Die Arbeit beleuchtet die individual- und sozialpsychologischen Aspekte der Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit. Klassische Erklärungsansätze (Entwicklungspsychologie, Autoritarismus-, Narzissmus- und Desintegrationstheorien) werden dargestellt und ein integratives, psychosoziales Modell der Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit erarbeitet. Daraus ergeben sich Konsequenzen für eine gelungene Prävention von Fremdenfeindlichkeit, die gesellschaftlichen Wandel mit einschließt. Abschließend wird die Psychologie als Wissenschaft dahingehend kritisiert, dass sie selbst einen Wandel vollziehen muss, um die Komplexität der Fremdenfeindlichkeit wirklich erfassen zu können und so zu gelingender Prävention beizutragen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
1.1 Anliegen und Ziel der Arbeit
1.2 Methode
1.3 Terminologie
1.3.1 Der Begriff "Psychodynamik"
1.3.2 Der Begriff "Fremdenfeindlichkeit"
2. Die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit
2.1 Individualpsychologische Aspekte
2.1.1 Entwicklungstheoretische Perspektive
2.1.1.1 Primärer Narzissmus
2.1.1.2 Bindungstheoretische Aspekte
2.1.1.3 Konflikte der "analen Phase" und Autonomieentwicklung
2.1.1.4 Adoleszenz und die Bedeutung der Identität
2.1.1.5 Zusammenfassung der entwicklungstheoretischen Perspektive
2.1.2 Autoritarismustheoretischer Ansatz
2.1.3 Narzissmustheoretischer Ansatz
2.1.4 Desintegrationstheoretischer Ansatz
2.1.5 Psychodynamische Besonderheiten im Zusammenhang mit Geflüchteten
2.1.6 Integration der individualpsychologischen Perspektiven
2.2 Psychoanalytisch-sozialwissenschaftliche Aspekte
2.2.1 Die Begrenztheit der individualpsychologischen Perspektive
2.2.2 Gegenstand und Ziele der psychoanalytischen Sozialwissenschaften
2.2.3 Sozialisation in der psychoanalytischen Sozialpsychologie
2.2.3.1 Zum Begriff der Sozialisation
2.2.3.2 Das Konzept des "psychosozialen Kontrakts" bei Günter Lempa
2.2.3.3 Der Zusammenbruch des Kontrakts das Konzept der "sozialen Panik"
2.2.4 Der psychosoziale Kontrakt im 19. und 20. Jahrhundert
2.2.4.1 Erziehung und Sozialisation im 19. und 20. Jahrhundert
2.2.4.2 Veränderungen in neuerer Zeit
2.2.4.3 Die Logik des autoritären psychosozialen Kontrakts und ihre Konsequenzen
2.2.4.4 Soziale Panik im Rahmen dieses psychosozialen Kontrakts
2.2.5 Konsequenzen im Hinblick auf die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit
2.2.6 Integration der analytisch-sozialpsychologischen Perspektiven
2.3 Ein vorläufiges Arbeitsmodell zur Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit
3. Die Bedeutung der Psychodynamik im Kontext von Prävention
3.1 Klassifikationen präventiver Maßnahmen
3.2 Prävention unter den verschiedenen Aspekten der Fremdenfeindlichkeit
3.2.1 Fremdenfeindlichkeit als Ausdruck intrapsychischer Konflikte
3.2.2 Fremdenfeindlichkeit als Ausdruck irrationaler Bedürfnisse?
3.2.3 Fremdenfeindlichkeit als affektives Phänomen
3.2.4 Fremdenfeindlichkeit als Defizit an Integration und Kompetenzen
3.2.5 Konsequenzen
3.3 Beispiele und Vorschläge von Psychodynamikern für die Prävention
3.3.1 Prävention mit Fokus auf Täter
3.3.1.1 Täterzentriertes psychotherapeutisches Arbeiten
3.3.1.2 Trainings für soziale Kompetenz
3.3.2 Prävention mit Fokus auf Opfer
3.3.2.1 Arbeit mit Opfern fremdenfeindlicher Gewalt und Diskriminierung
3.3.2.2 Bindungsstabilisierende Maßnahmen als potentiell primärpräventive Intervention
3.3.3 Prävention mit Fokus auf Mittäter
3.3.4 Prävention mit Fokus auf Helfer
3.3.4.1 Mögliche Formen von Unterstützung der Arbeit mit Tätern
3.3.4.2 Besonderheiten der Psychodynamik zwischen Opfern, Helfern und Gesellschaft
3.3.4.3 Helfer als "Mittäter": Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in der Psychotherapie
3.3.4.4 Beiträge zur Unterstützung politisch aktiver Gruppen
3.3.5 Weitere Ansatzmöglichkeiten
3.4 Zusammenfassung
4. Prävention als gesellschaftlicher Wandel
4.1 Zur Revision der Konzepte von Sozialisation und Erziehung
4.1.1 Analytisch-sozialwissenschaftliche Kritik an Sozialisation und Erziehung
4.1.2 Zur Neubestimmung von Erziehungszielen und ihren Herausforderungen
4.1.3 Einordnung und vorläufiges Fazit
4.2 Eine Revision des Verständnisses demokratischer Praxis?
4.2.1 Demokratisches Bewusstsein – "demokratisches Unbewusstes"
4.2.2 Demokratiefähigkeit als Fähigkeit zum Ungehorsam?
4.3 Kritik der psychologischen Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit
4.3.1 Kritik der gesellschaftlichen Funktion von Psychologie und Psychotherapie
4.3.1.1 Psychologie im Feld gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse
4.3.1.2 Normalität als ideologisches Konzept
4.3.1.3 Die "Theorie des richtigen Bewusstseins" in der Psychologie
4.3.2 Kritik der akademischen Psychologie
4.3.3 Prävention von Fremdenfeindlichkeit: Zur Handlungsfähigkeit der Psychologie
5. Diskussion
Literaturverzeichnis
Zusammenfassung
Ziel: Das vorliegende narrative Review vertieft das Verständnis der Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit und untersucht das Potential der psychodynamischen Psychologie, zur Prävention dieser beizutragen. Aus der Sicht der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie sowie der Autoritarismus-, Narzissmus- und Desintegrationstheorien wird die Entstehung von Fremdenfeindlichkeit dargestellt. Zudem werden psychoanalytisch-sozialpsychologische Aspekte berücksichtigt. Auf der Grundlage des theoretischen Verständnisses werden Konsequenzen für die Prävention abgeleitet und mögliche Präventionsansätze vorgestellt. Dabei wird besonders die Rolle der Sozialisation für das Entstehen von Fremdenfeindlichkeit berücksichtigt. Es wird untersucht, inwiefern die Voraussetzungen für das Entstehen von Fremdenfeindlichkeit gesellschaftlich verankert sind und welche Konsequenzen sich daraus für die Prävention ergeben.
Methode: Die Ergebnisse des Reviews basieren auf der Recherche und Auswertung bereits vorhandener, themenrelevanter Literatur. Es wurde eine umfassende Literaturrecherche betrieben, im Rahmen derer Beiträge aus verschiedenen Disziplinen berücksichtigt wurden, vor allem aus der Psychoanalyse, der psychoanalytischen Sozialpsychologie und der psychoanalytischen Politischen Psychologie. Ebenfalls berücksichtigt wurden unter anderem Beiträge der Soziologie, der Sozialpsychologie, der Bindungsforschung, der kritischen Psychologie sowie der philosophischen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie.
Ergebnisse: Es zeigte sich, dass die psychodynamische Psychologie für die Prävention von Fremdenfeindlichkeit großes Potential hat, aber auch deutliche Mängel aufweist. Ihr Beitrag liegt unter anderem in der Aufklärung sowohl der psychodynamischen Mechanismen der Fremdenfeindlichkeit selbst als auch der unbewussten Mechanismen, die im Rahmen präventiver Bemühungen eine Rolle spielen. Eine zentrale Stellung müssen in nachhaltigen präventiven Bemühungen die Förderung von Autonomie und die Ermöglichung der Entwicklung einer gut integrierten Identität einnehmen. Diese Ziele werden möglicherweise durch gesamtgesellschaftliche Verhältnisse behindert. Zudem zeigte sich, dass die Integration psychodynamischer Konzepte und Methoden in den Forschungsprozess das Verständnis der Fremdenfeindlichkeit in entscheidender Weise vertiefen kann.
Schlussfolgerungen: Der psychodynamischen Psychologie zufolge muss Prävention sich über die Implementierung einzelner Maßnahmen hinaus auch auf einen gesellschaftlichen Wandel erstrecken. Dieser betrifft insbesondere die Struktur und innere Logik, die Sozialisation und sozialer Integration zugrunde liegt. Fremdenfeindlichkeit muss in der Prävention als funktionales Phänomen und Ausdruck sowohl individueller als auch gesellschaftlicher Konflikte behandelt werden.
Abstract
Goal: The present narrative review deepens the understanding of the psychodynamics of xenophobia and examines the potential of psychodynamic psychology to contribute to the prevention of xenophobia. The development of xenophobia is described from the perspective of psychoanalytic developmental psychology, as well as theories of authoritarianism, narcissism and social disintegration. Furthermore, the point of view of psychoanalytic social psychology is considered. Based on the theoretical understanding, consequences for prevention are derived and possible approaches to prevention are presented. Here, especially the role of socialization for the development of xenophobia is considered. The review examines how the preconditions of xenophobia are socially anchored and which consequences result from this for prevention.
Method: The findings are based on the research and analysis of the existing, relevant literature. In the literature research, contributions of different disciplines were considered, especially from psychoanalysis, psychoanalytic social psychology and psychoanalytic political psychology. Furthermore, contributions of sociology, social psychology, attachment research, critical psychology, epistemology and philosophy of science were considered.
Results: Psychodynamic psychology was shown to have a large potential for the prevention of xenophobia, but also clear deficits. Its contribution is amongst others the elucidation of the psychodynamic mechanisms of xenophobia as well as the unconscious mechanisms that are relevant to preventive efforts. The furtherance of autonomy and the development of a well integrated identity have to play a central role in sustainable preventive efforts. These goals are possibly obstructed by social circumstances. Furthermore, the integration of psychodynamic concepts and methods was shown to deepen the understanding of xenophobia in an essential way.
Conclusions: According to psychodynamic psychology, prevention of xenophobia has to exceed the implementation of separate prevention measures and include social change. This concerns especially the structure and inner logic of socialization and social integration. In prevention, xenophobia has to be treated as a functional phenomenon and as an expression of both individual and social conflicts.
1. Einführung
Gegenwärtig ist in Deutschland und darüber hinaus eine wachsende Akzeptanz offener Fremdenfeindlichkeit in ihren verschiedenen Spielarten wie Rassismus, Muslimenfeindlichkeit, Rechtsextremismus etc. zu beobachten. Die Leipziger "Mitte"-Studien, die seit 2002 die Verbreitung und Ausprägung rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung erfassen, verzeichnen einen kontinuierlichen Anstieg "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit", etwa gegenüber Muslimen oder Sinti und Roma (Decker, Kiess, Eggers, Brähler, 2016, S. 49). Parallel dazu zeichnet sich seit 2014 eine "zunehmende öffentliche Artikulation antidemokratischer Parolen" ab (Decker & Brähler, 2016, S. 18). Die gesellschaftliche Mitte, so der Tenor der Studien, ist "nicht der Schutzraum der Demokratie, sondern aus ihr kann ein großes antidemokratisches Potential erwachsen" (ebd., S. 15). Es ist "eine hohe Mobilisierung durch extreme rechte Bewegungen", verbunden mit einer "zunehmenden Akzeptanz von Gewalt" zu beobachten (ebd., S. 18). Ein Beispiel dafür ist die "Pegida"-Bewegung; die empirischen Daten zeigen, dass die Zustimmung zu "Pegida" im Wesentlichen auf rechtsextreme Einstellungen zurückgeht. "Alle anderen Faktoren [...] hatten kaum oder keinen Einfluss auf die Sympathie mit den Zielen dieser Bewegungen" (ebd., S. 20). Dies ist insofern beunruhigend, als der Studie zufolge 9 % der Bevölkerung "vollkommen" hinter den Zielen von Pegida stehen (Yendell, Decker & Brähler, 2016, S. 151). Entsprechend dieser Logik müssten 9 % der Bevölkerung in Deutschland als rechtsextrem eingestellt bezeichnet werden. 40 % der deutschen Bevölkerung stimmen fremdenfeindlichen Aussagen zu (Decker & Brähler, zitiert nach Frindte & Preiser, 2007, S. 32). Frindte und Preiser stellen fest: "Rechtsextremismus ist nicht einfach 'in der Mitte der Gesellschaft angekommen', sondern ein Produkt dieser modernen Mitte und die radikale Infragestellung der politischen Kultur dieser 'Mitte'" (ebd., S. 32).
Die Ergebnisse der "Mitte"-Studien zeigen klar, dass Fremdenfeindlichkeit keine Ausnahmeerscheinung ist, dass sie "kein gesellschaftliches 'Randphänomen', sondern im Gegenteil eine gesellschaftliche Normalität darstellt, die sich nur am sogenannten Rand der Gesellschaft in offener Gewalt entlädt" (Ebbinghaus, 2017, S. 4). Dennoch kann die aktuelle Entwicklung nicht ausschließlich unter diesem pessimistischen Gesichtspunkt betrachtet werden. Decker und Brähler (2016) stellen fest: "Die Stärkung der Zivilgesellschaft hat auch die demokratischen Milieus stärker gemacht." (ebd., S. 20). Den 9 % der Befürworter der Ziele von Pegida steht z. B. etwa ein Drittel der Bevölkerung entgegen, das "sich deutlich gegen die Ziele von Pegida und ihren Ablegern ausspricht" (Yendell et al., 2016, S. 151). Die aktuelle politische Situation scheint damit ein starkes Potential zu gesellschaftlichem Wandel, sowohl zu weiterer Radikalisierung als auch zu verstärkter Demokratisierung zu bergen.
1.1 Anliegen und Ziel der Arbeit
Die vorliegende Arbeit untersucht, welche Bedeutung in dieser Situation der Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit zukommt; dabei stehen verschiedene Fragen im Fokus. Zunächst geht es darum, welche psychodynamischen Mechanismen der Fremdenfeindlichkeit zugrunde liegen. Es soll geklärt werden, welche unbewussten Bedürfnisse, Motive, Ängste und Abwehrmechanismen hinter der Entstehung und Zunahme fremdenfeindlicher Einstellungen stehen und wie diese sich individuell und gesellschaftlich manifestieren. Dementsprechend wird die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit zuerst unter individualpsychologischer Perspektive und dann unter der Perspektive der psychoanalytischen Sozialpsychologie und psychoanalytischen Politischen Psychologie dargestellt. Danach soll das Potential der psychodynamischen Psychologie für die Prävention von Fremdenfeindlichkeit sowie für den oben angesprochenen gesellschaftlichen Wandel untersucht werden. Es werden sowohl Stärken als auch Schwächen ihrer Perspektive identifiziert und Möglichkeiten einer Nutzbarmachung psychodynamischen oder psychoanalytischen Wissens für Prävention und gesellschaftlichen Wandel aufgezeigt.
Zu Beginn eines solchen Projekts mag die Hoffnung stehen, die psychodynamische Psychologie stelle Erkenntnisse bereit, mithilfe derer neue Präventionsmaßnahmen entwickelt werden könnten. Die vorliegende Arbeit zeigt dagegen, dass ihre Stärke bisher weniger in der Entwicklung neuer Präventionsmaßnahmen liegt. Sie liegt vielmehr darin, Zusammenhänge aufzuzeigen, die mit den ihr eigenen Mitteln erschlossen werden können, und daraus geeignete Richtungen, Prinzipien und Kriterien für gelungene und nachhaltige Prävention abzuleiten. Die psychodynamische Psychologie kann das Problem der Fremdenfeindlichkeit nicht alleine erklären und lösen; die vorliegende Arbeit soll daher auch ihre Kompetenz und spezifische Aufgabe innerhalb einer interdisziplinären Zusammenarbeit klären.
Eine These, die in der vorliegenden Arbeit vertreten wird, lautet, dass psychodynamisch arbeitende Forschungsrichtungen wie Psychoanalyse, psychoanalytische Sozialpsychologie oder psychoanalytische Politische Psychologie einen speziellen Zugang zu der Fragestellung haben, über den eine auf einem rein naturwissenschaftlichen Objektivitätsideal aufbauende Psychologie nicht verfügt. Es wird gezeigt, dass gerade dieses Objektivitätsideal einen blinden Fleck in der Erforschung von Fremdenfeindlichkeit darstellen kann und dass das Einbeziehen psychodynamischen Wissens in empirische Forschungsprozesse zu mehr Objektivität, zu einem umfassenderen Verständnis und damit letztlich zu besserer Prävention beitragen kann. Insofern Fremdenfeindlichkeit ein komplexes Phänomen ist, werden Interdisziplinarität und Integration verschiedener Zugangsweisen für notwendig erachtet; die Untersuchung der bisher wenig rezipierten psychodynamischen Zugangsweise erfolgt auch im Interesse einer solchen Integration.
Damit ist zugleich ein wichtiges Stichwort der vorliegenden Arbeit genannt. In der dieser Masterarbeit vorausgehenden Bachelorarbeit wurde bereits erarbeitet, dass das Ziel einer Gesellschaft, Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen, selbst einer ihrer Struktur nach fremdenfeindlichen Psychodynamik entspringen kann (Ebbinghaus, 2017, S. 54). Wenn z. B. die in einer Gesellschaft gegenwärtige Fremdenfeindlichkeit projektiv auf eine klar definierte Tätergruppe (etwa Neonazis) übertragen wird, kann dies als Abwehrstrategie gewertet werden, die struktrurell den für Fremdenfeindlichkeit typischen Abwehrmechanismen entspricht (ebd.). Das erklärte Präventionsziel, Fremdenfeindlichkeit nur als eine Eigenschaft sogenannter "Fremdenfeinde" zu bekämpfen, entspricht der Dynamik, aus der auszusteigen eigentlich das Ziel nachhaltiger Prävention sein sollte. Die Forschungsergebnisse der psychodynamisch arbeitenden Disziplinen zeigen die Komplexität der Art und Weise auf, in der das Potential zur Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit strukturell in Erziehung, Sozialisation und Gesellschaft verankert ist. Fremdenfeindlichkeit zeigt sich in mehrfacher Hinsicht als Folge eines Mangels an Integration, dem entsprechend begegnet werden muss. Dementsprechend soll hier auch untersucht werden, inwiefern die psychodynamische Perspektive nicht nur defizit-, sondern auch ressourcen- oder potentialorientierte Prävention ermöglicht.
1.2 Methode
Die ursprüngliche Zielsetzung der vorliegenden Arbeit war es, von Psychodynamikern[1] zur Prävention von Fremdenfeindlichkeit vorgeschlagene Modelle und Maßnahmen zusammenzutragen und zu strukturieren. Bei der Arbeit handelt es sich um ein narratives Review. Als solches dient sie dazu, einen Überblick über das Feld zu geben, der auch breitere und abstraktere Fragestellungen berührt, als dies in empirischen Arbeiten oder systematischen Übersichtsarbeiten möglich wäre (Baumeister & Leary, 1997). Dementsprechend wurde eine große Bandbreite an Literatur berücksichtigt.
Die vorliegende Arbeit stellt eine Fortführung der ihr zugrunde liegenden Bachelorarbeit mit dem Titel "Fremdenfeindlichkeit aus psychodynamischer Perspektive – ein narratives Review" dar. Insofern lag zu Beginn der Recherche bereits eine gewisse Menge an relevanter Literatur vor. Auf diese wurde für die vorliegende Arbeit häufig zurückgegriffen. Des Weiteren nutzte der Verfasser ihm bereits aus einem vorausgehenden Studium der Philosophie (B. A.) bekannte Literatur über die Philosophie der Psychologie sowie über Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie. Auch Literatur, die dem Verfasser durch persönliche Kontakte zu psychodynamisch arbeitenden Lehrtherapeuten (insbesondere von der ZIST-Akademie für Psychotherapie) bekannt war, wurde schon vor der eigentlichen Recherche in Betracht gezogen.
In einem ersten Recherchedurchgang wurden digitale Datenbanken nach themenrelevanten Stichworten durchsucht. Die Recherche erfolgte in den Datenbanken PsycARTICLES, PsycINFO und PSYNDEX sowie im OPAC der Universitätsbibliothek Greifswald. Verwendete Stichworte waren Psychodynamik/psychodynamics, Psychoanalyse/psychoanalysis, Tiefenpsychologie, Fremdenfeindlichkeit, Fremdenangst, Fremdenhass, Rassismus/racism, xenophobia, jeweils einzeln oder kombiniert mit dem Stichwort Prävention/prevention. Ebenso wurde im Archiv der Zeitschrift "PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen" recherchiert. Die Ergebnisse wurden auf ihre Relevanz für die Zielstellung der Arbeit hin überprüft.
Die erste Recherche ergab, dass konkrete Theorien oder Modelle zur Prävention von Fremdenfeindlichkeit aus psychodynamischer Perspektive anscheinend nicht vorliegen, wohl aber eine große Fülle an Literatur, die sich mit der Erklärung des Phänomens beschäftigt. Im Rahmen solcher Beiträge gibt es zahlreiche vereinzelte Hinweise auf Konsequenzen für die Prävention, aber nicht in Form von ausgearbeiteten Modellen oder Präventionsmaßnahmen. Dieses Ergebnis kann bereits als ein erster Befund bzw. "Negativbefund" gewertet werden. Für das Konzept der vorliegenden Arbeit ergibt sich daraus, dass diese weniger eine Darstellung bzw. Gegenüberstellung und Diskussion verschiedener psychodynamischer Modelle als vielmehr eine Ableitung der Konsequenzen für die Prävention aus der Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit darstellt. Infolgedessen wurde eine erweiterte Literaturrecherche betrieben, um die bereits gefundenen Beiträge zu ergänzen.
In der ersten Literaturrecherche ergab sich, dass wesentliche Beiträge zur Thematik von der psychoanalytischen Sozialpsychologie und der psychoanalytischen Politischen Psychologie geleistet werden. Infolgedessen wurden die digitalen Datenbanken sowie zusätzlich konventionelle Suchmaschinen nach Beiträgen dieser Disziplinen durchsucht.
Im Rahmen der Auswertung der Literatur ergaben sich neue, zu Beginn der Recherche noch unbekannte Schwerpunkte und Themengebiete, z. B. zum Zusammenhang von Bindung und Rechtsradikalismus, zur Autoritarismusforschung oder zur psychotherapeutischen Behandlung von Opfern von Rassismus. Um diese durch vertiefende Literatur abstützen zu können, wurden die entsprechenden Stichworte gezielt erneut recherchiert, v. a. im OPAC der Universitätsbibliothek Greifswald.
Es wurden insgesamt 98 Beiträge von 76 Autoren bzw. Arbeitsgruppen für das Review herangezogen. Im Folgenden wird ein Überblick darüber gegeben, welchen Disziplinen die Autoren zuzuordnen sind; dabei wird nicht auf mögliche Mehrfachnennungen geachtet, sondern jeweils die Disziplin genannt, aus deren Perspektive heraus der Autor in dem für die Arbeit relevanten Beitrag schreibt.
Vorrangig in ihrer Eigenschaft als Psychoanalytiker bzw. tiefenpsychologische Psychotherapeuten wurden zitiert: Auchter, Bohleber, Büntig, Cierpka, Frick, Gruen, Heim, Kareem, Kast, Kennedy, Miller, Ohlmeier, Ottomeyer, Passet, Pohlen, Richter, Stasch, Streeck, Streeck-Fischer, Taubner, Varvin, Windaus und Wirth (23 Autoren).
Vorrangig in ihrer Eigenschaft als Vertreter der psychoanalytischen Politischen Psychologie wurden zitiert: Brockhaus, Brückner, Brunner, Busch, Follert, Frindte, Gast, Hilgers, Horn, Kliche, Krovoza, Milburn und Salzborn (13 Autoren).
Vorrangig in ihrer Eigenschaft als Vertreter der psychoanalytischen Sozialpsychologie wurden zitiert: Brede, Decker, Leithäuser, Lempa und Volmberg (5 Autoren).
Vorrangig in ihrer Eigenschaft als Soziologen wurden zitiert: Adorno, Brähler, Heitmeyer, Hopf, Rippl, Rüssmann und Yendell (7 Autoren).
Vorrangig in ihrer Eigenschaft als Sozialpsychologen wurden zitiert: Clemenz, H.-D. König und Kruglanski.
Weitere zitierte Autoren: Abholz, Bauberger (Philosophie der Physik und Erkenntnistheorie), Baumeister, Berger, Devereux (Ethnopsychoanalyse), Dollase (Bildungsforschung), Ebbinghaus, Emig, Erdheim (Ethnopsychoanalyse), Eschner, Glaser, Gordon, Handerer, Hemmati, Herzog, K. König, Meinshausen, Mick, Oesterreich, Pross, Schaeffler (Erkenntnistheorie), Seiffge-Krenke, Sow, Tissberger und Weber (kritische Psychologie).
In einer der wenigen Arbeiten, die sich mit dem Verfassen narrativer Reviews beschäftigen, formulieren Baumeister und Leary (1997) fünf mögliche Ziele für diese: Theorieentwicklung, Theorieevaluation, Zusammenfassung des Wissensstandes zu einem bestimmten Forschungsgebiet, Identifikation von Problemen eines Forschungsgebiets und Darstellung der historischen Entwicklung eines Gebiets (ebd., S. 312). Die ursprüngliche Absicht zu Beginn der Literaturrecherche war es, im Sinne der dritten Zielstellung den bisherigen Wissensstand zur Prävention von Fremdenfeindlichkeit aus psychodynamischer Perspektive zusammenzufassen. Es ergab sich, dass hierzu wenig konkrete Ansätze vorliegen. Infolgedessen musste die Zielstellung erweitert werden. Neben einer Zusammenschau des zu der Thematik verfügbaren Materials werden im Zuge der vorliegenden Arbeit auch Probleme und Lücken des Forschungsfeldes identifiziert. Zudem wird im Sinne der ersten Zielstellung der Theorieentwicklung versucht, zwar keine Theorie, aber zumindest einige Thesen aus dem vorliegenden Material abzuleiten, die zu einer Entwicklung einer psychodynamischen Theorie der Prävention von Fremdenfeindlichkeit führen könnten. Es wird versucht, in den Beiträgen diejenigen (teilweise recht verstreuten) Aspekte zu identifizieren, die bei dieser Entwicklung hilfreich sein könnten. Die Zielstellung der vorliegenden Arbeit ist somit eine mehrfache: Es geht um eine Übersicht über das verfügbare Material zur Prävention von Fremdenfeindlichkeit aus psychodynamischer Perspektive, eine Identifikation von Lücken und Problemen sowie eine Interpretation des Materials im Hinblick auf seine Konsequenzen für eine noch zu entwickelnde, umfassende Theorie zur psychodynamisch orientierten Prävention von Fremdenfeindlichkeit.
1.3 Terminologie
In der dieser Masterarbeit zugrundeliegenden Bachelorarbeit wurde die Terminologie der Begriffe "Psychodynamik" und "Fremdenfeindlichkeit" bereits eingehend erläutert; daher wird die begriffliche Klärung an dieser Stelle eher kurz gehalten. Es soll kurz skizziert werden, wie die Begriffe im Folgenden verstanden und verwendet werden.
1.3.1 Der Begriff "Psychodynamik"
In der vorausgehenden Arbeit wurde Wert darauf gelegt, Psychodynamik nicht als eine in sich geschlossene Fachrichtung zu sehen oder sie gar mit der Psychoanalyse gleichzusetzen. Es wurde vorgeschlagen, die Psychodynamik "als den eigentlich bleibenden Beitrag der Psychoanalyse zur Psychiatrie" zu betrachten (Benedetti, 1979, zitiert nach Böker, 2006, S. 164). Dementsprechend können sich auch Verhaltenstherapeuten oder humanistische Psychotherapeuten mit der Psychodynamik einer Störung befassen, ohne deshalb Psychodynamiker zu sein. Wesentlich ist die Psychodynamik als "Theorie intrapsychischer Vorgänge [...] mit der Annahme eines unbewussten Geschehens verbunden" (ebd., S. 30) und befasst sich mit dem Wirken unbewusster Wünsche, Bedürfnisse, Abwehrmechanismen etc.
Ebensowenig wie auf eine bestimmte therapeutische Orientierung beschränkt sich der Begriff Psychodynamik auf die Psychotherapie überhaupt. Zahlreiche Nachbardisziplinen wurden und werden von den Ideen und Methoden der Psychodynamik (v. a. der Psychoanalyse) inspiriert und beeinflusst. Darunter fallen etwa die psychoanalytische Sozialpsychologie, die psychoanalytische Politische Psychologie, die Ethnopsychoanalyse oder philosophische Strömungen wie der Poststrukturalismus. Vor allem die Arbeiten der beiden erstgenannten bilden einen wesentlichen Bestandteil dieser Arbeit. Ihre Vertreter liefern entscheidende Beiträge zum Verständnis der Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit, ohne dabei Kliniker im eigentlichen Sinne zu sein. Es sind z. B. Sozialwissenschaftler, die psychoanalytische Konzepte und Methoden in ihr Forschen integrieren und psychoanalytisches Wissen außerhalb des therapeutischen Settings anwendbar machen. Wenn im Folgenden der Begriff "Psychodynamiker" verwendet wird, so referiert er auf Vertreter der psychotherapeutischen Praxis wie auf Sozialforscher gleichermaßen, insofern beide unter ähnlichen theoretischen Grundannahmen und methodischen Herangehensweisen mit der Psychodynamik sozialer Phänomene befasst sind. Eine dieser Annahmen ist die, dass Störungen und Symptome funktionalen Charakter haben und gewissermaßen verschlüsselt Ausdruck unbewusster Konflikte oder im wahrsten Sinne des Wortes "un-erhörter" Bedürfnisse sind (Ebbinghaus, 2017). Sich mit der Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit zu befassen bedeutet stets, nach den zugrunde liegenden unbewussten Konflikten oder Bedürfnissen zu fragen. Durch diese Herangehensweise ist die Psychodynamik in besonderer Weise in der Lage, die Irrationalität und scheinbare innere Widersprüchlichkeit der Fremdenfeindlichkeit aufzudecken und zu erklären. Psychodynamisches Arbeiten bedeutet im Folgenden sowohl therapeutisches als auch wissenschaftliches Arbeiten unter Anwendung der Konzepte und Methoden der Psychoanalyse oder Tiefenpsychologie, ist aber mit diesen nicht gleichzusetzen.
1.3.2 Der Begriff "Fremdenfeindlichkeit"
Der Begriff der Fremdenfeindlichkeit ist, wenn er synonym für "Ausländerfeindlichkeit" oder "Rassismus" verwendet wird, in mehrfacher Hinsicht problematisch (Ebbinghaus, 2017, S. 7 ff.). Im psychodynamischen Kontext bezieht er sich allerdings nicht unmittelbar auf solche Phänomene, die mögliche Ausdrucksformen von Fremdenfeindlichkeit sind. Er bezeichnet ganz grundsätzlich Feindlichkeit gegenüber dem Fremden, das psychoanalytisch zunächst als das "fremde Eigene" aufgefasst wird: "Der Fremde in uns, das ist der uns eigene Teil, der uns abhanden kam" (Gruen, 2016, S. 7). Das Fremde in der Psychoanalyse ist zunächst "das Unbewußte selbst [...], das aus der öffentlichen Verständigung Exkommunizierte bzw. das nie in die öffentliche Kommunikation Aufgenommene" (Streeck, 2000, S. 9). Fremd sind in diesem Sinne auch alle verdrängten oder abgewehrten Anteile der Psyche, die "stärker, als wir gewöhnlich bereit sind, anzuerkennen, unser persönliches und soziales Verhalten und Erleben beeinfluss[en]" (Auchter, 2012, S. 322). Das Eigene wird in der Verdrängung zum Fremden und dann auf den fremden Menschen projiziert:
"Zum Beispiel erinnern uns die Sinti und Roma [...] an unsere eigenen romantischen Wünsche und Fantasien (auch wenn sie mit der Wirklichkeit der Sinti und Roma wenig zu tun haben), frei und ungebunden 'herumzuzigeunern'. Da wir bei uns aus verschiedensten Gründen solche Wünsche verdrängen und unterdrücken müssen, müssen wir ihre Repräsentanten [...] unterdrücken und vertreiben." (ebd., S. 335)
Infolge der Verdrängung werden eigene, nicht integrierte und verpönte Anteile auf fremde Menschen projiziert und in ihnen abgelehnt, gehasst oder bekämpft. Die tatsächliche oder auch nur imaginierte Andersartigkeit des Fremden ist dann "keine Bereicherung, sondern eine Erinnerung an eigene misslungene Integrationsprozesse, die mit der Ausstoßung unerwünschter, nicht integrierbarer eigener Anteile endeten" (Bohleber, 1992, S. 706).
Es wurde eingangs erwähnt, dass Fremdenfeindlichkeit in mehrfacher Hinsicht als Problem mangelnder Integration zu interpretieren ist. Nun wird bereits deutlich, dass es dabei nicht nur um die Integration fremder Menschen geht. Zu einem entscheidenden Teil geht es ebenso um die Integration eigener psychischer Anteile, die ansonsten verdrängt und projiziert werden und die Basis für pauschale fremdenfeindliche Einstellungen bilden. Im Folgenden wird somit zu klären sein, welche Anteile dabei verdrängt werden, unter welchen Bedingungen es zur Verdrängung statt zur Integration kommt und wie dieser Entwicklung entgegengewirkt werden kann.
Die in dieser Arbeit herangezogenen Quellen befassen sich teilweise mit Fremdenfeindlichkeit allgemein, größtenteils aber mit ihren spezifischen Ausprägungen wie z. B. Rassismus oder Antisemitismus, sowie deren impliziten Begleiterscheinungen (z. B. Autoritarismus). Daher mag der Eindruck entstehen, dass undifferenziert und verallgemeinernd mit diesen Begriffen umgegangen wird. Es ließ sich jedoch zeigen, dass dies weniger problematisch ist als es zunächst scheinen mag, weil "die anhand der Analyse von Rassismus etc. identifizierte Psychodynamik auf das übergeordnete Konzept des Fremden und der Fremdenfeindlichkeit übertragbar ist" (Ebbinghaus, 2017, S. 65). Vor dem Hintergrund der dort ausgearbeiteten Argumentation wird die Analyse der Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit anhand der Untersuchung ihrer verschiedenen, einander strukturell stark ähnelnden "Teilphänomene" für unproblematisch erachtet.
2. Die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit
Im folgenden Teil wird die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit aus der Perspektive verschiedener Teildisziplinen psychodynamischer Psychologie beleuchtet. Zunächst geht es um die individualpsychologische Perspektive, die Fremdenfeindlichkeit und ihre Genese im Individuum erforscht. Hier spielen die psychoanalytische Entwicklungspsychologie sowie Autoritarismus- und Narzissmustheorien die Hauptrolle. Dann werden aus psychoanalytisch-sozialpsychologischer Perspektive die überindividuellen, sozialpsychologischen Aspekte des Phänomens in den Blick genommen. Ein vorläufiges Arbeitsmodell zur Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit, das individual- und sozialpsychologische Aspekte miteinander verbindet, bildet den Abschluss des Kapitels.
2.1 Individualpsychologische Aspekte
Ein wesentlicher Teil der individualpsychologischen Perspektive auf Fremdenfeindlichkeit wurde bereits in der vorausgehenden Bachelorarbeit zusammengefasst. Dort wurden jedoch einige wichtige Ansätze nicht thematisiert und andere kritisch zu sehende Aspekte unkritisch angenommen. Daher werden einige Punkte kurz wiederholt. Zunächst wird Fremdenfeindlichkeit aus der Perspektive der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie dargestellt und die Auseinandersetzung mit dem Fremden als persistierende Entwicklungsaufgabe skizziert. Dann erfolgt ein Überblick über die derzeit dominierenden theoretischen Strömungen.
2.1.1 Entwicklungstheoretische Perspektive
Das Potential zur Entstehung von Fremdenfeindlichkeit entfaltet sich im Verlauf der menschlichen Entwicklung entlang kritischer "Fixationspunkte" (Auchter, 2000, S. 227 ff.), die in Verbindung stehen mit bestimmten Entwicklungsphasen und den damit verbundenen Entwicklungsaufgaben. In jeder Phase stellt die Auseinandersetzung mit Fremdem eine mit jeweils neuen Anforderungen verbundene Aufgabe dar. Erfahrungen mit dem Fremden werden zur "Fremdrepräsentanz" (Erdheim, 1992, S. 176) integriert, einer inneren Repräzentanz dessen, was das Fremde für ein Individuum darstellt. Je nach den gemachten Erfahrungen erscheint das Fremde bedrohlich, verlockend etc. Damit fungiert die Fremdrepräsentanz als Folie, Unbekanntes leichter einordnen zu können und erfüllt eine wichtige psychische Funktion: Alles, was am Bekannten (z. B. an der Mutter in der frühen Bindung, am eigenen Selbst etc.) bedrohlich erscheint, kann projektiv in diese Repräsentanz verschoben werden. "So vermag sich die Fremdrepräsentanz zu einer Art Monsterkabinett des verpönten Eigenen zu entwickeln. Der Gewinn ist beträchtlich, denn das Eigene wird zum Guten und das Fremde zum Bösen" (Erdheim, 1996, S. 177).
2.1.1.1 Primärer Narzissmus
Die erste Fixationsstelle ist nach Auchter die Phase des von Freud so bezeichneten "primären Narzissmus" (Seiffge-Krenke, 2009, S. 6). Verschiedene psychoanalytische Autoren vertreten die Ansicht, dass das Kind in dieser Phase sich und die Mutter als ungetrennte Einheit wahrnimmt, diese Wahrnehmung aber nicht aufrechterhalten kann, weil die Beziehung zur Mutter von Anfang an auch Ambivalenz und Frustration beinhaltet (Auchter, 2000, S. 227 f.). Der typische Abwehrmechanismus, der in dieser Phase eingesetzt wird, um die Illusion der "narzißtisch idealisierte[n] Union" (Bohleber, 2002, S. 709) mit der Mutter aufrechtzuerhalten, ist die Spaltung. Solange der Säugling nicht in der Lage ist, den ambivalenten Charakter seiner Beziehungen zu integrieren, kommt es zur "archaischen Spaltung zwischen 'nur gut' und 'nur böse'" (Auchter, 2000, S. 227), sodass die Objektbeziehung weiterhin idealisiert bleiben kann. Alles Bedrohliche und Unangenehme wird nach außen projiziert. Die Entwicklungsaufgabe besteht darin, den ambivalenten Charakter der Beziehung zu integrieren und den Mechanismus der Spaltung durch reifere Mechanismen zu ersetzen. Dabei spielen Dritte (z. B. der Vater) eine entscheidende Rolle (Wirth, 2001, S. 1239); sie eröffnen die Möglichkeit, "sich beim Fremden das zu holen, was [...] die Mutter nicht geben kann" (Erdheim, 1992, S. 732) und ermöglichen somit einen ersten Schritt zur Autonomieentwicklung. Scheitert diese Integration, besteht die Gefahr, dass auch der erwachsene Mensch auf den vermeintlich altbewährten Mechanismus der Spaltung regrediert, wenn aufgrund äußerer oder innere Belastungen reifere Bewältigungsformen nicht mehr greifen (Ebbinghaus, 2017, S. 19 f.). Dementsprechend ist Regression auf den unreifen Abwehrmechanismus der Spaltung mit darauf folgender Projektion alles Bedrohlichen auf das Fremde ein entscheidender Bestandteil der Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit.
Die Erklärung von Fremdenfeindlichkeit mithilfe des primären Narzissmus ist dabei nicht unproblematisch. Für einige Autoren wie z. B. Robert Heim sind es auch die "Triebregungen" des Säuglings, die die narzisstische Einheit mit der Mutter gefährden. Die von der Mutter unbeantworteten Bedürfnisse würden vom Säugling "als heterogen und unlustvoll erlebte [...] Triebregungen projektiv nach außen, auf das Fremde" projiziert (Heim, 1992, S. 710); in diesem Konflikt zwischen dem primären Narzissmus und dem Triebleben liegt für Heim "die Ressource des Hasses" (ebd., S. 721). Damit wählt Heim eine unglückliche und irreführende Attribuierung; in seiner Darstellung erscheinen die "Triebregungen" des Säuglings als das beziehungsgefährdende und somit bedrohliche Moment. Wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit zeigen wird, argumentiert Heim damit auf eine antiquierte Art und Weise, die die tieferen Ursachen von Spaltung und Projektion verschleiert. Möglicherweise ohne es zu wollen stellt er sich so auf die Seite bestimmter, tief verankerter gesellschaftlicher Verhältnisse, die diese Mechanismen erst hervorbringen. Ohne Zuhilfenahme der sozialpsychologischen Perspektive ist dieses Problem nur schwer auszumachen.
2.1.1.2 Bindungstheoretische Aspekte
Die nächste Phase, die in der psychoanalytischen Literatur Beachtung findet, ist die sogenannte Achtmonatsangst, das Fremdeln. Der Ausdruck Achtmonatsangst ist allerdings irreführend. Psychoanalytische Autoren betonen mit großer Übereinstimmung, dass das zentrale Element am Fremdeln nicht die Angst vor dem Fremden ist, sondern die Ambivalenz zwischen Neugier und Faszination durch das Fremde einerseits und der Angst vor dem Objektverlust andererseits (Ebbinghaus, 2017, S. 27 ff.). Bei sicherer Mutter-Kind-Bindung bildet die Mutter die Ausgangsbasis für eine neugierige und offene Exploration des Fremden (ebd.). Insofern soll im Folgenden nicht über das Fremdeln, sondern über die bindungstheoretischen Aspekte der Fremdenfeindlichkeit gesprochen werden.
Im Gegensatz zum primären Narzissmus ist Bindung und ihr Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit empirisch gut erforscht. In der Bindungstheorie nach Bowlby und Ainsworth steht die Beziehung des Säuglings bzw. des Kleinkindes zu seiner Haupt-Bindungsperson im Fokus (Frick & Gündel, 2009, S. 16). Dies ist in der Regel die Mutter[2]. Frick betont die Bedeutung einer gesunden Bindung für die Entwicklung einer "theory of mind" und der Fähigkeit zur Mentalisierung (ebd., S. 27 ff.). Beide können als Voraussetzung für die Entwicklung von Empathie angesehen werden und spielen damit eine Rolle für die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit.
Am besten ausgearbeitet ist der Zusammenhang zwischen Bindung und Fremdenfeindlichkeit (in Form von Rechtsextremismus) bei der Soziologin Christel Hopf. In einer qualitativen Untersuchung über Rechtsradikalismus bei jungen Männern differenziert sie drei Bindungsrepräsentationen (abwehrend-bagatellisierende, sicher-autonome und verstrickte Bindungsrepräsentation) (Hopf, 1995, S. 112 ff.). Sie kommt dabei zu folgenden Ergebnissen: "Es fällt auf, dass alle als 'verstrickt' Klassifizierten gleichzeitig auch als rechtsextrem orientiert eingeordnet wurden [...] [und] alle Sicher-Autonomen nicht rechtsextrem orientiert sind" (ebd., S. 153). Von den 12 abwehrend-bagatellisierenden Personen wurden 8 als "deutlich bzw. eher rechtsextrem" eingestuft, für die restlichen vier erfolgte keine eindeutige Zuordnung (ebd., S. 135). Unter dem Vorbehalt methodischer und inhaltlicher Einschränkungen (ebd., S. 154 f.) kommt Hopf zu dem Schluss, "dass Bindungsrepräsentationen auch im Zusammenhang der Interpretation politischer Orientierungen bedeutsam sind" (ebd., S. 154). Zwar könne von einem direkten kausalen Zusammenhang nicht ausgegangen werden, es gebe aber deutliche Indizien für eine enge Verknüpfung der Konstrukte "Bindungsstil" und "Rechtsradikalismus". Dies zeigt, dass bei der Erklärung von Fremdenfeindlichkeit bereits frühkindliche (Bindungs-)Erfahrungen eine entscheidende Rolle spielen. Sie bilden die Basis für die Herausbildung "innerer Arbeitsmodelle" (Frick & Gündel, 2009, S. 24), d. h. innerer Repräsentationen von Beziehungserfahrungen, die bis ins Erwachsenenalter persistieren und somit auch im sozialen und politischen Leben des Erwachsenen wirksam bleiben können. Weitere empirische Ergebnisse, die in dieselbe Richtung weisen, finden sich bei Hopf (2000; 2005) sowie bei Rüssmann et al. (2010), wo ein über soziale Desintegration vermittelter Zusammenhang zwischen ängstlich-vermeidendem Bindungsstil im Erwachsenenalter und fremdenfeindlichen Einstellungen nachgewiesen wird.
Daraus folgt nicht, dass eine sicher gebundene Person nicht fremdenfeindlich sein kann. Wenn allerdings von der psychodynamischen Sichtweise der Funktionalität von Fremdenfeindlichkeit als Notlösung unbewusster Konflikte ausgegangen wird, gibt es zumindest starke Indizien dafür, dass diese Konflikte beim sicher gebundenen Individuum nicht handlungsleitend werden bzw. die entsprechenden Bedürfnisse funktional gestillt werden können.
Im Falle gesunder Entwicklung tritt das Bindungsbedürfnis nach und nach gegenüber anderen Bedürfnissen in den Hintergrund, z. B. nach "Exploration und Selbstbehauptung, nach aversivem Reagieren" u. a. (Frick & Gündel, 2009, S. 16). Demgegenüber kommt es zur "Permanenz der Bindung" ( Miller, 2017, S. 27), wenn die autonome Entfaltung eigener Gefühle und Bedürfnisse behindert wird. Daran wird deutlich, dass die Entwicklung von Autonomie in der Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit eine entscheidende Rolle spielt.
2.1.1.3 Konflikte der "analen Phase" und Autonomieentwicklung
Die Entwicklung von Autonomie ist das zentrale Thema im Zusammenhang mit der sogenannten analen Phase, die je nach Autor in einem Alter zwischen 1,7 und 3 Jahren angesiedelt wird (Seiffge-Krenke, 2009, S. 15). Als Entwicklungsaufgaben stehen "Fragen nach Macht und Ohnmacht, Herrschen und Beherrschtwerden, Unterwerfung und [...] erste Übungen im Bereich der 'Autonomie', zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung" im Mittelpunkt (Auchter, 2012, S. 330). Dem Themenkomplex der Autonomieentwicklung im Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit hat sich der Psychoanalytiker Arno Gruen gewidmet. Er definiert Autonomie als einen ganzheitlichen Zustand, "in dem sich die Fähigkeit verwirklicht, im Einklang mit den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen zu leben" (Gruen, 2009, S. 37). Mit Bedürfnissen ist allerdings nicht bloße Willkür gemeint. "Autonom sind nicht die, die ständig unter dem Zwang stehen, machen zu müssen, was sie wollen, sondern jene, die wissen, [...] wofür sie da sind, was ihrem Wesen gemäß ist" (Büntig, 2013a, S. 82). Autonomie setzt Sensibilität für die eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Bedürfnisse voraus:
"'Autonom ist ein Subjekt, das mit Grund schließen kann: Das ist wahr, und: Das ist mein Begehren' (Castoriadis 1981, S. 177 f.). Das autonome Subjekt ist die sich selbst akzeptierende Einheit von Ich als Instanz der Wahrheit und Es als Instanz des Begehrens." (Krovoza, 2012, S. 85)
Castoriadis vertritt einen Autonomiebegriff, der "das Freud´sche Emanzipationsziel [ergänzt] wie folgt: 'Wo ich bin, soll Es auftauchen'" (ebd.). Autonomie setzt voraus, dass sich ein Subjekt seiner selbst bewusst ist – jedoch nicht in einem rein rationalen Sinne, sondern als integrierte Einheit aus Ich und Es.
Für Hopf (1995) spielt die Autonomie eine entscheidende Rolle bei der Moralentwicklung. Der moralischen Autonomie entgegengesetzt ist die Heteronomie. Hier sind die elementaren Normen des Zusammenlebens "nicht zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Persönlichkeit geworden", an dem Individuen ihr Handeln "autonom, d. h. unabhängig von externem Druck" ausrichten (ebd., S. 79). Beim Heteronomen dienen die Normen "je nach aktueller Situation und externem Druck mitunter als Leitlinie [...] des Handelns und mitunter nicht. Ob sie verhaltensorientierend wirken oder nicht, ergibt sich primär aus instrumentell-strategischen Überlegungen, der Kalkulation des eigenen Vorteils oder Schadens [...]" (ebd.). Im Gegensatz dazu handelt der Autonome nicht beliebig, sondern unabhängig von äußerem Druck gemäß dem eigenen, als wahr empfundenen Gesetz (αὐτός νόμος)[3].
Vielfach wird in der Literatur der Gehorsam als der Antagonist der Autonomieentwicklung in Erziehung und Sozialisation identifiziert. Gruen (2016) und Miller (2015) zeigen in umfangreichen psychoanalytischen und historischen Untersuchungen, dass das Prinzip des Gehorsams ein zentrales Erziehungsprinzip mit langer geschichtlicher Tradition darstellt. Das Prinzip von Unterwerfung und Gehorsam werde schon vor dem Erlernen von Sprache und begrifflichem Denken in der kindlichen Psyche verankert (Gruen, 2015, S. 13).
"Die Natur der Beziehung zwischen Kindern und Eltern ist die eines Machtkampfes, in dem verhindert werden soll, daß sich der 'unreife' Wille des Kindes durchsetzt. Verschleiert wird dabei aber, daß es nicht um ein 'Zivilisieren', sondern um die Festschreibung von Herrschaft geht. Die so geartete Sozialisation des Kindes soll dafür Sorge tragen, daß die Motivation zum Gehorsam gegenüber den Mächtigen tief in der menschlichen Seele verankert wird." (Gruen, 2016, S. 21)
Wenn ein Kind Liebe und Akzeptanz nicht bedingungslos, sondern als Reaktion auf gehorsames Verhalten erfährt, führt das dazu, dass es "seine eigenen Gefühle und Wahrnehmungen verwirft, um eine lebensnotwendige Verbindung mit dem versorgenden Erwachsenen aufrechtzuerhalten" (ebd., S. 55). Alle Anteile des Selbst, die nicht zu den Forderungen der Autorität passen, werden in diesem Prozess verdrängt oder verleugnet. Solche Anteile werden in der Terminologie C. G. Jungs als der Schatten einer Person bezeichnet. Dieser enthält "all die Seiten, die wir an uns nicht akzeptieren können, weil sie unserem Ideal von uns nicht entsprechen" (Kast, 2017, S. 73). Er beinhaltet nicht nur sogenannte negative Affekte wie Wut, sondern auch unterdrückte Lebendigkeit und Vitalität: "Im Schatten steckt oft das, was wir nicht leben durften, weil wir doch ein gutes Mädchen oder ein guter Junge sein wollten. Vitale Anteile [...] werden so verdrängt [und] fremd gemacht" und dann abgewehrt und auf die Mitmenschen projiziert (ebd., S. 74).
Durch die Forderung von Gehorsam als Bedingung für Zuwendung und Zugehörigkeit lernt das Kind, eigene, nicht zu den Erwartungen der Autoritäten passende Regungen in den Schatten zu verschieben (d. h. zu verdrängen). Aus der Verdrängung entsteht die Notwendigkeit der Abspaltung und Projektion, bei gleichzeitiger Identifikation mit dem Aggressor (den Gehorsam einfordernden Eltern[4] ) (ebd., S. 58). Gehorsam als Erziehungsprinzip führt zur Verleugnung eigener Wahrnehmungen, Gefühle und Bedürfnisse. Damit erweist er sich als hinderlich für die Entwicklung von Autonomie und für die Bewältigung der oben genannten Entwicklungsaufgaben. Ein Missglücken dieser Bewältigung führt nach Auchter zu "mangelndem Rückgrat ('der Trotz muss 'gebrochen' werden'), Scham und Zweifel (Erikson 1959), Identifizierung mit dem Aggressor, zwanghaften Vorstellungen von Über- bzw. Unterordnung, Unfähigkeit zum Ertragen von relativer Hilflosigkeit, Unfähigkeit zu Kompromissen, Intoleranz und fanatischen Vorstellungen und Prinzipienreiterei" (Auchter, 2012, S. 330). Entgegen einer verbreiteten Vorstellung handelt es sich dabei "nicht um ein Steckenbleiben in natürlichen Entwicklungsstadien, sondern um Fehlentwicklungen" (Gruen, 2009, S. 36). Sie sind "nicht Ausdruck einer angeborenen und universalen Tendenz, vor der der Mensch durch die Zwänge der Sozialisation bewahrt werden müßte" (ebd.), sondern im Gegenteil die Folgen einer Sozialisation, die von einer problematischen Anthropologie ausgeht, an der, wie später gezeigt wird, die Psychoanalyse nicht unbeteiligt ist.
2.1.1.4 Adoleszenz und die Bedeutung der Identität
Ein weiteres, viel beachtetes Thema im Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit sind adoleszente Identitätskonflikte. Hier wird ihr funktionaler Charakter besonders deutlich. In nahezu allen "Varianten" der Fremdenfeindlichkeit wie Nationalismus, Rassismus oder Ausländerfeindlichkeit spielt das Problem fehlender Identität bei gleichzeitigem Ersatz durch Identifikationen eine zentrale Rolle. Identität ist als ein dynamisches, flexibles Phänomen zu verstehen (Kast, 2017, S. 100), das sich in stetiger Rückbindung an eigene innere Prozesse (Gruen, 2016, S. 24) "als Reaktion auf die dem Kind eigenen Bedürfnisse und Wahrnehmungen herausbildet" (ebd., S. 156). Sie ist nicht als starre Entität, sondern als ein in permanentem Bezug zum eigenen Fühlen und Erleben gegründeter Prozess der Selbstaktualisierung zu begreifen. Identifikation ist dagegen ein Ersatz für authentische Identität, wenn ein Individuum zu dieser direkten Bezugnahme zum eigenen Erleben (etwa durch die Verdrängung eigener Anteile und den damit verbundenen Wahrnehmungen) nicht in der Lage ist. Zwischen den Begriffen der Autonomie und der Identität besteht eine enge Verknüpfung; die Herausbildung einer authentischen Identität setzt Autonomie in gewisser Weise voraus. Mangelnde Autonomie geht einher mit Identifikation mit Autoritäten und der Internalisierung von Introjekten (Gruen, 2015, S. 35 f.) als Ersatz für die fehlende Identität.
Wenn der Mangel an Identität in der Adoleszenz als der entscheidenden Phase der Ablösung von den Eltern und dem Eintritt in einen größeren sozialen Bezugsrahmen salient wird, bietet Fremdenfeindlichkeit eine einfache Möglichkeit der Kompensation. Beispielsweise wird Nationalismus psychodynamisch als Identifikation mit dem "Phantasma der 'Nation'" (Bohleber, 1992, S. 689) gedeutet. Gleichsam als Ersatz für reife Identität "flüchtet" der Nationalist mithilfe von Spaltung und Projektion in sein "manichäisches Paradies" prä-ambivalenter Reinheit (Salzborn, 2012, S. 170), eine im Grunde regressiv-primärnarzisstische "Verschmelzung" mit der Nation als einer "kollektiven Mutterimago" (Bohleber, 2002, S. 709). Im selben Sinne stellt für Gruen die sogenannte "nationale Identität" keine wirkliche Identität, sondern eher eine "nationale Identifikation" dar (Gruen, 2016, S. 26). Weber (1999) legt nahe, auch Rassismus "als eine Form zu verstehen, mit der sich die fragmentierten, mit sich zerfallenen Individuen eine Identität erarbeiten [...], mit der sie sich als [...] ganze Personen, als Subjekte erleben können" (ebd., S. 328).
Von Ohlmeier vorgeschlagen wurde das Konzept des Identitätsneides, der letztlich Neid auf die "reale oder - und sei es in exotisch und verfremdet wahrgenommener Form - phantasierte Identität der Fremden als Einzelne, in der Gruppe und Familie, als Kultur- und Religionsgemeinschaft" darstellt (Ohlmeier, 2000, S. 376). Die Konfrontation mit der (realen oder imaginierten) Identität der Fremden macht das Fehlen eigener Identität bewusst. Diese schmerzhafte Erfahrung wird verdrängt und in Form von Hass gegen die Fremden gewendet (Gruen, 2016, S. 52)[5].
Der von Kennedy geprägte Begriff des "inneren Zuhauses" (Kennedy, 2016), der darauf fußt, dass "ein Zuhause zu haben" maßgeblich zur Identitätsbildung beiträgt, ermöglicht eine Deutung der Ablehnung gegenüber Geflüchteten. Deren Situation macht die Bedrohtheit eigener Identität bewusst, bzw. provoziert "die Erinnerung an den bereits erfolgten (und erfolgreich verdrängten) Verlust dieses inneren Zuhauses" (Ebbinghaus, 2017, S. 40). Autoren wie Streeck-Fischer (1992), Wirth (2001) oder Kruglanski (2014) interpretieren den Anschluss Adoleszenter an rechtsextreme Gruppierungen als Ausdruck der Suche nach Identifikationsmöglichkeiten (ebd., S. 40).
Besonders gravierend wirkt sich mangelhaft ausgebildete Identität in Umbruchzeiten, in Zeiten schnellen Kulturwandels aus, in denen sich das Illusorische einer vermeintlich kohärenten und statischen Identität besonders leicht offenbart (Kast, 2017, S. 60 f.). Ein schneller Kulturwandel birgt auch deshalb besondere Herausforderungen für die Identitätsbildung, weil hier "das Lebensmodell der Eltern für die Identitätsbildung der Kinder keine Gültigkeit mehr [hat]" (Erdheim, 1992, S. 737 f.). Dies bringt laut Erdheim Angst mit sich, die Regression begünstigt und Individuen "in erstarrte Identitätsformen zurück[treibt] (Rechtsradikalismus)" (ebd., S. 739).
Fremdenfeindlichkeit in ihren verschiedensten Ausprägungen wird psychodynamisch übereinstimmend als Ausdruck von Identitätskonflikten interpretiert. Im Zusammenhang mit diesen Konflikten wird ihr funktionaler Charakter besonders deutlich. Gleichzeitig ist ein Zusammenhang zur Thematik der Autonomie und damit eine gewisse Kontinuität in der Entwicklung einer Psychodynamik, in der innere Konflikte durch Fremdenfeindlichkeit dysfunktional gelöst werden, erkennbar. Identitätskonflikte scheinen das Ergebnis eines Prozesses zu sein, der weit vor der Adoleszenz einsetzt und dessen Problematik erst dann salient wird:
"Es ist die Nicht-Anerkennung der empathischen Wahrnehmungen des Kindes und seiner Bedürfnisse während der ersten Monate seines Lebens, die dazu führen, dass es keine eigene Identität entwickeln kann. Nicht-Anerkennung des eigenen Seins führt dazu, dass die Erwartungen der Mutter oder des Vaters als Eigenes einverleibt werden." (Gruen, 2015, S. 36)
Der Prozess, der von der Verleugnung des Eigenen in einer vom Prinzip des Gehorsams bestimmten Erziehung über die Identifikation mit Autoritäten hin zu einer mangelhaften Entwicklung von Autonomie und somit zu instabiler, durch Identifikationen ersetzten Identität führt, beginnt aus der Sicht der psychodynamischen Psychologie bereits in der vorsprachlichen Lebensphase (ebd., S. 13).
2.1.1.5 Zusammenfassung der entwicklungstheoretischen Perspektive
Aus der Perspektive psychoanalytischer Entwicklungspsychologie stellt die Auseinandersetzung mit dem Fremden eine persistierende Entwicklungsaufgabe dar, die in verschiedenen Phasen mit je spezifischen Aufgaben verbunden ist. Werden diese bewältigt, können sich u. a. Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz, Autonomie und eine stabile Identität entwickeln. Im gegenteiligen Fall kann Fremdenfeindlichkeit als mögliche Notlösung daraus resultierender Konflikte fungieren. Sie ist aus entwicklungstheoretischer Sicht ein regressives Phänomen, bei dem, jungianisch gesprochen, Anteile des Schattens projektiv nach außen gewendet werden. Dies kann wiederum verschiedene Konsequenzen haben (etwa phobische Vermeidung oder Aggression gegen Fremde (Wirth, 2001)). Der Überblick über die Grundstruktur fremdenfeindlicher Psychodynamik soll nun vervollständigt werden durch eine Übersicht über derzeit dominierende theoretische Strömungen.
2.1.2 Autoritarismustheoretischer Ansatz
Viele psychodynamische Erklärungsversuche zur Fremdenfeindlichkeit beziehen sich maßgeblich auf Theodor W. Adornos "Studien zum Autoritären Charakter" und deren Weiterentwicklungen. Die Studien sind die bislang einflussreichsten und am stärksten rezipierten Untersuchungen, die sich mit der Thematik befasst haben. Die Popularität des Werkes kann darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei letztlich um ein Pilotprojekt und nicht um eine fertig ausgearbeitete Theorie handelt. Die Studien wurden "übergangslos vom Pionierprojekt zum Klassiker und daher mit überhöhten Erwartungen befrachtet" (Brockhaus, 2012, S. 56). Zahlreiche Hypothesen Adornos wurden allerdings inzwischen in empirischen und klinischen Untersuchungen gestützt und weiterentwickelt.
Bei den "Studien zum Autoritären Charakter" handelt es sich um eine interdisziplinäre, qualitative und quantitative empirische Untersuchung an mehreren tausend Individuen, die von 1945 bis 1946 durchgeführt wurde. Gegenstand der Untersuchung war "das potentiell faschistische Individuum" (Adorno 2016, S. 1) - nicht der bereits faschistisch eingestellte Mensch, sondern derjenige, der aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur besonders empfänglich für faschistische Propaganda ist. Ein zentraler Befund war, "daß Personen, die extreme Anfälligkeit für faschistische Propaganda zeigen, sehr vieles gemeinsam haben. (Sie weisen zahlreiche Charakteristika auf, die sich zu einem Syndrom verbinden, wenn auch innerhalb dieser Hauptstruktur typische Abweichungen zu erkennen sind.)" (Adorno 2016, S. 2)
Die entscheidenden Merkmale der autoritären Persönlichkeit sind nach Clemenz (1998) "(1) autoritäre Unterwürfigkeit, (2) autoritäre Aggressivität[6] und (3) Machtdenken, die je nach politisch-ökonomischer Situation zu Ethnozentrismus, Rechtsradikalismus oder Faschismus prädisponieren" (ebd., S. 137). Das Revolutionäre an der Untersuchung war die These, dass "die Empfänglichkeit des Individuums für solche Ideologien in erster Linie von psychologischen Bedürfnissen abhängt" (Adorno, 2016, S. 3). Da der Faschismus die Interessen der Mehrheit rational nicht glaubhaft vertreten könne, müsse er "in erster Linie an emotionale Bedürfnisse [...] appellieren und nicht an das rationale Selbstinteresse" (ebd.). Daraus schließt Adorno auf den funktionalen Charakter des Antisemitismus. "Wenn Antisemitismus ein 'Symptom' ist, das eine 'ökonomische' Funktion erfüllt, kann man voraussetzen, daß das Symptom nicht einfach von Natur aus 'da' ist, sondern daß es sich aus einem Konflikt entwickelt hat" (ebd., S. 135). Damit sind Adorno und seine Kollegen Vorreiter der Idee, dass Fremdenfeindlichkeit Ausdruck und dysfunktionaler Lösungsversuch unbewusster Konflikte ist. Gleichzeitig liegt ihrer Studie eine Intuition zugrunde, die sich bis heute als zentral erweist, nämlich die, dass Fremdenfeindlichkeit Ausdruck eines Zusammenspiels von individuellen und gesellschaftlichen Kräften ist. Ob es bei dem seiner Charakterstruktur nach potentiell faschistischen Individuum tatsächlich zu manifestem Faschismus kommt, hängt von äußeren Faktoren ab. Adorno untersuchte keine Individuen, die erklärtermaßen Faschisten waren, kam aber zu dem Schluss, dass viele von ihnen "den Faschismus bereitwillig akzeptieren würden, falls er sich zu einer starken und respektablen Bewegung entwickeln sollte" (ebd., S. 1).
In der Rezeption kam es, so Brockhaus (2012), vielfach zu einer "Amputation des psychodynamischen Ansatzes" (ebd., S. 59); das psychodynamische Denken sei weitgehend ignoriert oder missverstanden worden.
"So wird zum Beispiel die Konzeption der autoritären Persönlichkeit als widersprüchlich gerügt: die Koexistenz von Unterwerfungsbereitschaft und autoritärer Aggression, von Verachtung für Schwächere und der eigenen Tendenz, sich als Opfer zu sehen, von Idealisierung und Hass gegenüber den Eltern. Diese Beschreibung gegensätzlicher Merkmale der autoritären Persönlichkeit wird der Unlogik der Autoren zugeschrieben [...]." (ebd.)
Dies ist insofern unglücklich, als gerade die Aufklärung solcher scheinbaren Widersprüche die Stärke des psychodynamischen Ansatzes ist. Ein Beispiel dafür ist die Arbeit Gruens, die autoritarismustheoretisch orientiert ist. Gruen erklärt die Widersprüche der autoritären Persönlichkeit aus frühkindlichen Bindungs- und Sozialisationserfahrungen heraus. Demnach liegen diese nicht in der autoritären Persönlichkeit, sondern sind eine nachvollziehbare Reaktion auf eine Erziehung, die für das Kind widersprüchliche Botschaften transportiert. Ein Widerspruch der autoritären Erziehung liegt darin, dass einerseits Unterordnung und Anpassung an den Willen der Bindungsperson(en) gefordert und mit (körperlicher oder psychischer) Gewalt durchgesetzt werden, andererseits die Forderung nach Gehorsam und Unterordnung als "Akt der Liebe" dargestellt wird (Gruen, 2016, S. 22 f.). Das Kind versucht, die widersprüchlichen Erfahrungen zu einem kohärenten Bild zu integrieren und bildet entsprechende innere Arbeitsmodelle, etwa: "Wer die Menschen unterdrückt [...], meint es gut mit ihnen" (Gruen, 2009, S. 39). Auch Miller geht davon aus, dass die Widersprüche der autoritären Persönlichkeit Folgen einer widersprüchlichen Erziehung sind, welche die den Konflikten der Erziehenden entspringenden Misshandlungen oder Bestrafungen als Liebe darstellt (Miller, 2015). Macht ein Kind die Erfahrung, dass das Anmelden eigener Bedürfnisse die lebensnotwendige Bindung gefährdet, verleugnet es diese.
"Um seine inneren Bedürfnisse zu verleugnen, muß das Kind sie ganz oder teilweise abspalten [...]. Um nicht wahrnehmen zu müssen, dass Vater und Mutter ihm Schmerz zufügen [...] sucht das Kind die Ursache in sich selbst. Es muß [...] - um die Verbindung zu Vater und Mutter aufrechtzuerhalten, die ihm das Leben ermöglicht - den Liebesmangel als etwas empfinden, was von einem Defekt in ihm selbst kommt." (Gruen, 2009, S. 30).
Um die Bindung nicht zu gefährden, werden eigene Bedürfnisse und Impulse abgewertet und Misshandlungen oder Strafen als "verdient" umgedeutet. Damit einher geht die "Identifikation mit dem Aggressor":
"Ein Kind ist nicht in der Lage, sich gegen die drohende Kälte elterlicher Autorität zur Wehr zu setzen. Da die Eltern seine Gefühle als schwach und wertlos einstufen, lernt es, sich für sein Eigenes zu schämen. [...] Obwohl [es] die Autorität hasst, identifiziert [es] sich doch mit ihr. [...] Die Unterdrückung des Eigenen löst Hass und Aggressionen aus, die sich aber nicht gegen die Unterdrücker richten [...], sondern an andere Opfer weitergegeben werden." (Gruen, 2015, S. 44 f.)
Das Ergebnis ist das gleichzeitige Auftreten von Unterwerfungsbereitschaft und autoritärer Aggression, das somit keinen Widerspruch, sondern eine nachvollziehbare Konsequenz widersprüchlicher Interaktionen mit dem Kind darstellt.
Die autoritäre Persönlichkeit ist prädisponiert dafür, psychische Konflikte in einer Weise zu lösen, die der Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit entspricht. Erfahrenes Unrecht darf nicht auf die tatsächlichen Verhältnisse zurückgeführt werden; stattdessen werden Konflikte mithilfe von Spaltung, Projektion, Verschiebung von Angst bzw. Hass und projektiver Identifikation gelöst (Ebbinghaus, 2017, S. 17 ff.). Eigene, ehemals bindungsgefährdende Impulse werden externalisiert und projektiv im Fremden bekämpft bzw. phobisch gemieden (Wirth, 2001). Dadurch kann der Schmerz unbewusst bleiben, mit dem ihre Verdrängung einherging (Gruen, 2016, S. 38) und die Aufrechterhaltung der Idealisierung jener Verhältnisse, die diese Verdrängung als sinnvolle Überlebensstrategie des Kleinkindes notwendig machten (und bei Bewusstwerdung die Konsistenz des Weltbildes bedrohen würden), bleibt gewährleistet. In kaum zu übertreffender Prägnanz wurde diese Dynamik zynischerweise von einem Menschen zusammengefasst, dessen Wirkung maßgeblich darauf basierte, dass er seine destruktiven Absichten gerade nicht verschleierte, sondern offen zutage legte (und damit den Nerv einer von Autoritarismus geprägten Gesellschaft traf): "Der Jude[7] ist in uns. Aber es ist leichter, ihn in leiblicher Gestalt zu bekämpfen, als den unsichtbaren Dämon" (Adolf Hitler, zitiert nach Gruen, 2015, S. 41).
Kritik und Rezeption
Clemenz (1998) kritisiert an Adorno, dass bei ihm die Rolle der frühen Bindung und der familialen Gesamtsituation für den Autoritarismus nahezu unberücksichtigt bleibt; aus diesem Grund sei eine "Ursachen diskussion [...] von Autoritatismus und Rechtsradikalismus auf der Basis empirischen Materials [...] kaum möglich" (ebd., S. 152). Diese Kritik ist berechtigt; allerdings können die frühkindlichen Bedingungen des Autoritarismus mittlerweile als gut untersucht gelten. Sowohl klinische als auch empirische Untersuchungen stützen den autoritarismustheoretischen Ansatz. Einige der scheinbaren Widersprüche in der autoritären Persönlichkeit lassen sich mittlerweile psychodynamisch gut erklären.
Die These der Eltern-Idealisierung, die u. a. von Adorno und Gruen vertreten wird, muss angesichts neuer empirischer Ergebnisse relativiert werden (Hopf, 2000, S. 40 ff.). Idealisierung der Eltern stellt nur eine von mehreren Reaktionsweisen des Kindes auf die autoritäre Erziehung dar. Ebenso beobachtbar sind "kühl-verachtende Abwertung ('derogation') der Beziehung zu den eigenen Eltern" oder "eine gefühlseingeschränkte Haltung im Verhältnis zu Bindungserfahrungen" (ebd., S. 42 f.). Hopf plädiert dafür, "die Idealisierungsthese zu revidieren, jedoch an der These festzuhalten, daß die Art des Umgangs mit der Aggressivität gegenüber den eigenen Eltern berücksichtigt werden sollte, wenn man ethnozentrische und rechtsextreme Orientierung erklären will" (ebd., S. 46) – vor dem Hintergrund der Tatsache, dass diese Orientierungen mit den aus autoritärer Erziehung resultierenden unsicheren Bindungsstilen korrelieren (ebd., S. 43). Hopf betont die nach wie vor gegebene Relevanz des psychodynamischen Ansatzes, auch und gerade im Zusammenhang mit lerntheoretischen Erklärungsansätzen, die nicht mit den psychodynamischen konfligieren, sondern diese ergänzen und vervollständigen (ebd., S. 50).
Milburn und Conrad (2000) zeigen anhand von Umfrageergebnissen und experimenteller Forschung, dass Bestrafungserfahrungen in der Kindheit auf zweierlei Art und Weise auf spätere politische Einstellungen wirken können: "Zum einen können sie politische Botschaften über den Gehorsam der Autorität gegenüber vermitteln und zum anderen stellen sie die emotionale Energie dar, die hinter straforientierten Einstellungen [...] steht" (ebd., 66). Oesterreich schließt aus seinen empirischen Untersuchungen auf den Zusammenhang zwischen autoritärer Erziehung und mangelnder Autonomieentwicklung. Entscheidend sei dabei aber weniger das emotionale Klima in der Familie "in der Form eines einfachen Zusammenhangs, aufgrund dessen emotionale Distanz Autoritarismus, Wärme dagegen Autonomie erzeugen würde". Es gehe um "emotional unterstützende Rahmenbedingungen, die sicherstellen, daß Kinder in der Lage sind, ihre Welt zunehmend selbstständiger in den Griff zu bekommen" (Oesterreich, 2000, S. 77). Dabei sei nicht von einer einheitlichen "Restriktions-Sebstständigkeitsdimension" (ebd., S. 78) auszugehen; vielmehr sei die Art der Regeln, die das Kind befolgen solle, entscheidend. Negativ wirken sich Regeln vor allem dort aus, "wo das Kind seine Alltagsrealität auch ohne [sie] bewältigen könnte". In einem solchen Fall fördern Regeln autoritäre Bindung (ebd.).
Die Diskussion um die Genese der autoritären Persönlichkeit kann noch nicht als abgeschlossen gelten (Rippl, Kindervater & Seipel, 2000, S. 25). Laut Rippl et al. ist "das klassische Konzept modernisierungsbedürftig und es ist daher sinnvoll, neuere Entwicklungen z. B. der psychoanalytischen Forschung zu integrieren (wie z. B. Hopf et al. 1995) und die Theorie der autoritären Persönlichkeit weiterzuentwickeln" (ebd.). Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage nach veränderten Sozialisationsbedingungen, nach veränderten Erziehungszielen und -praktiken sowie nach der Differenzierung des autoritären Charakters in mehrere "Typen" (ebd., S. 25 f.). Es sei z. B. "plausibel anzunehmen, daß eine Gesellschaft, die die Ideale der Stärke, Aggressivität und des Erfolges favorisiert, neue Varianten der autoritären Persönlichkeit produziert" (ebd., S. 26). Salzborn (2012) schließt aus seinen empirischen Untersuchungen, dass von einer einheitlichen autoritären Persönlichkeit nicht auszugehen ist (ebd., S. 169), sich jedoch eine "ähnliche Prädisponierung" (ebd.) nachweisen lässt, deren Äußerung von weiteren, bisher wenig bekannten Variablen beeinflusst werde. Zwar liegen Ansätze vor, die in diese Richtung weisen, etwa das Konzept des "neuen Autoritarismus" von Brede (1995) oder die Differenzierung Wirths (2001) von verschiedenen Typen, die in Abhängigkeit persönlichkeitspsychologischer Variablen zu verschiedenen Abwehr- und Verhaltensstrategien greifen. Belastbare Ergebnisse wie etwa eine empirisch gestützte Typologie der modernen Ausprägungen des Autoritarismus liegt nach der Kenntnis des Verfassers noch nicht vor.
Die moderneren Weiterentwicklungen der Autoritarismus-Theorie entwickelten sich zunehmend in Richtung einer narzissmustheoretischen Perspektive. Bei Adorno ist dieser Perspektivwechsel im Verlauf seiner Arbeiten schon feststellbar (Clemenz, 1998, S. 143). In den "Untersuchungen zum Autoritären Charakter" stellt Adorno den "manipulativen Typus" des autoritären Syndroms als dessen "gefährlichsten" Typ dar, bei dem eine narzisstische Thematik im Vordergrund steht (Adorno, 2016, S. 334 ff.). In den Überlegungen Bredes steht im Zentrum der Dynamik des "Neuen Autoritären" eine narzisstische Thematik (Brede, 1995, S. 1019), ebenso bei Gruen, der das Autoritarismus-Konzept mit dem des Narzissmus verbindet (Gruen, 2009, S. 56 ff.). Im Folgenden soll der Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Narzissmus dargestellt und die narzissmustheoretische Perspektive erläutert werden.
2.1.3 Narzissmustheoretischer Ansatz
Schon bei Adorno ist eine Hinwendung zu narzissmustheoretischen Ansätzen zu beobachten:
"Psychoanalytisch gesehen entwickelten Adorno und Horkheimer [...], parallel zur 'autoritären Persönlichkeit', Ansätze einer narzißmustheoretischen Perspektive. Bereits [...] 1955 [...] ist, jedenfalls für Adorno, eine eindeutig narzißmustheoretische Perspektive an die Stelle des Modells der 'autoritären Persönlichkeit' getreten." (Clemenz, 1998, S. 143)
Die narzissmustheoretische Perspektive ist aus psychodynamischer Sicht nicht unbedingt als Widerspruch, sondern eher als logische Weiterentwicklung des Autoritarismuskonzepts zu bewerten. Miller zeigt, dass Eltern in der Erziehung häufig gegen diejenigen Anteile im Kind vorgehen, die sie selbst verdrängt haben und an die sie durch das Kind, das diese Anteile noch nicht verdrängt hat, schmerzhaft erinnert werden (Miller, 2015, S. 111). Dies führt dazu, dass das Kind, um die Bindung zu sichern, diese Anteile selbst verdrängt. Das Entscheidende ist nun, "daß es sich hier um einen narzißtischen Bereich handelt. Ein Teil des Selbst wird bekämpft" (ebd.) und ein narzisstisches Selbst etabliert, das die Stabilität der Bindung sichert, während die bindungsgefährdenden Anteile in den Schatten integriert werden[8]. Die Bildung des narzisstischen Selbstbildes kann eine logische Konsequenz einer (autoritären) Erziehung sein, die vom Kind Selbstverleugnung und Verdrängung fordert.
Moderne Narzissmustheoretiker wie Bohleber (1992) oder Heim (1992) betonen die primärnarzisstische Komponente der Fremdenfeindlichkeit, im Sinne regressiver "Verschmelzungsphantasien" mit der präambivalent imaginierten Bindungsperson – wobei Hass abgespalten und auf Fremde übertragen werden kann (Bohleber, 1992, S. 701). Nach triebtheoretischer Auffassung sind es die eigenen, übermäßigen Triebregungen des Säuglings, die die narzisstische Einheit mit der Mutter gefährden (vgl. Abschnitt 2.1.1.1). Aus den moderneren Deutungen im Zuge der autoritarismustheoretischen Debatte scheint eine andere Erklärung zu folgen: Im Zuge einer Erziehung, die die Bedürfnisse des Säuglings missachtet, ignoriert oder abwertet, besteht die Ambivalenz der frühen Bindung in einer Ambivalenz zwischen Liebe und Hass des Säuglings auf die Bindungsperson – insofern er für sein Überleben auf sie angewiesen ist, gleichzeitig in seinem Wesen von ihr zurückgewiesen wird (Miller, 2015, S. 80). Der von Wirth beschworene "Frustrationshaß auf die Mutter" (Wirth, 2001, S. 1221) gründet aus dieser Perspektive nicht in dem angeblich unersättlichen, triebhaften Wesen des Säuglings, das es zu sozialisieren gilt, sondern in der Missachtung seiner gesunden und berechtigten Bedürfnisse durch Bindungspersonen, die nicht in der Lage sind, diese empathisch aufzunehmen. Die triebtheoretische Sicht auf die primärnarzisstische Phase ist nach wie vor populär; so bezeichnet Auchter (2016) den "frühkindlichen Erlebenszustand zugespitzt als 'primären Fundamentalismus'" (ebd., S. 859). In Kapitel 2.2 soll diese Position als antiquiert und hinderlich kritisiert werden. In dieser Arbeit wird einer anderen Interpretation gefolgt, die den Säugling nicht als triebgesteuertes und asoziales, d. h. zu sozialisierendes Wesen, sondern als ein vollständiges menschliches Wesen mit ernst zu nehmenden Wahrnehmungen und Bedürfnissen ansieht – eine Sichtweise, die mittlerweile durch die Forschung gut gestützt wird (siehe dazu u. a. Lempa, 2001, S. 64). Die Literatur über die Bedeutung des primären Narzissmus muss vor diesem Hintergrund mit Vorsicht interpretiert werden. Aus einer moderneren Perspektive ist der Narzissmus die Konsequenz der Notlösung des Kindes in der oben beschriebenen Dynamik. Nicht-Anerkennung des eigenen Wesens (d. h. des eigenen Wahrnehmens, Fühlens und der eigenen Bedürfnisse) führt zur Herausbildung eines idealisierten, von äußerer Zustimmung abhängigen Selbstbildes, das der Illusion unterliegt, dass durch Gehorsam, Unterordnung und durch Entsprechen der Erwartungen von Autoritäten Bindung hergestellt werden kann – was dazu führen kann, dass auch der erwachsene Mensch dem inneren Arbeitsmodell folgt, dass Zuwendung und Zugehörigkeit durch Gehorsam und Verdrängung des Eigenen gewonnen werden können. Wirth schreibt über den Zusammenhang von Narzissmus und Macht: "Das dynamische Wechselspiel zwischen Narzissmus und Macht wird auf der eine Seite durch die Machtgelüste des Herrschers geprägt, [...] auf der anderen Seite durch die Bedürfnisse der Beherrschten nach Unterwerfung, Schutz und blinder Gefolgschaft" (Wirth, 2007, S. 14).
Die Verbindung zur vorliegenden Thematik ist nun nicht die, dass Narzissten per se fremdenfeindlich wären, sondern die, dass die zum Narzissmus führenden Bedingungen derart sind, dass sie eine Verdrängung authentischer Selbstwahrnehmung und Selbstbehauptung (als Voraussetzungen für Autonomie) verhindern und zu einer Unfähigkeit zu fühlen führen:
"Das Narzißmuskonzept [...] verstellt die Sicht auf die tatsächliche Entwicklung, in der die Lüge von der Liebe zum Drehpunkt der Selbstorganisation des Individuums wurde. Es ist notwendig zu erkennen, dass das Problem im Fehlen eines authentischen Selbst liegt; Narzißmus ist lediglich Begleiterscheinung und nicht Ursache. Mit defizitären Gefühlen [...] zu arbeiten, das setzt voraus, daß man [...] erkennt, daß die Person [...] unfähig ist, zu fühlen." (Gruen, 2009, S. 49)
Die Entwicklung eines narzisstischen Selbstbildes kann als Konsequenz einer die authentischen und berechtigten Bedürfnisse des Kindes missachtenden und unterdrückenden Erziehung interpretiert werden. Aus der schmerzhaften, zu Selbsthass führenden Verdrängung sowohl "negativer" als auch vitaler und lebendiger Anteile in den Schatten (Kast, 2017, S. 74 f.) resultiert die Notwendigkeit zur Projektion dieser Anteile auf andere, oft Fremde. Im Fremden können diese entweder "phobisch gemieden" oder aggressiv bekämpft werden (Wirth, 2001, S. 1227). Dem narzisstischen Selbstbild kommt eine bindungssichernde Funktion zu, insofern es eine Angleichung an das Bild darstellt, das die für das Überleben notwendigen Bindungspersonen sich vom Kind machen. Dies verhindert authentisches Fühlen und Erleben der eigentlichen Wünsche oder Bedürfnisse. Für Salzborn ist dies das charakteristische Merkmal des Antisemitismus: "Antisemitismus ist zugleich Unfähigkeit und Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen" (Salzborn, 2012, S. 176).
Kritik
Clemenz (1998) wirft die Fragen auf, ob
"1.) die 'autoritäre Persönlichkeit' möglicherweise ein schlichter Konstruktfehler ist und besser durch das Konzept der 'narzißtischen Persönlichkeit' ersetzt werden sollte und 2.) sich Sozialisationsstrukturen in der BRD seit 1945 [...] so nachhaltig verändert haben, daß sie eine neue Form rechtsradikaler Bewegungen hervorgebracht haben und damit auch ein neues Erklärungsmodell erforderlich machen." (ebd., S. 144)
Er kommt zu dem Schluss, dass die autoritarismustheoretische Perspektive nicht einfach durch die narzissmustheoretische zu ersetzen ist, sondern diese vielmehr neue Fragen für eine zeitgemäße Weiterentwicklung der ersteren aufwirft – etwa der These der "Ersetzung eines individuellen Über-Ichs durch einen Führer", die möglicherweise nicht mehr "zutreffend und ausreichend ist" (ebd., S. 147). Bei Brede fusionieren beide Perspektiven im Konzept des "neuen Autoritären", für den Merkmale wie "(1) Selbstreferentialität, (2) Ambiguitäts in toleranz, (3) Abwehr von Mißerfolgserfahrungen durch narzißtische Größenphantasien, (4) narzißtische Verschmelzungsphantasien mit Vorgesetzten etc." typisch sind (ebd.). Laut Clemenz ist "das Verhältnis bzw. die aktuelle Relevanz von 'autoritärer' und 'narzißtischer Persönlichkeit' [...] nur scheinbar geklärt" (ebd., S. 149). Insbesondere die Bedeutung der frühen, prä-ödipalen Konflikte für die autoritäre Persönlichkeit sei bisher wenig untersucht. So sei es wenig plausibel, "daß ein Individuum, das in einer frühen Entwicklungsphase Urvertrauen erworben [...] hat, plötzlich zu dem von Adorno beschriebenen autoritären Scheusal wird" (ebd., S. 149 f.). Die Überlegungen von Gruen, Miller, Kast und weiteren erlauben eine Verbindung beider Konzepte und die Fundierung der autoritären Persönlichkeit in prä-ödipalen, primärnarzisstischen Konflikten. Clemenz´ Zwischenfazit ist, dass "die 'autoritäre' und 'narzißtische Persönlichkeit' keine disjunktiven Phänomene sind, sondern daß es vielmehr zahlreiche Abstufungen und Zwischenstufen gibt" (ebd., S. 150). Für die von ihm kritisierte Erklärungslücke zwischen Narzissmus und Autoritarismus gibt es inzwischen plausible Erklärungsmodelle, für die jedoch eine weitere Differenzierung und empirische Überprüfung wünschenswert wäre.
Clemenz führt neben der Autoritarismus- und der Narzissmustheorie die Desintegrationsthese von Wilhelm Heitmeyer an. Diese stellt nur noch indirekt eine individualpsychologische Erklärung dar und verweist bereits auf den Zusammenhang der individualpsychologischen mit der sozialpsychologischen Erklärungsebene.
2.1.4 Desintegrationstheoretischer Ansatz
Die Theorie der sozialen Desintegration zur Erklärung von Fremdenfeindlichkeit nach Wilhelm Heitmeyer ist keine individualpsychologische Theorie im eigentlichen Sinne. Auch ist Heitmeyer kein Psychodynamiker; seine Thesen weisen aber gewisse Parallelen zur psychodynamischen Perspektive auf. Sie sollen deshalb kurz dargestellt werden, um den Überblick über die dominierenden Strömungen zu vervollständigen, eine spätere Bezugnahme darauf zu ermöglichen und die klassische desintegrationstheoretische Perspektive zur psychodynamischen zu kontrastieren.
Nach dem "Desintegrations-Theorem" (Heitmeyer, 1997, S. 29) muss bei der Erklärung des Zuwachses fremdenfeindlicher, gewaltakzeptierender und rechtsextremer Gruppierungen auf politische, soziale und berufliche Desintegrationsprozesse geachtet werden (ebd., S. 45). Heitmeyer geht aus von der Analyse der "Grundmechanismen der hochindustrialisierten, durchkapitalisierten Gesellschaft [...], in der Individualisierungsprozesse neuen Widersprüchen und Gegenläufigkeiten ausgesetzt sind." (ebd.). Gemeint sind damit zunächst Prozesse der Zunahme von Konkurrenz und Vereinzelung bei abnehmender Solidarität in der Gesellschaft (ebd., S. 46). Damit verbunden sind verschiedene "Auflösungsprozesse" von Beziehungen, faktischer Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen und von Verständigung über gemeinsame Wert- und Normvorstellungen (ebd.). Die Umformung desintegrativer Alltagserfahrungen, die letztlich zum Anschluss an rechtsextreme Positionen führt, verläuft auf drei Ebenen: Ohnmachtserfahrungen führen zu Gewaltakzeptanz; erfahrene Handlungsunsicherheit führt zu Gewissheitssuche, und Vereinzelungserfahrungen bedingen die Suche nach Zugehörigkeit (ebd., S. 47).
Für Heitmeyer ist Radikalisierung nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Problem: "So sind bei genauer Analyse die rechtsextremen Orientierungen der Jugendlichen nicht die Ursachen der heutigen Probleme, sondern die Folgen von Ursachen, die an anderer Stelle lagern" (ebd., S. 49). Nach Heitmeyer sind diese Ursachen in den Strukturen zu suchen, die der kapitalistischen Gesellschaft zugrunde liegen. Die Deutung des Problems der Radikalisierung als eine Summe individueller Täterschaften stehe im Interesse von "Selbstentlastung" und "Legitimation bestehender Herrschaft" (Negt, 1981, zitiert nach Heitmeyer, 1997, S. 59). Das Problem werde "reduziert [auf] ein technisches Problem", dem mit Aufrüstung von Verfassungsschutz und Polizei hinreichend begegnet werden könne (Heitmeyer, 1997, S. 60). Ein wirksames Vorgehen gegen Rechtsradikalismus ist für Heitmeyer nur möglich, wenn, statt ihn als "technisch zu regelnde[s] Sicherheitsproblem" einzustufen, "die Aufmerksamkeit auf sozial, beruflich und politisch desintegrierende Grundmechanismen der hochindustrialisierten Gesellschaft" gelenkt wird (ebd., S. 62).
Kritik
Heitmeyer kam in seinen empirischen Untersuchungen zu Ergebnissen, die teilweise im Widerspruch zu seinen theoretischen Überlegungen standen. Entgegen seiner Annahmen "mußte er schließlich feststellen, daß gerade auch gut integrierte und selbstbewußte Jugendliche (jeweils gemäß ihrer Selbsteinschätzung) starke rechtsradikale Tendenzen aufwiesen" (Clemenz, 1998, S. 130). Auch spätere Modifikationen seiner Theorie können laut Clemenz diese Lücke nicht überzeugend schließen (ebd., S. 131). Frappierend ist weiterhin, dass Heitmeyer zwar eine differenzierte Kritik übergeordneter sozialer Verhältnisse vornimmt, aber "die Zusammenhänge zwischen familialer Sozialisation und [rechtsradikalem] Akzeptanzmuster praktisch ignoriert" (ebd., S. 135): "Man gewinnt den Eindruck, daß Heitmeyer [...] auf der vergeblichen Suche nach einer gegen Rechtsradikalismus immunisierenden proletarischen Kultur ist und dabei sich geradezu aufdrängende Zusammenhänge außer Acht läßt" (ebd.). Bei der Analyse seines empirischen Materials musste er einsehen, dass er den Einfluss der familiären Desintegration massiv unterschätzt hatte (Lempa, 2001, S. 113). Auch die irrationale Dimension der Fremdenfeindlichkeit sei mit Heitmeyer nicht befriedigend zu erklären (Clemenz, 1998, S. 137). Eine tiefer gehende Ursachendiskussion von Rechtsradikalismus sei aufgrund der empirischen Daten Heitmeyers kaum möglich (ebd., S. 152). Clemenz gibt allerdings zu, dass Heitmeyer durchaus "eine mögliche Ursachendimension" (ebd., S. 136) des Problems identifiziert hat. Heitmeyers Ansatz sei nicht als grundsätzlich falsch zu betrachten; er ignoriere jedoch entscheidende Zusammenhänge. In eine ähnliche Richtung geht die Kritik Lempas an Heitmeyer; dieser sei "der Versuchung [erlegen], die Analyse rechtsextremer Gewalt für an sich berechtigte, aber für die Erklärung des Phänomens Fremdenfeindlichkeit und Gewalt nicht zentrale, Sozialkritik zu verwenden" (Lempa, 2001, S. 115). Heitmeyers Theorie kann in ihrer ursprünglichen Form für eine tiefer gehende Erklärung der Fremdenfeindlichkeit kaum herangezogen werden kann. Es wird sich noch zeigen, dass Heitmeyer strukturell einen entscheidenden Punkt beschreibt, dabei aber inhaltlich zu oberflächlich bleibt und die tiefer liegenden, psychodynamischen Mechanismen sozialer Desintegration außer Acht lässt. Heitmeyers Theorie muss kritisch betrachtet werden, enthält aber wertvolle Hinweise zum Verständnis von Fremdenfeindlichkeit. In Abschnitt 2.2 wird gezeigt, dass seine Grundidee, der Zusammenhang von Fremdenfeindlichkeit und sozialer Desintegration, mit psychodynamischen Erklärungen vereinbar ist und eine psychodynamisch fundierte Theorie sozialer Desintegration denkbar und plausibel ist.
2.1.5 Psychodynamische Besonderheiten im Zusammenhang mit Geflüchteten
Im Zusammenhang mit Geflüchteten, vor allem mit Traumatisierten und Folteropfern gibt es einige Besonderheiten in der Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit zu beachten. Klaus Ottomeyer, Professor für Sozialpsychologie, Psychoanalytiker und Traumatherapeut, stellt einige davon in seinem Buch über die Behandlung der Opfer dar (Ottomeyer, 2011). Nach Ottomeyer kommt es immer wieder zu menschenunwürdigen Behandlungen und Retraumatisierungen, wenn Traumatisierte nicht ernst genommen und die Echtheit ihrer Geschichte (als Voraussetzung für die Gewährung von Asyl) angezweifelt wird. Auf die Folgen bei den Opfern wird in 3.3.2.1 näher eingegangen. Hier interessiert zunächst, welche unbewussten Mechanismen daran beteiligt sind, dass traumatisierte Geflüchtete in dieser Weise behandelt werden. Nach Ottomeyer sind dabei vor allem drei Ängste beteiligt: "Angst vor einem psychotischen Kosmos, Angst vor der Versorgungskonkurrenz und Angst vor einem konsequenten 'ganzjährigen Gewissen'" (Ottomeyer, 2001, S. 87). Diese werden im Folgenden dargestellt.
Ottomeyer spricht (als Österreicher) über eine "offenkundige 'Gutachtenverwahrlosung' in österreichischen Asylverfahren" (ebd., S. 85) und führt zahlreiche Beispiele an, in denen amtliche Gutacher psychiatrisch gesicherte Traumata oder deren Folgen verschweigen, umdeuten oder ohne entsprechende Sachkenntnis anzweifeln (ebd., S. 77 ff.). Dafür sind nach Ottomeyer nicht nur sachliche Fehler im Gutachtenprozess, sondern auch psychodynamische Aspekte verantwortlich. Die Vorfälle sind "Ausdruck von starken Kräften der Verleugnung in Bezug auf eine traumatische Realität und oft auch einer Aggressionstendenz gegenüber Opfern" (ebd., S. 86). Diese Tendenz ist nach Ottomeyer bei der Mehrheit der Menschen vorhanden. Abwehr und Verleugnung fallen umso stärker aus, je größer das Trauma ist. Er zitiert den Fall eines Geflüchteten, bei dem die Verweigerung von Asyl (trotz klar erkennbarer Traumatisierung und Folgen von Folter) und die erniedrigende Behandlung durch die Behörden zu erneuter Traumatisierung führten (ebd., S. 79 f.). Ottomeyer deutet deren irrationales Verhalten psychodynamisch:
"Die Narben von Herrn Özdemir wirkten auf den vernehmenden Beamten möglicherweise so erschreckend, dass die Vorstellung, sie könnten absichtsvoll von Menschen einem anderen Menschen zugefügt worden sein, ihn völlig überfordert hat. Der Gedanke, die Narben könnten ja auch durch eine Serie von Unfällen entstanden sein oder das Sich-Festbeißen an noch so kleinen Zeichen von Unglaubwürdigkeit in der Aussage des Asylbewerbers können davor schützen, dass sich unter der vertrauten Welt des Büros und des Alltagslebens plötzlich Abgründe auftun, deren Wahrnehmung einem Menschen die Fassung rauben kann." (Ottomeyer, 2011, S. 86)
Diese Reaktion ist auch Traumatherapeuten bekannt, die für den Umgang mit dieser Art der Abwehr speziell geschult sind (ebd.). Sie ist die Reaktion auf die erste der genannten drei Ängste, der "Angst vor einem psychotischen Kosmos". Damit ist folgendes gemeint: Um den Alltag bewältigen zu können, benötigen Menschen ein gewisses Vertrauen in die Berechenbarkeit und Bewältigbarkeit der Welt (ebd., S. 88 f.). Die Begegnung mit Folteropfern macht die Grenzen dieser Bewältigbarkeit jäh bewusst. Während erschreckende Informationen über Folter, Verstümmelung etc. über die Medien auf Distanz gehalten werden können, droht die Abwehr in der realen Begegnung zusammenzubrechen. "Der Glaube an die Mitschuld oder den Simulantenstatus der Opfer erhält uns paradoxerweise das Vertrauen in die Welt und festigt [...] das [...] Modell einer 'just world theory' (Montada und Lerner 1998)" (ebd., S. 89). Die Verzerrung des Schicksals des Opfers ist psychodynamisch als Versuch zu werten, an wichtigen Überzeugungen über eine "gerechte Welt" festhalten zu können. Die Abwehr des "psychotischen Kosmos" gelingt dann am besten, wenn die Opfer gleichzeitig abgewertet oder verspottet werden. "Die spontanen Abwehr- und Verleugnungsmechanismen laufen weitgehend unbewusst ab, führen zu einer sozialen Isolation des Opfers und verstärken dessen Fremdheit gegenüber sich selbst" (ebd.).
Die zweite Angst ist die vor der "Versorgungskonkurrenz". Traumatisierte sind für Nicht-traumatisierte unbewusst Konkurrenten "im Ringen um soziale Zuwendung und Aufmerksamkeit" (ebd., S. 91). Der Neid kann sich auf einzelne Individuen (sogar auf Tote (ebd.)) oder auch ganze Gruppen von Menschen beziehen. Ottomeyer schreibt:
[...]
[1] Wenn im Folgenden nur die männliche Sprachform genutzt wird, so sind stets beide Geschlechter gemeint. Es geschieht ausschließlich der besseren Lesbarkeit halber.
[2] Bowlby selbst distanzierte sich von einer Reduktion der Bindung ausschließlich auf die Mutter als einer "sozio-kulturellen Überformung" (Frick & Gündel, 2009, S. 16). Im Folgenden bezieht sich "Mutter" im Sinne Bowlbys immer auf die primäre Bindungsperson.
[3] Im Sinne des Luther´schen "Hier stehe ich und kann nicht anders."
[4] Dabei geht es nicht um eine grundsätzliche Verdammung des Gehorsams in der Erziehung. Sogar radikal denkende Autoren wie Peter Brückner (1983b) räumen ein, dass eine Erziehung ganz ohne Gehorsam schwer denkbar ist (ebd., S. 29). Es geht nicht um eine Kritik am Gehorsam im Interesse einer antiautoritären "laissez-faire"-Pädagogik, sondern um eine Kritik am Gehorsam als Sozialisationsprinzip und als Voraussetzung füt soziale Zugehörigkeit.
[5] In den Interviewauszügen von Adornos "Studien zum autoritären Charakter" findet sich an einer Stelle versteckt das Motiv des Neides auf Identität, die in einem direkten Kontakt zu eigenen Wahrnehmungen und Bedürfnissen gründet: Auf die Frage, wie denn "die Juden" aussehen, antwortet der Proband: "Attraktiv. Gut angezogen. Als ob sie genau wüßten, was sie brauchen" (Adorno, 2016, S. 127. Hervorhebungen R. E.)
[6] D. h. Aggressivität gegen Schwächere oder Untergeordnete, Anm. d. Verf.
[7] D. h. das, was für Hitler "der Jude" symbolisierte, Anm. d. Verf.
[8] In der Narzisslegende bildhaft ausgedrückt durch die Metapher des Wasser spiegels, in dem Narziss nur die Vorderseite seines Gesichts sehen und bewundern kann. "Seine Rückseite [...] und sein Schatten bleiben ihm verborgen, gehören nicht zum geliebten Spiegelbild, werden ausgeklammert" (Miller, 2017, S. 99). Der Narzisst entwickelt ein einseitig idealisiertes Selbstbild, das nur enthält, was ihm seine Umwelt (d. h. in erster Instanz die primären Bindungspersonen) als akzeptabel und liebenswert spiegelt.
- Arbeit zitieren
- Robert Ebbinghaus (Autor:in), 2018, Integration und Autonomie. Die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit und ihre Bedeutung im Kontext von Prävention und gesellschaftlichem Wandel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/436491
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