In dieser Arbeit wird die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern aus städtischen und ländlichen Umgebungen verglichen. Unter großem Aufwand wurden die Zweitklässler aller Grundschulen in Düsseldorf auf ihre Sportmotorik hin getestet und mit ca. 200 Kindern aus Wegberg (Heinsberg) verglichen. Die Ergebnisse sind überraschend! Anhand der Ergebnisse wird außerdem der Versuch einer Erklärung vorgenommen. Ein ausführlicher Anhang erleichtert das Verständnis der Vorgehensweise.
Welche Leistungen erbringen Schüler und Schülerinnen (im Folgenden Schüler genannt) im Hinblick auf die motorischen Fähigkeiten Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit bzw. auf die Ausprägung der Koordination und Gelenkigkeit? Welche Differenzen bestehen bezüglich des motorischen Leistungsniveaus zwischen Kindern, die in städtischen oder ländlichen Gegenden aufgewachsen sind? Spielt der Wohnort bei der Entwicklung sportmotorischer Fähigkeiten eine Rolle? Unterscheiden sich anthropometrische Parameter bei Stadt und Landkindern?
Mit den obigen Fragen beschäftigt sich die folgende Studie zur Untersuchung der motorischen Leistungsfähigkeit von Schülern aus Agglomerationsräumen, städtischen und ländlichen Regionen. Die Antworten auf diese Fragen geben Auskunft über den körperlichen und gesundheitlichen Zustand der jungen Bevölkerung in Bezug auf das Wohnfeld.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Einleitung
1 Motorik und motorische Leistung
1.1 Motorik vs. Bewegung
1.2 Die fähigkeitsorientierte Betrachtungsweise
1.2.1 Konditionelle Fähigkeiten
1.2.1.1 Ausdauer
1.2.1.2 Kraft
1.2.1.3 Schnelligkeit
1.2.1.4 Beweglichkeit
1.2.2 Koordinative Fähigkeiten
1.2.2.1 Differenzierungsfähigkeit
1.2.2.2 Kopplungsfähigkeit
1.2.2.3 Reaktionsfähigkeit
1.2.2.4 Orientierungsfähigkeit
1.2.2.5 Gleichgewichtsfähigkeit
1.2.2.6 Umstellungsfähigkeit
1.2.2.7 Rhythmisierungsfähigkeit
1.3 Motorische Entwicklung (Ontogenese) Motorische Entwicklung von der Geburt bis ins hohe Alter
1.3.1 Neugeborenenalter
1.3.2 Säuglingsalter
1.3.3 Kleinkindalter
1.3.4 Frühes Kindesalter
1.3.5 Mittleres Kindesalter
1.3.6 Spätes Kindesalter
1.3.7 Frühes Jugendalter (Pubeszenz)
1.3.8 Spätes Jugendalter (Adoleszenz)
1.3.9 Frühes Erwachsenenalter
1.3.10 Mittleres Erwachsenenalter
1.3.11 Späteres Erwachsenenalter
1.3.12 Spätes Erwachsenenalter
1.4 Die (motorische) Leistung
1.5 Anthropometrie
2 Sportmotorische Tests
2.1 Die klassische Testtheorie
2.2 Begriffserklärung und Definition
2.2.1 Diagnostik
2.2.2 Bewegungsdiagnostik
2.2.3 Test
2.2.4 Definition sportmotorischer Test
2.3 Aufgabenbereiche
2.4 Klassifizierung
2.5 Anforderungen an die Aussagekraft SMTs
2.5.1 Hauptgütekriterien
2.5.1.1 Objektivität
2.5.1.2 Reliabilität (Zuverlässigkeit)
2.5.1.3 Validität
2.5.1.4 Beziehungen zwischen den Hauptgütekriterien
2.5.2 Nebengütekriterien
2.5.2.1 Ökonomie
2.5.2.2 Normierung
2.5.2.3 Nützlichkeit
2.5.2.4 Vergleichbarkeit
2.6 Sportmotorische Tests im Sportunterricht
2.7 Pro und Kontra
3 Das Düsseldorfer Modell – Hintergrund und Methodik der Studie
3.1 Das Düsseldorfer Modell der Bewegungs-, Sport- und Talentförderung
3.2 Aufbau des Modells
3.3. Der motodiagnostische Komplextest CHECK!
3.3.1 Testinhalt
3.3.2 Durchführung
3.3.3 Testgütekriterien
3.3.4 Auswertung
4 Städtisch – ländlicher Vergleich
4.1 Der ländliche Raum
4.2 Kleinstadt, Mittelstadt und Großstadt, Agglomerationsräume
4.3 Einfluss des Wohnfeldes auf die motorische Entwicklung von Kindern
4.3.1 Aktionsräume von Kindern auf dem Land und in der Stadt
4.3.2 „Stadtkinder sind motorisch nicht weniger begabt als Landkinder!“
4.3.3 „Landkinder sind den Stadtkindern voraus!“
4.3.4 Gründe für Differenzen bzw. Ähnlichkeiten der motorischen Fähigkeiten zwischen Stadt- und Landkindern
4.3.5 Fazit
4.4 Lebenswirklichkeit in Wegberg
4.5 Lebenswirklichkeit in Düsseldorf
5 Die empirische Untersuchung
5.1 Arbeitshypothesen
5.1.1 Themengebiet Motorik
5.1.2 Themengebiet Anthropometrie
5.1.3 Themengebiet Fragebögen
5.2 Datenverarbeitung und Auswertung
5.3 Konzeptioneller Aufbau der Untersuchung
6 Ergebnisse der empirischen Untersuchung
6.1 Darstellung der motorischen Leistungsfähigkeit der Grund- schüler der Stadt Düsseldorf - Ergebnisse des CHECK!
6.2 Darstellung der motorischen Leistungsfähigkeit der Grund- schüler der Stadt Wegberg - Ergebnisse des CHECK!
6.3 Bewegungs-, Sport- und Talentförderung in Düsseldorf und Wegberg
6.4 Ergebnisdarstellung anhand der formulierten Arbeitshypothesen
6.4.1 Darstellung der motorischen Leistungsfähigkeit im Vergleich Düsseldorf/Wegberg
6.4.2 Darstellung des Body-Mass-Index (BMI) im Vergleich Düsseldorf/Wegberg
6.4.3 Auswertung relevanter Fragen der Kinderfragebögen
7 Ausblick
8 Anhang
9 Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1. Charakterisierung verschiedener Umfangsdefinitionen der Motorik (BÖS/MECHLING 1983, 31)
Abb. 2. Beziehung zwischen den konditionellen Fähigkeiten (nach HARRE 1979)
Abb. 3. Strukturelles Gefüge der koordinativen Fähigkeiten (MEINEL/SCHABEL 1998, 221)
Abb. 4. Die motorische Ontogenese beeinflussende Prozesse (MEINEL/SCHNABEL 1998, 239)
Abb. 5. Perzentile für den Body-Mass-Index für Jungen im Alter von 0-18 Jahren (KROMEYER-HAUSSCHILD 2001, 811)
Abb. 6. Perzentile für den Body-Mass-Index für Mädchen im Alter von 0-18 Jahren (KROMEYER-HAUSSCHILD 2001, 811)
Abb. 7. Klassifizierung sportmotorischer Testverfahren (zunehmende Komplexität des Testgegenstandes von oben nach unten) (LIENERT7RATZ 1998, 366)
Abb. 8. Beziehungen zwischen den Hauptgütekriterien (LIENERT 1969, 20)
Abb. 9. Das Düsseldorfer Modell der Bewegungs-, Sport-, und Talentförderung (Quelle: http://www.check-duesseldorf.de/ download/ check.pdf ; Zugriff am 05. Januar 2005)
Abb. 10. Vergleich der Lösungshäufigkeit zwischen Stadt- und Landkindern (BRANDT 1997). (Quelle: http://www.uni-bielefeld.de/sport/arbeitsbereiche/ab_iv/lehre/grundlagen%20dr%20sportp%C3%A4dagogik2003/vorlesung11.11-.pdf; Zugriff am 05.Januar 2005)
Abb. 12. Die Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Nationalität (Quelle: http://www.duesseldorf.de/statistik/themen/bevoelkerung/ bev05.shtml; Zugriff am 05. Januar 2005)
Abb. 13. Einwohner/km2 in den Düsseldorfer Stadtteilen (Amt für Statistik und Wahlen – Landeshauptstadt Düsseldorf; Quelle: http:// www.duesseldorf.de/statistik/themen/bevoelkerung/bev02.shtml; Zugriff am 05. Januar 2005)
Abb. 14. Ausländeranteil in den verschiedenen Stadteilen (Amt für Statistik und Wahlen – Landeshauptstadt Düsseldorf; Quelle: http://www.duesseldorf.de/statistik/themen/bevoelkerung/bev02.shtml; Zugriff am 05. Januar 2005)
Abb. 15. Sozialräumliche Gliederung der Stadt Düsseldorf (Quelle: Sozialräumliche Gliederung der Stadt Düsseldorf 2001, S. 114)
Abb. 16. Verteilung männlicher und weiblicher Probanden in Düsseldorf
Abb. 17. Verteilung männlicher und weiblicher Probanden in Wegberg
Abb. 18. Prozentuale Verteilung bezogen auf das Alter der Probanden in Düsseldorf und Wegberg
Abb. 19. Ausländerteil in Düsseldorf
Abb. 20. Ausländeranteil in Wegberg
Abb. 21. Ausländeranteil im Vergleich zwischen Düsseldorf und Wegberg
Abb. 22. Motorische Gesamtleistung der Schüler aus Düsseldorf anhand der Notenverteilung
Abb. 23. Motorische Gesamtleistung der Schüler aus Wegberg anhand der Notenverteilung
Abb. 24. Übersicht über die Maßnahmen des Düsseldorfer Modells in Düsseldorf
Abb. 25. Übersicht über mögliche Maßnahmen des Düsseldorfer Modells in Wegberg
Abb. 26. Vergleich der erreichten durchschnittlichen motorischen Leistung von Schülern aus Düsseldorf und Wegberg
Abb. 27. Vergleich der erreichten durchschnittlichen Leistung (Z-Wert) von Schülern aus Düsseldorf und Wegberg in den einzelnen Testaufgaben
Abb. 28. Vergleich der erreichten durchschnittlichen Leistungen (Z-Wert) der Jungen aus Düsseldorf und Wegberg in den einzelnen Testaufgaben
Abb. 29. Vergleich der erreichten durchschnittlichen Leistungen (Z-Wert) der Mädchen aus Düsseldorf und Wegberg in den einzelnen Testaufgaben
Abb. 30. Vergleich der erreichten durchschnittlichen Leistungen (Z-Wert) der Schüler aus den verschiedenen Bezirken Düsseldorfs und Stadtteilen Wegbergs.
Abb. 31. Vergleich der BMI-Bewertungen von Düsseldorf und Wegberg (Gesamt)
Abb. 32. Vergleich der BMI-Bewertungen von Düsseldorf und Wegberg (nur Jungen)
Abb. 33. Vergleich der BMI-Bewertungen von Düsseldorf und Wegberg (nur Mädchen)
Abb. 34. Prozentuale Verteilung der Vereinsmitgliedschaft
Abb. 35. Vergleich der Vereinsangehörigkeit in den einzelnen Bezirken bzw. Stadtteilen
Abb. 36. Sport und Bewegung in der Freizeit
Abb. 37. Interesse am Sport
Abb. 38. Sport in der Schule
Abb. 39. Eigene Leistung im Schulsport
Abb. 40. Mittelwert der zeitlichen Schulweglänge im Vergleich
Tabellenverzeichnis
Tab. 1. Übersicht zur Terminologiediskussion (BÖS/MECHLING, 1983, S. 71)
Tab. 2. Entwicklungsphasen in der motorischen Ontogenese (MEINEL/SCHABEL 1998, 240)
Tab. 3. Bewertung des Body-Mass-Index (BMI) (nach WHO, 2000)
Tab. 4. Testaufgaben des CHECK! – angezielte motorische Fähigkeiten und beanspruchte Muskelgruppen ( nach BÖS 2001, 51)
Tab. 5. Noten und Z-Wert Vergleich (vgl. Bös et al. 2001, 54)
Tab. 6. 8. 10. Tabellarische Auflistung der Daten der Einwohner des Stadtbezirks 1-3 der Stadt Wegberg (nach Bevölkerungsstatistik der Stadt Wegberg)
Tab. 7. 9. 11. Tabellarische Auflistung der Daten der Einwohner / km2 des Stadtbezirks 1-3 der Stadt Wegberg (nach Stadt Wegberg)
Tab. 12. 14. 16. 18. 20. 22. 24. 26. 28. 30.
Tabellarische Auflistung der Daten der Einwohner des Stadtbezirks 2 der Großstadt Düsseldorf (Amt für Statistik und Wahlen – Landeshauptstadt Düsseldorf; Quelle: http://www. duesseldorf.de/statistik/themen/bevoelkerung/bev0410.pdf; Zugriff am 05.01.05)
Tab. 13. 15. 17. 19. 21. 23. 25. 27. 29. 31.
Tabellarische Auflistung der Daten der Einwohner / km2 des Stadtbezirks 1-10 der Großstadt Düsseldorf (Amt für Statistik und Wahlen – Landeshauptstadt Düsseldorf; Quelle: http:// www.duesseldorf.de/statistik/themen/bevoelkerung/bev0410.pdf; Zugriff am 05.01.05)
Die Werte Einwohner/km2 - Kinder zwischen 6 und 10 Jahren - stellen eine Auswertung des Einwohnermelderegisters vom 03.12.2003 dar.
Tab. 32. Überblick über die Anzahl der gestesteten Kinder und die
Einwohnerdichte in den jeweiligen Gebieten
Tab. 33. Übersicht über signifikante Unterschiede der motorischen Leistung der einzelnen Gebiete im direkten Vergleich
Einleitung (S.E.)
Welche Leistungen erbringen Schüler und Schülerinnen (im Folgenden Schüler genannt) im Hinblick auf die motorischen Fähigkeiten Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit bzw. auf die Ausprägung der Koordination und Gelenkigkeit? Welche Differenzen bestehen bezüglich des motorischen Leistungsniveaus zwischen Kindern, die in städtischen oder ländlichen Gegenden aufgewachsen sind? Spielt der Wohnort bei der Entwicklung sportmotorischer Fähigkeiten eine Rolle? Unterscheiden sich anthropometrische Parameter bei Stadt- und Landkindern?
Mit den obigen Fragen beschäftigt sich die folgende Studie zur Untersuchung der motorischen Leistungsfähigkeit von Schülern aus Agglomerationsräumen, städtischen und ländlichen Regionen. Die Antworten auf diese Fragen geben Auskunft über den körperlichen und gesundheitlichen Zustand der jungen Bevölkerung in Bezug auf das Wohnfeld.
Im Laufe der letzten Jahre hat sich im Bereich der Sportmotorik ein Negativtrend entwickelt, der bei weitem nicht nur von wissenschaftlicher Seite erfasst werden konnte. Zum Teil wurde dieser Trend auch durch die Medien stark publiziert und wohl auch oft verschärft dargestellt wurden. Die Rede ist von der allgemein schwindenden körperlichen Leistungsfähigkeit der Kinder. Viele Kinder in Deutschland zeigen motorische Auffälligkeiten und weisen Bewegungsmängel auf. Dabei ist Bewegung von ganz entscheidender Bedeutung für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung der Kinder. Mit dem Schuleintritt, also in einem Alter, in dem für eine harmonische Gesamtentwicklung ein ausreichendes Maß an Bewegung benötigt wird, und das gekennzeichnet ist durch einen kaum zu bändigenden Bewegungsdrang, wird das bewegungsfreudige Kind nun plötzlich zu einem Sitzkind. Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Lebensbereiche der Kinder, sei es in der Stadt oder auf dem Land, wird klar, dass sich diese in den letzten Jahren gravierend verändert haben. Die Wohnung, die räumliche Struktur des Wohnumfeldes, die Wege zur Schule, die Gestaltung des Schulplatzes, die Anlage der öffentlichen Räume, der Straßen und Plätze, die Freizeiträume, die Familienstruktur, die Technisierung im Alltag - sie alle können Rahmenbedingungen für Bewegung und Gesundheit bieten oder verwehren.
Diese Entwicklung, dass Kinder nicht mehr fähig sind, einfache motorische Leistungen zu erbringen, ist in den Großstädten besonders stark ausgeprägt. Die Bewegungsmöglichkeiten im unmittelbaren Wohnfeld der Kinder sind im städtischen Bereich durch die zunehmende Urbanisierung drastisch begrenzt, was wiederum zu Defiziten in der motorischen und sozialen Entwicklung führt. Kinder aus ländlichen Gebieten weisen nach BASNER und MARÉES (1993), BORGERT und HENKE (1997) und BRANDT (1997) weniger psychomotorische Defizite auf. HÜTTENMOSER (1995) stellt heraus, dass sich „in verschiedenen Untersuchungen gezeigt hat, dass Kinder in der Stadt durchschnittlich bessere motorische Leistungen erbringen als Landkinder“, was wiederum den vorangegangen Behauptungen widerspricht. Je nach Aktionsraumqualität bieten unterschiedliche Wohnumfelder auch unterschiedliche Entwicklungsbedingungen und Lernmöglichkeiten für Kinder (BLINKERT, 1993, 1998, HÜTTENMOSER, 1995, HÜTTENMOSER und DEGEN-ZIMMERMANN, 1995, ZIMMER, 1996). Kinder aus Wohngebieten mit einer für sie guten Aktionsraumqualität können die erwähnten Fähigkeiten altersgemäß entwickeln, Kinder in für sie ungünstigen Wohngebieten weisen häufig psychomotorische, kognitive und soziale Defizite auf.
Die Fülle und Vielfalt der Arbeiten zur motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen ist kaum überschaubar. Jedoch liegen zum Vergleich der motorischen Leistungsfähigkeit zwischen Stadt- und Landkindern nur wenige Untersuchungen vor. Aufgrund der unterschiedlichen Ergebnisse scheint der Auslöser für eine schlechte körperliche und motorische Verfassung weit umfangreicher zu sein. Trotzdem soll in dieser Arbeit versucht werden, einen Überblick über die motorischen Fähigkeiten der Kinder aus ländlichen und städtischen Gebieten zu geben. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei der Vergleich motorischer Leistungen und anthropometrischer Parameter von Schülern der zweiten Klasse aller Grundschulen der Großstadt Düsseldorf und Schülern der dritten Klasse aus drei Grundschulen in ländlichen Gebieten Wegbergs.
In diesem Zusammenhang wird im theoretischen Teil dieser Arbeit der Begriff der Motorik, der motorischen Leistung sowie der motorischen Entwicklung näher erläutert. Um ein Verständnis für die Grundlage der Testdurchführung zu verdeutlichen, wird zudem eine Einführung in die klassische Testtheorie gegeben. Überdies wird im Rahmen des Düsseldorfer Modells der Bewegungs-, Sport- und Talentförderung der sportmotorische Komplextest CHECK! vorgestellt, nach dem die Kinder getestet wurden. Zusätzlich wird die Lebenswirklichkeit der Kinder in Wegberg und Düsseldorf ausführlich dargestellt und es werden mögliche Ursachen für motorische Leistungsdifferenzen von Stadt- und Landkindern beschrieben.
Der empirische Teil der Arbeit stellt schließlich die Ziele und den konzeptionellen Aufbau der Untersuchung dar. Mit Hilfe der Untersuchungsergebnisse im Rahmen des Düsseldorfer Modells zur Bewegungs-, Sport- und Talentförderung und eigens erhobenen Daten aus Wegberg sollen anschließend die motorischen Fähigkeiten sowie der Body-Mass-Index der Schüler aus Düsseldorf und Wegberg verglichen werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei das Wohngebiet der Schüler und sein Einfluss auf die motorische Entwicklung. Letztlich soll eine Befragung der Kinder über ihr Bewegungsverhalten in Freizeit, Schule und Verein weiteren Aufschluss über mögliche Einflussfaktoren hinsichtlich des Wohnortes geben.
1 Motorik und motorische Leistung (M.D.)
Im Folgenden soll erläutert werden, was motorische Leistung ist und in welchen Zusammenhängen diese gesehen werden soll. Vorerst ist es dazu aber notwendig, Begrifflichkeiten wie z.B. Motorik zu erklären. Des Weiteren wird sich mit der fähigkeitsorientierten Betrachtungsweise, mit ihren konditionellen und koordinativen Fähigkeiten beschäftigt, die für die (sport-) motorische Leistungsfähigkeit einen bedeutenden Stellenwert einnimmt. Letztlich wird das Gebiet der motorischen Entwicklung und der anthropometrischen Faktoren behandelt.
1.1 Motorik vs. Bewegung
Die Begriffe Motorik und Bewegung werden in der Sportwissenschaft häufig synonym verwendet. Es existieren verschiedene Definitionsansätze, die die Zusammenhänge, Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Begriffe zu erklären versuchen. Auf diese Definitionsansätze wird im Folgenden näher eingegangen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1. Charakterisierung verschiedener Umfangsdefinitionen der Motorik (BÖS/MECHLING 1983, 31)
Nach MEINEL ist der Gegenstandbereich von Motorik und Bewegung identisch. BUYTENDIJK, FETZ und FETZ/BALLREICH betrachten die Bewegung als eine echte Teilmenge der Motorik. Nach SCHNABELs Ansicht weisen Motorik und Bewegung eine gemeinsame Schnittstelle auf. Ein anderer Ansatzpunkt besagt, dass die Gegenstandsbereiche Motorik und Bewegung disjunkt sind (RÖTHIG 1992, 319). Die Abbildung 1 versucht die einzelnen Definitionsansätze noch einmal grafisch darzustellen. Dessen ungeachtet ist festzuhalten, dass die Motorik den körperinneren Bewegungsapparat wie Skelett- und Muskelapparat sowie Nervatur, Sehnen und Bänder beschreibt.
Die Bewegung beschreibt eine Ortsveränderung eines Körpers unter Einfluss der Umwelt bzw. eine Ortsveränderung aufgrund einer sich verändernden Umweltsituation. Diese Aussage bestärkt die Definition von MEINEL/SCHNABEL (1987, 20) die Bewegung als „...die äußere, umweltbezogene Komponente der menschlichen Tätigkeit, die in Ortsveränderungen des menschlichen Körpers bzw. seiner Teile und der Wechselwirkung mechanischer Kräfte zwischen Organismus und Umwelt (...)“ beschreiben. Motorik und Bewegung lassen sich zwar begrifflich voneinander trennen, dennoch ist zu sehen, dass bei einer menschlichen Tätigkeit diese beiden Bereiche der inneren und äußeren Vorgänge nicht zu trennen sind. Eine sichtbare Bewegung ist ohne einen der Bereiche definitiv nicht möglich. Ein weiterer Begriff, der in diesem Zusammenhang erklärt werden sollte, ist der Begriff der Sportmotorik. Sie ist die Gesamtheit aller Bewegungshandlungen, die sich in spielerischer und sportlicher Betätigung entwickelt haben (RÖTHIG 1972, S.320). Sie hat dementsprechend einen hohen Stellenwert beim Aspekt des motorischen Lernens.
1.2 Die fähigkeitsorientierte Betrachtungsweise
In der Tabelle 1 werden mehrere Definitionsansätze unterschiedlicher Autoren dargestellt. Dabei ist zu erkennen, dass in den Ansätzen verschiedene motorische Merkmale als Grundmerkmale genannt werden. Nun stellt sich in erster Linie die Frage, welches die geeigneten Motorikmerkmale sind, die der Beschreibung und Erklärung von Leistungsdifferenzen dienen können. Motorische Fähigkeitskomponenten bieten sich in dieser Hinsicht an, da Leistungsdifferenzen durch sportmotorische Tests geprüft und verglichen werden können.
Tab. 1. Übersicht zur Terminologiediskussion (BÖS/MECHLING, 1983, S. 71)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Konzept, welches sich mit den Fähigkeitskomponenten beschäftigt, bezeichnet man als fähigkeitsorientierte Betrachtungsweise. Nach einer Definition nach ROTH (1999, 228) befasst sich die fähigkeitsorientierte Betrachtungsweise mit der Beschreibung und Erklärung von individuellen motorischen Leistungsdifferenzen. Sie ist wissenschaftshistorisch aus einer Übernahme der zentralen Gedanken und Methoden der Differentiellen Psychologie entstanden. Die Fähigkeitskomponenten werden relativ übereinstimmend in die Grundkategorien Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koordination unterteilt. Dies wird durch die Tabelle 1 verdeutlicht. Wie unterschiedlich die Ansätze der einzelnen Autoren auch sein mögen, die genannten Begriffe (Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit) werden von fast jedem der Autoren genannt. Eine Definition nach ROTH (1999, 231) beschreibt, welche Voraussetzungen die Motorikmerkmale abdecken müssen bzw. sollten: „Motorische Merkmale zur Beschreibung, Analyse und Erklärung von Leistungsdifferenzen tragen den Charakter nomothetischer, querschnittlich relativ konsistenter und längst schnittlich relativ stabiler Dispositionen oder Traits. Sie können hinsichtlich ihrer aufgabenbezogenen Anwendungsrelevanz von unterschiedlicher Breite sein.
Im Folgenden werden die motorischen Fertigkeiten und die motorischen Fähigkeiten erläutert. Die „...motorischen Fertigkeiten (motor skills) kennzeichnen individuelle Differenzen im Niveau der Steuerungs- und Funktionsprozesse, die der Realisierung jeweils spezifischer Bewegungen zugrunde liegen. Sie sind prinzipiell mit einer bestimmten strukturellen Ausführungsform verknüpft, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihres Grades der Offenheit vs. Geschlossenheit sowie ihres Transferpotentials“ (ROTH 1999, 232). Nach dieser Formulierung stehen die internen Motorikmerkmale in einem 1:1-Verhältnis zu den äußerlich sichtbaren, voneinander abgrenzbaren Sporttechniken. Dies bedeutet: „Jede motorische Fertigkeit entspricht genau einer strukturellen Bewegungsform und umgekehrt“ (ROTH 1999, 234). Im sportwissenschaftlichen Lexikon wird Fertigkeit allgemein als „... weitgehend automatisch ausgeführte Komponente der bewussten menschlichen Tätigkeit, die sich vornehmlich durch Üben herausbildet“ beschrieben (RÖTHIG 1999, 162). Weiterhin wird gesagt, dass die Fertigkeit ein Teil des Handlungsvorganges ist und, dass damit Kenntnisse und Gewohnheiten als notwendiger Bestandteil in die Tätigkeit miteingehen (RÖTHIG 1999, 162). Hinsichtlich dieser Definitionen sollte erwähnt werden, dass alltägliche und sportbezogene Aufgabenstellungen dadurch bewältigt werden können, dass man auf einfache Bewegungsprogramme zurückgreift. Die dafür benötigten Bewegungsprogramme wären z.B. Klettern, Rollen, Wälzen, Gehen, Laufen, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. In der fähigkeitsorientierten Betrachtungsweise der Motorik werden diese internen Steuerungs- und Funktionsprozesse als elementare motorische Fertigkeiten bezeichnet. Das Aneignen dieser Fertigkeit erfolgt während der motorischen Entwicklung vom Säugling bis hin zum Erwachsenendasein.
Da der Begriff der motorischen Fertigkeiten erläutert wurde, soll nun auf die motorischen Fähigkeiten (motor abilities) eingegangen werden. Der Terminus Fähigkeit in Verbindung mit Motorik wird als „...Leistungsvoraussetzung für die erfolgreiche Ausführung von Tätigkeiten“ bezeichnet (MATTAUSCH 1973, 850). Folgendermaßen definiert SCHNABEL (1974, 627) den Begriff der Fähigkeit: „Fähigkeiten sind Leistungseigenschaften eines Menschen, Leistungsvoraussetzungen, die ihn zu bestimmten Handlungen befähigen“. Im sportwissenschaftlichen Lexikon wird Fähigkeit ganz allgemein als „...eine relativ stabile personeninterne Bedingung oder Voraussetzung zum Vollzug einer Tätigkeit (...)“ angegeben (RÖTHIG 1992, 158f). Da diese Definition sehr allgemein gefasst ist, existiert eine Unterteilung in drei Bereiche, in der Fähigkeiten vorkommen. Diese Unterteilungen sind aufgeteilt in körperlich/motorische, intellektuell/kognitive und emotionale/affektive Fähigkeiten (RÖHTIG 1992, 158). Der Aspekt, der hier angesprochen wird, ist der Aspekt der Fähigkeit unter dem körperlichen/motorischen Gesichtspunkt. Seit GUNDLACH (1968) wird unter diesem Aspekt auf der obersten Ebene der motorischen Fähigkeiten eine Zweiteilung vorgenommen. Die Einteilung erfolgt in energetisch-bedingte konditionelle Fähigkeiten und nervös bedingte koordinative Fähigkeiten.
1.2.1 Konditionelle Fähigkeiten
„Konditionelle Fähigkeiten kennzeichnen individuelle Differenzen im Niveau der Systeme der Energiebereitstellung und Energieübertragung. Ihrem Fähigkeitscharakter entsprechend repräsentieren sie jeweils technikübergreifende Leistungsvoraussetzungen“ (ROTH 1999, 242).
Die motorischen Fähigkeiten Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit werden traditionell zum konditionellen Bereich gerechnet. Sie stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander, das heißt, je nach vorherrschenden Einflussfaktoren werden Bezeichnungen wie Schnellkraft, Kraftausdauer und andere gebildet. Abbildung 2 verdeutlicht dies. Jene Grundeigenschaften werden in den Bereich der konditionellen Fähigkeiten eingeordnet, da sie primär energetische Prozesse bedingen, wie es in der Definition von ROTH schon erwähnt wurde. Die Beweglichkeit als weitere Grundeigenschaft der konditionellen Fähigkeit „...wird heute meist nicht mehr eindeutig den konditionellen Fähigkeiten zugeordnet, da koordinative Aspekte eine wichtige Funktion haben“ (Sportunterricht.de). Trotz dieser Aussage wird die Beweglichkeit in dieser Examensarbeit nach dem traditionellen Konzept den konditionellen Fähigkeiten zugeordnet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2. Beziehung zwischen den konditionellen Fähigkeiten (nach HARRE 1979)
1.2.1.1 Ausdauer
Es existieren verschiedene Arten der Ausdauer. Ausdauer ist im Großen und Ganzen die Fähigkeit, eine Tätigkeit unter Belastung über längere Zeit ohne Verschlechterung dieser Tätigkeit ausführen zu können. Ausdauer ist aber auch die Fähigkeit, sich nach einer Belastung schnell regenerieren zu können. Ein anerkanntes Modell ist das Modell der Gliederung in Kurzzeit-, Mittelzeit- und Langzeitausdauer (Harre 1979, 156ff u.a.). Das Einteilungskriterium ist unter trainingsbedingter oder sportbiologischer Sicht die Wettkampfdauer. Die Kurzzeitausdauer wird einer Wettkampfdauer von 35 Sekunden bis 2 Minuten zugeordnet. Eine Wettkampfdauer von mehr als 2 Minuten bis hin zu 10 Minuten benötigt die Mittelzeitausdauer. Bei Belastungen in einem Wettkampf von mehr als 10 Minuten greift die Langzeitausdauer. Je nach verschieden dominanten Einflussfaktoren unterscheidet man die Ausdauer in Kraftausdauer, Schnelligkeitsausdauer, Spiel- und Kampfausdauer sowie Mehrkampfausdauer.
1.2.1.2 Kraft
Kraft ist die Widerstandsfähigkeit, einem äußeren Widerstand standzuhalten oder diesem entgegenzuwirken. Die Definition nach CARL (1976, 171) bestätigt die Aussage im Folgendem genauer als „...die Fähigkeit des Menschen, aufgrund von Innervations- und Stoffwechselprozessen in der Muskulatur einen äußeren Widerstand zu überwinden oder ihm entgegenzuwirken“. Es ist anzumerken, dass so die Kraft auch unter einem sportlichen Aspekt definiert werden kann. Dies ist erwähnenswert, da zwei unterschiedliche Arten von Kraft unterschieden werden: Kraft als physikalische Größe und Kraft als körperliche Fähigkeit (RÖTHIG 1992, 260). Für unsere Argumentation ist der Aspekt der Kraft, als körperliche Fähigkeit in sportlichen Bereichen der hier relevante Gegenstandbereich. Verschiedene muskuläre Arbeitsweisen sind in der Lage, Widerständen standzuhalten oder ihnen entgegenzuwirken. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang die isometrische muskuläre Arbeitsweise, die konzentrische muskuläre Arbeitsweise und die exzentrische muskuläre Arbeitsweise. Wie bei der Ausdauer, besteht zur Kraft auch eine Einteilung nach der Ausprägung der Erscheinungsform. So existieren Begriffe wie Maximalkraft, Schnellkraft und Kraftausdauer.
1.2.1.3 Schnelligkeit
Die Schnelligkeit ist die Fähigkeit, motorische Tätigkeiten in einer hohen Geschwindigkeit durchzuführen. WEINECK (1994, 395) beschreibt Schnelligkeit als die „...Fähigkeit, auf einen Reiz bzw. ein Signal hin schnellstmöglich zu reagieren und motorische Aktionen in einem unter den gegebenen Bedingungen minimalen Zeitabschnitt zu vollziehen“. Im sportwissenschaftlichen Lexikon wird näher auf die sportspezifische Schnelligkeit eingegangen: „Schnelligkeit im Sport ist die Fähigkeit, aufgrund sensorisch - kognitiver und psychischer Prozesse und der Funktionalität des Nerv-Muskel-Systems höchstmögliche Reaktions- und Bewegungsgeschwindigkeiten unter bestimmten gegebenen Bedingungen zu erzielen“ (RÖTHIG 1992, 394).
In der Definition des sportwissenschaftlichen Lexikons taucht ein häufig genutzter Unterscheidungspunkt der Schnelligkeit auf. Die Unterscheidung in Aktionsschnelligkeit bzw. Bewegungsgeschwindigkeit und Reaktionsschnelligkeit. Eine hohe Aktionsschnelligkeit wird durch eine hohe Kontraktions- bzw. Bewegungsgeschwindigkeit des Nerv-Muskel-Apparates erreicht. Die Reaktionsschnelligkeit hingegen ist eine psychophysische Fähigkeit, auf äußere Signale oder Reize situationsbedingt in einer moderaten Geschwindigkeit zu reagieren. Die Reaktionsschnelligkeit ist also die Schnelligkeit, die ein 100-Meter-Sprinter beim Start benötigt, um die Zeit zwischen Startschuss und Beginn des Laufes möglichst gering zu halten. Natürlich existieren wie bei den anderen konditionellen Fähigkeiten, bei der Schnelligkeit ebenfalls Überschneidungen, wie die Schnelligkeitsausdauer oder die Schnellkraft. Nennenswert ist, dass die Schnelligkeit die konditionelle Fähigkeit ist, die am stärksten genetisch vorbedingt ist. Durch Training kann die Schnelligkeitsleistung nur um 15 % - 20 % steigern (WEINECK 1994). Die Schnelligkeit wird in der Literatur häufig als gemischt konditionell und koordinativ bezeichnet.
1.2.1.4 Beweglichkeit
Die Beweglichkeit wird mittlerweile nicht mehr strikt den konditionellen Fähigkeiten zugeordnet, da viele koordinative Einflüsse in diese Fähigkeit eingehen. Beweglichkeit wird meist zwischen die konditionellen und koordinativen Fähigkeiten gestellt. Es werden im Folgenden zwei Definitionen aufgeführt: „Aus bewegungsorientierter Sicht ist Beweglichkeit ganz allgemein der Bewegungsspielraum in Gelenken und Gelenksystemen“ (RÖTHIG 1992, 70). MARTIN, CARL und LEHNERTZ (1993, 214) beschreiben Beweglichkeit als Fähigkeit, „...willkürlich und gezielt mit der erforderlichen Schwingungsweite der beteiligten Gelenke [eine Bewegung] ausführen zu können“. Auch die konstitutionellen Komponenten spielen bei der Beweglichkeit eine große Rolle.
1.2.2 Koordinative Fähigkeiten
Die koordinativen Fähigkeiten unterteilen sich in die sieben Grundfähigkeiten, Differenzierungsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit, Kopplungsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit, Gleichgewichtsfähigkeit, Umstellungsfähigkeit und die Rhythmisierungsfähigkeit. Da viele verschiedene Erklärungsansätze zu den koordinativen Grundfähigkeiten formuliert wurden, erstellten Leipziger Koordinationsforscher ein Arbeitsmodell auf der Basis der sieben genannten koordinativen Fähigkeiten. Aufgrund vieler empirischer Erkenntnisse wurden diese Grundfähigkeiten, durch experimentelle Befunde beschrieben und festgehalten. Lange Zeit wurde den konditionellen Fähigkeiten nur die koordinative Fähigkeit Gewandtheit entgegengesetzt (HIRTZ 1985). Um ein genaueres Bild der koordinativen Fähigkeiten zu bekommen, sollte die Begrifflichkeit definiert werden. Im sportwissenschaftlichen Lexikon werden die koordinativen Fähigkeiten wie folgt definiert: „Im Allgemeinen sind koordinative Fähigkeiten komplexe Leistungsvoraussetzungen, die das Lernen und die Leistungsrealisierung von Bewegungsfertigkeiten ermöglichen und ihre Ausprägung beeinflussen“ (RÖTHIG 1992, 252). Sie stehen in einer Wechselbeziehung zu den konditionellen Fähigkeiten, dienen aber der Bewegungssteuerung mit ihren perzeptiv-sensorischen und motorische-neurologischen Prozessen (RÖTHIG 1992, 252). Im Klartext beinhalten die koordinativen Fähigkeiten die primär steuernden und regelnden Prozesse. Außerdem umfassen "...koordinative Fähigkeiten (...) das Vermögen, Bewegungen relativ schnell zu erlernen und motorische Handlungen in vorhersehbaren sowie unvorhersehbaren Situationen sicher und effektiv zu beherrschen" (MARTIN, CARL und LEHNERTZ 1993, 60). Abbildung 3 stellt die einzelnen koordinativen Fähigkeiten noch einmal vor.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3. Strukturelles Gefüge der koordinativen Fähigkeiten (MEINEL/SCHABEL 1998, 221)
Zudem wird durch die Abbildung verdeutlicht, dass diese Fähigkeiten einen engen Bezug untereinander haben. Ein Aspekt, der in Abbildung 3 aufgezeigt wird, ist die motorischen Lernfähigkeit. „Die motorische Lernfähigkeit ist als ein Fähigkeitskomplex zu verstehen, in dem alle sieben beschriebenen koordinative Fähigkeiten in bestimmter struktureller Beziehung zueinander stehen“ (MEINEL/SCHABEL 1998, 221).
Auf der linken Seite in Abbildung 3 befindet sich die Steuerungsfähigkeit und die Adaptionsfähigkeit. Die Steuerungsfähigkeit weist auf die koordinativen Fähigkeiten hin, die bei geschlossenen Anforderungsprofilen mit standardisierten Bedingungen auftreten. Bei diesen Bewegungsabläufen kommt es vornehmlich auf eine hohe Präzision und Konstanz an und es dominiert, wie der Name schon sagt, der Steuerungsaspekt. Die Leichtathletik ist ein passendes Beispiel zur Veranschaulichung der Steuerungsfähigkeit. Wendet man die Systematik der Abbildung beispielsweise auf die Sportart Leichtathletik an, so kann gesagt werden, dass die koordinativen Fähigkeiten Kopplungsfähigkeit, Differenzierungsfähigkeit, Gleichgewichtsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit und Rhythmisierungsfähigkeit dominieren. Die Adaptionsfähigkeit hingegen tritt bei offenen Anforderungsprofilen mit wenig standardisierten Bedingungen auf. Der Sportler wird ständig mit sich wechselnden Bedingungen konfrontiert und ist gefordert, sich ständig auf diese wechselnden Bedingungen einzustellen und sich anzupassen. Ein typisches Sportartenbeispiel für Adaptionsfähigkeit sind alle Spielsportarten, bei denen besonders die koordinativen Fähigkeiten Gleichgewichtsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit, Rhythmisierungsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit und Umstellungsfähigkeit zum Tragen kommen. Auf die sieben koordinativen Fähigkeiten wird im Folgenden näher eingegangen.
1.2.2.1 Differenzierungsfähigkeit
Unter Differenzierungsfähigkeit wird die Fähigkeit verstanden, Bewegungsphasen und Teilkörperbewegungen mit einer hohen Feinabstimmung und Bewegungsgenauigkeit zu durchlaufen. „Spezifische Aspekte dieser Fähigkeit zur Feinabstimmung der Bewegung werden oft mit Begriffen wie Bewegungsgefühl, Ballgefühl, Wassergefühl, Schneegefühl, Tempogefühl beschrieben“ (ZIMMERMANN/SCHNABEL/BLUME 2002). Die Geschicklichkeit sowie die Muskelentspannung können ebenfalls als Teil der Differenzierungsfähigkeit gesehen werden. Der Ausprägungsgrad der Differenzierungsfähigkeit wird von Bewegungserfahrung und -beherrschung mitbestimmt. Außerdem ist diese koordinative Fähigkeit als eine wesentliche Voraussetzung für sportliche Höchstleistungen anzusehen. Hinsichtlich der kinästhetischen Differenzierungsfähigkeit stellt HIRTZ (1979, 174) fest, dass Kinder, die außerschulisch Sport treiben, signifikant bessere Leistungen zeigen. KIRCHEIS (1977) bestätigt dies mit seinen Untersuchungen. Damit wird die Aussage unterstützt, dass die Bewegungserfahrung einen großen Anteil bei dem Ausprägungsgrad der Differenzierungsfähigkeit hat.
1.2.2.2 Kopplungsfähigkeit
Dies ist die Fähigkeit, Teilkörperbewegungen untereinander zweckmäßig auf ein Handlungsziel der Gesamtkörperbewegung hin abzustimmen. Die Abstimmung erfolgt im räumlichem, zeitlichem und dynamischem Zusammenhang. Die Kopplungsfähigkeit ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für Bewegungshandlungen. In den Sportarten Gerätturnen, Gymnastik und auch in allen Sportspielen ist diese Fähigkeit unabdinglich (ZIMMERMANN/SCHNABEL/ BLUME 2002).
1.2.2.3 Reaktionsfähigkeit
Reaktionsfähigkeit beschreibt die Fähigkeit, die zur schnellen und zweckmäßigen Einleitung und Ausführung motorischer Aktionen aufgrund von Signalen, die mehr oder weniger kompliziert sein können, ausgelöst werden (MEINEL/SCHNABEL 1998, 216). Das Signal kann akustischer, optischer, kinästhetischer oder taktiler Art sein. Außerdem kann es sich um ein einzelnes Signal oder eine Reihe von Signalen handeln. Ebenso unterschiedlich wie die Signale sein können, kann auch die Reaktion daraufhin ausfallen (vgl. VILKNER 1977). Die Reaktion auf das Signal sollte aber immer in zweckmäßiger und in aufgabenadäquater Geschwindigkeit erfolgen. Die maximale Reaktionsgeschwindigkeit ist in den meisten Sportarten als das Optimum anzusehen. Die Reaktionsfähigkeit spielt aber nicht nur im sportlichen Bereich eine große Rolle, sondern auch hinsichtlich der Alltags- und Arbeitsmotorik. Als Beispiel dafür wäre der Straßenverkehr zu nennen, in dem man auf Zeichen, Hinweise und anders in angemessener Weise und Geschwindigkeit reagieren muss.
1.2.2.4 Orientierungsfähigkeit
Die Orientierungsfähigkeit ist die Fähigkeit, die „...der Bestimmung und der zieladäquaten Veränderung der Lage und Bewegung des Körpers in Raum und Zeit bezogen auf ein definiertes Aktionsfeld und/oder ein sich bewegendes Objekt“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 216) dient. Die Aufnahme und die Verarbeitung der Informationen erfolgt vorwiegend optisch, statico-dynamisch und kinästhetisch. Die Orientierungsfähigkeit weist eine enge Beziehung zu der Differenzierungsfähigkeit (vgl. 1.2.2.1) auf.
1.2.2.5 Gleichgewichtsfähigkeit
Die Gleichgewichtsfähigkeit ist die „...Fähigkeit, den gesamten Körper im Gleichgewichtszustand zu halten oder während und nach umfangreichen Körperverlagerungen diesen Zustand beizuhalten bzw. wiederherzustellen“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 217).
Der Gleichgewichtsfähigkeit ist des Weiteren noch hinzuzufügen, dass sie in zwei Teile unterteilt werden kann; in das statische Gleichgewicht und in das dynamische Gleichgewicht. Unter statischem Gleichgewicht wird die Fähigkeit verstanden, in relativer Ruhestellung oder bei einer langsamen Bewegung, das Gleichgewicht zu halten. Hier werden die für diese Leistung benötigten Informationen vorwiegend kinästhetisch und taktil, zum Teil auch statico-dynamisch aufgenommen, und verarbeitet. Die dynamische Gleichgewichtsfähigkeit wird bei schnellen Lageveränderungen des Körpers gefordert. Bei ihr werden die Informationen vestibulär verarbeitet. Man erkennt daraus, dass diese beiden Gleichgewichtsfähigkeiten sich auch physiologisch deutlich unterscheiden. Die Gleichgewichtsfähigkeit im Allgemeinen hat in allen Sportarten eine große Bedeutung, was man auch daran erkennt, dass Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen sportlicher Leistung und Gleichgewichtsfähigkeit ergeben haben (LOPUCHIN/KOPANEV 1967).
1.2.2.6 Umstellungsfähigkeit
Die Umstellungsfähigkeit ist die Fähigkeit, während eines „...Handlungsvollzuges auf der Grundlage wahrgenommener oder vorauszusehender Situationsveränderungen, das Handlungsprogramm den neuen Gegebenheiten anzupassen und motorisch umzusetzen oder durch ein situationsadäquateres zu ersetzen und damit die Handlung auf völlig andere Weise fortzusetzen“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 28). Dem ist hinzuzufügen, dass es bei geringfügigen Situationsveränderungen meist zu Änderungen der Bewegungsstruktur kommt. Dies geschieht aber, ohne das ablaufende Handlungsprogramm zu unterbrechen. Bei gravierenden Situationsveränderungen kommt es sogar zu einem Abbruch des ablaufenden Handlungsprogramms und zum Start einer völlig anderen Handlung. Diese Umstellung beruht auf Schnelligkeit und Genauigkeit der Wahrnehmung. Daher ist zu beachten, dass sich bei Sportlern mit großer Wettkampf- und Bewegungserfahrung mehr Möglichkeiten bieten, sich situationsadäquat und zweckmäßig auf Situationsveränderungen einzustellen, da sie ein höheres Niveau der Wahrnehmung aufweisen. Einher mit der Umstellungsfähigkeit geht die Antizipationsfähigkeit.
1.2.2.7 Rhythmisierungsfähigkeit
Die Rhythmisierungsfähigkeit ist die Fähigkeit, „...einen von außen vorgegebenen Rhythmus zu erfassen und motorisch zu reproduzieren sowie den verinnerlichten, in der eigenen Vorstellung existierenden Rhythmus einer Bewegung in der eigenen Bewegungstätigkeit zu realisieren“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 218). Vorwiegend werden dazu akustische (häufig musikalische) sowie visuelle Reize wahrgenommen. Diese Reize dominieren zwar, dennoch sollte der Anteil an taktilen bzw. kinästetischen Reizen nicht unterschätzt werden. Die Rhythmusfähigkeit ist in allen Sportarten ein wichtiger Bestandteil. Sie hat eine grundlegende Bedeutung für alle sportlichen und motorischen Handlungen. Erwähnenswert ist, dass Sportler mit einer ausgeprägten Rhythmisierungsfähigkeit erleichtert sportliche Bewegungen erlernen (MEINEL/SCHNABEL 1998, 219).
1.3 Motorische Entwicklung (Ontogenese) Motorische Entwicklung von der Geburt bis ins hohe Alter
Die Individualentwicklung oder Ontogenese ist im biologischen Sinne der Entwicklungsweg von einem befruchteten Ei bis hin zum voll ausgebildeten, fortpflanzungsfähigen Lebewesen (vgl. HOFF/MIRAM 1987). Nach THOMAE (1959, 10) ist Entwicklung in einem eher allgemeinen Kontext als eine „...Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen, die bestimmten Orten des zeitlichen Kontinuums eines individuellen Lebenslaufes zuzuordnen sind“ zu verstehen. Des Weiteren kann, um den Begriff der motorischen Entwicklung zu konkretisieren, der motorische Persönlichkeitsbereich in die Definition von THOMAE mit einbezogen werden. Einschließlich dieses Gesichtspunktes umschließt die motorische Entwicklung die schon in Kapitel 1.2 genannten koordinativen und konditionellen Fähigkeiten und auch die grundlegenden Fertigkeiten. Dennoch ist die motorische Entwicklung nur als ein kleiner Teilbereich in der Gesamtentwicklung zu verstehen. Im sportwissenschaftlichen Lexikon ist die motorische Entwicklung „...als Herausbildung, Aufbau und Differenzierung von körperlichen Fähigkeiten, Bewegungsformen bzw. Bewegungsfertigkeiten (...)“ erklärt (RÖTHIG 1998, 141 f). Motorische Ontogenese wird von MEINEL/SCHNABEL (1998, 237) als die „...lebensaltersbezogene Individualentwicklung von Haltung und Bewegung sowie der zugrundeliegende Steuerungs- und Funktionsprozesse“ verstanden. Es ist zu erwähnen, dass in dieser Definition nicht nur das Weiter- und Höherentwickeln, sondern auch Stagnations- und Rückbildungsprozesse mit einbezogen sind.. In Abbildung 4 werden verschiede Prozesse aufgezeigt, die Einfluss auf die motorische Ontogenese haben.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4. Die motorische Ontogenese beeinflussenden Prozesse (nach MEINEL/SCHNABEL 1998, 239)
Diese Einflussgrößen sind der Reifungsprozess mit den dazugehörigen Erbanlagen, der Sozialisationsprozess im Näheren, die Umweltbedingungen, mit denen das Individuum konfrontiert wird, sowie die zu diesen beiden Faktoren gehörenden Lern- und Selbststeuerungsprozesse. Des Weiteren wirken sich ebenso geschichtlich bedingte und nicht-normative Einflüsse auf ein Individuum aus (MEINEL/SCHNABEL 1998, 237ff). Unter dem Faktor der Reifungsprozesse ist zu verstehen, dass das Individuum durch Alterung und Reifung und der dazugehörigen Befähigung zum Handeln, auch zum sportlichen Handeln, in erster Linie fremdbestimmt ist. Diese Fremdbestimmung geschieht auf einer hormonellen Basis oder durch Wachstum des Körpers, der Organe und des Nervensystems, um nur einige Beispiele zu nennen. Zu berücksichtigen ist, dass der Reifungsprozess bis ins hohe Alter einen fremdbestimmenden Charakter beibehält. Eine fortschreitende Leistungsminderung ist im höheren Alter zu vermerken (vgl. MEINEL/SCHNABEL 1998). Die Erbanlagen spielen, wie schon erwähnt, bei den Reifungsprozessen ebenfalls eine große Rolle. Besonders bedeutend ist dies bei sportlichen Höchstleistungen, die nur erbracht werden können, wenn bestmögliche Voraussetzungen gegeben sind. Beispiele wären dazu der 100-Meter-Sprinter, der nur durch seine körperliche Konstitution zu Höchstleistungen fähig ist (siehe Kapitel 2.1.3) oder der Basketballer, der nur durch ein gewisses Maß an Körpergröße Höchstleistungen vollbringen kann. Günstige oder ungünstige Lernbedingungen haben einen starken Einfluss auf die motorische Entwicklung.
Diese Umwelt- bzw. Sozialisationsbedingungen können sich sowohl positiv als auch negativ auf das Individuum auswirken. Positiv wirken sich z.B. Spielplätze oder andere geeigneten Spielstätten auf die motorische Entwicklung aus. Das Fehlen dieser stellt einen negativen Faktor dar. „Das soziale Milieu, in dem das Kind / der Jugendliche aufwächst, die familiäre Situation, die eigene Schul- und Berufsbildung und die engster Familienmitglieder, die Wohngegend, ja selbst das eigene Kinderzimmer mit seinen Bewegungsmöglichkeiten haben prägende Wirkung. Darüber hinaus wächst der Mensch in einer sozialen Welt auf, die durch unterschiedliche Sitten, Bräuche und Lebensstile gekennzeichnet ist, die zu Verhaltensmustern und -normen führen, und die wiederum als externe Faktoren entwicklungs- und verhaltensprägend sind“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 239). Andere Faktoren, die die motorische Entwicklung beeinflussen, sind die schon genannten historischen Einflüsse und die nicht-normativen Einflüsse. MEINEL/SCHNABEL verstehen unter den geschichtlich-historischen Einflüssen Geschehnisse wie Naturkatastrophen, Kriege und andere. Unter nicht normativen Einflüssen verstehen sie Kriterien, wie schwere Krankheiten, Unfälle und anderes, die einem Individuum zustoßen können.
Als Übersicht soll die Tabelle 2 dienen. Sie zeigt die einzelnen Entwicklungsphasen mit ihren Altersspannen für männliche und weibliche Individuen sowie die Charakteristik des jeweiligen Stadiums. Die Erklärung der Phasen erfolgt in Anlehnung an MEINEL/SCHNABEL (1998, 241 ff).
Tab. 2 . Entwicklungsphasen in der motorischen Ontogenese (MEINEL/SCHABEL 1998, 240)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.3.1 Neugeborenenalter
Die Phase des Neugeborenenalters umfasst die Zeit nach der Geburt bis zum 3. Lebensmonat. In dieser Phase ist festzustellen, dass die motorische Ausstattung eines Neugeborenen nicht sonderlich gut ist. Es erfolgen vornehmlich unkoordinierte, strampelnde Bewegungen, und die angeborenen Reflexe wie der Greifreflex spielen in dieser Zeit noch eine maßgebliche Rolle.
1.3.2 Säuglingsalter
In der Phase des Säuglinglingalters, das vom 4. Lebensmonat bis zur Wende des 1. Lebensjahrs reicht, erfolgt eine schnell voranschreitende motorische Entwicklung. Außerdem lassen sich in dieser Phase die ersten zielgerichteten Bewegungen erkennen. Die Entwicklung der Motorik schließt in erster Linie die Vorbereitungen zum aufrechten Gang sowie den aufrechten Gang an sich mit ein. Diese Vorbereitungen umfassen die Aneignung der aufrechten Haltung und den Erwerb der ersten selbstständigen Fortbewegungen. Das gezielte Greifen wird ebenfalls in diesem Lebensabschnitt erlernt.
1.3.3 Kleinkindalter
Zu Beginn des 2. Lebensjahres bis hin zum Ende des 3. Lebensjahres besteht die Phase des Kleinkindalters. Um die Wende des 1. Lebensjahres macht das Kind erweiterte Bewegungserfahrungen. Diese Bewegungserfahrungen wurden bereits im Kapitel 1.2 als Bewegungsprogramme beschrieben. Außerdem ist zu betrachten, dass die motorische Entwicklung sowie die Sprache und das Denken in einem engen Zusammenhang stehen.
1.3.4 Frühes Kindesalter
Das frühe Kindesalter umfasst die Zeit von Beginn des 4. Lebensjahres bis zum 6./7. Lebensjahr. „Das frühe Kindesalter ist insgesamt eine Phase der raschen motorischen Entwicklung, in der insbesondere die deutliche Vervollkommnung vielfältiger Bewegungsformen und die Aneignung erster Bewegungskombinationen sowie der damit verbundene Niveauanstieg koordinativer Fähigkeiten als dominierende Tendenz der motorischen Ontogenese des Kindes gelten können“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 263).
1.3.5 Mittleres Kindesalter
Diese Phase der Entwicklung des Kindes kann als die „Phase der schnellen Zunahme der motorischen Lernfähigkeit“ bezeichnet werden (MEINEL/SCHNABEL 1998, 286). Das mittlere Kindesalter reicht vom 7. Lebensjahr bis zum 10. Lebensjahr. Besonders deutlich wird die motorische Lernfähigkeitszunahme der Kinder im 9. oder 10. Lebensjahr. Diese Zunahme ist charakterisiert durch beträchtliche Steigerung der Bewegungsstärke und des Bewegungstempos sowie eines verbesserten Bewegungsrhythmus.
1.3.6 Spätes Kindesalter
Das späte Kindesalter umfasst das 10. bis 11./12. Lebensjahr bei Mädchen und das 10. bis 13. Lebensjahr bei Jungen. Diese Phase kann als die „Phase der besten motorischen Lernfähigkeit in der Kindheit“ bezeichnet werden (MEINEL/SCHNABEL 1998, 298). Sie zeichnet sich durch beherrschte, zielgerichtete und sachbezogene Mobilität sowie hohe Leistungsbereitschaft bei sportlicher Tätigkeit aus.
1.3.7 Frühes Jugendalter (Pubeszenz)
Das frühe Jugendalter wird auch als die Pubeszens bezeichnet. Die Phase reicht vom 11./12. Lebensjahr bis zum 13./14. Lebensjahr bei Mädchen und von 12./13. Lebensjahr bis zum 14./15. Lebensjahr bei Jungen. Der Beginn der Geschlechtsreifung und ein unausgeglichenes sportliches Verhalten, welches durch die hormonelle Umstellung verstärkt wird, ist in dieser Phase der Entwicklung beobachtbar.
1.3.8 Spätes Jugendalter (Adoleszenz)
„Das späte Jugendalter (Adoleszenz) reicht von der Menarch der Mädchen bzw. der Spermarche bei den männlichen Jugendlichen bis zum Erreichen der körperlichen Vollreife oder Maturität“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 331). Die auffälligsten Merkmale dieser Phase sind die „...ausgeprägte geschlechtsspezifische Differenzierung, die fortschreitende Individualisierung und die zunehmende Stabilisierung“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 331).
1.3.9 Frühes Erwachsenenalter
Das frühe Erwachsenenalter umfasst die zeitliche Spanne vom 18./20. Lebensjahr bis hin zum 30./35 Lebensjahr. Diese Phase wird auch als die „Phase der vollständigen Ausprägung der Motorik“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 334) bezeichnet. Das Individuum neigt in dieser Phase eher zu ökonomischen kontrollierten Bewegungen. Dies bedeutet, die Bewegungen werden im Allgemeinen ruhiger und gemäßigter.
1.3.10 Mittleres Erwachsenenalter
Diese Entwicklungsphase, die vom 30./35. bis zum 45./50. Lebensjahr reicht, wird nach MEINEL/SCHNABEL auch als „Jahre der allmählichen Leistungsminderung“ bezeichnet und dies vor allem im Bezug auf Untrainierte. MEINEL/SCHNABEL (1998, 339) begründen diese Aussage folgendermaßen: „Das Absinken motorischer Fähigkeiten und Leistungen verlangsamt sich, während die absoluten motorischen Leistungen allmählich ein deutlich vermindertes und, besonders gegen Ende der Phase, ein niedriges Niveau erreichen“.
1.3.11 Späteres Erwachsenenalter
Das spätere Erwachsenenalter beginnt mit dem 45./50. Lebensjahr und endet etwa mit dem 60./70. Lebensjahr. In dieser Phase beginnt bei nicht sportlichen Menschen eine „...fortschreitende Involution motorischer Fähigkeiten“ (MEINEL/SCHNABEL 1998, 347). Insbesondere sind die motorischen Fähigkeiten Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer betroffen.
1.3.12 Spätes Erwachsenenalter
Diese Phase beginnt zeitlich ab dem 60./70. Lebensjahr. In dieser Phase erfolgen Bewegungen verlangsamt, und es ist eine deutliche Qualitätsminderung der Bewegungen zu erkennen. Es kommt im weiteren Verlauf zum Verlust der motorischen Fähigkeiten.
1.4 Die (motorische) Leistung
Leistung kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Sie kann aus anthropologischer, kultur-philosophischer, pädagogischer, lerntheoretischer, medizinischer, soziologischer, wirtschaftlicher oder aus trainingswissenschaftlicher Sicht durchleuchtet werden (RÖTHIG 1992, 274ff). Sportmotorische Leistungen sind Leistungen, die unter wissenschaftlichen Testbedingungen erbracht werden und die absolute Leistungsfähigkeit widerspiegeln (RÖTHIG 1992, 321). Leistung ist im allgemeinen Sinne das Ergebnis von Handlungen und Prozessen. Unter normativen Gesichtspunkten wird die Leistung als bestmögliche Bewältigung einer Aufgabe verstanden. Diese Aufgaben oder besser ausgedrückt Anforderungen können interner, aber auch externer Natur sein. Intern bedeutet, die gestellten Anforderungen entspringen dem Individuum selbst. Externe Anforderungen werden meist durch die Gesellschaft gestellt. Im dtv-Lexikon (1980) wird Leistung als „...die von einer Kraft in der Zeiteinheit geleisteten Arbeit gemessen(...)“ beschrieben. Diese Definition bezieht sich auf den, unter dem die Leistung auch gesehen werden kann, physikalischen Gesichtspunkt. Die motorische Leistung im Genaueren ist beeinflusst durch die in den vorangegangen Kapiteln beschriebenen Faktoren. Hier wären beispielweise das Niveau der koordinativen und konditionellen Fähigkeiten sowie Faktoren während der Entwicklung zu nennen. Des Weiteren wirken sich anthropometrische Faktoren auf die motorische Leistung aus. Auf den Faktor der Anthropometrie wird im folgenden Kapitel näher eingegangen.
1.5 Anthropometrie
Unter Anthropometrie wird die Lehre verstanden, die sich mit dem Erfassen von Köpermaßen beschäftigt. „Körpermessungen ermöglichen eine Kontrolle des Wachstums, eine Prüfung der Erfolge entwicklungsfördernder Maßnahmen (...)“ (GRIMM 1958, 54). Im Düsseldorfer Modell werden trotz vielfältiger Möglichkeiten (z.B. Kopfumfang, Oberarmlänge) nur die relevanten Faktoren gemessen. Diese Faktoren, die in einem engen Zusammenhang stehen, sind das Körpergewicht, die Körpergröße und der Körperfettanteil. Das Körpergewicht wird in Kilogramm (kg) mittels Personenwaage, die Körpergröße in Zentimeter (cm) mittels Zollstock und der Körperfettanteil in Prozent mittels Körperfettwaage gemessen. Über die Haut lässt sich durch eine dafür bestimmte Waage der Gesamtwiderstand und damit die Menge an Wasser im Körper bestimmen. Da Fett ein effizienter Speicherstoff ist, lagert es kein Wasser ein. Ein erhöhter Fettanteil verändert demnach den Gesamtwiderstand. Dieses Phänomen wird auch als bioelektrische Impedanz bezeichnet (Quarks.de).
Über die Körpergröße und das Körpergewicht lässt sich der Body-Mass-Index (BMI) berechnen. Durch diesen lässt sich errechnen, ob ein Untergewicht, Normalgewicht oder Übergewicht besteht. Der BMI wird errechnet anhand des Körpergewichts in Kilogramm (kg) durch Körpergröße in Meter zum Quadrat (m)2. In Tabelle 3, werden die Bewertungen der Ergebnisse im Bezug auf den errechneten Wert dargestellt .
Tab. 3 . Bewertung des Body-Mass-Index (BMI) (nach WHO, 2000)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Für das Düsseldorfer Modell spielen Perzentilen für den Body-Mass-Index nach KROMEYER-HAUSSCHILD eine wichtige Rolle. „Bei Kindern bestehen bei der Korrelation von Fettmasse und BMI altersabhängige Schwankungen, die u.a. durch wachstumsphysiologische Veränderungen des Verhältnisses von Muskel- und Knochenmasse zu Fettmasse bedingt sind. Besonders deutlich wird dies beim Vergleich der BMI-Entwicklung bei Jungen und Mädchen während der Pubertät“ (KROMEYER-HAUSSCHILD 2001, 808). Anhand von unterschiedlichsten deutschen Studien von 1985 bis 1999, mit einer insgesamten Probandenanzahl von 34.422 Personen, davon 17.147 Jungen und 17.275 Mädchen im Altersbereich von 0-18 Jahren, war es möglich, mittels LMS-Methode nach Cole eine Perzentilberechnung für den BMI vorzunehmen. Der BMI lässt sich, aus den Individualdaten für Körperhöhe und Körpergewicht des jeweiligen Probanden berechnen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5. Perzentile für den Body-Mass-Index für Jungen im Alter von 0–18 Jahren
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 6. Perzentile für den Body-Mass-Index für Mädchen im Alter von 0–18 Jahren
In den Abbildung 5 und 6 erkennt man die Perzentilen für den Body-Mass-Index in Unterscheidung des Geschlechts. Diese BMI-Perzentilen werden von der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) empfohlen. Die AGA empfiehlt „...die 90. und 97. alters- und geschlechtsspezifischen Perzentilwerte der vorliegenden Referenzwerte als Cut-off-Punkte zur Definition von Übergewicht und Adipositas zu verwenden. Analog zur Definition von Übergewicht und Adipositas wird empfohlen, 3. und 10. Perzentile zur Definition von ausgeprägtem Untergewicht bzw. Untergewicht heranzuziehen“ (KROMEYER-HAUSSCHILD 2001, 813). Der Ausprägungsgrad der Adipositas und des Untergewichts lässt sich anhand der vorgestellten Perzentilen (Abb. 5 und Abb. 6) exakt für jedes Kind individuell im Verhältnis zur Stichprobe bestimmen.
2 Sportmotorische Tests (S.E.)
Ziel dieser theoretischen Abhandlung ist es, die klassische Testtheorie kennen zu lernen, aufzuarbeiten und zu verstehen, bevor auf den eigentlichen Gegenstand dieser Examensarbeit eingegangen wird. Wir haben dieses Thema vertieft dargestellt, da wir Grundschüler aus der Umgebung von Wegberg eigenständig getestet haben und daraus selbstständig Daten erheben mussten. Aus diesem Grunde war es uns wichtig, eine vollständige Darstellung der klassischen Testtheorie vorzustellen. Vorliegend wird also die Testtheorie auf der Grundlage von BÖS (1987), LIENERT (1969), NEUMAIER (1983) u.a. eingeführt. Weiterführende Darstellungen sind der speziellen Literatur zu entnehmen.
2.1 Die klassische Testtheorie
Die Einsicht in den Wert und die Bedeutung von Tests ist in den vergangenen Jahren in den verschiedensten Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens mehr und mehr gewachsen. Für das Erfassen zu untersuchender Sachverhalte finden in zunehmendem Maße Tests Anwendung. Die Tatsache, dass der Testgedanke immer mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt, zeigt das bestehende Interesse. „Vom Krafttest auf dem Jahrmarkt bis zu Schönheitstest in Illustrierten lassen sich zahlreiche Beispiele für die Art und Weise finden, wie der breiten Öffentlichkeit die Teilnahme an sogenannten Tests angeboten wird“ (HAAG und DASSEL 1981, 13).
Es muss allerdings als unseriös angesehen werden, dass es sich hierbei um Formen handelt, die eigentlich nicht als Test bezeichnet werden dürfen, da sie wissenschaftlich, das heißt testtheoretisch, nicht abgesichert sind. Gefährlich wird es zudem, wenn mit Normwerten zum Vergleich operiert wird, die lediglich willkürliche Setzungen sind.
Mit der wachsenden Verbreitung und vermehrter Anwendung von Tests haben der Missbrauch und die Fehler bei der Einschätzung von Testergebnissen ebenfalls stark zugenommen. „Der Grund dafür liegt in der großzügigen und unkritischen Handhabung“, meint NEUMAIER (1983, 7). Außerdem weist NEUMAIER (1983, 8) darauf hin, dass „Testergebnisse (...) immer im Licht der Bedingungen oder Begleitumstände, unter denen sie erzielt wurden, zu betrachten“ sind.
HERZBERG (1970, 12) stellt fest, dass es „neben medizinischen, psychologischen und biomechanischen Tests (...), die motorischen Tests [sind], die in der Forschung und der Praxis als eigenständige Methode Eingang gefunden haben“. Da sportmotorische Fähigkeiten direkten Messungen nicht zugänglich sind, müssen sie indirekt über die Lösung einer Bewegungsaufgabe diagnostiziert werden (ROSTOCK 2003, 255f). Mit Hilfe sportmotorischer Tests können koordinative und konditionelle Fähigkeiten sowie sportliche Fertigkeiten indirekt diagnostiziert werden.
Die klassische Testtheorie bildet nach wie vor die Hauptgrundlage standardisierter Tests. HELLER (1978, 21) verlangt: „Jeder, der sich solcher Messverfahren (...) bedient, sollte deshalb - schon um unkritischer Anwendung und Fehleinschätzung vorzubeugen - die theoretischen Voraussetzungen testdiagnostischen Vorgehens in etwa kennen“.
Nachfolgend soll also geklärt werden, in welchen Bereichen sportmotorische Tests angewandt werden, in welchen Formen dies möglich ist (Einzeltests, Testsysteme) und welche Aussagekraft diese zur Leistungsdiagnostik angewandten Methoden besitzen. Dazu ist eine Begriffsklärung, die am Anfang der Arbeit durchgeführt wird, nicht verzichtbar. Ziel dieses theoretischen Abrisses ist es, dem Leser ein Wissen zu vermitteln, auf dessen Grundlage er im konkreten Fall kritisch entscheiden kann, ob die Anwendung eines sportmotorischen Tests sinnvoll ist und ob dieser den allgemeinen Gültigkeitskriterien entspricht.
2.2 Begriffserklärung und Definition
Im Folgenden werden die Begriffe Diagnostik, Bewegungsdiagnostik, Test und sportmotorischer Test erläutert.
2.2.1 Diagnostik
Da der Begriff Diagnostik, der große Überbegriff aller Untersuchungen, Erforschungen und Erkenntnisse des menschlichen Verhaltens darstellt, wird als erstes auf ihn verwiesen. Diagnose beschreibt und erklärt einen Sachverhalt. Im Bezug auf eine Begriffsetymologie muss angeführt werden, dass der Begriff Diagnostik von dem griechischen Verb diagignoskein abstammt, welches übersetzt in unsere Sprache soviel wie kennen lernen, entscheiden, unterscheiden oder auch beschließen bedeutet. Diese Verben lassen ansatzweise erahnen, welche grundlegenden Perspektiven den Vorgang des Diagnostizierens charakterisieren.
2.2.2 Bewegungsdiagnostik
Messverfahren, die zur "Erfassung und Beurteilung motorischer Abläufe und Verhaltensweisen" genutzt werden, finden in der Bewegungsdiagnostik ihre Anwendung (RÖTHIG 1992, 76). Die Bewegungsdiagnose ist eine systematische, an quantitative oder qualitative Methoden ausgerichtete Erforschung und Feststellung von Merkmalen des Bewegungsablaufes oder der Bewegungshandlung einer Person. Je nach Testverfahren kann man schließlich Einblick in die unterschiedlichsten Bewegungsdimensionen erlangen.
Eine Assoziation des Diagnostikbegriffes mit dem Begriff Test ist deshalb unvermeidlich, da der Test das klassische Instrument einer diagnostischen Vorgehensweise darstellt. Um einen näheren Einblick in den Terminus Test zu erlangen, wird dieser im Anschluss soweit durchleuchtet, dass ein Verständnis dafür entsteht, welche Bedeutung ihm in der Sportwissenschaft zukommt.
2.2.3 Test
Der Begriff Test ist ein Anglizismus und lässt sich mit Untersuchung und Probe übersetzen (BÖS 1987, 118). Der etymologische Ursprung des Wortes ist im lateinischen Begriff „testimonium“ zu suchen, was soviel wie Zeugnis oder Prüfung bedeutet. In den Sozialwissenschaften versteht man unter Tests Untersuchungsverfahren, mit denen aus Verhaltensstichproben Informationen über Personen, Sachverhalte u.ä. gewonnen werden können (BÖS 1987, 118).
Den Begriff Test gebraucht man heute für Verfahren zur Untersuchung von Persönlichkeitsmerkmalen und den Vorgang der Durchführung einer Untersuchung. Ebenfalls lassen sich verschiedene mathematisch-statistische Prüfverfahren als Test benennen (LIENERT 1969, 7). Die Bedeutung von Tests wird heutzutage stark eingeschränkt. Nur noch Verfahren, die wissenschaftlich begründet sind, routinemäßig unter Standardbedingungen ablaufen, eine relative Positionsbestimmung des untersuchten Individuums ermöglichen und bestimmte empirisch abgrenzbare Eigenschaften, Bereitschaften, Fähigkeiten oder Fertigkeiten prüfen, dürfen als Test bezeichnet werden (LIENERT 1969, 7 und LETZELTER 1978, 109). In Anlehnung an LIENERT (1969, 7) und BALLREICH (1970, 116) lässt sich ein Test als „ein Routineverfahren kennzeichnen, das hinsichtlich Durchführung, Auswertung und Interpretation unter Standardbedingungen abläuft, wissenschaftlichen Kriterien genügt, ein oder mehrere empirisch abgrenzbare Merkmale misst und schließlich eine möglichst quantitative Feststellung des relativen Grades der individuellen Merkmalsausprägung im Vergleich mit einer Referenzgruppe zulässt.“
Um den Standort von Tests innerhalb der empirischen Methoden zu verdeutlichen werden nachfolgend die am häufigsten verwendeten Methoden kurz dargestellt. NEUMAIER (1983, 21ff) stellt dazu folgende empirische Methoden vor:
- Beobachtungsverfahren
NEUMAIER teilt das systematische Beobachtungsverfahren in die strukturierte und unstrukturierte Beobachtung ein. Des Weiteren unterscheidet er zwischen offener (der Proband weiß, dass er beobachtet wird) und verdeckter Beobachtung.
- Befragungsmethoden
Befragungen gehören in der empirischen Forschung zu den beliebtesten und am häufigsten eingesetzten Erhebungstechniken. Bei einer Befragung handelt es sich ebenfalls um ein planmäßiges Vorgehen mit wissenschaftlicher Zielsetzung, bei der die Befragten durch eine Reihe gezielter Fragen oder andere Anstöße (z.B. Vorlagen von Bildern) zu verbalen Äußerungen veranlasst werden. Die Hauptformen der Befragung sind das Interview und die schriftliche Befragung (näheres bei HAGMÜLLER 1979, 91ff).
- Testverfahren
Tests sind von anderen empirischen Methoden häufig nur schwer zu unterscheiden. Sie sind im Grunde Weiterentwicklungen von Beobachtungsverfahren. Beim Test wird u.a. das zu beobachtende bzw. registrierende Verhalten willkürlich provoziert. Die statistische Grundlage von Tests ist in der Testtheorie verankert. Diese bildet das formale Gerüst von wissenschaftlichen Tests. Statistiker haben ein Modell einer klassischen Testtheorie ausformuliert und dabei Haupt- und Gütekriterien definiert, die eine Beurteilung eines Tests gestatten (BÖS 1987, 119).
2.2.4 Definition sportmotorischer Test
Nach der Zuordnung des Gegenstandes Test zu den empirischen Methoden kann jetzt eine nähere Bestimmung und Abgrenzung des sportmotorischen Tests vorgenommen werden. Hinsichtlich des allgemeinen Begriffs Test, unterscheidet sich die Definition sportmotorischer Tests insofern, dass die Merkmale sich auf einen bestimmten Bereich beschränken. Gegenstandsbereich sind nach BÖS (1987, 119) die motorischen Leistungsfaktoren allgemeiner und spezifischer Art.
In Anlehnung an LIENERT (1969, 7) definiert BALLREICH den sportmotorischen Test als ein „unter Standardbedingungen durchführbares Verfahren zur Untersuchung eines oder mehrerer empirisch abgrenzbarer Merkmale des individuellen motorischen Eigenschaftsniveaus (des sportmotorisch-technischen und -taktischen Fertigkeitsniveaus) mit dem Ziel einer möglichst quantitativen Aussage über den relativen Grad der individuellen (oder gruppenspezifischen) Merkmalsausprägung“ (BALLREICH 1970, 116). Dabei sollten Standardbedingungen bei der Testdurchführung (Anweisungen, Geräteeinstellung, äußere Bedingungen, Testvorbereitung, Tageszeit) sowie bei der Testauswertung und der Interpretation der Testergebnisse den intra- und interindividuellen Vergleich der Testwerte der Testpersonen gewährleisten. „Standardisierung heißt demnach, die Bedingungen der Durchführung in allen Phasen des Tests, die Auswertung und Interpretation für alle Testwiederholungen eindeutig und einheitlich festzulegen“ (RADLINGER et al. 1998, 31).
ROTH bezeichnet sportmotorische Tests (SMTs) als „Bewegungsaufgaben, bei denen Probanden aufgefordert werden, das im Sinne der Aufgabenstellung bestmögliche Ergebnis zu erzielen. SMTs müssen dabei den klassischen Gütekriterien (Objektivität, Zuverlässigkeit, Gültigkeit) genügen“ (ROTH 1999). ROTH definiert als Ziel ihrer Anwendung den Schluss von erfassten Leistungsdaten auf den individuellen Ausprägungsgrad der zugrundeliegenden motorischen Fertigkeiten und Fähigkeiten.
2.3 Aufgabenbereiche
Zur Beurteilung des aktuellen Gesundheits- und Leistungszustandes sowie zur Überprüfung der Wirkung angewandter Trainingsmittel können Leistungsprüfverfahren bzw. sportmotorische Tests zur Diagnose leistungsbestimmender Faktoren herangezogen werden. Ziel motorischer Tests ist es also, motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten quantitativ zu erfassen, um so eine Aussage über den relativen Grad der Ausprägung dieser Merkmale aufzeigen zu können. Dabei sind besonders die allgemeinen motorischen Leistungsvoraussetzungen (Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Beweglichkeit und Koordination ) von Interesse. Analysiert man die vorliegende Testliteratur, so findet man keine einheitliche Auffassung in Bezug auf die allgemeinen Aufgabenbereiche von sportmotorischen Tests. Zusammenfassend lassen sich jedoch die folgenden, sich teilweise überschneidenden Aufgabenbereiche nennen:
Nach ROSTOCK (2003, 261f) können dem sportmotorischen Test drei Aufgabenbereiche zugeordnet werden. Dazu werden die Leistungs-, die Entwicklungs- und die Eignungsdiagnostik genannt. Bös (1987, 41) benennt die Aufgabenbereiche sportmotorischer Tests korrespondierend mit denen von BALLREICH (1970, 19f) als folgende Rahmenziele: Leistungsdiagnostik, Entwicklungsdiagnostik, Prognose von Eignung und Talent, Dimensionsanalyse und experimenteller Aufgabenbereich.
Die Leistungsdiagnostik dient der Bestimmung der aktuellen körperlichen Leistungsfähigkeit. Hier geht es um Erfahrung und Objektivierung des allgemeinen und/oder speziellen Trainingszustandes eines Individuums oder einer Gruppe. Dabei bildet die Messung allgemeiner konditioneller und koordinativer Fähigkeiten den Hauptaufgabenbereich der sportmotorischen Leistungsdiagnostik. Eine Entwicklungsdiagnostik (Längsschnittuntersuchung) erfüllt den Zweck der Ermittlung von Merkmalsveränderungen innerhalb festgelegter Zeitspannen (Verlaufsprofil) bei Einzelindividuen bzw. bei Gruppen. Grundlage bildet die wiederholte Anwendung der Testverfahren unter den gleichen Bedingungen. Werden sportmotorische Tests wiederholt, können Veränderungen und Entwicklungstrends diagnostiziert werden (LIENERT 1969, 11). Dem Einsatz entwicklungsdiagnostischer Prüfverfahren im Verlauf der motorischen Ontogenese kommt für die Erstellung von Trainingszielen im langfristigen Trainingsprozess wie auch für die Ziele des Sportunterrichts eine wesentliche Funktion zu. Damit wirkt diese Funktion mittelbar auf die langfristige Unterrichts- und Trainingsplanung. Die Prognose betrifft im wesentlichen die Vorhersage zukünftiger Leistungen im Rahmen einer Talent- und Eignungsbestimmung für spezielle Sportarten. NEUMAIER (1983, 101) bemerkt außerdem, dass die „Grundvorrausetzung für eine Talentbestimmung die Kenntnis leistungsrelevanter Einflussgrößen und typischer Entwicklungsverläufe von Talenten“ ist. Bei der Dimensionsanalyse geht es um das Auffinden motorischer Dimensionen.
Der Einsatz von sportmotorischen Tests im Rahmen von experimentellen Untersuchungen dient vorwiegend der Bestimmung von Änderungen sportmotorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten unter planmäßig variierten Bedingungen (BALLREICH 1970, 21). Dieser Aufgabenbereich überschneidet sich stark mit seinen Funktionen innerhalb der Leitungsdiagnose und Entwicklungsdiagnose. Im Grunde handelt es sich nach NEUMAIER (1983, 101) „bei der Feststellung eines Ist-Zustandes – egal zu welchem Zweck (Quer- oder Längsschnittuntersuchung) – immer um eine Leistungsdiagnose“.
2.4 Klassifizierung
Es gibt eine solche Vielzahl von Fitnesstests mit unterschiedlichen Anwendungs- und Gültigkeitsbereichen, dass es sogar den Experten schwer fällt, den Überblick zu behalten. Eine Einteilung von Testverfahren kann aus völlig verschiedenen Gründen vorgenommen werden (vgl. LIENERT 1969, 21ff):
- nach dem Allgemeinheitsgrad ihrer Anwendbarkeit in standardisierte(formelle) und nicht standardisierte (informelle) Tests
- nach der Art des zu erfassenden Merkmals
- nach der diagnostischen Absicht
- nach der zur Verfügung stehenden Zeit für die Lösung der Testaufgabe
- nach der Anzahl der Individuen, die den Test gleichzeitig ausführen können in Individual- und Gruppentests
- nach Beschaffenheit der Aufgabe, Auswertungsmöglichkeiten, Interpretationsbezug und andere
LIENERT (1969, 366ff) teilt Tests in einzelne Tests oder Elementartests und Testsysteme ein. Bei Einzel- oder Elementartests geht man davon aus, dass das zu untersuchende Merkmal der sportmotorischen Leistungsfähigkeit mit einer einzelnen Testaufgabe diagnostiziert werden kann. Wird ein komplexeres Merkmal näher betrachtet, kommen meist Testsysteme zum Einsatz. Testsysteme stellen eine Kombination von Einzeltests dar. Die Testsysteme gliedert LIENERT weiter in Testprofile und Testbatterien (siehe Abbildung 5).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 7. Klassifizierung sportmotorischer Testverfahren (zunehmende Komplexität des Testgegenstandes von oben nach unten) (LIENERT/RATZ 1998, 366)
Als Testprofile im weiten Sinne des Wortes gilt eine Kombination mehrerer Einzeltests, in der die Einzeltests ein Höchstmaß an Eigenständigkeit bewahren (LIENERT 1969, 366). Testprofile können einen anschaulichen Überblick über Ausprägungsgrade bestimmender Merkmale eines interessierenden Merkmalsbereichs (z.B. Motorik) geben. Dass die Korrelation zwischen den einzelnen Tests untereinander sehr niedrig sein kann (motorische Kraft und motorische Ausdauer), ist einsichtig. Ein typisches Beispiel für ein Testprofil ist der AST 6-11 (Allgemein-sportmotorischer Test für Kinder) von BÖS und WOHLMANN (1987).
HERZBERG (1970, 22) unterteilt ferner in homogene und heterogene Testprofile. Als homogenes Testprofil im Bereich der Motorik könnte man die testsystematische Erfassung motorischer Komplexeigenschaften (z.B. motorische Gewandtheit) in ihren einzelnen Faktoren bezeichnen. Ein homogenes Testprofil erlaubt umfassende Aussagen zu einer komplex strukturierten sportmotorischen Fähigkeit. Das heterogene Testprofil setzt sich aus eigenständigen Einzeltests eines breiten Bereichs (z.B. allgemeines sportmotorisches Leistungsprofil mit sportmotorischen Eigenschafts- und Fertigkeitstests) zusammen. Heterogene Testprofile werden genutzt, wenn sehr komplexe wissenschaftliche Fragestellungen vorliegen.
Eine Testbatterie ist ebenfalls eine Kombination mehrerer Einzeltests, wobei jedoch die Einzeltests ihre Eigenständigkeit aufgeben und ausschließlich in den Dienst eines gemeinsamen Zieles treten, nämlich um ein durch ein Validitätskriterium definiertes Persönlichkeitsmerkmal möglichst genau zu erfassen (LIENERT 1969, 367). Tests einer Batterie sollen möglichst hoch mit einem Gesamtpunktwert bzw. einem vorgegebenen Außenkriterium korrelieren. Der Haro-Fitness-Test ist ein Beispiel für eine solche Testbatterie.
Bei homogenen Testbatterien korrelieren die Einzeltests nicht nur mit dem Validitätskriterium, sondern auch untereinander hoch. Es ist zu erwarten, dass die Tests eines engen Validitätsbereiches (z.B. Beinkraft der Skirennläufer: Sprungkraft, Streckkraft, Beugekraft) hoch untereinander korrelieren. Im sportwissenschaftlichen Bereich liegt ihre Bedeutung insbesondere in der Aufdeckung des Wesens koordinativer Fähigkeiten (vgl. z.B. die Testbatterie zur motorischen Lernfähigkeit von HERZBERG, 1968). Bei heterogenen Testbatterien korrelieren zwar auch die Einzeltests mit dem Validitätskriterium hoch, die Einzeltests untereinander aber wenig. Sie erfassen gewissermaßen verschieden Aspekte eines Merkmals. In den sogenannten Spielwitz bei Sportspielen können sehr unterschiedlich ausgeprägte Komponenten eingehen (Spielübersicht, Täuschungsfähigkeit, Stellungsspiel). Im Bereich der Sportmotorik eignen sich heterogene Testbatterien daher besonders zur Analyse „schwer abgrenzbarer Persönlichkeitsmerkmale“ oder ganzer Merkmalskomplexe, z.B. der motorischen Fitness (BALLREICH 1970, 64).
Eine strikte Trennung dieser Einteilung fällt jedoch oft schwer und ist nicht immer gegeben. „Die Mehrzahl der sportmotorischen Tests ist weder rein homogen noch rein heterogen“ (WURDEL 1972, 31).
2.5 Anforderungen an die Aussagekraft SMTs
Ein Test ist nur dann als brauchbare Methode anzusehen, wenn er den Fragestellungen einer wissenschaftlichen Untersuchung entspricht, effektiv zu ihrer Beantwortung beiträgt und wissenschaftlich abgesichert ist. Die Güte von Tests wird mit Hilfe von festgelegten Gütekriterien beurteilt. Diese Standardbedingungen gewährleisten einheitliche Voraussetzungen für sportmotorische Tests, um inter- und intraindividuelle Vergleiche zu ermöglichen. Testverfahren, welche gültige Ergebnisse und Erkenntnisse liefern sollen, müssen nach LIENERT und RAATZ (1998, 7ff) die folgenden Haupt- und Nebengütekriterien für Leistungsprüfverfahren erfüllen:
2.5.1 Hauptgütekriterien
Zur Beurteilung eines Tests unterscheidet man die drei Hauptgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität.
2.5.1.1 Objektivität
Die Objektivität ist definiert als Grad der Unabhängigkeit der Testergebnisse von störenden Einflüssen durch die Testsituation und den Untersucher (vgl. BÖS 1987, 120; ROTH 1999, 259). LIENERT (1998, 13) präzisiert, indem er erklärt: "Ein Test wäre dann vollkommen objektiv, wenn verschiedene Untersucher bei demselben Probanden zu gleichen Ergebnissen gelangten".
Objektivität bezieht sich auf die Bereiche der Testdurchführung, der Testauswertung und Testinterpretation (vgl. LIENERT 1969, 13f und BALLREICH 1970, 33). BÖS (1987, 120) bezeichnet die Durchführungsobjektivität als die wichtigste. Diese zeigt die Unabhängigkeit der Testergebnisse vom Untersucher auf und wird weitestgehend durch die Beschreibung des Tests in einem Testmanual abgesichert.
Eine große Schwierigkeit bei vergleichenden Untersuchungen besteht darin, durch geeignete Maßnahmen einigermaßen gleiche und starke Motivationen bei den Probanden zu erreichen. Die soziale Interaktion zwischen Testleiter und Probanden sollte deshalb möglichst gering gehalten werden, um durch objektive Aufforderung zu persönlichem Einsatz eine annähernd homogene Motivation zu erreichen. Bezüglich der Testbeschreibung müssen sich die Testleiter also genau an die Testanweisungen halten. Die Objektivität der Interpretation ist ein weiterer Knackpunkt. Es ist nicht gesichert, dass verschiedene Auswerter aus den Ergebnissen auch dieselben Schlüsse ziehen.
Anforderungen an die Höhe des Objektivitätskoeffizienten
Objektivitätskoeffizienten sind Koeffizienten, die sich aus der Korrelation der Testbefunde verschiedener Testleiter bei derselben Stichprobe und gleichen Testanleitungen ergeben. Als Maß für die Objektivität verschiedener Untersucher verwendet LIENERT den „...durchschnittlichen Korrelationskoeffizient (r) zwischen den durch verschiedene Untersucher an einer Stichprobe von Probanden erhobenen Testbefund“ (LIENERT 1969, 13). Es ist notwendig, eine hohe Testobjektivität ( r > 0,9) zu fordern, da sie eine unerlässliche Voraussetzung für eine hohe Testreliabilität und -validität ist. Bei sportmotorischen Tests wird die Objektivität meist als gegeben vorausgesetzt und nur selten explizit überprüft. Die verschiedenen Einflussfaktoren in der Testsituation legen es jedoch nahe, besonders während der Testdurchführung aufmerksam zu sein und objektive Fehler zu vermeiden.
2.5.1.2 Reliabilität (Zuverlässigkeit)
"Unter Reliabilität eines Tests versteht man den Grad der Genauigkeit, mit dem dieser ein bestimmtes Persönlichkeits- oder Verhaltensmerkmal misst, gleichgültig, ob er dieses Merkmal auch zu messen beansprucht " (LIENERT und RAATZ 1998, 9). Der Grad der Genauigkeit bezieht sich ausschließlich auf den beobachtbaren Messwert und nicht auf dessen Interpretation. Die Reliabilität ist in hohem Maße erfüllt, wenn ein Test im Wiederholungsfalle zu den (annähernd) gleichen Ergebnissen führt und somit das Testergebnis nicht als zufällig bezeichnet werden kann (FETZ 1978, 10). Ein Test gilt demnach als reliabel, wenn die Ergebnisse den Probanden genau und fehlerfrei charakterisieren.
Diverse methodische Zugänge zur Überprüfung der Reliabilität sehen LIENERT und RAATZ (1998, 9) in der Retest-Methode (Retest-Reliabilität), der Paralleltest-Methode (Paralleltest-Reliabilität) und der Split-Half-Methode (innere Konsistenz).
Die größte testpraktische Bedeutung hat dabei die Test-Retest-Methode (Testwiederholungsmethode) erlangt, die den Reliabilitätskoeffizienten bestimmt. Dabei wird ein Test derselben Probandenstichprobe zweimal innerhalb eines definierten Zeitintervalls vorgegeben. Durch Korrelation der Rohwertpaare aus Test und Retest erhält man den Testwiederholungs-Reliabilitätskoeffizienten. Die Korrelation zwischen beiden Messwertreihen gilt als ein Maß für die Reliabilität eines Tests. Die Anwendung der Retest-Methode ist nur dann sinnvoll, wenn begründet angenommen werden darf, dass Wiederholungseinflüsse keine oder eine nur sehr geringe, praktisch zu vernachlässigende Auswirkung auf die Korrelation zwischen Test und Retest haben.
Wenn aufgrund verschiedener Wiederholungseinflüsse (Lern- oder Übungseffekte, Vertrautheit mit der Testsituation) ein Retest nicht durchgeführt werden kann, dann lässt sich die Reliabilität durch einen Paralleltest überprüfen. Bei der Paralleltest-Methode wird die Testwiederholung in Form eines parallel stattfindenden Tests an derselben Personenstichprobe verwirklicht. Voraussetzung zur Anwendung ist die Existenz einer Parallelform zu dem ursprünglichen Test. Ein Problem besteht, wenn die Gleichartigkeit der beiden Parallelformen so groß ist, dass Wiederholungseinflüsse deutlich wirksam werden.
Die Split-Half-Methode lässt sich auch als Testhalbierungs-Methode charakterisieren, bei der bei einmaliger Testdurchführung versucht wird, einen Schätzwert für die Reliabilität zu bestimmen. Die Split-Half-Methode sowie die Konsistenzanalyse werden bei sportmotorischen Tests angewendet, die aus mehreren Testitems bestehen. Die Testhalbierungsreliabilität wird bestimmt, indem man einen Test an einer Personenstichprobe durchführt, die Testaufgaben nach festgelegten Halbierungstechniken aufteilt, den Korrelationskoeffizienten zwischen den beiden Rohwertereihen ermittelt und den Gesamttest-Reliabilitätskoeffizienten mit Hilfe einer Schätzformel aus dem Halbtest-Reliabilitätskoeffizienten berechnet.
Probleme tauchen besonders dann auf, wenn relativ leistungshomogene Gruppen getestet werden. Streuen die Testergebnisse nur wenig, so fällt der Reliabilitätskoeffizient relativ niedrig aus, da schon geringe Leistungsveränderungen innerhalb eines kleinen Streuungsbereichs eine relativ starke Abweichung bedeuten. Der geschilderte Sachverhalt ist bei der Verwendung eines sportmotorischen Tests zu berücksichtigen. Deshalb müssen Angaben über die Streuung (Varianz) der Testergebnisse (Rohwerte) aus der Bezugsstichprobe vorliegen. Weitere Anmerkungen zu Problemen bei der Reliabilitätsermittlung finden sich bei LIENERT (1969, 210ff) und BALLREICH (1970, 37ff).
Anforderungen an die Höhe des Reliabilitätskoeffizienten
Der Grad der Reliabilität wird durch einen Reliabilitätskoeffizienten bestimmt, der angibt, in welchem Maße unter gleichen Bedingungen gewonnene Messwerte über ein und denselben Probanden übereinstimmen, in welchem Maße also das Testergebnis reproduzierbar ist (LIENERT 1969, 15). Reliabilitätskoeffizienten sollten 0.80 oder höher sein. Neben der Genauigkeit des Gegenstandsbereiches kann auch die Genauigkeit des Messinstruments geprüft werden.
2.5.1.3 Validität
Die Validität ist die Gültigkeit bzw. die zentral übergeordnete Bedeutung eines Tests. Sie ist der „Grad der Genauigkeit, mit dem ein Test dasjenige Persönlichkeitsmerkmal oder diejenige Verhaltensweise misst, das (die) er messen soll oder zu messen vorgibt, tatsächlich misst“ (LIENERT 1998, 10). Ein Test ist dann perfekt valide, wenn seine Ergebnisse einen fehlerfreien Rückschluss von den gemessenen Resultaten auf die angezielten Persönlichkeitseigenschaften gestatten (BÖS 1987, 120). Hohe Validität bedingt demnach hohe Objektivität und Reliabilität.
BÖS (1987, 120) unterscheidet Inhaltsvalidität oder repräsentative Reliabilität, Konstruktvalidität und Kriteriumsvalidität.
Mit Inhaltsvalidität ist gemeint, dass der Test selbst das optimale Kriterium für das zu messende Merkmal darstellt. "Der Test bzw. seine Elemente sind so beschaffen, dass sie das zu erfassende Persönlichkeitsmerkmal oder die in Frage stehenden Verhaltensweise repräsentieren“ (LIENERT 1998, 10). Ein Test ist inhaltlich valide, wenn man sicher sein kann, dass die ausgewählte Bewegungsaufgabe tatsächlich die zu diagnostizierende Fähigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit erfasst.
Während sich Inhalts- und Kriteriumsvalidität stark an testpraktischen Erfordernissen orientieren, ist für die Theorie des Messgegenstandes die Konstruktvalidität von Bedeutung. Die Konstruktvalidität ist die Korrelation zwischen Testwert und wahrem Wert. Da der wahre Wert nicht bekannt ist, kann auch explizit keine Angabe über die Höhe dieser Korrelation gemacht werden. In der Forschungspraxis ist deshalb die Konstruktvalidierung gleichbedeutend mit der Überprüfung der Theorie zum Testinhalt.
Die Kriteriumsvalidität geht davon aus, dass es neben dem Test weitere Möglichkeiten (Kriterien) gibt, das zu diagnostizierende Merkmal zu erfassen. Im Fall dieser Validität ergibt sich im Gegensatz zu den vorrangegangenen Validitätsaspekten die Möglichkeit zur Bestimmung einer Maßzahl für den Grad der Validität. Man korreliert die Testergebnisse einer Stichprobe von Probanden mit einem Außenkriterium (Wettkampfleistung, Trainerurteil), das heißt mit Kriteriumswerten, die unabhängig vom Test erhoben wurden und die auf irgendeine Weise das zu prüfende Merkmal wiedergeben (LIENERT 1969, 17). Probleme bestehen darin, ein oder mehrere Außenkriterien zu finden, „...die das vom Test zu erfassende Merkmal hinlänglich repräsentieren und überdies noch zulässig sind“ (RÖTHIG u.a. 1992, 512).
Die bei sportmotorischen Tests geforderten Bewegungsabläufe sind nie Ergebnis eines einzelnen Funktions- oder Steuerungsprozesses, sondern vielseitig determiniert. Bei der Aufgabenstellung ist es sehr schwierig, eine Übung auszuwählen, die nur eine Größe abtestet. Zum Beispiel stellt man eine Aufgabe, welche die Kraft eines Probanden bestimmen soll. Nun werden nicht nur die Kraft, sondern auch andere Parameter, wie Kraftschnelligkeit und Koordinationsvermögen in das Ergebnis mit einfließen. „Darum wird es auch - streng genommen - keinen sportmotorischen Test geben können, der alleiniger Ausdruck nur eines Merkmals, einer Eigenschaft oder Fähigkeit ist, solange man von realen sportlichen Bewegungsabläufen ausgeht“ (SCHNABEL 1963, 1071). Bei Konditionstest ist die Absicherung des Validitätsanspruches problematisch. Über die Struktur der konditionellen Fähigkeit besteht nicht immer Klarheit. Bestimmte Faktoren können die Testleistung stark beeinflussen. Ein Beispiel ist das Testergebnis in bezug auf die Ausdauerleistung, welche stark von der Willenskraft des Probanden abhängt.
Anforderungen an die Höhe des Validitätskoeffizienten
Genaugenommen dürfte man nicht von der Validität eines Tests sprechen, sondern von der Validität seiner Ergebnisse oder davon, ob die Interpretationen der Ergebnisse gültig sind oder nicht. Validitätskoeffizienten über 0,60 (Übereinstimmungsvalidität) bzw. über 0,40 (prognostische Validität) gelten als akzeptabel.
2.5.1.4 Beziehungen zwischen den Hauptgütekriterien
Die Hauptgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität sind in bestimmter Weise voneinander abhängig. Ein vereinfachtes Schema der wechselseitigen Abhängigkeit der ersten beiden Gütekriterien und der kriterienbezogenen Validität sieht wie folgt aus:
Abb. 8. Beziehungen zwischen den Hauptgütekriterien (LIENERT 1969, 20)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
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- Sabrina Engels (Author), Michael Daners (Author), 2005, Vergleich motorischer Leistungen und anthropometrischer Parameter von Kindern in Agglomerationsräumen, städtischen und ländlichen Regionen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43538
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