Ortrud Gutjahr bezeichnet Franz Grillparzers Tragödie Medea als eine „Tragödie der Interkulturalität“, welche allerdings scheitert. Zwar agieren zwei unterschiedliche Kulturen miteinander, doch es kommt nicht zur Herausbildung einer gemeinsamen Zwischenkultur. Um in Griechenland aufgenommen zu werden, unterdrückt die Titelfigur Medea ihre kolchische Identität und versucht sich vollkommen an die griechische Kultur anzupassen. Doch dieses Vorhaben scheitert: Medea gelingt es einerseits nicht ihre kolchische Identität abzulegen, andererseits wird sie zum Spielball griechischen Machtstrebens. Der versuchte Assimilationsprozess führt Medea in die Isolation und veranlasst sie zum Mord an Kreusa sowie ihren eigenen Kindern. Grillparzer entschloss sich zur Neubearbeitung des griechischen Mythos Das goldene Vlies, da ihn „der Charakter der Medea und die Art und Weise interessierte, wie sie zu der für eine neuere Anschauungsweise abscheulichen Katastrophe geführt wird.“ Dabei legte er einen besonderen Fokus auf den kulturellen Gegensatz von Griechen und Barbaren. Medea repräsentiert in der Tragödie das Barbarentum, während Jason, Kreon und Kreusa auf unterschiedliche Weise das Griechentum verkörpern. Mit dem Gegensatz dieser beiden Kulturen im dritten Teil der Trilogie, der Medea, beschäftigt sich auch die vorliegende Arbeit. Es wird untersucht, ob sie einander tatsächlich so kontrastiv gegenüber zu stellen sind, wie der kulturelle Gegensatz Medeas Integrationsversuch in Griechenland beeinflusst und schlussendlich scheitern lässt. Trotz ihrer Bemühungen gelingt es Medea nicht, in die griechische Gesellschaft aufgenommen zu werden, was sie zur tragischen Figur macht. Es stellt sich die Frage, ob Medeas Andersartigkeit, also ihre Fremdheit für die Griechen, ihre Integration verhindert. Die Arbeit steht somit unter folgender Leitfrage: Wird Medea aufgrund ihrer Andersartigkeit zur tragischen Figur? Der theoretische Teil erläutert Grillparzers Tragik-Konzept, wobei der Fokus auf dem Schicksalsbegriff und der Figurenkonzeption liegt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Grillparzers Tragik-Konzept
3 Barbaren und Hellenen
3.1 Allgemeine Unterscheidung
3.2 Gegenüberstellung bei Grillparzer
4 Medea, die Kolcherin, Magierin und Mörderin
5 Äußere Einflüsse
5.1 Jason, der unbedachte Abenteurer
5.2 Kreon, der humane König
5.3 Kreusa, die naive Griechin
5.4 Die Kinder, der letzte Bezugspunkt
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Ortrud Gutjahr bezeichnet Franz Grillparzers Tragödie Medea als eine „Tragödie der Interkul- turalität“[1], welche allerdings scheitert. Zwar agieren zwei unterschiedliche Kulturen mitei- nander, doch es kommt nicht zur Herausbildung einer gemeinsamen Zwischenkultur. Um in Griechenland aufgenommen zu werden, unterdrückt die Titelfigur Medea ihre kolchische Identität und versucht sich vollkommen an die griechische Kultur anzupassen. Doch dieses Vorhaben scheitert: Medea gelingt es einerseits nicht ihre kolchische Identität abzulegen, an- dererseits wird sie zum Spielball griechischen Machtstrebens. Der versuchte Assimilations- prozess führt Medea in die Isolation und veranlasst sie zum Mord an Kreusa sowie ihren ei- genen Kindern.
Grillparzer entschloss sich zur Neubearbeitung des griechischen Mythos Das goldene Vlies, da ihn „der Charakter der Medea und die Art und Weise interessierte, wie sie zu der für eine neuere Anschauungsweise abscheulichen Katastrophe geführt wird.“[2] Dabei legte er einen besonderen Fokus auf den kulturellen Gegensatz von Griechen und Barbaren. Medea reprä- sentiert in der Tragödie das Barbarentum, während Jason, Kreon und Kreusa auf unterschied- liche Weise das Griechentum verkörpern. Mit dem Gegensatz dieser beiden Kulturen im drit- ten Teil der Trilogie, der Medea, beschäftigt sich auch die vorliegende Arbeit. Es wird unter- sucht, ob sie einander tatsächlich so kontrastiv gegenüber zu stellen sind, wie der kulturelle Gegensatz Medeas Integrationsversuch in Griechenland beeinflusst und schlussendlich schei- tern lässt. Trotz ihrer Bemühungen gelingt es Medea nicht, in die griechische Gesellschaft aufgenommen zu werden, was sie zur tragischen Figur macht. Es stellt sich die Frage, ob Medeas Andersartigkeit, also ihre Fremdheit für die Griechen, ihre Integration verhindert. Die Arbeit steht somit unter folgender Leitfrage: Wird Medea aufgrund ihrer Andersartigkeit zur tragischen Figur?
Der theoretische Teil erläutert Grillparzers Tragik-Konzept, wobei der Fokus auf dem Schick- salsbegriff und der Figurenkonzeption liegt. Des Weiteren wird die Entstehung der Entgegen- setzung von Barbaren und Griechen in der Literatur und in einem weiteren Schritt in Grill- parzers Medea untersucht. Kapitel 4 und 5 befassen sich mit der Analyse der Tragödie: Einer- seits werden Medeas innere Voraussetzungen für die scheiternde Integration, andererseits die Einflussnahme durch ihren Ehemann Jason, König Kreon, dessen Tochter Kreusa und Medeas Kindern herausgearbeitet.
2 Grillparzers Tragik-Konzept
1820 schrieb Grillparzer in dem Aufsatz Über das Wesen des Dramas den Grundsatz seiner
Dramentheorie nieder: „Das Wesen des Dramas ist […] strenge Kausalität.“[3] Die Kausalität folgt dem Gesetz der Freiheit, insofern diese als vorausgesetzt anerkannt wird, oder dem Ge- setz der Notwendigkeit. Notwendigkeit bezeichnet dabei alles, was eine Wirkung auf den Menschen hat, ohne dass dieser selbst Einfluss darauf nehmen kann. Entweder siegt eine äu- ßere Notwendigkeit über die Freiheit des Menschen oder umgekehrt, wobei Grillparzer Erste- res als für die Tragödie angemessen betrachtet. Die Figur steht somit einem Schicksal, einer „Personifikation der Naturnotwendigkeit, der von unserm Willen unabhängigen äußeren Um- stände“[4], machtlos gegenüber. Nach Grillparzer wurde der Begriff des Schicksals schon von den Griechen eingeführt, um dem unverzichtbaren Kausalitätsanspruch gerecht zu werden. In der Tragödie unterliegt die Figur einer Notwendigkeit und „das Tragische […] liegt darin, daß der Mensch das Nichtige des Irdischen erkennt; die Gefahren sieht, welchen der Beste ausge- setzt ist und oft unterliegt“[5]. Es ist, nach Grillparzer, Ziel der Tragödie, dem Zuschauer zu zeigen, dass er Zeit seines Lebens einer höheren Macht ausgesetzt ist, die schicksalhaft in sein Leben eingreift und dieses unverschuldet zum Schlechten wenden kann.
Um den Zuschauern diesen Umstand zu verdeutlichen, sind „alle Figuren Grillparzers […] stets einem überpersönlichen Geschehen ausgesetzt, auf dessen Wirksamkeit sie zu reagieren gezwungen werden.“[6] Dabei versuchen sie sich den Gegebenheiten anzupassen, indem sie ihre persönlichen Maxime der Erfüllung einer Aufgabe, die von außen an sie gestellt wird, unterordnen. Sie sind bereit, ihre Individualität zugunsten einer Lösung für die Gemeinschaft aufzugeben, stoßen dadurch jedoch an ihre Grenzen. Neben dem Willen sich Situationen an- zupassen, stattet Grillparzer seinen Figuren mit einem weitreichenden Seelenleben aus. Dieses geht oft über das Bewusstsein, das nur in Handlungen und Sprache zum Ausdruck kommt, hinaus und modifiziert sich in Gestik, Mimik und Symbolen. Auf den ersten Blick haben die Figuren nichts herausstechend Heroisches an sich, im Gegenteil: sie sind vielschichtig und in sich gespalten,[7] sie sind „lebendige Menschen mit allen naturgegebenen Inkonsequenzen und Inkongruenzen ihres Seelenlebens.“[8] Wodurch werden Grillparzers Figuren dann zu Helden? Zum Helden macht sie erst die Komplexität ihres Seelenlebens, welche sie von ihrer Umge- bung unterscheidet. Denn in der mimetischen Dichtung ist es Hauptmerkmal des Helden, sich von seinen Mitmenschen durch eine individuelle Persönlichkeit abzuheben. Diese Komplexi- tät bedingt wiederum den tragischen Konflikt: Er setzt ein, wenn Grillparzers Helden ihre eigene Welt verlassen und eine andere, ihnen fremde, betreten. Es gelingt ihnen nicht, sich der neuen Umgebung anzupassen, was sie unweigerlich in den Untergang führt. Trotz aller Assi- milationsversuche müssen sie letztendlich doch ihrem Inneren folgen und aus der ungewollten Umgebung ausbrechen. Der rebellische Akt des Ausbrechens, den sie nicht unendlich hinaus- zögern können, unterscheidet sie wiederum von ihren Mitmenschen. Das rebellische Verhal- ten gegenüber der neuen Umgebung macht das tragische Grundmotiv der Dramen aus: Grill- parzers Figuren scheitern nicht aufgrund eines heroischen, sondern aufgrund eines rebelli- schen Verhaltens.[9]
Es ist in Bezug auf die Figurenkonzeption also festzuhalten, dass Grillparzers Figuren nicht selbst über ihre Situation entscheiden, sondern einem Schicksal unterworfen werden. Aus diesem Grund bleibt ihnen nur die Möglichkeit ihr Schicksal, die eigene Fehlbarkeit und Begrenzung erkennend, zu ertragen. Eine Flucht in die Transzendenz ist in keinem Fall eine Lösung[10] und so sind Grillparzers Dramen „Tragödien der Immanenz“[11]: Alles Tragische geschieht aus den Menschen heraus und spielt sich zwischen ihnen ab.
Grillparzers Tragödien zeichnen sich neben der, wie eben beschriebenen, nuancierten Darstel- lung der Figuren durch einen „zentripentale[n] Charakter“[12] aus. Das bedeutet, dass sich so- wohl die dramatische Handlung als auch die Figuren auf einen Mittelpunkt ausrichten. Oft ist es ein Gegenstand, der sich durch das ganze Geschehen zieht, Handlungen motiviert und die Geschichte zu ebendem Ausgang führt, den sie am Ende nimmt. Alle Teile der Tragödie stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zum zentralen Gegenstand.[13] In der Medea handelt es sich hierbei um das goldene Vlies, das von allen begehrt wird.
3 Barbaren und Hellenen
3.1 Allgemeine Unterscheidung
Barbaren und Hellenen werden oftmals klischeehaft gegenübergestellt, obwohl „Hellene […] ein Eigenname, Barbar [dagegen] ein Kollektivbegriff“[14] ist und sie somit in einem hierarchi- schen Verhältnis zueinander stehen. Während ausschließlich Griechen als Hellenen bezeich- net werden, gelten viele Länder als Barbarenland und ihre individuellen Merkmale treten hin- ter der allgemeinen Bezeichnung zurück.[15] Es ist nicht eindeutig erforscht, seit wann die Ent- gegensetzung von Barbaren und Hellenen besteht, doch die ersten eindeutigen Belege stam- men aus dem 5. Jhd. v. Chr. von Herodot.[16] Anhand dessen formuliert Markus Winkler drei Grundbedeutungen des Barbarenbegriffs. Das ursprüngliche griechische Adjektiv bárbaros bedeutet „unverständlich sprechend“ und „fremdsprachig“[17]. Es ist also eine andere Sprache, als die der Griechen gemeint, woraus Winkler die zweite Grundbedeutung „nichtgriechisch“ und „fremd“[18] ableitet. Beide Bedeutungen sind vollkommen objektiv; erst im 5. Jhd. v. Chr. gewann der Barbarenbegriff seine dritte, pejorative Grundbedeutung. Infolge des Siegs der griechischen Demokratie über die persische Tyrannei wurde bárbaros zu einer ethnisch- wertenden Bezeichnung: Das griechische Volk sah sich als kulturell überlegen und dieses Selbstverständnis spiegelte sich in einer abwertenden Gegenüberstellung von Griechen und Nicht-Griechen - den Barbaren - wider. Jegliche Abweichung von der griechischen Norm galt als barbarisch. Die Griechen verbanden Barbarentum also mit Andersartigkeit.[19]
Kunst und Literatur trugen einen beträchtlichen Teil zur Etablierung der Stereotype bei. Mit der griechischen Tragödie manifestierte sich die Hellenen-Barbaren-Antithese, der Barbar wurde in ihr sozusagen erfunden. Vor allem Euripides stellt die beiden Gruppen in seiner Me- deia kontrastiv wertend gegenüber: Iason verachtet Medeia wegen ihrer Herkunft und ver- langt von ihr, von den Griechen zu lernen. Die Kinder werden mehrmals vor ihrer rohen, ungebildeten Mutter gewarnt und nach dem Mord an ihnen wird Medeia sogar als ‚Tier‘ oder ‚Monstrum‘ bezeichnet. Alles nicht-griechische wird demzufolge als animalisch und wild angesehen, denn die Figuren sind überzeugt, dass keine griechische Frau je so handeln würde.[20] Es „profilieren sich die Bedeutungsmerkmale des Wilden und des zutiefst Bösen oder des Rohen und Ungebildeten, die im weiteren Verlauf der Geschichte des Begriffs immer mehr an Gewicht gewinnen.“[21]
Auch im Klassizismus setzten Dramatiker sich weiter mit der Hellenen-Barbaren-Antithese auseinander. Es war Aufgabe der Dramen, ihre Zuschauer zu humanen Lebewesen zu formen und sie ihre angeborenen barbarischen Eigenschaften überwinden zu lassen. Dies gelang damaligen Ansichten zufolge am besten am Vorbild der Griechen:
Nach den über die Auseinandersetzungen mit der Antike entwickelten Leitvorstellungen wird das Griechentum als Überwindung der Barbarei und Vollendung humaner Menschlichkeit gesehen und mit Begriffen wie Schönheit, Freiheit und Autonomie verbunden, während Vorstellungen von Triebhaftigkeit, Naturhaftigkeit und fehlender Affektkontrolle mit dem Barbarischen verknüpft werden.[22]
Das Zitat zeigt deutlich das zu Beginn angesprochene Hierarchiegefälle zwischen den Gruppen. Während Griechen durchweg positive Eigenschaften verkörpern, stehen Barbaren für das Wilde und Kulturlose.
3.2 Gegenüberstellung bei Grillparzer
Grillparzer war es ein großes Anliegen in seiner Bearbeitung der Medea, „den Unterschied zwischen Kolchis und Griechenland herauszuheben, auf den alles ankam“[23]. In der Darstel- lung der beiden Länder, der Figurenrede sowie insbesondere in der Frauengestaltung machte er den Gegensatz deutlich. Es sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass die spätere Analyse der Figuren wird, dass sowohl die Griechen barbarische Züge zeigen, wie auch die Barbaren griechische. So erfährt der Zuschauer beispielsweise in einem Gespräch zwischen Gora und Medea, dass auch ein „Griechenweib“[24] einst ihr eigenes Blut tötete, obwohl die Griechen eine solche Tat ausschließlich Barbaren zutrauen. Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, die deutliche Entgegensetzung von Griechen und Barbaren, wie sie auf den ersten Blick er- scheint, zu beschreiben.
Während die Griechen sich strikt an den Blankvers halten, sprechen die Kolcher hauptsäch- lich in freien Versen. Ihre Sprache beinhaltet Imperative und Ellipsen und kommt ohne schmückende Attribute aus, wodurch sie „direkt, rau und archaisch“[25] wirkt. Die beiden Met- ren werden in der Tragödie wie verschiedene Sprachen gebraucht, wobei der Unterschied immer dann am deutlichsten wird, wenn Vertreter beider ‚Sprachen‘ aufeinander treffen. Medea passt sich in Korinth teilweise an die griechische Sprechweise an, kehrt jedoch bald wieder zum freien Vers zurück.[26] Ihre Sprache ist außerdem von einer weiteren Besonderheit geprägt, denn ihre Zaubersprüche sind die einzigen gereimten Zeilen (vgl. 1981-1984, 2004- 2007) in der Tragödie. Sie erhält eine Sonderstellung, da sie sogar aus ihrer Landessprache nochmals heraussticht.[27]
Die Kolcherin Medea repräsentiert in der Tragödie das Barbarentum. Zu Beginn vergräbt sie eine schwarze, seltsam mit Gold verzierte Kiste (Bühnenanweisung, vor 1) mit allerlei Zau- berutensilien, magischen Kräutern und dem goldenen Vlies. Im darauffolgenden Dialog mit Jason fragt dieser: „Was suchst du in der Finsternis? - Ei ja! / Riefst alte Freund‘ aus Kol- chis?“ (175f.). Jason verbindet Medea mit Zauberei und Finsternis und gibt so das Bild der Griechen vom Barbarenland Kolchis pointiert wider: Er spricht von einem dunklen „Zauber- lande“ (171). Dies bestätigt sich auch in einer späteren Beschreibung Jasons: „O hättest du’s gesehen in seinen Nebeln! / Der Tag ist Nacht dort und die Nacht Entsetzen, / Die Menschen aber finstrer als die Nacht“ (450-452). Er erklärt, dass ihm Medea - im Vergleich mit ihren Landsleuten in Kolchis - anders erschienen war („Ist sie hier dunkel, dort erschien sie licht“ [456]) und versucht damit die Eheschließung vor Kreon zu rechtfertigen. Später jedoch wünscht er, Medea würde in ihr „fluchbeladnes Land“ (825) zurückkehren. Kreons Vorstel- lungen von Kolchis decken sich mit Jasons. Er nennt Medea „die Dunkle, […] die Frevlerin“ (1355) und fürchtet sie, „die die Wildnis ausgespieen“ (1030), aufgrund ihres magischen Wis- sens.[28] Dieser ‚Wildnis‘ gegenüber steht das reine Griechenland mit der „helle[n] Kreusa“[29], wie Grillparzer sie selbst nennt, als idealer Repräsentantin. Die vorbildliche Griechin wird als „schön und hell und glänzend“ (381) und „in heitrer Milde strahlend“ (283) beschrieben und ist damit Verkörperung des humanen, überlegenen Griechenland. Das Opferfest für Poseidon (vgl. 148f.), die Relevanz von Musik in der Gesellschaft[30] und das Gericht der Amphiktyonen, dem Kreon sich beugen muss (vgl. 938-1036), spiegeln ein kulturell wie gesetzlich wohl geordnetes Land wider. Insbesondere für Jason überstrahlt Griechenland jedes andere Land, denn er verbindet es mit „[s]einer goldnen Jugendzeit“ (206).
Grillparzer zeichnet Kolchis als „ein[en] vorgeschichtliche[n] Ort mit üppiger, wilder Vegeta- tion, an dem die Barbaren mit der Natur und den Göttern Zwiesprache halten“[31]. Korinth da- gegen erscheint als „die steinerne Szenerie einer erstarrten Kulturlandschaft […] in der die Griechen ihr Handeln nach politischem Kalkül ausrichten.“[32] Geordnet und kulturell überle- gen versus wild und ungesittet: Griechen und Barbaren sind einander in einer Hell-Dunkel- Metaphorik entgegengesetzt, die sich am besten im Vergleich der beiden weiblichen Reprä- sentantinnen Kreusa und Medea zeigt. Diese Bilder der beiden Länder entsprechen jedoch ausschließlich den Ansichten der Griechen, denn Medea sieht ihre Heimat in einem ganz an- deren Licht: „O Kolchis! o du meiner Väter Land! / Sie nennen dunkel dich, mir scheinst du hell!“ (384f.).
4 Medea, die Kolcherin, Magierin und Mörderin
Schon bevor die Handlung der Medea überhaupt beginnt und Medea auf die Griechen trifft, sind diese ihr gegenüber negativ eingestellt. Die Ablehnung begründet sich einerseits in ihrer Herkunft aus dem Barbarenland Kolchis und dessen Verbindung mit Magie, andererseits in den Gerüchten um ihre Vorgeschichte. Die Griechen sehen in Medea aufgrund kursierender Geschichten „ein gräßlich Weib, giftmischend, vatermörd’risch“ (330). Jason formuliert die Abneigung der Griechen deutlich, wenn er Medea „an jenen Hohn, mit dem der Grieche / Herab auf die Barbarin sieht“ (254f.) erinnert. Medeas Amme Gora sieht sich selbst und Medea in Griechenland in einer „Sklaverei“ (60) gefangen und rechnet aufgrund ihrer Andersartigkeit mit bevorstehenden Erniedrigungen.
Gora verwendet den Begriff ‚Sklavin‘ […] als griechische Fremdbezeichnung; sie gibt mit dem Begriffszitat zu verstehen, daß sie und Medea auf griechischem Territorium keinerlei Widerstand gegen die Herabsetzung leisten können, die ihnen mit solchen Fremdbezeichnun- gen zugefügt wird.[33]
[...]
[1] Ortrud Gutjahr: Iphigenie - Penthesilea - Medea. Zur Klassizität weiblicher Mythen bei Goethe, Kleist und Grillparzer. Stuttgart 1997, S. 234.
[2] Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. 4. München 1965, S. 88. 2
[3] Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. 3. München 1964, S. 301.
[4] Ebd., S. 313.
[5] Ebd., S. 303.
[6] Konrad Schaum: Grillparzer-Studien. Bern, Berlin, Brüssel [u.a.] 2001, S. 58. 3
[7] Vgl. Zdenko Skreb: Grillparzer. Eine Einführung das dramatische Werk. Kronberg 1976, S. 134f.
[8] Ebd., S. 98.
[9] Vgl. Ebd., S. 135-139.
[10] Vgl. Schaum: Grillparzer-Studien, S. 25-27.
[11] Skreb: Grillparzer, S. 136.
[12] Ebd., S. 100.
[13] Vgl. Horst Wagner: Der zentrale Gegenstand im Drama Lessings, Kleists und Grillparzers. Untersuchungen zur Dramaturgie des 18. und 19. Jahrhunderts.. Frankfurt am Main 1967, S. 107.
[14] Markus Winkler: Von Iphigenie zu Medea. Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer. Tübingen 2009, S. 32.
[15] Vgl. Ebd., S. 32.
[16] Vgl. Ebd., S. 23.
[17] Ebd.
[18] Ebd.
[19] Vgl. Ebd., S. 23f.
[20] Vgl. Ebd., S. 28-31.
[21] Ebd., S. 26.
[22] Gutjahr: Iphigenie - Penthesilea - Medea, S. 224.
[23] Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. 4, S. 89.
[24] Vgl. Grillparzer, Franz: Medea. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dritte Abteilung des dramatischen Gedichts ‚Das goldene Vlies‘. Nachwort von Helmut Bachmaier. Stuttgart 1972, 1982, V. 1827. Verweise auf und Zitate aus diesem Primärtext werden nachfolgend nur unter Angabe der Verszahl nachgewiesen.
[25] Bub Tillmann: Barbarei und Zivilisation in Grillparzers Trilogie ‚Das goldene Vlies‘. Wien 2004, S. 12.
[26] Vgl. Joachim Kaiser: Grillparzers dramatischer Stil. München 1997, S. 26-28.
[27] Vgl. Ebd., S. 29.
[28] Als Jason für Medea das Gastrecht erbittet, antwortet Kreon: „Die Künste, die sie weiß, sie schrecken mich“ (555).
[29] Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. 4, S. 112. 7
[30] Wie sich in der Leierszene im zweiten Aufzug zeigt, versucht Medea über die Musik - als fester Bestandteil griechischer Kultur - in die fremde Gesellschaft einzutreten.
[31] Gutjahr: Iphigenie - Penthesilea - Medea, S. 231.
[32] Ebd.
[33] Winkler: Von Iphigenie zu Medea, S. 213.
- Arbeit zitieren
- Caroline Harsch (Autor:in), 2014, Medea. Tragische Figur durch Andersartigkeit?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/437817
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