„Märchen: das uns unmögliche Begebenheiten unter möglichen oder unmöglichen Bedingungen als möglich darstellt.“
Johann Wolfgang von Goethe
Es war einmal ein russischer Zar. Er hatte drei Söhne. Er sagte ihnen, sie sollten einen silbernen Bogen und einen kupfernen Pfeil nehmen und damit so weit schießen wie sie konnten. Wo immer die Pfeile niedergingen, würden sie ihre Bräute finden. Der Pfeil des ältesten Sohnes bringt eine Zarentochter, der des zweiten Sohnes eine Herzogstochter, der Pfeil des jüngsten Sohnes Ivan fällt in einen Tümpel. Einen Frosch soll Ivan heiraten, der sich dann aber in eine wunderschöne Zarentochter verwandelt.
Dieses Märchen „Carevna Ljaguška“ [=Zarentochter Frosch] wurde zu meinem Lieblingsmärchen und wird für immer in allen Einzelheiten in meinem Gedächtnis bleiben.
Nicht nur für mich persönlich ist die Begegnung mit der zauberhaften Märchenwelt ein schönes Erlebnis. Jeder Mensch trägt schöne Erinnerungen an seine Lieblingsmärchen oder -melodien in sich, die er mehrmals gehört hat.
Aufmerksam wurde ich auf das Thema dieser Diplomarbeit als ich mein pädagogisches Praktikum im Kindergarten gemacht habe und die Begeisterung der Kinder bei der Märchenstunde beobachtet habe. Das Märchen besitzt meiner Meinung nach eine magische Kraft, die auf die menschliche Seele wie Balsam wirkt. Sie beruhigt, gibt Hoffnung und bringt auf optimistische Gedanken. Ich möchte die Wirkung und die Bedeutung dieser literarischen Form genau untersuchen und in der Arbeit „Märchen als Schlüssel zu sich selbst und zur Welt“ möchte ich meinen Berufsgenossen das Märchen unter verschiedenen psychologischen Aspekten präsentieren und diese seelische Schlüsselfunktion ergründen.
Es gibt eine unendlich große Zahl von allen möglichen Märchen. In meiner Arbeit möchte ich mich auf diejenigen Märchen konzentrieren, die sowohl bei mir als auch bei vielen anderen Menschen eine Faszination hervorgerufen haben. Da ich bis zu meinem 20. Lebensjahr in Russland aufgewachsen bin und somit eine besondere Vorliebe für russische Literatur habe, behandele ich das russische Märchen, obwohl ich damit in eine für den deutschen Leser wahrscheinlich unbekannte Welt eintauche.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
2. Märchenkatalog
3. Märchenforschung
3.1. Herkunft des Märchens
3.2. Wichtige Untersuchungsergebnisse der Märchenforschung
3.3. Allgemeines Schema der Analyse des Märchens
4. Das Wunderbare im Märchen
4.1. Das Zaubern und die menschliche Phantasie
4.2. Die Notwendigkeit des Zauberns für das Kind
5. Die Soziale Funktion des Märchens
5.1. Die moralische Erziehung
5.2. Die Weisheit der Alten
5.2.1. Der Vater
5.2.2. Die Mutter
5.3. Sozialkritik
6. Analyse des Kindermärchens
6.1. Hauptfigur
6.1.1. Der Name
6.1.2. Die Eltern und das soziale Milieu
6.1.3. Die Eigenschaften der Hauptfigur
6.2. Die Gegenspieler des Märchenhelden
6.3. Die Herausforderung
7. Symbole, Sinnbilder
8. Tiefenpsychologische Gesichtspunkte
8.1. Die Erlösung
8.2. Angst abbauende Funktion
8.3. Die Bausteine der Persönlichkeit
8.4. Der Inzest
8.5. Identitätssuche und Autonomiegewinnung
8.6. Liebesbedürfnis
9. Das Märchen und die Entwicklung der seelischen Kräfte
10. Märchen sind Lebenshilfe
11. Die Darstellung der Märchen in den Medien
11.1. Märchen in Film und Fernsehen
11.2. Märchen in Comics, Cartoons und Karikatur
12. Die Kunst des Märchenerzählens
13. Der Einsatz von Märchen in der Sozialen Arbeit
14. Der Einsatz von Märchen im Kindergarten
15. Zusammenfassung
Quellen
Anhang
Allgemeines Schema der Analyse des Märchens
Das Volksmärchen „Der Kloß“
Kriterien für Erzählerinnen und Erzähler im Rahmen EMG
2 Werbeflyer
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
„Märchen: das uns unmögliche Begebenheiten unter möglichen oder unmöglichen Bedingungen als möglich darstellt.“[1]
Johann Wolfgang von Goethe
Vorwort
Es war einmal ein russischer Zar. Er hatte drei Söhne. Er sagte ihnen, sie sollten einen silbernen Bogen und einen kupfernen Pfeil nehmen und damit so weit schießen wie sie konnten. Wo immer die Pfeile niedergingen, würden sie ihre Bräute finden. Der Pfeil des ältesten Sohnes bringt eine Zarentochter, der des zweiten Sohnes eine Herzogstochter, der Pfeil des jüngsten Sohnes Ivan fällt in einen Tümpel. Einen Frosch soll Ivan heiraten, der sich dann aber in eine wunderschöne Zarentochter verwandelt.
Dieses Märchen „Carevna Ljaguška“[2] [=Zarentochter Frosch] wurde zu meinem Lieblingsmärchen und wird für immer in allen Einzelheiten in meinem Gedächtnis bleiben.
Nicht nur für mich persönlich ist die Begegnung mit der zauberhaften Märchenwelt ein schönes Erlebnis. Jeder Mensch trägt schöne Erinnerungen an seine Lieblingsmärchen oder -melodien in sich, die er mehrmals gehört hat.
Aufmerksam wurde ich auf das Thema dieser Diplomarbeit als ich mein pädagogisches Praktikum im Kindergarten gemacht habe und die Begeisterung der Kinder bei der Märchenstunde beobachtet habe.
Das Märchen besitzt meiner Meinung nach eine magische Kraft, die auf die menschliche Seele wie Balsam wirkt. Sie beruhigt, gibt Hoffnung und bringt auf optimistische Gedanken. Ich möchte die Wirkung und die Bedeutung dieser literarischen Form genau untersuchen und in der Arbeit „Märchen als Schlüssel zu sich selbst und zur Welt“ möchte ich meinen Berufsgenossen das Märchen unter verschiedenen psychologischen Aspekten präsentieren und diese seelische Schlüsselfunktion ergründen.
Es gibt eine unendlich große Zahl von allen möglichen Märchen. In meiner Arbeit möchte ich mich auf diejenigen Märchen konzentrieren, die sowohl bei mir als auch bei vielen anderen Menschen eine Faszination hervorgerufen haben. Da ich bis zu meinem 20. Lebensjahr in Russland aufgewachsen bin und somit eine besondere Vorliebe für russische Literatur habe, behandele ich das russische Märchen, obwohl ich damit in eine für den deutschen Leser wahrscheinlich unbekannte Welt eintauche.
1. Einleitung
Märchen sind im Volk überlieferte fantastische Erzählungen. Der Begriff leitet sich von dem mittelhochdeutschen Wort maere [= Kunde] ab.
Der Begriff Märchen hat sich seit den Arbeiten der Brüder Grimm im Rahmen verschiedenartiger Gattungen eingebürgert. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sammelten die bis dahin nur mündlich überlieferten Märchen.[3] Diese Märchen sind seither beliebte Kinder- und Jugendliteratur. Die Brüder Grimm befassten sich neben dieser Sammeltätigkeit auch mit der Theorie des Märchens.[4] Sie beschrieben das Märchen als eigenständige literarische Gattung und grenzten es von Sagen, Legenden, Heldengeschichten, Fabeln und ähnlichen Prosaformen ab.
Märchen sind an Ort und Zeit nicht gebunden. Die typische Eingangsformel lautet: „Es war einmal…“ Charakteristisch für diese unterhaltsame Erzählform ist die Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte (Zauber, Verwünschung) und Gestalten (Hexen, Feen, Zwerge, Riesen). Typische Charaktere (der dümmliche Zarensohn, die böse Stiefmutter) kehren immer wieder. Märchen gibt es in den Literaturen aller Völker. In der russischen Literatur ist die Sammlung von Afanas´ev[5] besonders bedeutungsvoll.[6] Afanas´ev bemühte sich darum, ungedruckte oder verschlossene Texte aus dem 18. und 19. Jahrhundert und besonders solche, die durch die Zensur entstellt worden waren, der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen.[7]
Aus der großen Anzahl von Märchen haben sich in dieser Zeit einige Märchen als besonders beliebt bei den Hörern oder Lesern herausgebildet. Diese wie in einer Hitparade beliebtesten Märchen werden in jüngster Zeit auch in den modernen Medien (Internet, Film und Fernsehen) weiter verbreitet oder in Comics ganz neu dargestellt. Dabei zeigt es sich, dass die beliebtesten russischen Märchen nun auch in dieser neuen medialen Form des Märchenfilms über die Grenzen Russlands hinaus in Übersetzung bekannt werden. Deshalb habe ich einen Märchenkatalog zusammengestellt, der sowohl erzählte als auch geschriebene und verfilmte Märchen enthält.
Zunächst möchte ich zur Einstimmung auf das Thema ein Gedicht des russischen Schriftstellers Aleksandr Puškin zitieren.
Am Meeresstrand an stiller Stätte
Steht eine Eiche knorrig, krumm;
Ein Kater streicht an goldner Kette
Beständig um den Baum herum.
Er geht nach rechts – erzählt ein Märchen,
Nach links – und singt ein altes Lied.
Dort haust der Schrat, ein Elfenpärchen
Auf einem Halm im nahen Ried.
Noch nie betretne Wege führen
In ein noch unbekanntes Land;
Ein Häuschen steht mit offnen Türen
Auf Hühnerfüßen dort im Sand.
Das Meer, der Wald, die Fluren stecken
Voll Wunderdinge. Reihenweis
Betreten dreißig stolze Recken
Zusammen mit Neptun, dem Greis,
Den Strand beim Strahl der Morgensonne.
Ein Königssohn – des Vaters Wonne –
Erfreut durch Anmut und Verstand.
Ein Zauberer in einer Wolke
Trägt einen Ritter über Land
Und Meere dort vor allem Volke.
Im Kerker weint ein Kaiserkind,
Ein brauner Wolf bewacht die Holde;
Koschtschej sitzt dort auf seinem Golde.
Und Russlands Seele weht im Wind.
In jenem sagenhaften Reiche
Genoss ich einmal Met und Bier;
Der Kater auf der grünen Eiche
Erzählte seine Märchen mir…[8]
(A. Puškin)
2. Märchenkatalog
1. DER GESTRENGE FROST[9]
Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Der alte Mann hatte eine eigene Tochter und die Frau hatte eine eigene Tochter. Ihre Tochter hat die alte Frau verwöhnt und gehütet, die Stieftochter aber hat sie beschimpft und dazu gezwungen, die schwersten Arbeiten zu machen. Eines Tages schickte sie das arme Mädchen in den Wald, Holz zu holen. Es war eiskalt und der Wind tönte in den Baumästen. Das Mädchen hielt unter einer Tanne und hörte ein Krachen in den Ästen, das war der gestrenge Frost. Er sprach zu ihr: „Ich grüße dich, schönes Mädchen. Wozu bist du bei dieser Kälte in den Wald gegangen?“ Das Mädchen erzählte ihm, dass es nicht aus eigenem Wusch zum Holzsammeln hergekommen war. Der gestrenge Frost sagte: „Da du schon in meinen Wald gekommen bist, zeige mir, was für eine Handarbeiterin du bist. Nähe mir aus diesem Stück Leinen ein Hemd.“ Und er verschwand. Ohne langes Zögern machte es sich an die Arbeit und nähte die ganze Nacht durch. Am Morgen erschien der gestrenge Frost, sah das Hemd und lobte das Mädchen: „Wie die Arbeit ist, so ist auch die Belohnung.“ Er kleidete das Mädchen in einen Pelzmantel und bereicherte es mit reichen Geschenken. „Auf Wiedersehen, schönes Mädchen, mein Pferd wird dich nach Hause bringen.“ Die alte Frau und ihre Tochter freuten sich zu Hause: „Sie wird erfrieren und nicht mehr nach Hause zurückkehren. Als das Mädchen zurückkam, fragte sie es aus und das Mädchen erzählte die Geschichte. Die alte Frau schickte ihre eigene Tochter in den Wald. Dieses Mal sollte die verwöhnte Tochter die Handschuhe stricken. Sie sagte aber: „Was für eine Arbeit, du alter Narr? Siehst du nicht, dass ich fast zu Tode erfroren bin. Ich stricke doch nicht bei solcher Kälte! Da friere ich mir ja die Finger ab!“ „Nun wie die Arbeit, so die Belohnung.“ – sprach der gestrenge Frost, zückte seine Wünschelrute, ein Schneesturm kam auf und wehte alle Wege und Pfade zu. Die alte Frau ging auch in den Wald, die Tochter zu suchen. Die kamen aber nie zurück. Die böse Stiefmutter und ihre Tochter bekamen also eine gerechte Strafe für ihre bösen Taten. Und so begann der alte Mann, allein mit seiner Tochter zu leben. Die Tochter lernt kurz danach einen Zarensohn kennen und heiratet ihn.
2. DIE HEXE UND DIE SONNENSCHWESTER[10]
In einem Zarenreiche, in einem fernen Lande, lebten einst ein Zar und eine Zarin. Sie hatten einen Sohn, der hieß Ivan Carevič und war vor Geburt an stumm. Als er zwölf Jahre alt wurde, ging er einmal in den Stall zu seinem liebsten Stallknecht. Dieser Stallknecht erzählte ihm immer Märchen. Diesmal hörte er etwas anderes. „Ivan Carevič“, sagte der Stallknecht. „deine Mutter wird bald eine Tochter bekommen und du eine Schwester, die eine Hexe wird. Sie wird deine Eltern und auch alle Untertanen auffressen. Geh also zu deinem Vater und erbitte dir von ihm das allerbeste Pferd und sag, dass du spazieren reiten willst. Dann aber reite von hier fort, wohin die Augen sehen, wenn du dem Unglück entgehen willst.“ Ivan Carevič kam zum Vater gelaufen und sprach zum ersten Mal seit seiner Geburt. Der Zar freute sich so darüber, dass er gar nicht erst viel fragte, wozu er das gute Pferd brauche, sondern sogleich befahl, das allerbeste Pferd aus seinen Ställen für den Zarensohn zu satteln. Ivan ritt fort und kommt irgendwann zu zwei alten Näherinnen und bittet sie, ihn aufzunehmen. Die Alten sagten: „Wir würden dich gerne aufnehmen, Ivan Carevič, aber wir haben nicht mehr lange zu leben. Sobald wir die letzte von den Nadeln, mit denen diese Truhe gefüllt ist, beim Nähen zerbrochen haben und den Zwirn, mit dem jene andere Truhe gefüllt ist, verbraucht haben – kommt unser Tod!“ Ivan Carevič fing an zu weinen und ritt weiter. Lange ritt er. Da kommt er zum Eichendreher und bittet ihn um dasselbe. Der Eichendreher sagt aber: „Sobald ich die Eichen da mit den Wurzeln herausgedreht habe – da kommt auch schon mein Tod!“ Noch bitterlicher begann der Zarensohn zu weinen und ritt immer weiter und weiter. So kommt er zum Bergedreher und bittet auch ihn. Er aber antwortet: „Gern würde ich dich aufnehmen, Ivan Carevič, aber ich habe nicht mehr lange zu leben. Sieh, ich bin angestellt, Berge umzudrehen. Sobald ich mit diesen letzten hier fertig bin – da kommt auch schon mein Tod!“ Ganz bitterliche Tränen vergoss Ivan Carevič und ritt weiter. Lange ritt er und kommt endlich zur lieben Sonnenschwester. Sie nahm ihn bei sich auf, gab ihm zum Essen, zum Trinken und sorgte für ihn wie für einen leiblichen Sohn. Gut hatte es Carevič bei ihr, aber er wollte wissen, was zu Hause geschieht. Er bittet sie immer wieder, ihn in die Heimat ziehen zu lassen. Endlich gab sie nach und ließ ihn in die Heimat. Sie gab ihm eine Bürste, einen Kamm und zwei jungmachende Äpfel: Wie alt ein Mensch auch sein mag, kaum isst er solch einen Äpfel – sofort wird er wieder jung. Ivan Carevič kam zum Bergedreher; nur ein Berg war noch übrig. Er nahm seine Bürste und warf sie ins weite Feld. Plötzlich, man weiß nicht, wie, wuchsen aus der Erde hohe, hohe Berge. Der Bergdreher freute sich und machte sich fröhlich an die Arbeit. Ob lang, ob kurz – kam Ivan Carevič zum Eichendreher; nur drei Eichen waren noch übrig. Er nahm den Kamm und warf ihn ins weite Feld. Da plötzlich – wer weiß, woher - erhoben sich dichte Eichenwälder aus der Erde und begannen zu rauschen. Der Eichendreher freute sich, dankte dem Zarensohn und machte sich an die Arbeit. Ob lang, ob kurz – da kam Ivan zu den beiden Alten und gab jeder von ihnen einen Apfel. Sie aßen die Äpfel auf, wurden sofort ganz jung und schenkten ihm ein kleines Tuch. „Sobald du mit dem Tuch winkst, wird hinter dir ein großer See sein.“ Ivan Carevič kommt nach Hause. Seine Schwester läuft ihm entgegen, begrüßt ihn und ist freundlich zu ihm: „Setz dich, lieber Bruder“, sagt sie, „spiel auf der Zither, ich will unterdessen gehen und das Mittagessen für dich bereiten.“ Da kommt ein Mäuschen aus dem Loch heraus und spricht mit menschlicher Stimme: „Rette dich, Carevič, lauf so schnell du kannst! Deine Schwester ist gegangen, ihre Zähne zu wetzen.“ Ivan setzte sich auf sein Pferd und ritt zurück. Da wurde die Hexe wütend und lief dem Bruder nach. Da winkte er mit dem Tuch, und hinter ihm war ein tiefer See. Die Hexe schwamm aber ganz schnell durch den See. Der Eichendreher sah, dass der Zarensohn auf der Flucht war, und fing an, Eichen auszureißen und über den Weg zu werfen. Die Hexe kam aber mit Mühe und Not durch. Der Bergedreher erblickte die Hexe, ergriff den allerhöchsten Berg und drehte ihn genau über den Weg. Während die Hexe hinaufkroch, ritt Ivan und erreichte den Palast der Sonnenschwester und rief: „Sonne! Sonne! Öffne das Fenster!“ Die Sonnenschwester öffnete das Fenster und der Zarensohn sprang hinein mitsamt seinem Pferd. Da begann die Hexe zu bitten, man möge ihr den Bruder ausliefern; die Sonnenschwester hörte nicht auf sie und lieferte ihn nicht aus. Da spricht die Hexe: „Es soll Ivan Zarensohn mit ihr auf die Waage gehen, wer wen überwiegt. Wenn ich ihn überwiege, so fresse ich ihn, und wenn er überwiegt, so mag er mich töten.“ Sie machten sich daran. Zuerst setzte sich Ivan Zarensohn auf die Waage und dann schickte sich auch die Hexe an hinaufzusteigen: nur einen Fuß setzte sie auf die Waagschale, so wurde Ivan Zarensohn in die Höhe geworfen, und zwar mit solcher Gewalt, dass er direkt in den Himmel gelangte, zur Sonnenschwester in die Obergemächer, die Schlangenhexe aber blieb auf der Erde.
3. DIE FEDER FINISTS, DES HELLEN FALKEN[11]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die jüngste von drei Töchtern bittet ihren Vater, der in die Stadt fährt, ihr „die Feder von Finist, dem lichten Falken“ zu kaufen, während die beiden älteren Schwestern Stoff, Kopftücher und Ohrringe erbitten. Diese Feder findet der Vater erst bei seiner dritten Ausfahrt: „Draußen vor dem Stadttor begegnete er einem alten Mann, der trug einen kleinen Korb. „Was trägst du da, Alter?“- „Die Feder von Finist, dem lichten Falken.“- „Was verlangst du dafür?“- „Einen Tausender.“ (1000 Rubel). Der Vater zählte das Geld und fuhr geschwind heim mit dem Korb. Im Schlafgemach der Jüngsten verwandelt sich die Feder in einen wunderschönen Carevič. Die missgünstigen Schwestern stecken ins Fenster der Jüngsten Messer und Nadeln, an denen sich der Falke, der zu seiner Liebsten hineinfliegen will, blutig schneidet. Er ruft der Geliebten zu: „Suche mich am Ende der Welt. Doch bevor du nicht drei Paar Eisenschuhe durchgelaufen, drei Eisenstecken zerbrochen, drei Hostien aus Stein verschlungen hast, wirst du mich nicht finden!“ Auf ihrer ungeheuren Suchwanderung in das „dreimal zehnte Reich“ kommt die Liebende zu drei alten Frauen. Diese Grenzwächterinnen raten ihr und beschenken sie mit wunderbaren Gaben, durch die die Liebende sich drei Nächte im Schlafgemach ihres Mannes erkauft, der im Jenseits mit einer anderen verheiratet ist. Der Geliebte erkennt sie aber erst, als eine ihrer Tränen ihn verbrennt, und er erwacht. Beide fliehen, heiraten später im Hause des Vaters und sind für immer glücklich.
4. EMELJA ODER AUF HECHTES GEHEISS[12]
In einem Dorf lebte ein alter Mann, der hatte drei Söhne: Zwei waren klug und fleißig, der dritte aber, er hieß Emelja, war nicht besonders schlau und ziemlich faul, doch ein netter Kerl mit einem guten Herz. Einmal waren die zwei ältesten Brüder beschäftigt, Emelja aber lag auf einem russischen Ofen. Man hat ihn überredet, das Wasser zu holen. Er ging zum Fluss. Das hat sich gelohnt. Da sah er im Eisloch einen Hecht und fand ihn. Da sprach der Hecht auf einmal mit Menschenstimme: „Emelja, lass mich wieder ins Wasser, ich werde dir noch von Nutzen sein!“ Der Hecht hat Emelja versprochen, ihn glücklich zu machen, indem er alle seine Wünsche erfüllt. Der Jüngling sollte bloß sagen: „Auf Hechtes Geheiß, nach meinem Willen sei es“ Gesagt - gemacht. Emelja nutzte manchmal diesen Zauber. Der Zar platzte vor Wut, als er erfährt, dass Marija Carevna sich in Emelja verliebte und mit ihm zusammen sein möchte. Er wollte auf keinen Fall seine Tochter mit einem armen Narren verheiraten. Er gab den Befehl, ein großes Fass mit Eisenreifen herbeizuschaffen. In dieses Fass schloss man den schlafenden Emelja und Marija Carevna ein, dann versiegelte man es mit Pech und warf es ins Meer. Emelja nützt seinen Zauber, um sich und Carevna zu befreien. Dann lässt er ein wunderschönes Schloss zaubern und sich selbst verwandelt er in einen hübschen Burschen. Nun schickte Emelja einen Boten zum Zaren und bat ihn zu Besuch. Der Zar kam und fand ein Schloss stehen, wo vorher keines gewesen war. Seine Tochter und ein bildhübscher Bursche begrüßen den Gast. „Wer bist du? – fragte der Zar´. „Kannst du dich noch an Emelja den Narren erinnern, der auf seinem Ofen zu dir kam? Der bin ich.“ Der Zar lachte und weinte vor Glück und bat Emelja um Verzeihung.-„Heirate meine Tochter, mein Sohn, und nimm mein Zarenreich als Mitgift!“ So geschah es auch. Emelja war ein würdiger und gerechter Zar.
5. SCHWESTERCHEN ALENUŠKA UND BRUDERHERZ IVANUŠKA[13]
Zwei Waisen waren auf einer langen Wanderschaft. Ihre beiden Eltern waren gestorben. Alenuška und Ivanuška gingen in die Welt wandern. Ivanuška bekam Durst. Die Schwester erlaubte dem Bruder nicht, aus dem Hufabdruck zu trinken. Bei der dritten Gelegenheit gehorchte Ivanuška nicht und verwandelte sich in ein weißes Böckchen. Ein König fuhr vorüber und sah das Mädchen weinen und fragte: „Warum weinst du, schönes Mädchen?“ Sie erzählte ihm von ihrem Unglück. Der Mann sprach zu ihr: „Heirate mich, mit Gold und Silber will ich dich schmücken und auch dein Böckchen soll bei uns bleiben.“ Alenuška willigte ein, sie hielten Hochzeit und lebten einträchtig. Eines Tages musste der Mann verreisen. Da kam eine Hexe. Sie führte die junge Frau zum Fluss, dort band sie ihr einen Stein um den Hals und stieß sie ins Wasser. Sie selber verwandelte sich in Alenuška. Niemand bemerkte den Unterschied, außer dem Böckchen. Er lief den ganzen Tag über am Ufer entlang und rief sein Schwesterchen. Die Hexe beobachtete dies und sagte immer wieder: „Schlachte doch das Böckchen!“ Die Hexe ließ ein Feuer anmachen und stählerne Messer vorbereiten. Sie fand das Böckchen aber nicht und schickte einen Diener zum Fluss. Der Diener ging zum Fluss und hörte das Gespräch:
„Ach Alenuška, steig herauf. Die Flammen gehen hoch, die Messer sind geschärft! Ich soll geschlachtet werden. Und Alenuška antwortete ihm aus dem Fluß: „Ach Bruderherz Ivanuška, der Stein ist schwer. Ich kann nicht.“
Der Diener lief heim und meldete es. Alenuška wurde gerettet. Da schlug das Böckchen vor lauter Freude drei Purzelbäume und wurde wieder der Knabe. Die böse Hexe wurde an ein Pferd gebunden und über das weite Feld zu Tode geschleift. Der König und Alenuška feierten Hochzeit und lebten sehr glücklich.
6. FÜRST DANIEL UND SEINE SCHWESTER[14]
Ein Fürstensohn erhält von einer Hexe ein glückbringendes Ringlein, dessen Zaubermacht an die Bedingung geknüpft ist, dass er kein anderes Mädchen heirate als dasjenige, an dessen Finger der Ring passe. Wie er nun erwachsen ist, geht er auf die Brautsuche, aber vergeblich, keiner will der Ring passen. Er klagte sein Leid seiner Schwester, die den Ring anprobieren will. Er sitzt wie angegossen. Da will der Bruder sie heiraten; sie hält das aber für Sünde und sitzt weinend vorm Haus. Alte Bettler, die vorbeiwandern, trösten sie und geben ihr folgenden Rat: „Mache vier Puppen und setzte sie in die vie Ecken des Zimmers. Ruft dein Bruder zur Trauung, so gehe, ruft er dich ins Schlafgemach, so lasse dir Zeit! Hoffe auf Gott und folge unserem Rat!“
Nach der Trauung ruft der Bruder sie ins Bett. Da singen die vier Puppen:
„Fürst Daniel hat es befohlen,
Will seine Schwester zur Frau sich holen,
Erde tu dich auf,
Nimm sie auf.“
Die Erde springt auf und verschlingt die Schwester. Der Bruder ruft sie dreimal. Beim dritten Mal aber ist sie in der Erde verschwunden. Sie geht nur unter der Erde weiter und kommt zur Hütte der Baba Jaga, deren Tochter ihr freundlich Herberge gibt und sie zunächst vor der Hexe versteckt. Bald aber entdeckt diese den Gast und lässt den Ofen heizen. Die beiden Mädchen stecken nun die Alte in den Ofen und entkommen der Verfolgung durch die Hexe. Sie gelangen in das Fürstentum des Bruders, wo die Schwester vom Diener ihres Bruders erkannt wird. Der Diener kann aber die beiden Mädchen nicht unterscheiden, so gleich sehen sie aus. Der Diener rät nun dem Fürsten eine Probe an: er solle eine Haut mit Blut gefüllt unter den Arm nehmen. Er (der Diener) werde ihm dann ein Messer in die Seite stoßen und der Herr solle wie tot hinfallen, dann werde sich die Schwester schon verraten. So geschieht es auch: Die Schwester wirft sich klagend über ihn. Er aber springt auf und umarmt seine Schwester. Der magische Ring passt auch an den Finger der Hexentochter, die der Fürst später heiratet. Seine Schwester wird einem rechten Mann die gute Frau.
7. DIE SCHWEINEHAUT[15]
Ein Großfürst hatte eine wunderschöne Frau, die liebte er über alle Maßen. Als die Fürstin starb, hinterließ sie ihm eine einzige Tochter, die war ihrer Mutter so ähnlich wie ein Tropfen Wasser dem anderen. Der Großfürst sprach: „Liebe Tochter! Nun will ich dich heiraten.“ Sie ging auf den Friedhof zu dem Grab ihrer Mutter und weinte herzzerreißend. Da sprach die Mutter: „Lass dir ein Kleid kaufen, es soll über und über mit Sternen besetzt sein.“ Der Vater kaufte ihr ein solches Kleid und begehrte sie noch heftiger. Die Tochter ging wieder zu ihrer Mutter, die sprach: „Lass dir ein Kleid kaufen, auf dem Rücken soll der helle Mond leuchten, auf der Brust die helle Sonne.“ Der Vater kaufte ihr ein solches Kleid und begehrte sie noch heftiger. Da ging die Tochter noch einmal auf den Friedhof: „Mütterchen, der Vater begehrt mich noch heftiger.“ - „Dann, Kindchen“, antwortete die Mutter, „lass dir ein Kleid aus Schweinehaut nähen.“ Sobald die Schweinehaut zusammengenäht war, schlüpfte die Tochter hinein. Der Vater wollte sie nicht mehr und jagte sie aus dem Haus. Sie schlug ein Kreuz über ihre Augen und trat aus dem Tor hinaus. „Ich will nach Gottes Ratschluss wandern!“ Sie wanderte drei Tage und kam in ein fremdes Land.
Auf einmal zogen Wolken auf, ein Gewitter brach los. Da sah die Prinzessin eine riesige Eiche. Sie kletterte hinauf und setzte sich auf einen dichtbelaubten Ast. Ein Zarensohn jagte in der Nähe. Als er an der Eiche vorbeifuhr, waren seine Hunde kaum zu halten und bellten. Der Carevič wollte wissen, warum seine Hunde den Baum anbellten. Er schickte seine Diener zur Eiche; der Diener kehrte zurück und sagte: „Ach, Majestät! Auf der Eiche sitzt ein Tier, das kein Tier ist, sondern das Wunder aller Wunder!“ Der Zarensohn trat an die Eiche und fragte : „Was bist du für ein Wundertier? Kannst du sprechen?“ Die Prinzessin antwortete: „Ich bin Schweinehaut.“ Der Carevič fuhr nicht weiter, jagte nicht länger, sondern hob Schweinehaut in seine Kutsche und sprach: „Ich will dieses Wundertier meinen Eltern zeigen!“ Der Vater und die Mutter staunten und wiesen ihr eine besondere Kammer an.
Kurze Zeit darauf lud der Zar zu einem Ball. Alle Hofleute waren dabei und amüsierten sich. Da fragte Schweinehaut einen Diener: „Darf ich mich an die Tür stellen und bei dem Fest zuschauen?“ - „Das ist nichts für dich, Schweinehaut!“ Da ging sie aufs freie Feld hinaus und legte ein strahlendes Kleid an, über und über mit Sternen besetzt! Dann pfiff sie und rief mit lauter Stimme und schon fuhr eine Kutsche vor; sie stieg ein und ließ sich zu dem Ball fahren. Sie kam und tanzte ohne Unterlass. Alle staunten: Wer war diese schöne Fremde? Sie verschwand unbemerkt. Der Carevič kam zur Schweinehaut und fragte: „Bist du vielleicht die Schöne, die auf dem Ball tanzte?“ Sie antwortete: „Wie soll ich, Schweinehaut, tanzen? Ich habe nur eine Weile an der Tür gestanden.“
Und wiederum lud der Zar zu einem Ball. Schweinehaut kommt wieder zum Ball in ihrem zweiten schönen Kleid und verschwand wieder. Der Zarensohn ist verzweifelt, aber er kommt auf die Idee die erste Treppenstufe mit Pech zu bestreichen, damit das Schühchen daran kleben bliebe.
Bei dem dritten Ball war die Prinzessin noch schöner anzusehen, aber als sie den Palast verlassen wollte, blieb ihr Schühchen an dem Pech kleben. Der Carevič hob das Schühchen auf und zog damit durch das ganze Land, um das Mädchen zu finden, dem dieses Schühchen passte. Er reiste durch sein ganzes Reich – keiner wollte das Schühchen passen. Er kehrte nach Hause zurück, ging zu Schweinehaut und sagte: „Zeig mir deine Füße!“ Sie zeigte ihm ihre Füße. Er probierte ihr den Schuh an, der Schuh saß wie angegossen. Der Carevič schlitzte die Schweinehaut auf und zog sie ihr aus. Darauf nahm er die Prinzessin an ihrer weißen Hand und ging mit ihr zu seinen Eltern, um sie um ihren Segen für seine Vermählung zu bitten. Der Zar und die Zarin segneten die beiden. Bald darauf feierten sie Hochzeit; der Carevič fragte seine Frau: „Warum hattest du die Schweinehaut übergezogen?“- „Weil ich meiner seligen Mutter ähnlich bin“, antwortete sie, „und mein Vater mich zur Frau nehmen wollte.“
8. DIE ZARENTOCHTER FROSCH[16]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ein russischer Zar hat drei Söhne und als sie erwachsen sind, sagt er ihnen, sie sollten einen silbernen Bogen und einen kupfernen Pfeil nehmen und damit soweit schießen, wie sie könnten. Wo immer die Pfeile nieder gingen, würden sie ihre Bräute finden. Der Pfeil des ältestes Sohnes bringt eine Zarentochter, der des zweiten Sohnes eine Herzogstochter und in beiden Fällen heiratet der betreffende Sohn das Mädchen, das den kupfernen Pfeil zurückbrachte. Der Jüngste schießt auch und sein Pfeil fällt in einen Tümpel. Ein Frosch bringt ihn zurück und besteht darauf, geheiratet zu werden. Der alte Zar sagt hierauf, alle seine zukünftigen Schwiegertöchter müssten Kuchen backen und es findet ein Wettbewerb statt. Der jungte Sohn geht zum Frosch und weint, aber tatsächlich backt der Frosch die besten Kuchen. Dann muss Leinen gewebt werden und wieder gewinnt der Frosch. Der dritte Test besteht darin zu zeigen, welche Braut am schönsten ist. Der Frosch sagt zu seinem Bräutigam: „Geh nach Hause und hab Vertrauen in mich, dann wirst du sehen. Wenn es zu regnen beginnt, musst du sagen, deine Braut wasche sich; wenn es donnert und blitzt, musst du sagen, dass sie jetzt ihre Kleider anzieht.“ Er tut alles genauso wie der Frosch sagte. Alle anderen lachen, machen sich über Ivan lustig. Aber die Tür öffnet sich und herein kommt eine wunderschöne Frau, viel schöner als irgendeine andere. Beim Hochzeitsessen steckt dann der frühere Frosch einen Teil des Mahles in seinen Ärmel. Die anderen finden es lustig, tun aber dasselbe. Als die Nahrung aus dem Ärmel der Froschprinzessin herausfällt, wird sie zu einem wunderschönen Baum mit einem schwarzen Kater darauf, der singt und Märchen erzählt. Die anderen tun mit der Nahrung das gleiche, aber sie fliegt dem Zaren ins Gesicht und er wird darüber sehr ärgerlich.
Der jüngste Sohn ist nun glücklich mit seiner Braut, die nicht mehr ein Frosch ist. Er geht hinauf in sein Zimmer, und da sieht er die Froschhaut auf dem Boden liegen. Er nimmt sie und wirft sie ins Feuer. Die Braut kommt hinauf und sagt betrübt, nun habe er alles verdorben, denn jetzt müsse sie fortgehen, vielleicht könne er sie dann wieder finden, wenn er sehr klug sei. Er geht zu einer berühmten Hexe – der Baba Jaga – die ihm den richtigen Weg weist. So kommt er zum Ende der Welt, jenseits eines großen Meeres. Dort findet er seine Braut, wie sie in großer Trauer in einem Glaspalast hinter eisernen, silbernen und goldenen Türen sitzt. Er befreit sie und sie entkommen den Verfolgungen des Drachens, dem der Palast gehört. Sie war von ihrem Vater verflucht und gezwungen worden, diesem Drachen zu dienen, jetzt aber ist sie erlöst.
9. DAS BUCKLIGE PFERDCHEN[17]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im Gegensatz zu den älteren Brüdern gelingt es Ivan, das goldene fliegende Pferd einzufangen, welches das Kornfeld des Vaters regelmäßig verwüstet hat. Um freizukommen, schenkt das Pferd Ivan zwei herrliche Hengste, Ivan verfolgt sie und findet unterwegs eine goldene Feder. Auf dem Markt angelangt, kann er als einziger die inzwischen ausgebrochenen und Verwüstung stiftenden Pferde bändigen, verkauft sie dem Zaren und gibt den Erlös den Brüdern. Zur Belohnung wird Ivan erster Stallmeister am Zarenhof. Sein degradierter Vorgänger entdeckt die goldene Feder und zeigt sie dem Zaren, woraufhin Ivan den Feuervogel herbeischaffen muss. Später flüstert der alte Stallmeister dem Zaren ein, Ivan könne die „Tochter der Sonne“ holen. Alle Aufgaben löst der Held mit Hilfe des kleinen buckligen und fliegenden Pferdes. Als der Zar die „Tochter der Sonne“ heiraten will, verlangt diese ihren Ring vom Meeresboden, was Ivan wieder besorgen muss. Als er einem Wal begegnet, der verflucht ist, nicht untertauchen zu können, rät er ihm, die dreißig Schiffe auszuspucken, welche er einst verschluckt habe. Der Meeresriese wird dadurch erlöst und holt Ivan den gesuchten Ring herauf. Schließlich verlangt die Prinzessin, der Zar müsse sich verjüngen, und zwar durch einen Sprung in einen Bottich Milch, in einen mit heißem und in einen mit kaltem Wasser. Auf den Rat des ehemaligen Stallmeisters, der das bucklige Pferdchen inzwischen eingefangen hat, soll Ivan das Jungbrunnenbad vorexerzieren. Gerade noch rechtzeitig kann sich das Zaubertier befreien und reguliert mit seinem Atem die tödlichen Temperaturen der Bäder. Da Ivan als schöner Jüngling hervorgeht, springt der Zar ebenfalls in die Bottiche und stirbt.
10. FREUND ELEND UND DER ARME BAUER[18]
Ein armer Bauer geht zu seinem Bruder, einem reichen Kaufmann, und bittet ihn um Hilfe aus seiner Not. Der Geizige lässt ihn eine Woche lang für einen Leib Brot arbeiten und lädt ihn und seine Frau zu einem Fest ein. Nachdem die Feier beendet ist, kehrt der Bauer mit seiner Frau hungrig zurück und singt aus Dankbarkeit ein sarkastisches Lied über die Not, woraufhin diese als Person erscheint und sich an ihn klammert. Die Not verführt den armen Bauer dazu, seinen letzten Besitz im Wirtshaus zu vertrinken. Als der Bauer völlig pleite ist, zeigt ihm die personifizierte Not unter einem Stein einen Schatz, den der Bauer hebt; dieser gibt vor, es sei ein Goldstück zurückgeblieben und bittet die Not, in das Loch hinabzusteigen, woraufhin der Bauer schnell den Stein darüberwälzt. Der reiche Kaufmann wird auf den neuen Wohlstand des Bruders neidisch. Er drängt auf die Preisgabe des Geheimnisses und befreit die Not, damit sie sich wieder an den Bruder hefte, doch stattdessen hängt sich das Übel an ihn selber; nachdem der Reiche die Hälfte seines Besitzes verloren hat, bringt er die Not dazu, ihm zu zeigen, wie sie sich in einem Brunnen verstecken könnte, woraufhin er diesen schnell zuschüttet.
11. DAS GLÜCKSKIND[19]
Dem König wird prophezeit, dass der neugeborene siebte Sohn eines Bauern einst seine Tochter heiraten werde. Er zwingt den Bauern, ihm den Säugling zu überlassen und stürzt das Kind einen Felsenabgrund hinab. Weil sich das Wickeltuch an einem überhängenden Ast verfängt, wird das Kind sanft entrollt, landet im weichen Sand, wird gefunden und großgezogen. Als der König siebzehn Jahre später erfährt, dass das Glückskind noch lebt, schickt er es mit einem Brief, in dem die Tötung des Überbringers befohlen wird, an seinen Hof. Unterwegs trifft das Glückskind den Koch einer Räuberbande, der den Brief mit einem anderen vertauscht, in dem der König die Heirat des Boten mit der Prinzessin befiehlt. Um das Glückskind loszuwerden, nötigt es der später zurückkehrende König, ihm eine goldene Feder des Greifens zu bringen. Auf dem Weg gibt ein Fährmann dem Helden die Frage mit, warum er zum unaufhörlichen Übersetzen verdammt sei. Mit Hilfe des Kochs, der inzwischen von dem Greifen, einem drachenähnlichen Ungeheuer, gefangen genommen worden ist, erhält das Glückskind die goldene Feder und die gesuchte Antwort. Obendrein nimmt das Glückskind Schätze mit auf den Rückweg. Der gierige König will sich ebenfalls Gold holen und wird, indem er die Ruderstange des Fährmannes übernimmt, zum ewigen Übersetzen verdammt.
12. DIE SCHÖNE VASILISA[20]
Die sterbende Mutter übergibt der schönen Tochter Vasilisa eine wunderschöne Puppe, die ihr einmal in der Not beistehen würde. Von der neuen Stiefmutter und den beiden Stiefschwestern wird das Mädchen durch schwere Arbeiten arg drangsaliert, welche die Puppe heimlich verrichtet, nachdem sie jedes Mal gefüttert worden ist. Um das Mädchen loszuwerden, schickt es die böse Stiefmutter zur Baba Jaga; dort solle sie Feuer holen, da im Haus keines mehr brenne. Morgens, mittags und abends trifft Vasilisa drei Reiter; von der Hexe erfährt sie, dass es ihre Diener seien: Der weiße Reiter bringe den Morgen, der rote den Mittag und der schwarze den Abend. Auch von der Baba Jaga werden Vasilisa viele Arbeiten aufgetragen, die von der Puppe erledigt werden. Als die Hexe erfährt, dass das Mädchen von der Mutter gesegnet sei, will sie es loswerden und schickt es mit einem Totenkopf zurück, in dem das gesuchte Feuer brennt. Zu Hause werden die bösen Stiefverwandten beim Anblick des Totenkopfes verbrannt, woraufhin Vasilisa in den Dienst einer guten alten Frau tritt. Hier spinnt sie mit Hilfe der Puppe ein übernatürlich feines Leinentuch, das die Alte dem Zaren bringt. Da sich niemand traut, das Leinen zuzuschneiden, bearbeitet es Vasilisa mit Hilfe ihrer Puppe. Zur Belohnung nimmt sie der Zar zur Frau.
3. Märchenforschung
3.1. Herkunft des Märchens
„Die unvergängliche Kraft des Märchens, des Humors der Völker, des Volksmundes ernährt sich aus dieser schlummernden Weisheit, die mit der Liebe zum Menschenwerden hereinstrahlt aus den Sphären des Schicksals, aus dem geistigen Reich der Ungeborgenheit“[21]
[...]
[1] Goethe 1998: S. 498
[2] Narodnye skazki 1979
[3] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. 3 Bände. 1812-1822
[4] Jacob und Wilhelm Grimm: Circularbrief. 1815
[5] A.N. Afanas´ev: Narodnye russkie skazki. 1855-1863
[6] Zusammengestellt nach: Duden 1989, Brockhaus 1998, Wilpert 1989
[7] Afanas´ev 1990: S. 439
[8] Puškin, zit. nach Afanas´ev 1990: S. 7
[9] Vgl. www. russouvenier.de ähnlich Rukadel´nica i lenivica in: Odoevskij 1976: S. 158 f. ähnlich Morozko in: Narodnye skazki 1979: S. 163 ff.
[10] Afanas´ev 1990: S. 40 ff.
[11] Afanas´ev 1990: S. 233 ff.
[12] Vgl. www.roussouvenier.de ähnlich Po ščuč´emu veleniju. In: Narodnye skazki 1979: S. 305 ff.
[13] Vgl. www.rossouvenier.de, ähnlich: Sestrica Alenuška i bratec Ivanuška In: Narodnye skazki 1979: S. 168 ff.
[14] Afanas´ev 1990: S.81 ff.
[15] Kast 1992: S. 15 ff.
[16] Vgl. www.rossouvenier.de, ähnlich: Carevna Ljaguška. In: Narodnye skazki 1979: S. 173 ff.
[17] Vgl. Zeichentrickfilm UDSSR 1949, ebenso Jeršov Pjotr: Konek Gorbunok 1974.
[18] Handpuppenspiel 1983 Deutschland/Griechenland. In: Märchenreihe KLEINE BÜHNE /LV Afanas´ev „Die Not
[19] Vgl. Realfilm+Animatronics, England 1987. In: Serie JIM HENSON BESTE GESCHICHTEN (THE STORYTELLER), Folge 7, ähnlich: „Marko der Reiche und Wassilij der Glücklose“, Afanas´ev 1990: S. 339 ff.
[20] Vgl. Handpuppenspiel 1981Deutschlland/Griechenland. In: Märchenreihe KLEINE BÜHNE, ähnlich Vasilisa die Wunderschöne, Afanas´ev 1990: S.50 ff.
[21] Kleine Märchen und Geschichten 2000: S. 8
- Quote paper
- Olga Ehrlich (Author), 2005, Märchen als Schlüssel zu sich selbst und zur Welt: Eine Auseinandersetzung mit russischen Märchen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43719
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