44-58 J.) liegt jenseits des Lebenshöhepunktes, es bringt oft eine Krise der Lebenswende“.
Auch in der Literatur, die sich speziell mit den Themen Erwachsenwerden und Erwachsensein beschäftigt, werden verschiedenartige Definitionen und Sichtweisen dargestellt. Viele dieser Definitionen sind heikel, da sie entweder den Begriff nicht genau bestimmen und zu pragmatisch sind oder aber, durch die in ihnen festgelegten Kriterien, ganzen Bevölkerungsgruppen der Erwachsenenstatus abgesprochen werden müsste.
So bietet die juristische Definition – jeder, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, gilt als erwachsen[19] – zwar eine Abgrenzung zum Nicht -Erwachsensein, bleibt aber problematisch, da diese Abgrenzung von Land zu Land unterschiedlich ist. Hinzu kommt, dass die Altersgrenze von 18 Jahren nicht für alle Zeit festgelegt ist: Sie wurde in Deutschland Anfang der 1970er Jahre von 21 auf 18 Jahre gesenkt.
Auch die institutionelle Definition – erwachsen ist, wer die Schule verlassen hat und arbeiten geht – ist zu pauschal und ungenau. Einige Menschen haben bereits mit 16 Jahren einen Schulabschluss und gehen arbeiten, während Andere mit 25 Jahren noch zur Berufsschule gehen oder vielleicht niemals arbeiten werden.[20]
Aus biologischer Sicht gilt derjenige als erwachsen, bei dem die körperlichen Reifungsveränderungen abgeschlossen sind. Auch diese Definition ist zu oberflächlich, da die Pubertät und somit die Entwicklung des Körpers bei jedem Menschen unterschiedlich verläuft. So kann es vorkommen, dass bei einer Vierzehnjährigen der Körper bereits voll ausgereift ist, während ihr Verhalten noch sehr kindlich ist. Bei einer Gleichaltrigen, deren Verhalten bereits sehr erwachsen ist, kann dagegen die körperliche Reifung gerade erst beginnen.[21]
Die gesellschaftliche Sichtweise rückt von diesen sichtbaren, bzw. messbaren Kennzeichen ab und nennt als zentrale Begriffe Selbstständigkeit, Autonomie und Selbstbestimmung.
„Erwachsenwerden heißt lernen, in möglichster Selbständigkeit verbunden mit anderen zu leben, um aktiv teilhaben zu können an einer sinnvollen Gestaltung der Gegenwart und Zukunft.“[22]
Autonomie bezieht sich dabei auf alle Lebensbereiche, das bedeutet, dass der erwachsene Mensch die Möglichkeit hat, seinen Wohnort, seinen Beruf, sein soziales Umfeld frei zu wählen und selbst zu entscheiden, wie er seine Freizeit gestalten möchte.[23]
Weitere Aspekte, die von der Gesellschaft mit dem Erwachsenwerden in Verbindung gebracht werden, sind der Auszug bei den Eltern und das Gründen einer Familie, der Eintritt ins Erwerbsleben mit eigenem Einkommen (finanzielle Unabhängigkeit), gesellschaftliches und soziales Verantwortungsbewusstsein und der Aufbau einer eigenen Identität.[24]
Das Phänomen des Erwachsenwerdens lässt sich demnach nicht so leicht in Definitionen fassen, wie es auf den ersten Blick scheint. Eine eindeutige Begriffsbestimmung kann weder über den Abschluss der körperlichen Entwicklung, noch über das Erreichen von Unabhängigkeit gebildet werden. Auch die gesetzlichen Grenzen zwischen Jugend- und Erwachsenenalter sind nicht endgültig festgelegt.
Neben der Schwierigkeit, dass je nach Definitionsansatz einigen Personengruppen (z.B. Arbeitslosen, Ledigen, Menschen mit „geistiger Behinderung“) der Erwachsenenstatus abgesprochen werden müsste, birgt auch der Begriff des Erwachsen seins Gefahren. Er impliziert die Vorstellung, dass das Erwachsenenalter einen abgeschlossenen Reifezustand darstellt. Aus Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie weiß man aber inzwischen, dass der Prozess des Erwachsenwerdens nicht durch das Erreichen des Zustandes des Erwachsenseins abgeschlossen wird. Theunissen[25] sagt dazu, dass „menschliche Entwicklung in Anlehnung an die moderne Entwicklungspsychologie (...) als lebenslanger Prozess verstanden werden“ muss. Das bedeutet, dass sich auch erwachsene Menschen weiterentwickeln, was die Möglichkeit des lebenslangen Lernens einschließt.[26]
2.2.2 Erwachsenwerden im Kontext „geistiger Behinderung“
Menschen mit „geistiger Behinderung“ wurde der Erwachsenenstatus lange Zeit aberkannt. Die Gründe dafür liegen in der Tatsache, dass sie die Kriterien, die allgemein für das Erwachsensein stehen, wie beispielsweise einen eigenen Haushalt gründen, Autonomie, finanzielle Unabhängigkeit, oft nicht oder nur unzureichend erfüllen können. In vielen Fällen werden die Verhaltensweisen und Leistungen von Menschen mit „geistiger Behinderung“ auch heute noch mit denen von deutlich jüngeren Kindern verglichen. Häufig wird ihnen deshalb das Entwicklungs- oder Intelligenzalter eines Kleinkindes zugesprochen.[27]
Die Folge einer solchen Zuschreibung ist die Vorstellung, dass Menschen mit „geistiger Behinderung“ ihr ganzes Leben lang Kinder bleiben. Trotz ihrer körperlichen Reife und ihres Alters werden sie von anderen Menschen oft wie Kinder angesprochen, sie werden bemuttert und überbehütet, sie werden fremdbestimmt und „beschützt“ statt auf das Leben als Erwachsener vorbereitet zu werden.[28]
Im allgemeinen Verständnis „gehört zum Status eines Erwachsenen, daß er (...) selbständig handelt und selbst über sein Leben bestimmt.“[29] Viele Menschen mit „geistiger Behinderung“ haben Schwierigkeiten, diese Anforderungen zu erfüllen, sei es, weil sie nie gelernt haben selbstständig und selbstbestimmt zu handeln, sei es, weil sie auf Grund der Schwere ihrer Behinderung lebenslang auf Hilfe angewiesen sind. Es darf aber nicht übersehen werden, dass niemand völlig unabhängig von anderen Menschen leben kann, da jeder Mensch Teil einer Gesellschaft ist an deren Normen, Werten und Regeln er sich orientieren muss. Speck[30] schreibt dazu
„Alle Selbständigkeit geht aus Erfahrung mit anderen und mit der Umwelt hervor. Auf Hilfe dabei ist jeder angewiesen. Es gibt keine totale Unabhängigkeit von fremder Hilfe“.
Es erscheint mir sinnvoll an dieser Stelle zunächst zu klären, was unter Autonomie zu verstehen ist.
Das Wort Autonomie kommt aus dem Griechischen. Im deutschen Sprachgebrauch bedeutet es „selbständig, unabhängig, nach eigenen Gesetzen lebend“[31]. Speck[32] unterscheidet zwei Formen von Autonomie. Er nennt zum einen die Handlungsautonomie. Im Handeln des Menschen äußern sich seine Entscheidungen. Zum anderen spricht Speck von einer Bewusstseinsautonomie, sie meint die Fähigkeit zur freien Entscheidung an sich.
Bei Menschen mit „geistiger Behinderung“ ist die Handlungsautonomie oft stark eingeschränkt. Es wäre aber falsch, ihnen generell die Fähigkeit zur Autonomie abzusprechen.
„Die Ausführung einer bestimmten Handlung ist zwar behindert, aber die Entscheidung an sich, das Wollen, die Unterscheidung dessen, was sein soll oder nicht sein soll, ist da, ist existent.“[33]
Das bedeutet, dass man jedem Menschen zutrauen sollte Entscheidungen zu treffen, die sein Leben beeinflussen. Für Menschen mit sehr schweren Behinderungen bedeutet dies vielleicht, dass man ihnen die Möglichkeit bietet, zwischen zwei (oder mehr) Getränken zu wählen, statt für sie zu entscheiden. Menschen mit leichteren Formen einer „geistigen Behinderung“ können dagegen durchaus auch weitreichendere Entscheidungen treffen. Wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten, können sie lernen, sich Urteile über politische Themen zu bilden. Insbesondere bei Themen, die das Leben dieser Menschen betreffen, sollte man ihnen zutrauen, sich selbst zu vertreten. Dadurch kann vermieden werden, dass ohne ihre Zustimmung über ihr Leben entschieden wird und ihnen damit die Fähigkeit zur Autonomie – zumindest teilweise – abgesprochen wird.[34]
Kein Mensch kommt als autonomes Wesen auf die Welt. Selbstständigkeit muss erlernt werden, dabei ist Hilfe von anderen unerlässlich. Die meisten Menschen werden im Laufe ihres Lebens zunehmend unabhängiger und selbstständiger. Menschen mit „geistiger Behinderung“ ist diese Entwicklung erschwert. Um autonom leben zu können, brauchen sie Hilfen von außen, also Menschen, die ihnen helfen, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und umzusetzen. Der Grad an Autonomie oder Mündigkeit, den ein Mensch erlangt, lässt sich nicht messen, da Autonomie keine statische Größe sondern immer relativ und individuell verschieden ist.[35]
Neben der Autonomie ist die körperliche Reife ein weiteres zentrales Merkmal des Erwachsenseins. Bei Menschen mit „geistiger Behinderung“ reift der Körper meist altersgemäß, dies kann während der ohnehin schon schwierigen Phase der Pubertät zu schweren Konflikten beim Heranwachsenden führen. Auf der einen Seite haben sie dieselben Bedürfnisse und Wünsche wie Gleichaltrige ohne „geistige Behinderung“. Auf der anderen Seite erleben sie, dass die Umwelt plötzlich anders auf ihr Verhalten reagiert: Der soziale Schutz des Kindchenschemas fällt weg und Verhaltensweisen, die zuvor als kindlich-niedlich galten und toleriert wurden, werden nun als kindisch abgetan und nicht mehr akzeptiert.[36]
Die Kriterien, die von der Gesellschaft üblicherweise mit Erwachsensein bzw. Erwachsenwerden in Verbindung gebracht werden, lassen sich nicht ohne weiteres auf Menschen mit „geistiger Behinderung“ übertragen. Es ist daher notwendig, Kriterien zu finden, die auf alle Menschen zutreffen, unabhängig von einer Behinderung. Würde man versuchen Kriterien aufzustellen, die speziell für Menschen mit „geistiger Behinderung“ gelten, würde dies zu einer weiteren Ausgrenzung führen und allen bisherigen Normalisierungsbemühungen entgegenarbeiten.
2.2.3 Kriterien für das Erwachsenwerden nach Wohlhüter
Auch Wohlhüter[37] sieht in den allgemeinen Definitionen von Erwachsensein „das größte Hindernis für Menschen mit einer Behinderung, im Prozeß des Erwachsenwerdens weiterzukommen“[38]. Er nennt fünf Kriterien, die für alle Menschen gelten und die klären sollen, was es heißt erwachsen zu werden.
a) Zunahme einer persönlichen Bewusstheit
Beim Erwachsenwerden nimmt das Interesse an der eigenen Biographie zu. Der Mensch beginnt dadurch, sich selbst – als Mann oder Frau – besser wahrzunehmen. Dazu gehört auch die Beschäftigung mit der eigenen Lebenssituation. Das heißt, dass Menschen mit „geistiger Behinderung“ die Möglichkeit gegeben werden muss, sich auch mit ihrer Behinderung auseinander zusetzen.
b) Zunahme von Individualität
Im Zuge des Erwachsenwerdens wächst in jedem Menschen der Wunsch als Individuum gesehen zu werden.
„Auch der Mensch mit einer geistigen Behinderung möchte als konkretes Individuum in seiner Unverwechselbarkeit als Mann, als Frau, mit seinen individuellen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Begabungen erkannt werden.“[39]
c) Möglichkeit des Sich-Entscheidens
Zum Erwachsenwerden gehört drittens, dass man bezüglich seiner Lebensgestaltung immer häufiger Wahlmöglichkeiten hat. Im Abwägen von Alternativen zeigt sich verantwortliches Handeln, was als Merkmal des Erwachsenseins gilt. Für den Umgang mit Menschen mit „geistiger Behinderung“ bedeutet das, dass sie möglichst häufig die Chance erhalten müssen, Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, mitzutreffen.
d) Zunahme von Selbstständigkeit
Der heranwachsende Mensch wird auf seinem Weg zum Erwachsenen zunehmend selbstständiger. Menschen mit „geistiger Behinderung“ brauchen auf diesem Weg mehr Unterstützung und Förderung, damit sie in möglichst vielen Teilbereichen ihres Lebens Selbstständigkeit erlangen können.
e) Ausbalancieren von individuellen Bedürfnissen einerseits und der äußeren Realität andererseits
Als letztes Kriterium des Erwachsenwerdens nennt Wohlhüter die Fähigkeit „seine Wünsche mit der Realität in Einklang [zu] bringen, die ihm von seinen Mitmenschen oder von seinen äußeren Bedingungen gesetzt wird.“[40] Indem wir Menschen mit „geistiger Behinderung“ dabei unterstützen die Realität richtig einzuschätzen, können wir sie in ihrem Erwachsenwerden unterstützen.
Die Antwort auf die Frage, was denn eigentlich Erwachsenwerden bedeutet, verdeutlicht Wohlhüter indem er ausführt, dass es sich um einen fortlaufenden Prozess handelt, der erst mit dem Tod eines Menschen abgeschlossen ist. Außerdem ist es möglich, dass der Prozess des Erwachsenwerdens bei Menschen mit „geistiger Behinderung“ nicht in allen Teilbereichen gleichzeitig geschieht und die gleiche Stufe erreicht.
„Der Behinderte kann körperlich erwachsen sein und kann in anderen Bereichen noch wie ein Kind sein. Wir sollten Menschen mit einer geistigen Behinderung dies zugestehen, daß er ungleichzeitig erwachsen werden kann.“[41]
Mit Hilfe der Kriterien von Wohlhüter kann das in der Gesellschaft vorherrschende Verständnis von Erwachsensein, das einige Personengruppen ausschließt, überwunden werden. Hin zu einem individualisierten Verständnis vom Erwachsenwerden als Prozess, an dem jeder – unabhängig vom Vorliegen einer Behinderung – teil hat und der bei jedem, abhängig von persönlichen Voraussetzungen, unterschiedlich verläuft.
„Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen!“
(Max Frisch)
3 Politische Bildung
Wer sich mit didaktischen Konzepten zur politischen Bildung beschäftigen will, muss zunächst klären, was unter politischer Bildung zu verstehen ist und welche Aufgaben und Ziele sie hat.
Die Ziele politischer Bildung sind nicht unumstritten. Auch innerhalb der fachdidaktischen Literatur findet sich hierüber keine einheitliche Auflistung. Es gibt aber einen Grundkonsens über einige fundamentale Aufgaben politischen Unterrichts, die sich auch in den Rahmenplänen zum Fach Politik der einzelnen Bundesländer finden. So soll politische Bildung Interesse an und Verständnis für Politik wecken, die Voraussetzung schaffen für eine selbstständige politische Analyse- und Urteilsfähigkeit, die Identifizierung mit demokratischen Werten und Einsichten in politische Zusammenhänge ermöglichen, Bereitschaft zu politischem Engagement wecken und die Konsens- und Konfliktfähigkeit schulen. Diese grundlegenden Ziele von politischem Unterricht lassen sich zusammenfassen unter dem Begriff des Politikbewusstseins.[42]
Um ein politisches Bewusstsein aufzubauen, ist es nach Gagel[43] nötig, zwei Kompetenzen zu erwerben. Dies ist zum einen die kognitive Orientierung durch sozialwissenschaftliche Bildung und zum anderen die evaluative Orientierung durch politische Bildung im engeren Sinn[44]. Die sozialwissenschaftliche Bildung ist wissenschaftliche Bildung, sie greift Erkenntnisprobleme auf und trägt sie in den Unterricht. Die Schüler[45] erhalten die Möglichkeit, durch die Behandlung von konkreten Fällen, Situationen oder Problemen ihre Lebenswelt trotz ihrer Komplexität und Abstraktheit zu durchschauen und zu erkennen. Durch sie wird die kognitive Orientierung angebahnt. Die politische Bildung i.e.S. zielt im Gegensatz dazu nicht auf Wissen oder Erkenntnis ab, sondern auf Verhalten. Die Schüler sollen lernen, „richtig“ zu handeln, sich in der Öffentlichkeit „richtig“ zu verhalten bzw. verstehen, was „richtig“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Durch die Behandlung von Problem- und Konfliktlösungen werden sie befähigt, Handlungsweisen nach demokratischen Maßstäben zu bewerten. Sie lernen evaluative Orientierung.[46]
Den Zusammenhang, zwischen politischer Bildung i.e.S. und sozialwissenschaftlicher Bildung, verdeutlicht ein Artikel aus einem Politiklexikon:
„Politische Bildung [i.w.S; K.H.] hat die Aufgabe, die Menschen zu befähigen, dass sie ihren gesellschaftlichen Standort und ihre Interessen erkennen und über politische Probleme urteilen und dann handeln können. Dazu ist es erforderlich, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozesse und Strukturen zu durchschauen, den Zusammenhang zwischen Interessen und Politik und die Ursache und Funktion von Ideologien aufzudecken. Ziel Politischer Bildung ist: kritisches Bewusstsein, selbständiges Urteil und politisches Engagement. Voraussetzung für demokratisches Engagement ist, dass dem Bürger Zusammenhänge zwischen individuellem Schicksal und gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen bewusst werden.“[47]
Zusammengefasst bedeutet dies, dass politische Bildung darauf ausgelegt ist, den Menschen zu verantwortlichem, politischem Handeln zu befähigen, indem ihm grundlegendes Wissen, grundlegende Einsichten und Erkenntnisse vermittelt werden.
Das Ziel von politischer Bildung ist die Entwicklung eines politischen Bewusstseins. Was aber genau ist das „Politische“? Erst wenn dieses Begriffsverständnis geklärt ist, kann man als Lehrer im politischen Unterricht Willkürlichkeit und unbewusste Auslassungen vermeiden.
3.1 Politikbegriff
Das Wort Politik kommt vom griechischen Wort polis für Stadtstaat und bezeichnet heute
„auf die Durchsetzung bestimmter Ziele insbes. im staatl. Bereich und auf die Gestaltung des öffentl. Lebens gerichtetes Verhalten von Individuen, Gruppen, Organisationen, Parteien, Klassen, Parlamenten und Regierungen. Aus der Interessenbestimmtheit ergibt sich der Kampfcharakter der Politik.“[48]
Die Inhalte von Politik werden in dieser Definition nicht deutlich (auch andere Lexika bieten keinen Aufschluss darüber). Was das „Politische“ ausmacht, bleibt unklar. Auch die Politikwissenschaft bietet keinen eindeutigen und klaren Politikbegriff. Je nach Fragestellung, Interesse und wissenschaftlichem oder politischen Hintergrund rücken andere Merkmale von Politik in den Mittelpunkt der Definition. „Ob Macht, Konflikt, Herrschaft oder Friede Politik im wesentlichen kennzeichnet, ist wissenschaftlich und politisch umstritten.“[49]
Es gibt also in der Politikwissenschaft und Politikdidaktik keinen einheitlichen Politikbegriff. Um im politischen Unterricht dennoch alle Aspekte der politischen Wirklichkeit zu integrieren und nicht Inhalte zu wählen, denen der politische Gehalt fehlt, bietet die Politikwissenschaft mehrere Deutungsmodelle an, mit denen die komplexe politische Wirklichkeit erfasst werden kann. Zwei dieser Modelle haben sich als besonders nützlich für die politische Bildung erwiesen und werden daher im Folgenden dargestellt.
3.1.1 Die Dimensionen des Politischen
Aus der Systemtheorie hat sich eine mehrdimensionale Sichtweise von Politik entwickelt. Rohe hat die Untergliederung des Begriffs Politik in drei Dimensionen aus dem angelsächsischen Sprachgebrauch übernommen und in Deutschland in die politikwissenschaftliche Diskussion eingebracht.[50] Dieses Modell hat den Vorteil, dass alle Elemente und Aspekte des Politischen integriert werden können und damit eine Strukturierung und Systematisierung der komplexen politischen Wirklichkeit ermöglicht wird.[51]
Es werden folgende Dimensionen des Politischen unterschieden:
a) Politik hat immer eine institutionelle Dimension. Diese bezieht sich auf den Handlungsrahmen von Politik, auf politische Institutionen (Wahlen, Verbände, Parteien, ...), auf rechtliche Bestimmungen (Verfassung, Gesetze, Grundrechte, ...) und die politische Kultur einer Gesellschaft. Aus dem Englischen abgeleitet, bezeichnet man diese Dimension auch mit „polity“.[52]
b) Politik hat zweitens auch eine inhaltliche Dimension. Sie umfasst die Gegenstände und Aufgaben von Politik (politische Programme, einzelne Politikfelder, ...) und die Problembearbeitung und Aufgabenerfüllung durch das politisch-administrative System. Diese Dimension wird „policy“ genannt.[53]
c) Die dritte Dimension von Politik bezieht sich auf die Prozesse und Vorgänge, die zwischen den am politischen Geschehen Beteiligten ablaufen (Entscheidungsprozesse, Konfliktaustrag, Durchsetzung von Zielen und Interessen, ...). Diese prozessuale Dimension wird mit „politics“ bezeichnet.[54]
Zusammengenommen machen die drei Dimensionen das aus, was Politik ist, bzw. was allgemein unter dem Begriff verstanden wird. Dabei bildet die institutionelle Dimension den Handlungsrahmen, in dem die beiden anderen Dimensionen ablaufen. Die Dimensionen des Politischen können in der Unterrichtsvorbereitung als Analyse- und Suchinstrument dazu verwendet werden, sich einen politischen Sachverhalt auf allen Ebenen – sowohl auf der lokalen als auch auf der internationalen Ebene – strukturiert zu erschließen[55]. (Vgl. dazu auch Kapitel 4.3.1)
[...]
[1] Vgl. Fornefeld 2000; Vgl. Speck 1999.
[2] Vgl. Speck 1999, 45.
[3] Boban / Hinz 1993, 337.
[4] Vgl. Kobi 1983, 161; Vgl. Speck 1999, 46.
[5] Eberwein 2000, 97.
[6] Vgl. Eberwein 2000, 97; Vgl. Fornefeld 2000, 56ff; Vgl. Kobi 1983, 157.
[7] Vgl. Eggert 1996, 45.
[8] Vgl. Hagemeister 1998, 67; Vgl. Kobi 1983, 160; Vgl. Speck 1999, 51.
[9] Fornefeld 2000, 77.
[10] Speck 1999, 57.
[11] Vgl. Fornefeld 2000, 67ff.; Vgl. Speck 1999, 57.
[12] Speck 1999, 61; Hervorhebung im Original.
[13] Blasel 1990, 118.
[14] Speck 1999, 42.
[15] Vgl. Fornefeld 2000, 50; Vgl. Mühl 2000, 46.
[16] Neuhäuser / Steinhausen 1999, 11; Zit. nach: Fornefeld 2000, 50.
[17] Duden 1976, 749.
[18] Bertelsmann Lexikon 1990, 237.
[19] Vgl. Bürgerliches Gesetzbuch 1, §2.
[20] Vgl. Meyer-Jungclaussen 1985, 12.
[21] Vgl. Wohlhüter 1983, 371.
[22] Speck 1982, 18.
[23] Die Begriffe Autonomie und Selbstbestimmung werden im Folgenden synonym verwendet.
[24] Vgl. Speck 1982, 18; Vgl. Speck 1999, 333; Vgl. Theunissen 1991, 39.
[25] Theunissen 1991, 40.
[26] Vgl. Baumgart / Bücheler 1998; Vgl. Jakobs 1998, 28; Vgl. Theunissen 1991, 40.
[27] Vgl. Jakobs 1998, 19; Vgl. Kobi 1983, 157; Vgl. Linden / Schwarte 1985, 171.
[28] Vgl. Hofmann 1979, 129; Vgl. Jakobs 1998, 30; Vgl. Jetter 1986; Vgl. Theunissen 1991, 38.
[29] Linden / Schwarte 1985, 171.
[30] Speck 1985, 163.
[31] Meyers Taschenlexikon Bd. 2 1992, 231.
[32] Vgl. Speck 1985, 165f.
[33] A.a.O., 166.
[34] Die Forderung nach Mit- bzw. Selbstbestimmung findet sich auch im Leitsatz des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung (2003): „Nothing about us – without us“ – „Nichts über uns – ohne uns“.
[35] Vgl. Heinen 2000, 161 u. 165; Vgl. Speck, 1985, 163.
[36] Vgl. Kobi 1983, 157; Vgl. Speck 1982, 17; Vgl. Speck 1985, 164f.
[37] Vgl. Wohlhüter 1983.
[38] A.a.O., 371.
[39] Wohlhüter 1983, 369.
[40] A.a.O., 370.
[41] A.a.O., 371.
[42] Vgl. Ackermann / Breit / Cremer / Massing / Weinbrenner 1994; Vgl. Massing 1999, 6.
[43] Gagel 2000, 12ff.
[44] Politische Bildung im engeren Sinn (i.e.S.) bezieht sich auf eine Teilaufgabe des Politischen Unterrichts, während Politische Bildung im weiteren Sinn (i.w.S.) beide Felder des Politikunterrichts (Sozialwissenschaftliche Bildung und Politische Bildung i.e.S.) umfasst. Im Folgenden ist mit Politischer Bildung immer Politische Bildung i.w.S. gemeint, wenn es nicht anders angegeben wird.
[45] Gemeint sind hier und im Folgenden immer Schüler im weitesten Sinne: also nicht nur Menschen, die Schulen besuchen, sondern auch Teilnehmer von Bildungsveranstaltungen in Erwachsenenbildungseinrichtungen etc.
[46] Vgl. Gagel 2000, 12ff.
[47] Drechsler / Hilligen / Neumann 1995, VII; Zit. nach: Gagel 2000, 27.
[48] Meyers Taschenlexikon Bd. 7 1992, 303.
[49] Ackermann u.a. 1994, 18.
[50] Vgl. Himmelmann 2001, 16.
[51] Vgl. Ackermann u.a. 1994, 20f.; Vgl. Alemann 1991, 544; Vgl. Gagel 2000, 66; Vgl. Himmelmann 2001, 16; Vgl. Reeken 2001, 9f.
[52] Ebd.
[53] Ebd.
[54] Ebd.
[55] Vgl. Ackermann u.a. 1994, 30f.; Vgl. Massing 1999, 26.
- Quote paper
- Kirsten Hollnagel (Author), 2004, Politische Bildung mit jungen Erwachsenen mit geistiger Behinderung - aufgezeigt am Thema "Bundestagswahl", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44451
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