Der altsächsische Heliand gilt als herausragende volkssprachliche Dichtung der seit der Antike bestehenden Tradition der poetischen Bearbeitung der Heiligen Schrift.
Die vorliegende Arbeit untersucht zwei unterschiedliche Deutungsweisen des Heliand: zum Einen die Theorie der ‚Germanisierung’ des Christentums, die z.B. mit dem Verweis auf die Verwendung von Gefolgschaftsterminologie, Kampfmetaphorik, Schicksalsbegriffen usw. begründet wird; zum Anderen die Annahme einer Akkommodation an eine bestehende Tradition, d.h. die Übertragung formaler Elemente (Stabreim, Variation, Formeln etc.) der weltlich-mündlichen Dichtung auf einen neuen geistlichen Inhalt. Ziel ist es zu ermitteln, mithilfe welches Ansatzes eine bestmögliche Annäherung an das Verständnis der Dichtung erreicht werden kann.
Inhalt
1. Einleitung
2. Die sogenannte ,Germanisierung’ des Christentums
2.1 Gefolgschaftsterminologie
2.2 Kampf
2.3 Schicksalsbegriffe
3. Anzeichen der Akkommodation
3.1 Kulturelle Distanz und Übertragungsstrategie
3.2 Formelhaftigkeit
3.3 Metrum und Stil
3.4 Variation
4. Beispiel: Die Bergpredigt im Heliand
4.1 Bezeichnungen für Jesus Christus: drohtin und cuning
4.2 Die Jünger: gesiðos, heliðos, iungorun
4.3 Die Seligpreisungen
4.4 Das Vaterunser
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
6.1 Textausgabe
6.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
Mit der Verbreitung der christlichen Religion in Europa seit dem 4. Jahrhundert war ihre Grundlage, die Heilige Schrift, untrennbar verknüpft. Trotzdem blieb sie lange Zeit nur wenigen zugänglich – der Minderheit von Klerikern, die den hebrä-ischen, griechischen und später vorwiegend in Latein vorliegenden Text lesen konnte.
Bereits in der Antike entwickelte sich aber auch ein Interesse, die Bibel poetisch zu bearbeiten. Dabei wurde jedoch die rhetorische Stilstufenlehre zum Problem: der erhabene, bedeutende Inhalt der Heiligen Schrift präsentierte sich in einer eher einfachen, kunstlosen Sprache. Anfänglich wurde daher darauf verwiesen, dass die Bibel sich zunächst an einfache Fischer und Bauern richtete. Außerdem liege die Schönheit des Textes in der hinter den Schriftzeichen verborgenen Wahrheit.
Bald jedoch erkannte z.B. Hieronymus den „Nutzen des rhetorischen Vermögens im Dienste der Heilswahrheit“[1] Auch Augustinus meinte, es sei ein Fehler, „die Wahrheit waffenlos zu lassen“[2], da die Redekunst auch dem heidnischen Glauben dienen könne. Nicht zuletzt durch solche Rechtfertigungen und Begründungen war schließlich die Möglichkeit der christlichen Poesie eröffnet – die spätantike Bibelepik mit ihren bekannten Vertretern (z.B. Juvencus, Sedulius) konnte sich entfalten.
Als Folge dessen „zieht sich durch die europäische Dichtung vom 4. bis zum 18. Jahrhundert wie ein roter Faden das seltsame, immer neu versuchte Unternehmen, die Bibel zum großen, umfassenden Gedicht zu verwandeln“[3]. Die Tradition der Bibeldichtung in lateinischer Sprache setzte sich in den Volkssprachen fort, wo sie die erhaltene, schriftlich fixierte Dichtung oft dominiert. Das „um-fangreichste volkssprachliche Epos in germanischer Tradition“[4] ist der altsächsische Heliand in stabreimenden Langzeilen (5983 Verse), der im 9. Jahrhundert entstand. Der Dichter griff bei der Schaffung der Evangelienharmonie offensichtlich auf das Werk Tatians zurück und benutzte wahrscheinlich verschiedene Bibelkommentare. Ob er die antike Bibelepik kannte, ist unklar – in jedem Fall diente sie höchstens als Beispiel der legitimierten epischen Bibelparaphrase, jedoch nicht als Formvorbild.
Zum Heliand liegt eine lateinische Vorrede vor, die von der Entstehung des Textes berichtet[5]. Der zweiteilige Bericht (Prosa- und Versabschnitt) überliefert unterschiedliche Hintergründe: Zum einen wird Kaiser Ludwig[6] als Auftraggeber eines „bekannten sächsischen Dichter[s]“[7] genannt. Zum anderen ist im Sinne der Caedmon-Legende von der „Einwirkung göttlicher Gnade“[8] die Rede, die einem einfachen Landmann poetische Fähigkeiten schenkte. Wehrli spricht hier von den beiden Aspekten der Bibeldichtung, die sich auch sonst nicht trennen lassen: der Gedanke eines zweckbestimmten Auftrags, mit missionarischer Absicht, durch die dulcedo der Kunst, durch das ‚more poetico interpretare’ auch Ungebildete zu ergreifen – andererseits aber die Berufung auf spontane Inspiration.[9]
Beide Angaben bilden jedenfalls ausreichende Rechtfertigung und Voraussetzung für die volkssprachliche Dichtung.
Das Verhältnis des Heliand zu den angelsächsischen Bibelgedichten[10] ist unklar, jedoch meint Kartschoke, dass der Text sich von ihnen „in nichts grundsätzlich“[11] unterscheidet. Dennoch „zeichnet er sich aus durch unsklavische Schrifttreue, kompositorische Konsequenz und epische Breite, die von keinem zweiten geistlichen Stabreimgedicht erreicht wurde“[12].
Die Theorie der ‚Germanisierung’ des Christentums, die der Heliand angeblich darstellt, wurde durch A.F.C. Vilmar entwickelt. Er versuchte das Werk inhaltlich als „das Christentum im deutschen gewande, eingkleidet in poesie und sitte eines edlen deutschen stammes“[13] zu deuten. Begründet wurde dies z.B. mit dem Verweis auf Aspekte wie die Verwendung von Gefolgschaftsterminologie, Kampfmetaphorik, Schicksalsbegriffen usw.
Diese Theorie wurde jedoch bald als Über- bzw. Fehlinterpretation zurückgewiesen. Kartschoke sieht diese Elemente als „Stilproblem, nämlich als eine Form der poetischen amplificatio“[14] an. Auch Rathofer, der sich mit der Zahlensymbolik im Heliand beschäftigte, erkannte in dem Aspekt eine „Vermittlungstechnik“[15]. Somit wurde die Germanisierungsthese zugunsten der Theorie einer Akkommodation an eine bestehende Tradition relativiert. Die Leistung des Dichters besteht demnach vorwiegend darin, bekannte formale Elemente (Stabreim, Variation, Formeln etc.) der weltlich-mündlichen Dichtung auf einen neuen geistlichen Inhalt zu übertragen und sie diesem anzupassen.
Mit Hinblick auf die bisherige umfangreiche Forschung zum Heliand soll in dieser Arbeit der Unterschied zwischen ‚Germanisierung’ und christlicher Akkommodation anhand ausgewählter Aspekte herausgearbeitet werden. Ziel ist es dabei zu erkennen, mithilfe welches Ansatzes eine Annäherung an den Text und sein Verständnis bestmöglich erreicht werden kann.
2. Die sogenannte ‚Germanisierung’ des Christentums
In diesen Bereich fallen vorwiegend rhetorische Mittel der amplificatio, der Erweiterung und Ausschmückung des Stoffes durch „Zusätze, Epitheta, Apostrophen“[16]. Der Deutungsansatz ‚Germanisierung’ konzentriert sich dabei auf deren angenommene inhaltliche Aussagen. Zu den vorwiegend betrachteten Aspekten gehören Gefolgschaft, Kampf und Schicksal, die im Allgemeinen als wichtige Bestandteile der germanischen Kultur angesehen wurden.
2.1 Gefolgschaftsterminologie
Vilmar spricht davon, dass im Heliand ein „deutscher Christus“ und „mächtiger volkskönig“[17] dargestellt wird. Er ist umgeben von „seinen bis in den tod getreuen gefolgsmännern“[18]. In dem Kapitel ‘Volk und König’ (S. 58ff.) gibt er nähere Erläuterungen zu seinen Vorstellungen und führt Beispiele an, die seine Theorie unterstützen sollen.
Dass Christus im Heliand als drohtin (z.B. 1218) und cuningo (z.B. 1334), die Jünger als thegnos und heliðos, (1383) bezeichnet werden, lässt sich zweifellos als Rückgriff auf Begriffe des traditionellen germanischen Gefolgschaftswesens interpretieren. Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass diese biblischen Charaktere damit zu Germanen umgestaltet wurden. Dagegen wird Christus wohl eher als „der König und Herr über Himmel und Erde kirchlich-christlich [...] erfasst“[19]. Das zeigt sich auch in den Zusätzen wie hêlag (hêlag drohtin, 1292) und thiodo (thiodo drohtin, 1284). Bereits H. Göhler hat in ihrer Untersuchung des Christusbildes im Heliand nachdrücklich darauf hingewiesen, dass solche Begriffe „einer kriegerisch gefolgsmännischen Sinnsphäre entnommen sind, durch ihre Art der Anwendung und die beigeordneten Adjektive aber deutlich zu verstehen geben, daß sie religiös gemeint sind“[20].
Ergänzend lässt sich sagen, dass drohtin „im Heliand wie in der Kirchensprache überhaupt zur Gottesbezeichnung“[21] geworden ist. Wie am Beispiel der Bergpredigt deutlich wird, ist es vorwiegend für Gott und nicht für Jesus Christus gebraucht. Dazu kommen die Bezeichnungen uueldi uualdand (1285), uualdandes sunu (1294) oder godes êgan barn (1287), die die Allmacht Christi, seine göttliche Herkunft und seine eigene Gottheit[22] betonen. Des Weiteren werden, wie z.B. de Boor[23] feststellt, die für Jesus Christus verwendeten Bezeichnungen selten anderweitig gebraucht – sie sind quasi auf die himmlisch-religiöse Sphäre beschränkt. Somit ist er nicht einfach ein besonders mächtiger Gefolgsherr, sondern wird als spezifisch neue Persönlichkeit präsentiert.
Nicht zu vergessen ist dabei auch, dass sich die Verwendung der germanischen Gefolgschaftsterminologie beinahe von selbst anbietet: die Konstellation Jesus – Gefolgsherr, Jünger – Gefolgsleute ist im Prinzip durch die Darstellung der Beziehung in der Bibel vorgegeben.
2.2 Kampf
Die Untersuchung von Pachaly[24] zu den Variationen im Heliand eröffnet auch einen Bereich ‚Krieg’, der Textstellen zu den Aspekten ‚töten’, ‚belagern’‚ zerstören’ usw. enthält. Der Interpretation der zahlreichen Belege als Anzeichen eines besonderen ‚kriegerischen Geistes’ des Werkes steht jedoch eine gewisse Tradition entgegen: „Kriegsmetaphorik und geistliche Kriegsethik haben ihre Wurzeln in der Bibel, ihren kirchlichen Grund in der Theologie der Väter“[25]. Weiterhin stellt Kartschoke fest, dass in der Umsetzung dieser Grundlage, die lateinische Literatur der volkssprachigen vorausgeht[26].
Auch „Petri so oft überinterpretierten Schwerthieb“[27] (4866ff.) gibt der Grund-text vor, wodurch er die Ausschmückung und Stilisierung „dem volkssprachigen Autor geradezu nahe legte“[28]. Zu diesem Punkt stellt Kartschoke weiterhin fest:
Wo immer sich in der paraphrasierten Vorlage Gelegenheit dazu bot, haben alle Verfasser stabreimender Bibeldichtungen die Gelegenheit genutzt, solche Farben aufzusetzen, solche Schilderungen auszudehnen[29].
Des Weiteren sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass Petrus von Jesus, der die Notwendigkeit des Erduldens der Feindschaft betont, für sein Verhalten getadelt wird (4884ff.) - ein Umstand der die Beschreibung des kampfmutigen snel suerdthegan (4866) mehr oder weniger negiert. Auch Rupp betont, „[d]as Wesentliche dieser Szene liegt in den dem Kampf folgenden Worten Christi“, welche „im Heliand stark erweitert“[30] sind und die Menschen vor dem Kampf warnen.
Somit lässt sich eine bewusste, vom Heliand -Autor angestrebte Betonung von Kampfszenen im Sinne einer ‚Germanisierung’ kaum erkennen.
2.3 Schicksalsbegriffe
Ein zentraler mythologischer Aspekt des germanischen Glaubens war das Schicksal (wurd) als über allem stehende, das Leben bestimmende Macht. Auch im Heliand sind Begriffe aus diesem Bereich präsent und bieten somit einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Germanisierungsthese. Selbst de Boor, der diese Theorie ablehnt, nimmt an, „in der Aufnahme des Schicksalsbegriffes und seiner Terminologie“ sei „germanisches Denken - zentral religiöses Denken“[31] eingeflossen. Er meint weiterhin, das Schicksal bleibe „eine große, überschattende Eigenmacht, nicht eine feste Fügung in Gottes Händen“[32]. Somit könnte man schließen, dass neben Gott im Heliand noch eine andere lebensbestimmende Instanz gleichberechtigt existiert, die der germanisch-heidnischen Vergangenheit entstammt.
Diese These wird jedoch von Kartschoke infrage gestellt, der meint, die Gleichberechtigung und angebliche Eigenmacht des Schicksals lassen sich „mit dieser Sicherheit aus den Belegen nicht ablesen“[33]. Er begründet seine Ansicht anhand der entsprechenden Textstellen, die er hinsichtlich der Umsetzung des Schicksalsbegriffes analysiert[34]. Er kommt zunächst zu dem Schluss, dass „weni-ger als die Hälfte der angeführten Stellen“[35] eindeutig christlich zu interpretieren sind. Es handelt sich dabei z.B. um Wendungen wie godes giscapu (547) oder thiu hêlagon giscapu (4064). Unter den anderen 11 Belegen findet er durch inhaltliche Analyse und Vergleich mit der Bibel zwei Fälle, bei denen „vorchristliche, germanische Assoziationen herauszuhören“[36] sind. Beide sind Prophezeiungen künftigen Schicksals, also „eschatologische Vorstellungen: das Schicksal Jerusalems in der Zeit (Nr. 13) und der Menschheit am Ende der Tage (Nr. 10)“[37]. Dieser Bedeutungsaspekt der mythischen Begriffe regangiskapu und wurdgiskapu sollte hier nicht „weginterpretiert werden“[38].
[...]
[1] Kartschoke (1975), S. 27.
[2] Ebd.
[3] Wehrli (1963), S. 262.
[4] Kartschoke (1975), S. 167.
[5] Vgl. z.B. Kartschoke (1975), S. 139ff. Textabdruck z.B. bei Behaghel (1984), S. 1-4.
[6] Es ist nicht eindeutig geklärt, ob hier Ludwig der Fromme (814-840) oder Ludwig der Deutsche (843-876) gemeint ist. Von dieser Frage ist auch eine genauere Datierung des Textes abhängig. (Vgl. Verfasserlexikon, Bd. 3, Sp. 958-971)
[7] Kartschoke (1975), S. 140.
[8] Ebd.
[9] S. 271.
[10] Vgl Sowinski (1985), S. 29ff.
[11] S. 169.
[12] Ebd.
[13] Vilmar (1862), S. 1.
[14] Sowinski (1985), S. 17.
[15] Ebd.
[16] Kartschoke (1975), S. 186.
[17] S. 1.
[18] Ebd., S. 72.
[19] de Boor (1962), S. 61.
[20] Göhler (1935), S. 40.
[21] de Boor (1962), S. 61.
[22] Vgl Göhler (1935), S. 28ff.
[23] S. 61.
[24] Pachaly, Paul: Die Variation im Heliand und in der altsächsischen Genesis. Berlin 1899.
[25] Kartschoke (1975), S. 190.
[26] Vgl Kartschoke (1975), S. 190.
[27] Ebd., S. 192.
[28] Kartschoke (1975), S. 192.
[29] Ebd.
[30] Rupp (1973), S. 261.
[31] de Boor (1962), S. 62.
[32] Ebd.
[33] S. 193.
[34] Vgl. Kartschoke (1975), S. 192ff.
[35] Ebd., S. 195.
[36] Ebd., S. 196.
[37] Ebd.
[38] Ebd.
- Quote paper
- Yvonne Luther (Author), 2003, Der Heliand: ,Germanisierung' des Christentums oder Akkommodation an die mündliche Dichtung?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43846
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