In dieser Arbeit wurde der Zusammenhang zwischen subjektivem Stress und Empathie unter Berücksichtigung der Persönlichkeit untersucht. Grundlage bildet die Theorie von Eisenberg et al., nach der eine erhöhte periphysiologische Erregung bzw. Stress mit einem Anstieg der empathischen Reaktion einhergeht, gemessen in der Wahrscheinlichkeit zu prosozialem Verhalten. Steigt der Stress allerdings zu stark, sinkt die Wahrscheinlichkeit zu prosozialem Verhalten wieder, sodass es sich um einen umgekehrt u-förmigen Zusammenhang handelt.
Da eine Forschungslücke zur Bestätigung dieses Zusammenhangs besteht, wurde in der vorliegenden Studie Empathie direkt über den Interpersonal Reactivity Index (Davis, 1980) und über die deutsche Fassung der Cambridge-Mindreading Face-Battery erhoben. Das subjektive Stressempfinden wurde über die deutsche Version der Perceived Stress-Scale erhoben. Darüber hinaus wurde erstmals Persönlichkeit als Moderator dieses Zusammenhangs überprüft. Die Hypothese des umgekehrt u-förmigen Zusammenhangs konnte allerdings für keine der Empathievariablen bestätigt werden. Es zeigen sich eher lineare Trends, vor allem in Bezug auf Stress und personal distress, sowie ein leichter u-förmiger Zusammenhang zwischen Stress und perspective taking.
Als zentrales Ergebnis ist festzuhalten, dass Eisenbergs Annahmen zwischen Stress und Empathie nicht bestätigt werden konnten. In der Konsequenz musste auch die mögliche Moderation dieses Zusammenhangs durch Persönlichkeit verworfen werden. Allerdings konnten alle Hypothesen zum Zusammenhang von Persönlichkeit und Empathie sowie Persönlichkeit und Stress bestätigt werden. Dabei zeigen sich Zusammenhänge zwischen Neurotizismus und affektiver Empathie, vor allem Ängstlichkeit und personal distress, sowie zwischen Verträglichkeit und affektiver Empathie, vor allem Gutherzigkeit und empathic concern. Die kognitive Empathie steht dabei in Teilen zu beiden Persönlichkeitsfaktoren in Zusammenhang. Das Stressempfinden korreliert stark mit Neurotizismus. Datengeleitet wurde daher eine Mediation des Zusammenhangs zwischen Stress und Empathie durch Persönlichkeit überprüft. Tatsächlich mediiert Neurotizismus den Zusammenhang zwischen Stressempfinden und affektiver Empathie. Dieses Ergebnis sollte allerdings lediglich als Hinweis auf eine mögliche Mediation verstanden werden. Diese Arbeit bietet daher einige Anhaltspunkte für weitere Studien.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen
2.1. Empathie
2.2. Stress
2.3. Persönlichkeit
2.4. Zusammenhang von Stress, Empathie und Persönlichkeit
3. Zielsetzung und Hypothesen
3. Methodisches Vorgehen
3.1. Material
3.1.1. Verwendete Fragebögen zu Aspekten von Stress (PSS, SVF)
3.1.2. Verwendete Fragebögen zu Aspekten von Empathie (IRI, CAM)
3.1.3. Verwendete Fragebögen zu Aspekten von Persönlichkeit (BFI, IPIP)
3.1.4. Verwendete Fragebögen zu Aspekten von Depression (BDI) und Trauma (CLEQ)
3.2. Stichprobe
3.3. Durchführung
4. Ergebnisse
4.1. Vorbereitung und Gütekriterien der Variablen
4.1.1. Empathievariablen
4.1.2. Stressvariablen
4.1.3. Persönlichkeitsvariablen
4.2. Überprüfung der H1 & F1a und F1b
4.3. Überprüfung der H2
4.4. Überprüfung der H3
4.5. Überprüfung der H4 & F4
4.6. Überprüfung der H5 & F5
4.7. Überprüfung der H6 & F6
4.8. Exploration
5. Diskussion und Ausblick
6. Literaturverzeichnis
7. Anhang
I. Beginn des Online-Fragebogens
II. Streudiagramme mit linearer sowie quadratischer Funktion zu H1
III. Korrelationen zwischen Persönlichkeit und Empathie sowie Stressempfinden
IV. Korrelationen zwischen den Verträglichkeitsfacetten und Empathie
V. Korrelationen zwischen den Neurotizismusfacetten und Empathie
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Zusammenhang nach Eisenberg & Fabes, 1990 (eigene Darstellung)
Abbildung 2: Alters- und Geschlechterverteilung der Stichprobe
Abbildung 3: Verteilung richtig erkannter Emotionen
Abbildung 4: Verteilung richtig erkannter Konstrukte
Abbildung 5: Strukturmodell zu Stressempfinden, Verträglichkeit und kognitiver Empathie
Abbildung 6: Strukturmodell zu Stressempfinden, Verträglichkeit und affektiver Empathie
Abbildung 7: Strukturmodell zu Stressempfinden, Neurotizismus und kognitiver Empathie
Abbildung 8: Strukturmodell zu Stressempfinden, Neurotizismus und affektiver Empathie
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Faktoren des SVF mit Beispielitems
Tabelle 2: Beispielitems des IRI
Tabelle 3: Emotionen des CAM
Tabelle 4: Beispielitems aus dem BFI
Tabelle 5: Beispielsitems des Faktors Neurotizismus
Tabelle 6: Beispielitems des Faktors Verträglichkeit
Tabelle 7: Einkommensgruppen der Stichprobe
Tabelle 8: Reihenfolge der Inhalte des Fragebogens
Tabelle 9: Werte der Neurotizismusfacetten des IPIP
Tabelle 10: Werte der Verträglichkeitsfacetten des IPIP
Tabelle 11: Werte der Big Five des BFI
Tabelle 12: Ergebnisse der linearen und quadratischen Regression zu H1
Tabelle 13: Korrelationen zwischen Verträglichkeitsfacetten und Empathievariablen
Tabelle 14: Korrelationen zwischen Neurotizismusfacetten und Empathievariablen (IRI)
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich im Laufe der Masterarbeit begleitet haben.
Insbesondere danke ich Dr. Dipl.-Psych. Martin Melchers, der den Wunsch meiner Kommilitonen und mir erfüllt hat, Masterarbeiten zum Themenkomplex Empathie zu erarbeiten. Mit seinem Enthusiasmus zu Empathieforschungen konnte er mich erfolgreich anstecken, sodass es mir eine große Freude war, zu diesem Thema empirisch zu arbeiten. Auch bedanken möchte ich mich für die Tests, die er uns zur Verfügung gestellt hat, sowie für die fachliche und persönliche Unterstützung zu jeder Zeit. Der Kampfgeist, die positive Weltsicht sowie das Engagement für Mitmenschen haben mich sehr beeindruckt und werden mich mein Leben lang begleiten. Danke.
Außerdem möchte ich mich bei M.Sc.-Psych. Thomas Plieger bedanken, der mich jederzeit bei Fragen unterstütze und große Flexibilität zeigte. Ebenso danke ich M.Sc.-Psych. Thomas Grünhage. Ohne das Entgegenkommen und die Unterstützung von Herrn Plieger und Herrn Grünhage wäre die Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen.
Darüber hinaus gilt mein Dank der gesamten Abteilung für differentielle und biologische Psychologie der Universität Bonn, die auch schwierige Probleme immer effektiv löst, ohne dabei den Humor und die Lebensnähe zu verlieren. Ich habe von allen stets wertvolle Hinweise erhalten, die mir sehr geholfen haben.
Meinen Kommilitoninnen und Freundinnen Laura Schlaf und Yvonne Moch danke ich ebenfalls. Ich freue mich, dass wir über die Bachelor- und Masterstudienzeit hinweg so zusammengewachsen sind. Dass wir sind ein tolles Team sind, konnten wir schon in vielen gemeinsamen Referaten, Studien, Forschungsarbeiten, und nun in unserer Masterarbeitsstudie beweisen. Vielen Dank, dass ihr auch in schweren Stunden immer ein offenes Ohr habt.
Weiterhin möchte ich meiner Familie und meinen Freunden danken. Insbesondere Dr. Sebastian Eberz, der stets Zeit für statistische Probleme und mir einige nützliche Hinweise gegeben hat. Er hat mir gezeigt, dass Statistik wirklich Spaß machen kann. Ebenso danke ich Frédéric Mayé und Jane Zielenkewitz, die mich in frustrierenden Situationen immer wieder angespornt haben. Meinem Schwager Julian Merbt danke ich für die tatkräftige Unterstützung beim Onlinefragebogen, ohne die sich die Studie erheblich verzögert hätte. Danke auch an meine Schwestern Mareike Quantz und Annett Möwes für das Korrekturlesen sowie die Motivation, die sie mir gegeben haben. Letztlich danke ich allen Teilnehmenden der Studie von ganzem Herzen, die durchschnittlich über eine Stunde ihrer Zeit geopfert haben, um an dieser Erhebung teilzunehmen. Ohne sie gäbe es diese Arbeit nicht. Vielen Dank!
Abstract
In dieser Arbeit wurde der Zusammenhang zwischen subjektivem Stress und Empathie unter Berücksichtigung der Persönlichkeit untersucht. Grundlage bildet die Theorie von Eisenberg und Kollegen (2009; 1990), nach der eine erhöhte periphysiologische Erregung bzw. Stress zunächst mit einem Anstieg der empathischen Reaktion einhergeht, gemessen in der Wahrscheinlichkeit zu prosozialem Verhalten. Steigt der Stress allerdings zu stark, sinkt die Wahrscheinlichkeit zu prosozialem Verhalten wieder, sodass es sich um einen umgekehrt u-förmigen Zusammenhang handelt. Da eine Forschungslücke zur Bestätigung dieses Zusammenhangs besteht, wurde in der vorliegenden Studie Empathie direkt über die deutsche Version des Interpersonal Reactivity Index (Davis, 1980) und über die deutsche Fassung der Cambridge-Mindreading Face-Battery (Golan, Baron-Cohen, & Hill, 2006) erhoben. Das subjektive Stressempfinden wurde über die deutsche Version der Perceived Stress-Scale (Cohen, Kamarck, & Mermelstein, 1994) erhoben. Darüber hinaus wurde erstmals Persönlichkeit als Moderator dieses Zusammenhangs überprüft. Die Hypothese des umgekehrt u-förmigen Zusammenhangs konnte allerdings für keine der Empathievariablen bestätigt werden. Es zeigen sich eher lineare Trends, vor allem in Bezug auf Stress und personal distress, sowie ein leichter u-förmiger Zusammenhang zwischen Stress und perspective taking. Als zentrales Ergebnis ist festzuhalten, dass Eisenbergs Annahmen zwischen Stress und Empathie nicht bestätigt werden konnten. In der Konsequenz musste auch die mögliche Moderation dieses Zusammenhangs durch Persönlichkeit verworfen werden. Allerdings konnten alle Hypothesen zum Zusammenhang von Persönlichkeit und Empathie sowie Persönlichkeit und Stress bestätigt werden. Dabei zeigen sich Zusammenhänge zwischen Neurotizismus und affektiver Empathie, vor allem Ängstlichkeit und personal distress, sowie zwischen Verträglichkeit und affektiver Empathie, vor allem Gutherzigkeit und empathic concern. Die kognitive Empathie steht dabei in Teilen zu beiden Persönlichkeitsfaktoren in Zusammenhang. Das Stressempfinden korreliert stark mit Neurotizismus. Datengeleitet wurde daher eine Mediation des Zusammenhangs zwischen Stress und Empathie durch Persönlichkeit überprüft. Tatsächlich mediiert Neurotizismus den Zusammenhang zwischen Stressempfinden und affektiver Empathie. Dieses Ergebnis sollte allerdings lediglich als Hinweis auf eine mögliche Mediation verstanden werden. Die vorliegende Arbeit bietet daher einige Anhaltspunkte für weitere Studien.
1. Einleitung
Welche menschliche Eigenschaft würden Sie ändern, wenn Sie könnten?
The human failing I would most like to correct is aggression. It may have had survival advantage in caveman days, to get more food, territory, or partner with whom to reproduce, but now it threatens to destroy us all. A major nuclear war would be the end of civilization, and maybe the end of the human race. The quality I would most like to magnify is empathy. It brings us together in a peaceful, loving state.
Stephen Hawking antwortete 2015 auf diese Frage folgendermaßen[1]:
Gerade angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage ist es wesentlich, sich auf das zu besinnen, was Menschen zusammenführt. Stephen Hawking formuliert weise, dass Menschen eine Fähigkeit besitzen, die ganz ohne kriegerische Einsätze oder Leid auskommt, um für Frieden zu sorgen: Empathie. Sie lässt uns Mitgefühl füreinander empfinden, sodass wir friedlich miteinander leben können. Auch psychologische Forschungen belegen, dass die Empathie einen der größten Hemmfaktoren für Aggression darstellt (z.B. Bandura, 1999a; Konradt, 1992; Tremblay, Pihl, Vitaro, & Dobkin, 1994). Betrachtet man außerdem, dass Empathie eine gelungene frühkindliche und vor allem moralische Entwicklung fördert (z.B. Eisenberg, 2000; Eisenberg & Lennon, 1983; Eisenberg, Miller, Shell, McNalley, & Shea, 1991; Eisenberg & Strayer, 1990), sollte es eines der obersten gesellschaftlichen und politischen Ziele sein, diese Fähigkeit zu fördern, damit für kommende Generationen eine Grundlage für ein friedliches Miteinander besteht.
Auch die hier vorliegende Studie befasst sich mit Empathie. Insbesondere soll der Zusammenhang zwischen Stressempfinden und Empathie beleuchtet werden. Die Anforderungen an das Individuum und seine Arbeit sind im letzten Jahrhundert extrem gestiegen, was durch die aktuelle Schnelllebigkeit noch verstärkt werden könnte. Eine erhöhte Belastung kann sich auch auf die psychische und physiologische Gesundheit niederschlagen (vgl. Kaluza, 2015; vgl. Struhs-Wehr, 2017). Passend dazu ist auch die Anzahl der psychotherapeutischen Behandlungen in den letzten Jahren enorm gestiegen (vgl. DAK-Gesundheitsreport, 2013). Da Stress offensichtlich einen Effekt auf die Psyche hat, könnten auch zwischenmenschliche Fähigkeiten, wie die Empathie, durch Stress beeinflusst werden? Um diese Frage zu beantworten, werden hier insbesondere Theorien zum Zusammenhang von Stresserleben und Empathie rund um Eisenberg herangezogen (z.B. Eisenberg & Fabes, 1990). Dabei wird davon ausgegangen, dass das Stressempfinden einen besonderen, non-linearen Einfluss auf die Fähigkeit zur menschlichen Empathie hat. Als Forschungslücke ist zu beachten, dass kaum Studien anderer Forschergruppen zur Bestätigung des Zusammenhangs zwischen Stress und Empathie in dieser Weise bestehen. Ziel der vorliegenden Studie ist daher zunächst die Bestätigung des Zusammenhangs. Die Besonderheit dabei ist, dass dazu nicht nur die selbstberichtete kognitive und affektive Empathie (Interpersonal Reactivity Index; Davis, 1980) herangezogen wurde, sondern auch die tatsächliche Fähigkeit zur Emotionserkennung, die innerhalb eines Videotests überprüft wurde (Cambridge Mindreading Face-Battery; Golan et al., 2006).
Neben dem Stressempfinden scheint es aber einigen Menschen einfach nicht möglich, die Welt mit den Augen anderer zu sehen, andere Perspektiven zu übernehmen und Menschlichkeit zu zeigen. Es scheint, es wären sie gegen Empathie geradezu „geimpft“. Deshalb soll in dieser Arbeit auch untersucht werden, wie die Persönlichkeit in diesem Zusammenhang fungiert, da diese das Erleben und Verhalten einer Person in etlichen Lebensbereichen beeinflusst (vgl. bspw. Allport, 1937; Caprara & Cervone, 2000; Cattell, 1945). Bei der Identifizierung von Ursachen für eine geringe Empathiefähigkeit kann demnach nicht nur das aktuelle Stressempfinden, sondern auch die individuelle Persönlichkeit wichtige Forschungshinweise liefern. Hier wurde dazu der Zusammenhang der Persönlichkeitsfaktoren Verträglichkeit und Neurotizismus intensiv bearbeitet.
Zur empirischen sowie statistischen Bearbeitung dieser Fragestellungen werden im theoretischen Hintergrund dieser Arbeit zunächst die Begriffe Empathie, Stress und Persönlichkeit definiert und im aktuellen Forschungsstand eingeordnet. Daraus ergeben sich die postulierten Hypothesen, die darauffolgend erläutert werden. Im dritten Kapitel werden die Methoden umfassend vorgestellt, unter anderem das verwendete Material, die Durchführung, sowie die Stichprobe. Im Ergebnisteil werden die Analysen zu den jeweiligen Hypothesen und Forschungsfragen detailliert beschrieben. Dazu gehören beispielsweise Korrelationen, eine non-lineare Regression sowie ein Strukturmodell. Zum Abschluss werden die Ergebnisse interpretiert und in den Forschungsstand eingeordnet. Dazu gehören ebenfalls eine kritische Bewertung der gesamten Studie sowie Implikationen für weitere Forschungen. Außerdem sollen praktische Handlungsempfehlungen sowie Anwendungsbereiche der gewonnen Erkenntnisse diskutiert werden.
Nur in Kürze werden die Persönlichkeitsfaktoren Offenheit, Extraversion und Gewissenhaftigkeit behandelt, da der Fokus auf den Faktoren Verträglichkeit und Neurotizismus liegt. Nicht betrachtet werden in dieser Arbeit außerdem etwaige Geschlechterunterschiede, da es vielmehr um einen breiten Einfluss der Persönlichkeit und des Stressempfindens auf Empathie geht.
2. Theoretische Grundlagen
Um den Zusammenhang von Empathie, Stress und Persönlichkeit untersuchen zu können, muss zunächst eine Basis wissenschaftlichen Verständnisses vorhanden sein. In diesem Kapitel sollen deshalb zunächst diese drei Begriffe hinsichtlich ihrer Herkunft, psychologischen Bedeutung und aktueller Forschungen beleuchtet werden. Als Erstes wird Empathie beschrieben, worauf das Konstrukt Stress folgt. An dritter Stelle wird Persönlichkeit vorgestellt. Im letzten Unterkapitel wird auf den Zusammenhang zwischen diesen Konstrukten eingegangen.
2.1. Empathie
Bei der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Empathie stößt man bereits bei der Bedeutung der griechischen Wortstämme auf interessante Wurzeln. Während das altgriechische Wort empátheia mit der Bedeutung einer (intensiven) Gefühlsregung noch im weitesten Sinne der heutigen Semantik zuzuordnen wäre, steht die neugriechische Bedeutung mit Voreingenommenheit oder sogar Gehässigkeit dem sehr entgegen (vgl. Depew, 2005). Auch wenn heute die genaue Bedeutung des Begriffs Empathie noch immer diskutiert und definiert wird[2], - darunter beispielsweise von Davis (1980, 2018), Eisenberg und Kollegen (2007) oder Schieman & Van Gundy (2000) - scheint dennoch ein Konsens darüber zu bestehen, dass Empathie die Fähigkeit beinhaltet, die mentalen und emotionalen Zustände anderer Personen zu verstehen. Dazu gehören auch deren Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse, womit semantisch keinesfalls Gehässigkeit oder Voreingenommenheit auftauchen. Daher ist eine deutliche Diskrepanz zwischen der altgriechischen und aktuellen Bedeutung des Begriffes zu erkennen.
Der heutige Begriff der Empathie wurde analog zum griechischen sympátheia (Sympathie, Mitgefühl) aus en ((dr)-in) und path (fühlen) gebildet, nachdem Theodor Lipps die Bezeichnung Anfang des letzten Jahrhunderts unter Einfühlung aufbrachte (vgl. Lipps, 1903). Darunter verstand er zunächst die Beziehung zwischen einem Kunstwerk und dem Betrachter innerhalb eines intrapsychischen Prozesses. Bei der Übersetzung des deutschen Begriffes Einfühlung ins Englische verwendete Edward Tichener (1909) nun zum ersten Mal den Begriff empathy, um dem „wahren Sinn“ der Einfühlung nach Lipps näher zu kommen. Diese Übersetzung wurde auch bei Freuds Begriff der Einfühlung angewendet (vgl. Levy, 1997). Daher kann von einer analogen Wortzusammensetzung der griechischen Wortstämme en und path gesprochen werden, die zum heutigen Begriff mit entsprechender Bedeutung geführt hat. Eine empathische Reaktion meint demnach vor allem das Mitfühlen und Hineinfühlen in die Emotionen einer anderen Person. Dabei ist allerdings anzumerken, dass die empathische Reaktion keinesfalls identische Emotionen zwischen Beobachter und Gegenüber meint, sondern eine Kongruenz zwischen diesen Emotionen: „The individual responds to anothers emotion with an emotion that is not identical to the other‘s emotion, but is congruent with the other‘s emotional state and his or her welfare“ (Eisenberg, 1986, S. 31).
Aus heutiger Sicht besteht vor allem ein Konsens über die Unterscheidung einer emotionalen und einer kognitiven Komponente der Empathie. Die kognitive Komponente ermöglicht das Erkennen von emotionalen Zuständen des Gegenübers, während die affektive Komponente vor allem für das Mitfühlen verantwortlich ist (vgl. Davis, 2018). Diese Differenzierung ist bereits unter Edith Stein zu erkennen, die 1964 beschrieb, dass Empathie mehr als ein Gespür und Mitgefühl für die Emotionen von anderen Personen sei, denn dies alleine käme nur einer emotionalen Empathie nahe (Stein, 2016). Tatsächlich aber benötige Empathie auch die Wahrnehmung und Erkennung der (Emotionen der) anderen Person mit Hilfe von visuellen, aber auch handlungsbezogenen sensomotorischen Informationen[3], was aus heutiger Sicht dem kognitiven Teil der Empathie zugeordnet werden könnte. Spannend ist Steins Grundannahme, dass Empathie auf einer Ähnlichkeitsdimension zwischen Beobachter und Gegenüber fußt (vgl. ebd.). Dies wird durch die zentralen Ergebnisse aktueller Studien gestützt, nach denen eine größere Empathie zu Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe als zu „Fremden“ empfunden wird (z.B. mehr Hirnaktivität in den entsprechenden Bereichen, mehr selbstberichtete Empathie sowie mehr Motivation zu prosozialem Verhalten bei einem Gegenüber, das der eigenen kulturellen Herkunft entspricht (vgl. Chiao Joan Y., Mathur Vani A., Harada Tokiko, & Lipke Trixie, 2009; Mathur, Harada, Lipke, & Chiao, 2010)). Aus rein evolutionärer Sicht im Sinne des Gruppenzusammenhalts steigert dies die Überlebenschancen.
Interessant ist auch, dass Husserls (1989) Modellannahmen einer nötigen wahrgenommenen Leibhaftigkeit und somit Ähnlichkeit von Beobachter und Gegenüber auch in grundlegenden Zügen zu moderneren physiologisch-biologischen Modellen, wie dem Perception-Action-Modell (Preston & Waal, 2002), passen. In diesem Modell reagiert der Beobachter mit einer Emotionserfassung des Gegenübers, indem die Repräsentation der beobachteten Emotion automatisch aktiviert wird, sodass der gleiche physiologische Zustand beim Beobachter eintritt. Somit fühle der Beobachter die Emotion des Gegenübers auch physiologisch bei sich selbst (ähnlich zur Gefühlsansteckung (Doherty, 1997) oder dem System der Spiegelneuronen (Rizzolatti & Craighero, 2004)). Ergo erleben Gegenüber und Beobachter modellhaft die gleichen Emotionen, was zu der Wahrnehmung einer Ähnlichkeit führt. Gestützt wird dies aktuell vor allem durch Studien zu empathischem Schmerz, wobei relativ stabil gezeigt werden kann, dass bei beobachtetem sowie selbst erlebtem Schmerz die gleichen Gehirnareale aktiviert werden (Jackson, Brunet, Meltzoff, & Decety, 2006; Saarela et al., 2007). Die physiologische Komponente würde damit in Teilen auch heute zutreffen. Allerdings ist der wahrgenommene bzw. gefühlte Schmerz deutlich von den Gehirnarealen abzugrenzen. Außerdem scheint die Stärke dieser empathischen Reaktion unter Anderem von sozialer Zugehörigkeit und vermutlich einer Reihe anderer Determinanten abzuhängen.
Parallelen kann man auch im Modell zur (evolutionären) Entwicklung von Empathie erkennen, die Walter (2012) wie folgt zusammenfasst: Die evolutionär älteste Grundlage ist demnach das sog. emotionale Mimikry, bei dem der Beobachter das emotionale bzw. affektive Verhalten des Gegenübers nachahmt, ohne aber die Emotionen nachzuempfinden oder gar die Perspektive des Gegenübers anzunehmen. Es muss allerdings deutlich betont werden, dass der Beobachtende hier noch in keiner Weise emotional beteiligt ist, sodass das emotionale Mimikry zwar als evolutionärer Schritt, jedoch nicht als Empathie im heutigen Verständnis gewertet werden kann. Auch in de Waals Konzept zur Entwicklung empathischer Fähigkeiten wird das emotionale Mimikry nicht beschrieben (vgl. de Waal, 2008). Grundlegend vergleichbar mit dem o.g. Konzept der Übernahme des physiologischen Erregungszustandes und der Emotionen des Gegenübers ist die evolutionär nächste, aber phylogenetisch ebenfalls alte Stufe des emotional contagion (Hatfield, Cacioppo, & Rapson, 1993): Hier kommt es zu einer Gefühlsansteckung, bei der der Beobachtende die Emotionen des Gegenübers übernimmt und fühlt. Ersichtlich ist dies zum Beispiel im Schwarmverhalten von Vögeln, aber auch beim Weinen von Säuglingen (vgl. Shamay-Tsoory, Aharon-Peretz, & Perry, 2009). Allerdings findet hier noch keine Differenzierung zwischen eigenen und den Emotionen des Gegenübers statt. Diese Unterscheidung findet wiederum in der evolutionär nächsten Stufe, der affektiven Empathie statt, bei der sich der Beobachtende in die Emotionen des anderen hineinfühlen, und seine eigenen Emotionen darauf abstimmen kann („adäquate Emotion“). Bei der Fähigkeit zur kognitiven Empathie handele es sich um die evolutionär jüngste Stufe. Hier ist es dem Beobachtenden möglich, die Gedanken und Absichten des Gegenübers nachzuvollziehen, was eine Verhaltensvorhersage des Gegenübers ermöglicht. Es handelt sich also um eine vollständige Perspektivübernahme auf kognitiver Ebene, die emotionale Aspekte zur Verhaltensvorhersage berücksichtigen kann (Walter, 2012).
In diesem Zuge lohnt sich auch ein Blick auf die ontogenetische bzw. individuelle Entwicklung empathischer Fähigkeiten, die de Waal in drei Stufen beschreibt (de Waal, 2008): In seinem Konzept handelt es sich bei der emotional contagion -Stufe um die erste Entwicklungsstufe. Diese kann, wie oben beschrieben, bei Tieren in Schwarmverhalten oder Ähnlichem beobachtet werden. Beim Menschen ist diese Stufe quasi direkt nach der Geburt, z.B. in der Gefühlsansteckung (Weinen) unter Neugeborenen, zu beobachten (vgl. Levine & Hoffman, 1975). Die nächste Stufe des sympathetic erreichen Kinder nach de Waal (2008) in einem Alter von ungefähr 18-24 Monaten. In diesem Alter beginnen Kinder eine Vorstellung über sich und ihre eigenen Emotionen zu entwickeln, sodass sie die eigenen Emotionen von denen anderer abgrenzen können (vgl. Eisenberg, 2000). Kinder in diesem Alter können bereits aktuelle Umgebungsbedingungen erkennen und mit den Emotionen des Gegenübers in Verbindung setzen, sodass sie aktiv und adäquat mit Mitgefühl reagieren können (vgl. Zahn-Waxler, Radke-Yarrow, Wagner, & Chapman, 1992). In diesem Sinne besteht eine Parallele zur von Walter (2012) beschriebenen evolutionären Entwicklung der Empathie (affektive Empathie, siehe oben). Koestner et al. beschreiben diese Stufe auch als empathic concern anstatt sympathetic (vgl. Koestner, Franz, & Weinberger, 1990). Als dritte Entwicklungsstufe beschreibt de Waal (2008) die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, wodurch wiederum eine Parallele zur evolutionär jüngsten Entwicklung der kognitiven Empathie gezogen werden kann (siehe oben). Die Fähigkeit zum Hineinversetzen in andere Personen, um deren aktuelles Erleben und Verhalten zu verstehen sowie das zukünftige vorherzusagen, entsteht beim Menschen ungefähr im Altersbereich zwischen vier und sieben Jahren (vgl. Roth-Hanania, Busch-Rossnagel, & Higgins-D’Alessandro, 2000; vgl. Sodian, 2008).
An dieser Stelle kann festgehalten werden, dass es sich bei der Empathie um eine teilweise angeborene Fähigkeit zu handeln scheint, denn die höheren Formen der Empathie sind lediglich beim Menschen(-affen) zu beobachten (vgl. z.B. Hare, Call, & Tomasello, 2006). Allerdings scheint Empathie auch eine in Teilen erlernbare Eigenschaft zu sein, wie z.B. in der schrittweisen Entwicklung nach de Waal (2008) zu sehen ist. Die Tatsache, dass bestimmte Aspekte empathischer Fähigkeiten evolutionär sehr alt und andere Aspekte evolutionär jung sind, wird eindrucksvoll im sog. Russian-Doll-Modell von de Waal (2007) im Spannungsfeld zwischen Ontogenese und Phylogenese beschrieben. Demnach sind einige Aspekte der Empathiefähigkeit tatsächlich genetisch determiniert, allerdings entstanden parallel zur Empathieentwicklung weitere neuronale bzw. biologische Gehirnsysteme, die erst die höheren Entwicklungsstufen der menschlichen Empathie ermöglichten. Die „höheren“ bzw. evolutionär jüngeren Aspekte empathischer Fähigkeiten lösen also keinesfalls die evolutionär älteren, grundlegenden Fähigkeiten der Empathie (z.B. emotional contagion) ab, sondern entwickeln sich auch beim Menschen erst mit dem Lebensalter. Die verschiedenen Aspekte sind daher nicht als voneinander getrennt zu verstehen, sondern funktionieren im Zusammenspiel.
Hier wird abermals deutlich, dass eine Differenzierung der Empathie in einen kognitiven sowie einen affektiven Anteil sowohl inhaltlich als phylogenetisch und ontogenetisch sinnvoll zu sein scheint. Der Dualismus von kognitiven und affektiven Empathieaspekten ist u.a. auf Davis (1980, 1983) zurückzuführen, der in seinem Interpersonal Reactivity Index (IRI) vier verschiedene Faktoren von Empathie beschreibt, die jeweils der affektiven bzw. kognitiven Komponente zuzuordnen sind. Davis unterscheidet grundlegend in dem bereits vorgestellten Dualismus affektiv und kognitiv, den er in vier Faktoren untergliedert. Diese sind als Summe von möglichen Reaktionen beim Zusammentreffen von Menschen zu verstehen. Dies unterstützt die Ansicht, dass innerhalb des angenommenen Dualismus der kognitiven und affektiven Anteilen von Empathie eine enge Verwobenheit herrscht, sodass beide Anteile nötig sind, um sich sozial einfühlsam zu zeigen (vgl. Baron-Cohen & Wheelwright, 2004).
Davis beschreibt innerhalb der Emotionserkennung (kognitive Komponente) vor allem das perspective taking: „In particular, the PT [perspective taking] scale, the most clearly "cognitive" of the four IRI scales, should be most highly correlated with other "cognitive" empathy scales and least highly related to "emotional" empathy measures” (Davis, 1983, S. 116). Das perspective taking bezieht sich folglich auf die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Perspektivübernahme, wie sie bereits in diesem Kapitel beschrieben worden sind. Allerdings beschreiben viele Autoren der heutigen Forschungslage, beispielsweise Rogers und Kollegen (2007), die fantasy scale ebenfalls eher als kognitive Komponente. Die fantasy scale meint vor allem emotionale Reaktionen bei der Konfrontation mit fiktiven Charakteren sowie die Fähigkeit, in fiktiven Geschichten als Akteur zu handeln, die jedoch eine kognitive Vorleistung hinsichtlich der empathischen Reaktion erfordert. Walter (2012) unterteilt die kognitive Komponente der Empathie ebenfalls in zwei Aspekte, allerdings in eine kognitive und eine affektive Theory of Mind [4]. Ersteres meint die Antizipation der mentalen Prozesse anderer Menschen, die sich vor allem auf Kognitionen und Kenntnisse bezieht, während Letzteres die Antizipation der entsprechenden Emotionen und Affekte der entsprechenden Person dazu meint. Im Vergleich mit Davis‘ (1980) Unterteilung der kognitiven Komponente würden die zwei Komponenten der Theory of Mind nach Walter (2012) ganzheitlich im perspective taking (Davis, 1980) dargestellt werden. Die fantasy scale findet bei Walter (2012) keine Entsprechung. In Davis ursprünglicher Auffassung würde die fantasy scale außerdem auch nicht in dem Maße der kognitiven Komponente zuzuordnen sein, wie das perspective taking: „The other three scales (FS, EC, PD) [fantasy scale, empathic concern, personal distress] seem more related to emotional responsiveness and should therefore display the opposite pattern of relationships with existing empathy measures” (Davis, 1983, S. 116).
Weiter beschreibt Davis (1980) zur affektiven Komponente empathic concern, was die Fähigkeit beschreibt, Emotionen des Gegenübers nachvollziehen und mitfühlen zu können, was eine große Übereinstimmung mit dem bereits vorgestellten empathic concern vorweist. Die letzte Komponente ist personal distress, welche als eher egozentrisches Konstrukt die eigenen (meist negativen) Emotionen der Person in angespannten sozialen Situationen beschreibt. Personal distress meint auch die Betroffenheit des Beobachters bei der Konfrontation mit anderen Menschen in belastenden Situationen. Wenn eine zu große Betroffenheit beim Beobachter herrscht bzw. dieser seine Emotionen nicht regulieren kann, verbleibt der Fokus egozentrisch auf der eigenen Person, womit eine erfolgreiche soziale Interaktion und prosoziales Verhalten gehemmt werden (vgl. Eisenberg et al., 2007; Eisenberg, Sadovsky, Smith, & Spinrad, 2004; Walter, 2012). Ergo ist die Emotionsregulation ein entscheidender Bestandteil zur Einleitung empathischen Verhaltens, der in Forschungen innerhalb des personal distress untersucht wird (z.B. Eisenberg & Eggum, 2009). Walter (2012) beschreibt als Gegensatz zu personal distress sympathy bzw. Mitgefühl (in Verbindung mit dem Wunsch, zu helfen) als Förderfaktor prosozialen Verhaltens.
Viele Empathiedefinitionen enthalten trotz direkten Bezugs zum Erleben und Verhalten von Menschen selten direkte Verhaltensbeschreibungen oder -konsequenzen. Deshalb beschreibt Ekman (z.B. Ekman & Friesen, 2003; Goleman & Ekman, 2007) Empathie nicht als Emotion, sondern als Reaktion auf die Emotion eines anderen Menschen, wobei sich hier ebenfalls die kognitive und affektive bzw. emotionale Empathie unterscheiden lässt. Erstere sorge für die Emotionserkennung, Letztere für das Mitfühlen. Entscheidend ist allerdings die Hinzunahme einer dritten Komponente, wodurch der Dualismus aufgehoben wird: Das Mitleid, was den ausschlaggebenden Handlungsimpuls erzeugt.
Auch Batson et al. (1987) gehen auf die Verhaltensfolgen ein, in dem sie zwischen anderer- und selbstorientierter Empathie unterscheiden. Als Grundlage dienen die zwei grundsätzlich verschiedenen (empathischen) Reaktionsfoki auf ein Gegenüber in Notsituationen: eine selbstbezogene (personal distress) sowie eine fremdbezogene (empathy bzw. empathic concern) innerpsychische Reaktion. Selbstorientierte Empathie bezieht sich vor allem auf das Erleben des Beobachters, sodass eine Parallele zu Davis (1980) personal distress besteht. Diese empathische Reaktion kann durch Emotionen wie Aufregung, Unruhe, Stress und Unsicherheit gekennzeichnet sein (vgl. Paulus, 2014). Daraus entsteht die (Handlungs-)motivation, diese unangenehmen Emotionen schnellstmöglich abzustellen, was als eine Art Emotionsregulation betrachtet werden kann. Das wiederum kann aktiv durch altruistisches Einschreiten in der Situation als auch passiv durch die Flucht aus der Situation erreicht werden. Prosoziales Verhalten könnte also durch personal distress, wie bereits erläutert, gehemmt werden, wenn die Fluchtmöglichkeit aus der Situation die nähere Emotionsregulationsmöglichkeit darstellt. Allerdings beschreiben Batson et al. (1987) unter der selbstorientierten Empathie nicht nur Emotionen, die prosoziales Verhalten hemmen. Beispielsweise kann Schuld in Zusammenhang mit einem sozialen Selbstbild prosoziales Verhalten fördern, indem der Handlungsimpuls zum Begleichen der empfundenen Schuld gesendet wird (z.B. Schwartz & Howard, 1982). Dagegen kann die anderer-orientierte Empathie, empathic concern, beim Beobachtenden warmherziges Mitgefühl, aktive Hilfe oder Konfliktmanagement erzeugen. Damit ist diese zweite empathische Reaktionsmöglichkeit auf ein Gegenüber in Notsituationen sehr viel weniger auf das eigene Befinden, sondern auf das Befinden des Gegenübers ausgerichtet. Als (Handlungs-)Impuls entsteht dadurch eine altruistische Motivation, dem Gegenüber zu helfen (Batson et al., 1987; Paulus, 2014). Als negative Beispiele der anderer-orientierten Empathie beschreiben Batson et al. (1987) gezielte Täuschungsversuche. Das Modell von Batson et al. (1987) erscheint somit insgesamt in der Hinsicht ausgewogener, als dass in allen Aspekten „positive“ als auch „negative“ Verhaltenskonsequenzen erscheinen können.
Insgesamt soll sich in dieser Arbeit am Konzept von Davis (1980) orientieren, ohne aber die Entwicklungsschritte oder die Verhaltenskonsequenzen empathischen Erlebens und Verhaltens außer Acht zu lassen.
2.2. Stress
Der Begriff „Stress“ findet seine Wortherkunft mit stringere im Lateinischen, was „etwas zusammenziehen“ oder „etwas eng ziehen“ bedeutet (vgl. Kluge, 1894). Hier wird bereits deutlich, dass die heutige alltagssprachliche Bedeutung mit körperlichen oder psychischen Belastungsfaktoren eine Diskrepanz zu dieser eher technischen Semantik aufweist. Tatsächlich hat das Wort Stress lange Zeit eher im Ingenieurswesen Anwendung erhalten, um die Kraft zu beschreiben, die auf ein Objekt bzw. eine Maschine einwirkt, und es kurz- oder langfristig verändert (Lazarus, 1964). Aus heutiger Sicht ist in dem Maße eine defizitorientierte Übereinstimmung dieser zwei Bereiche zu verzeichnen, als dass es in beiden Fällen um die Möglichkeit einer Schwächung eines Systems durch Stress geht (vgl. Franke, 2012).
Bereits in Selyes (1950) biologischen Modell ist Stress vor allem eine Reaktion eines Organismus auf aktuelle Reize oder körperliche bzw. seelische Belastungen, die absolut natürlich und adaptiv-protektiv ist, denn diese Belastungsfaktoren stören das Gleichgewicht des Organismus (Selye, 1950)[5]. Auch Zimbardo (1995) geht in seiner Definition von Stress auf die nötige Adaption des Organismus als Reaktion auf die Gleichgewichtsstörung ein:
Streß ist ein Muster spezifischer und unspezifischer Reaktionen eines Organismus auf Reizereignisse, die sein Gleichgewicht stören und seine Fähigkeiten zur Bewältigung strapazieren oder überschreiten. Diese Reizereignisse umfassen eine ganze Bandbreite externer und interner Bedingungen, die allesamt als Stressoren bezeichnet werden. Ein Stressor ist ein Reizereignis, das vom Organismus eine adaptive Reaktion verlangt. . Zimbardo, 1995, S. 575
In der psychologischen Stressforschung sind insbesondere Stressoren relevant, die körperliche oder seelische bzw. psychische Belastungsfaktoren darstellen, an die sich der Mensch anpassen muss, damit sie verarbeitet bzw. bewältigt werden können (Kaluza, 2015). Kaluza unterscheidet dabei vierteilig zwischen sozialen (z.B. Isolation, Mobbing), körperlichen (z.B. chronischen Krankheiten, Schlafmangel), physikalischen (z.B. Lärm) sowie Leistungsstressoren (z.B. Leistungsdruck). Leistungsstressoren würde dabei in einer anderen Einteilung von Struhs-Wehr (2017) eher zu organisationalen Stressoren gehören, welche Belastungen ausschließlich auf das Arbeitsumfeld beziehen. Weiter unterscheidet Struhs-Wehr dreiteilig in psychosoziale und persönliche Stressoren, wobei Erstere soziale Belastungen wie Streit aber auch Alltagsprobleme bezeichnen, und Letztere vor allem persönliche Einstellungen und Erklärungsmodelle darstellen. Bereits diese zwei Einteilungskonzepte verdeutlichen die Vielfalt belastender Faktoren.
Trotz dessen wird die Beleuchtung von Stress als Belastung dem Konzept bei Weitem nicht gerecht – tatsächlich ist Stress unabdingbar für den Menschen und sogar wesentlich für das Überleben. Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts beschreibt Cannon (1929) unter störenden Einflüssen erstmals Stress als Reaktion auf Notsituationen (fight-or-flight), die erst eine schnelle Handlung des Organismus ermöglicht. Demnach befindet sich der Organismus in diesen Situationen in einem Stresszustand, in dem der Körper in eine erhöhte Aktivierung versetzt wird, die sich günstig auf kognitive Fähigkeiten oder die Muskelarbeit auswirkt. Aus evolutionärer Sicht ist dies eine essentielle, automatische Reaktion, die schnell Energie für einen Kampf oder eine Flucht bereitstellt. Neben der Konfrontation mit (Fress-)Feinden spielt diese Reaktion auch bei Belastungen wie Kälte oder Hunger eine große Rolle (Struhs-Wehr, 2017). Die vielfältigen koordinierten physiologischen Reaktionen des Körpers werden im bereits erwähnten Modell von Selyes (1950) zum allgemeinen Adaptionssyndrom erläutert (GAS: general adaption syndrom). Das Modell wird nachfolgend zur Verdeutlichung der physiologischen Stressreaktionen beschrieben:
Selye (ebd.) unterteilt den Verlauf des Adaptionssyndroms zeitlich in drei Stadien: die Alarmphase (alarm reaction), die Resistenzphase (stage of resistance) sowie die Erschöpfungsphase (stage of exhaustion). In der ersten Phase kommt es bei Exposition mit Stress zu einer körperlichen unspezifischen Adaption. Es werden u.a. vermehrt Stresshormone ausgeschüttet. Diese Hormone bewirken eine Steigerung des Pulses, des Blutdrucks und des Blutzuckerspiegels. Durch diese Aktivierung steht in kurzer Zeit mehr Energie zu Verfügung, weshalb auch die Leistungsfähigkeit zunimmt. Außerdem werden durch diese Hormone das Immunsystem sowie Entzündungen unterdrückt. Deutlich wird dies in dem häufigen Phänomen der Krankheit zu Beginn einer Urlaubsphase (Stress und damit verbundene Hormone sinken). Die zweite Phase des Widerstandes setzt ein, wenn die Stressorexposition weiter anhält. Der Körper reagiert mit dem Versuch, das Stressniveau zu senken, indem er z.B. die Stresshormonausschüttung verringert. Da dies nur für einen begrenzten Zeitraum möglich ist, kommt es bei weiter andauernder Exposition mit dem Stressor zur dritten und letzten Phase der Erschöpfung. In dieser Phase können körperliche Langzeitschäden durch chronischen Stress auftreten, wie z.B. Magengeschwüre oder eine Vergrößerung der Nebennierenrinde.
Insgesamt wird besonders in der ersten Phase der positive Nutzen von Stress deutlich. Allerdings werden in Selyes Modell psychische Reaktionen vollständig ausgeschlossen (vgl. Lazarus & Folkman, 1984). Außerdem kann die Annahme der unspezifischen körperlichen Reaktionen nicht vollständig bestätigt werden (vgl. Kaluza, 2015). Dagegen können einige Annahmen mit heutiger Forschung konkretisiert werden (vgl. Kaluza, 2015; vgl. Struhs-Wehr, 2017): Demnach kommt es tatsächlich zu einer Steigerung von Blutdruck, Puls und Blutzuckerspiegel, durch den die Leistungsfähigkeit gesteigert wird. Dies geschieht durch die Wahrnehmung und Kategorisierung des Reizes als Bedrohung, wodurch das limbische System aktiviert wird. Die Verarbeitung des Reizes im limbischen System, insb. der Amygdala, ist wesentlich für die Energetisierung des Körpers, denn dort wird der Reiz emotional bewertet. Dies geschieht durch einen Abgleich des Stressors mit früheren Erfahrungen der Lerngeschichte (hier besonders vergangene Gefahrensituationen in Verbindung mit diesem Stressor). Nach diesem Abgleich wird der Stressor emotional bewertet, was schließlich die emotionale Reaktion auslöst (z.B. Angst, Wut, Panik). Daraufhin spielt die Sympathikus-Nebennieren-mark-Achse eine Rolle, indem reaktiv Noradrenalin ausgeschüttet wird. Dadurch wird der Sympathikus aktiviert, der wiederum selbst Noradrenalin ausschüttet und seinerseits zu einer Stimulation des Nebennierenmarks führt (noradrenerges System). Dort wird deshalb Adrenalin ausgeschüttet, was letztlich zu dem bereits genannten Effekt des Anstiegs von Puls, Blutdruck und Blutzuckerspiegel führt. Insgesamt ist der Körper so leistungsfähiger. Daneben sind spannende neurologische Zustände im Gehirn zu beobachten, denn durch die Noradrenaline werden wiederum auch neurotrophe Stoffe freigesetzt, die wachstumsförderlich auf die Bildung von Synapsen und Axonen wirken. Dadurch ist neben der Leistungs- auch die Lernfähigkeit erhöht. Wenn die Stresssituation dann bewältigt wird, werden sog. „Glückshormone“ (z.B. Dopamin oder Serotonin) ausgeschüttet, was den Körper aus der starken Aktivierung entlässt (vgl. Kaluza, 2015; vgl. Struhs-Wehr, 2017).
Hält die Stresssituation an, muss der Körper die erhöhte (sympathische) Aktivierung beibehalten. Dazu werden nochmals das limbische System und auch der präfrontale Cortex verstärkt aktiviert. So kommt es zu einer Aktivierung und Stimulation des Hypothalamus sowie der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Insgesamt führt die Aktivierung der Nebennierenrinde schließlich zur Freisetzung des bekannten Stresshormons Cortisol, das zu den Glukokortikoiden gehört. Auch adrenocorticotrope Hormone wie ACTH oder Katecholamine spielen eine Rolle. Ruhe oder Bewegung tragen dann schließlich zum Abbau nötigen der Stresshormone bei. Nur mit diesen Mechanismen ist eine verlängerte Aktivierung des Körpers mit der erhöhten Leistungsfähigkeit in anhaltenden Stresssituationen möglich (vgl. Kaluza, 2015; vgl. Struhs-Wehr, 2017).
Was zum im Allgemeinverständnis zur negativen Konnotation von Stress geführt hat, könnten die Auswirkungen von chronischem Stress sein: Wenn es sich nicht mehr um kurzweilige Stressphasen handelt, sondern der Stress durchgehend und/oder ohne Ruhepausen stattfindet, hat der Körper keine Möglichkeit zum Herunterregulieren der Aktivierung oder zum Abbau der Stresshormone. Dadurch wird das frühere, innere Gleichgewicht (Ruhezustand) auf ein erhöhtes Niveau verlagert, sodass keine wesentliche Erholung möglich ist (Kaluza, 2015; Struhs-Wehr, 2017). Durch den erhöhten Cortisolspiegel wird auch die oben beschriebene Neubildung von Neuronen oder Axonen sogar soweit behindert, dass sich Axone zurückbilden können. Chronisch gestresste Menschen berichten zusätzlich oft von Versagens- und Ohnmachtsgefühlen bzgl. ihrer Selbstwirksamkeit, was zur Erkenntnis der Rezeptorreduktion der „Glücks“- oder „Belohnungshormone“ unter chronischen Stress passt. Der geringere Einfluss von Dopamin, Serotonin und Noradrenalin kann dann wiederum zu Konzentrations- und Gedächtnisstörungen führen. Stress formt also offenbar das Gehirn:
Die Streßreaktion ist offenbar nicht nur der große Lenker, der immer wieder dafür gesorgt hat, daß im Lauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung genetische Programme stabilisiert wurden, die das Gehirn immer größer und lernfähiger werden ließen. Die Streßreaktion ist auch der große Modellierer, der sogar noch im Lauf unseres Lebens immer wieder dafür sorgt, daß zunächst zwar richtige, sich später aber als Sackgassen erweisende Verschaltungen aufgelöst und neue Wege eingeschlagen werden können. Und in beiden Fällen ist der Auslöser dieser Reaktion die Angst. Hüther, 2016, S. 27
Hüther (2016) beschreibt die neuronale „Degeneration“ des Gehirns durch chronischen Stress als zentrales Adaptionssyndrom. Als psychische Folgeerkrankungen von Stress werden weiter oft Schlafstörungen berichtet, aber auch psychiatrische Störungen, wie Depressionen, Sucht, Zwang oder Angststörungen können auftreten (vgl. Struhs-Wehr, 2017). Daneben können körperliche Folgeerkrankungen wie Herzinfarkte, Immunschwächen oder Magengeschwüren ebenfalls stressbedingt auftreten (vgl. Kaluza, 2015). Psychische und körperliche Folgeerkrankungen können wiederum zu sozialen Folgen wie Isolation, zu individuellen wirtschaftlichen Folgen wie Arbeitsplatzverlust, oder auch zu persönlichen Folgen wie Lebenssinnkrisen führen.
Selyes allgemeines Adaptionssyndrom (1950) oder auch Hüthers zentrales Adaptionssyndrom (2016) treten summa summare dann auf, wenn keine Adaption der Person an die Umwelt möglich bzw. die individuelle Stresstoleranzgrenze überschritten ist. Was dabei schon angedeutet wurde: Ob Stress dabei überhaupt als belastend erlebt wird, hängt im Wesentlichen von der individuellen Wahrnehmung und Interpretation, also dem Stresserleben ab (Zimbardo, 1995)! Zwar sind die oben beschriebenen körperlichen Stressreaktionen autonom und unwillentlich, allerdings scheinen die psychischen Reaktionen auf Stress durch Erlebens-, Denk- und Verhaltensmuster zu einem Lernprozess zu führen. Beispielsweise könnte der Alltag eines Musikers durchaus als belastend und stressig von außen bewertet werden – der Musiker selbst könnte diesen „stressigen“ Alltag allerdings ganz konträr bewerten, wenn dies seine Leidenschaft ist. Auch kann man dabei an die sog. „Flow-Erlebnisse“ denken, bei denen das Anforderungsniveau, das inhärent mit Stress einhergeht, den Fähigkeiten genau entspricht. Daher wird es nicht als belastend erlebt (percieved stress), sondern im Gegenteil belohnend. Selye (1976) unterscheidet deshalb zwischen eu -Stress, also gesunderhaltendem, und dis -Stress, also krankmachendem Stress. Unter Eu-Stressoren zählen Faktoren, die zwar zu einer Beanspruchung führen, sich aber insgesamt durch eine erhöhte Aufmerksamkeit und damit mehr Leistungsfähigkeit ohne körperliche Schäden positiv auswirken (ebd.). Beispielsweise kann es sich dabei um den Belastungsfaktor einer Abschlussarbeit handeln, der aber motivierend wirkt, sodass der Absolvierende seine Ressourcen ausschöpft, um eine gute Abschlussarbeit zu schreiben. Besonders wirksam ist dabei eine intrinsische Motivation, wobei aber auch extrinsische Motivationen zu einem Eu-Stress mit einem großen Belohnungserlebnis führen können. Auch das bereits erwähnte Beispiel des Musikers würde dazu zählen, denn er selbst würde seinen Arbeitsalltag bestenfalls zu Eu-Stress zählen. Wenn Eu-Stress häufiger auftritt, führe dies demnach auch langfristig zu einer guten psychischen und physischen Funktionsfähigkeit eines Organismus, sodass auch Krisensituationen gut bewältigt werden könnten. Vergleichbar wäre dies mit internalen Kontrollüberzeugungen bzw. Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. z.B. Lefcourt, 1991), denn durch positive Erfahrungen in Verbindung mit Eu-Stress kann die Überzeugung entstehen, sein Leben selbstbestimmt verändern und gestalten zu können. Dies ermöglicht in konkreten Lebensrealitäten, den Blick für individuelle immanente Handlungsoptionen freizugeben und langfristig Resilienz aufzubauen (Armbruster, 2015; Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2011). Insgesamt wird deutlich, dass die Bewertung eines Reizes sowie die individuelle Lerngeschichte, inklusive Selbstwirksamkeitserwartung, Kontrollüberzeugungen und der wahrgenommenen Optionsmacht, einen Großteil zum erfolgreichen Bewältigen der Stresssituation (coping) beitragen.
Im Reiz-Reaktions-Modell von Lazarus und Folkmann (1984) können der Ansatz, dass Stress vor allem eine Reaktion des Organismus auf Reize ist (wie bei Zimbardo (1995) oder Selye (1950)) mit dem Ansatz von Stressoren, an die sich das Individuum anpassen muss (z.B. Kaluza, 2015) zusammengeführt werden. Demnach ist besonders die Beziehung zwischen dem Reiz (Stressor) und der Reaktion entscheidet. Das allgemeingültige Verständnis von „Stress“ fußt nach Lazarus und Folkmann sowohl auf einem Auslöser bzw. einem Reiz, als auch auf einer Reaktion, die nicht separat betrachtet werden können. Erst anhand der Beziehung zwischen Reiz und Reaktion sollte nach Lazarus & Folkmann (1984) Stress definiert werden, was gut zum Stresskonzept Dis- und Eu-Stress passt: Die Bewertung (appraisal) des Individuums, die inhärent zu einer Beziehung zwischen Individuum und Reiz führt, ist entscheidend dafür, ob die Situation als belastend oder nicht wahrgenommen wird. Ein Reiz wird also erst dann als „Stressor“ kategorisiert, „when it produces a stressful behavioural or physiological response“ (ebd., S. 15). Und auch die Reaktion des Individuums wird erst dann als „Stress“ gewertet, „when it is produced by demand, harm, threat, or load“ (ebd., S. 15). Somit nimmt auch dieses Modell an, dass vor allem das individuelle Stressempfinden entscheidend ist. Der gleiche Stressor kann demnach bei unterschiedlichen Personen als unterschiedlich belastend oder auch gar nicht belastend wahrgenommen werden kann. In dieser Arbeit soll sich folglich vor allem am Stressempfinden orientiert werden.
2.3. Persönlichkeit
Persönlichkeit, Charakter oder auch Temperament wurden insbesondere hinsichtlich ihrer Bedeutung und Abgrenzung schon in der Antike diskutiert. Heute beziehen Autoren verschiedene Aspekte aus verschiedenen Erklärungsmodellen mit ein, sodass Persönlichkeit als ein kontextabhängiger Begriff bezeichnet werden könnte. Da Persönlichkeitseigenschaften bis zu einem gewissen Grad als Prädiktoren des menschlichen Erlebens und Verhaltens verstanden werden (Caprara & Cervone, 2000), wird in dieser Arbeit ein Einfluss der Persönlichkeit auf den Zusammenhang von Stress und Empathie angenommen. Weil sich die Persönlichkeit aber aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten lässt, sollen diese nachfolgend kurz beschrieben werden, bevor insbesondere die „Big Five“ vorgestellt werden (Allport, 1937; Allport & Odbert, 1936; Costa & McCrae, 1997). Dabei wird auf Temperaments- und Konstitutionstypologien, psychoanalytische und behaviourale Theorien, die Theorie des Selbstkonzeptes und die Sozial-Kognitive-Lerntheorie, kognitive sowie (neo-)humanistische Persönlichkeitstheorien kurz eingegangen.
Bereits Hippokrates beschreibt mit sogenannten Temperamentstypologien die Persönlichkeit des Menschen mit Hilfe zweier Achsen: Extrovertiertheit-Introvertiertheit und Stabilität-Instabilität (vgl. Werner, 2007). Dabei ergeben sich vier Typen, die inhaltlich relativ große Überschneidungen zu den vier Typen bekannten Typen (Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker) von Eysenck oder Kant aufweisen (vgl. Hans J. Eysenck & Eysenck, 1987; vgl. Kant, 1838). Die Persönlichkeitsdefinition von Eysenck & Eysenck[6] (1987) stammt ebenfalls aus dem Feld der Temperamentstypologien. Generell werden in dieser Betrachtungsweise werden nicht nur psychische, sondern auch physische Merkmale als persönlichkeitsgebend oder sogar -beeinflussend angesehen. Die These, dass der optische Körperbau die Persönlichkeit beeinflusst, ist heute zum größten Teil verworfen, jedoch werden biologische und neuronal bedingte Persönlichkeitsunterschiede weiterhin untersucht.
Dagegen fokussieren Konstitutionstypologien fast ausschließlich dieses optisch erkennbare, physische Erscheinungsbild. Als Vertreter sind Kretschmer oder Sheldon zu nennen, die leptosome, athletische und pyknische (vgl. Kretschmer, 1922) bzw. endo-, meso oder ektomorphe Typen (vgl. Sheldon, Stevens, & Tucker, 1940) unterscheiden. Diesen Typen ordnen sie jeweils typische Persönlichkeitseigenschaften zu, sodass es sich hierbei mehr oder weniger um einen reaktiven Ansatz handelt, bei dem der Mensch lediglich auf biologische Gegebenheiten reagiert. Dabei sind diese biologischen Gegebenheiten determiniert, sodass sich auch eine Determination der Persönlichkeit ergibt.
Diesen reaktiven Annahmen stehen die p sychoanalytischen Theorien entgegen. Hier gilt das Prinzip der psychischen Determiniertheit, bei dem intrapsychische, meist unbewusste Prozesse statt biologischer Gegebenheiten das Erleben und Verhalten der Menschen bestimmen. Als einer der ersten und bis heute bekanntesten Vertreter beschrieb Freud die Persönlichkeitsstruktur zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts als psychischen Apparat mit „ES“, „ÜBER-ICH“ und „ICH“, der durch die Triebe Libido und Thanatos mit Energie versorgt und gelenkt wird. Dadurch entsteht ein ständiger Konflikt zwischen ICH, ES und ÜBER-ICH. Insbesondere das ES mit Triebwünschen wie Nahrung und Sex steht durch das Lustprinzip ohne Belohnungsaufschub in Konflikt mit den Anforderungen des ÜBER-ICHs (Leistungsprinzip, Sittlichkeit, ..), der durch das ICH u.a. vermittelt und gelöst werden muss. Die Lösung geschieht zumeist auch durch Abwehrmechanismen (Freud, Hoffer, Kris, Isakower, & Bonaparte, 1987). Als zweiten Kernpunkt der Freud’schen Persönlichkeitstheorie ist die Entwicklung dieser zu nennen: Nach Freud entwickelt sich die Persönlichkeit in den sog. oralen, analen, phallischen, Latenz- und den genitalen Phasen, in der jeweils Entwicklungsaufgaben zu bewältigen sind (Freud, 1910; ebd. Freud u. a., 1987). Nicht gelöste oder bewältigte Entwicklungsaufgaben haben demnach auch einen Anteil an psychischen Störungen. Auch Murray (1943) kann als Vertreter der psychoanalytischen Theorien zur Beschreibung der Persönlichkeit betrachtet werden. In seinem Modell werden allerdings Freuds Triebe durch psychogene Personenmerkmale (needs) ersetzt, die im Gegensatz zum Umweltdruck der situationalen Merkmale (presses) stehen.
Wird die Persönlichkeit mit Hilfe von Verhaltensbeobachtungen beschrieben, kann vom behavioristischen Ansatz gesprochen werden. Dieser sieht Persönlichkeit als „Endprodukt unserer Gewohnheitssysteme“ (Watson, 1968, S. 270), wodurch eine Beschreibung von Persönlichkeit durch die Summe aller Aktivitäten (Gewohnheiten) möglich wird. Eine Betrachtung der innerpsychischen Vorgänge findet dabei nicht statt, da der Fokus eindeutig auf dem Verhalten liegt.
Eine Vereinigung der scheinbar antagonistischen psychoanalytischen und behavioralen Modellannahmen stellt die Sozial-Kognitive Lerntheorie (S-O-R-Modell) nach Rotter, Chance & Phares (1972) dar. Sie postulieren eine Verhaltensformel, mit der man das Verhalten einer Person vorhersagen kann. Darin enthalten sind das Verhaltenspotential, die psychologische Situation sowie die internalen und externalen Kontrollüberzeugungen. Im Modell ergibt sich das Verhalten aus interaktiven Effekten, die sich zwischen der Person und der Situation abspielen. Die Kontrollüberzeugungen des Individuums, sowie alle potentiell möglichen Reaktionen in der Situation werden demnach als Persönlichkeit beschrieben. Dadurch sind sowohl die inneren Bedürfnisse mit den sich daraus ergebenden Konflikten, als auch die durch Erfahrungen erlernten Verhaltensgewohnheiten berücksichtigt. Erwähnenswert ist, dass auch die Theorie des Modelllernens nach Bandura (1999b) zum Ansatz der Sozial-Kognitiven-Lerntheorien gezählt werden kann, und somit ebenfalls im Kontext von Theorien zur Persönlichkeitsbeschreibung diskutiert werden kann.
In Kellys Theorie zur Persönlichkeit (1970, 1991) ist ebenfalls eine Verhaltensvorhersage möglich. Diese Theorie ist eine der kognitiven Persönlichkeitstheorien, bei der die Persönlichkeit als individuelle Konstruktion über die eigene Person mit persönlichen Erfahrungen sowie der gegebenen Umwelt beschrieben wird. Dies geschieht auf eine interindividuelle und subjektive Art und Weise beschrieben, wodurch sich individuelle Verhaltensfolgen ergeben. Diese individuellen Konstrukte können schließlich als Ordnungsprinzip verstanden werden, das das Fühlen, Denken und Handeln beeinflusst. Das Ordnungsprinzip ermöglicht die erwähnte Verhaltensvorhersage aufgrund der individuellen Konstrukte aus Selbstbild, Erfahrungen und Umwelt. Insgesamt stellt die Persönlichkeit hier ein informationsverarbeitendes System (Black Box) dar, das subjektiv und vor allem vom Denkstil der jeweiligen Person abhängig ist.
Subjektive und kognitive Repräsentationen der eigenen Person bestehen auch in der Theorie des Selbstkonzeptes nach James (1890). Diese werden innerhalb seiner Theorie als me bezeichnet. Diese Repräsentationen (me) erfolgen durch die eigene Person, also sich selbst (I). Innerhalb dieses Konzeptes stellt das Selbstwertgefühl (self-esteem) die affektiv-bewertende Komponente dar. Alle Komponenten zusammen beeinflussen die Wahrnehmung und Interpretation von selbstbezogenen Informationen. Folglich wird auch das Verhalten beeinflusst.
Maslows Motivationstheorie (1987) sowie die Theorie der Selbstaktualisierung von Rogers (1959, 2016) können zu den humanistischen Persönlichkeitstheorien gezählt werden. In Rogers Theorie führt die Aktualisierungstendenz als quasi angeborenes Belohnungssystem des Menschen zur Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse, wodurch auch Erfahrungen mit dem eigenen Selbstkonzept gemacht werden. In diesem Erklärungsmodell der Persönlichkeit wird das Selbstkonzept als Persönlichkeit immer wieder durch neue Erfahrungen aktualisiert, was (zumeist) als belohnend erlebt wird. Wenn die organismische Bewertung mit dem Bedürfnis nach Selbstachtung und positiver Wertschätzung durch andere übereinstimmt, spricht man nach Rogers von einer sog. funktionierenden Person. Es sind folglich ein Real- als auch ein Ideal-Ich zu verorten, denn nur bei einer funktionierenden Person mit Übereinstimmung der organismischen Bewertung und den Bedürfnissen nach Selbstachtung und positiver Wertschätzung ist ein Wachstumspotential gegeben.
Die Theorie der Selbstdetermination (Deci, Koestner & Ryan, 1999; Deci & Ryan, 1985) zählt zu den neo-humanistischen Ansätzen. Hier wird der Mensch im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach Integration und Kohärenz, sowie Autonomie und Homonomie betrachtet. Der Zusammenhang von gesundheitlichem Wohlbefinden und Motivation wird dementsprechend sehr umfassend beleuchtet: Demnach ist das Erreichen von Zielen, die mit der Befriedigung von (psychologischen) Grundbedürfnissen einem größerem Wohlbefinden assoziiert. Auch eine intrinsische Motivation wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden aus. Wenn diese Bedürfnisse angemessene Befriedigung finden, spricht man von einer gelungenen Entwicklung.
Nach dieser Auswahl an möglichen Blickwinkeln zur Betrachtung der Persönlichkeit soll Persönlichkeit in dieser Arbeit nun ausschließlich als zeitlich relativ stabile und überdauernde psychische Eigenschaften betrachtet werden, die ein konsistentes Muster des Fühlens, Denkens und Verhaltens nach sich zieht (Pervin, Cervone, & John, 2005). Diese Betrachtungsweise ermöglicht es, Persönlichkeit als Prädiktor des Erlebens und Verhaltens zu verstehen, wonach eine Verhaltensvorhersage für Personen mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften für bestimmte Situationen möglich ist (Caprara & Cervone, 2000). Passend dazu beschreibt bereits Cattell (1945) die Persönlichkeit als konsistente, ausdrücklich nicht-situative Verhaltensbedingungen, die in der Person selbst liegen. Auch die soziale Interdependenz spielt eine große Rolle in der heutigen Persönlichkeitsbeschreibung. Dieses Spannungsfeld beschreibt Fiedler in seiner Persönlichkeitsdefinition, an dem sich in dieser Arbeit orientiert werden soll:
Persönlichkeit bzw. Persönlichkeitseigenschaften eines Menschen sind der Ausdruck der für ihn charakteristischen Verhaltensweisen und Interaktionsmuster, mit denen er gesellschaftlich-kulturellen Anforderungen und Erwartungen zu entsprechen und seine zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Suche nach einer persönlichen Identität mit Sinn zu füllen versucht. Fieder, 2012, S. 2
Als theoretische Grundlage der Persönlichkeit soll in dieser Arbeit daneben die Eigenschaftstheorie dienen, innerhalb derer Persönlichkeit als quantifizierbare, also auch messbare, Ausprägungen von Eigenschaften (traits) betrachtet wird. Diese Eigenschaften werden von Allport (Allport, 1937; Angleitner & Riemann, 2009) als Konstrukte der Neuropsyche beschrieben, die dazu führen, dass die wahrgenommenen Umweltreize funktional äquivalent werden und zu sinnvollen sowie konsistenten (äquivalenten) Verhaltensweisen führen. Die Wahrnehmung von Reizen und Situationen wird durch die Persönlichkeitseigenschaften einer Person beeinflusst, sodass beispielsweise Personen mit bestimmten Eigenschaften (z.B. Risikofreudigkeit) in risikobehafteten Situationen ein anderes Verhalten zeigen als Personen, die diese Eigenschaften nicht vorweisen.
Innerhalb der faktorenanalytischen Theorien steht der psycholexikalische Ansatz (Baumgarten, 1933; Klages, 1926), nach dem wesentliche Persönlichkeitseigenschaften sprachlich widergespiegelt werden. Demnach müsse eine faktorenanalytische Sprachanalyse mit Bildung übergeordneter Dimensionen zur Identifikation und Nutzbarmachung der wesentlichen Kerndimensionen der Persönlichkeit führen (John, Angleitner, & Ostendorf, 1988). Ein Modell mit diesen benannten übergeordneten Persönlichkeitsdimensionen, das allerdings auch spezielle Persönlichkeitsmerkmale aufgrund der hierarchischen Struktur bietet, ist das Fünf-Faktoren-Modell nach Costa & McCrae, auch „Big Five“ genannt. Jede der fünf Dimensionen (bzw. Faktoren) weist sechs Facetten auf, wobei jede Facette wiederum acht spezifische Items zum individuellen Erleben und Verhalten enthält. Dadurch sind auch spezifische Persönlichkeitsmerkmale berücksichtigt (enthalten im von Costa & McCrae entwickelte NEO-PI-R (Costa & McCrae, 1997; Ostendorf & Angleitner, 2004)). Die fünf Kerndimensionen konnten in zahlreichen Untersuchungen immer wieder nachgewiesen werden und gelten aktuell als anerkanntes Modell (bspw. Fiske, 1949; Goldberg, 1990; Paunonen, 2003; Tupes & Christal, 1992): Neurotizismus (N neuroticism), Extraversion (E extraversion), Verträglichkeit (A agreeableness), Gewissenhaftigkeit (C conscientiouness), sowie Offenheit für Erfahrungen (O openness to experience) (Costa & McCrae, 1997).
Personen, die eine hohe Neurotizismus -Ausprägung aufweisen, tendieren im Big-Five-Modell genauso wie im biologischen Drei-Faktoren-Modell nach Eysenck (1947, 1994) eher zu Verletzlichkeit, Ängstlichkeit, Nervosität und einer negativen Affektivität bzw. Pessimismus, sodass die Verhaltensregulation insbesondere in Stresssituationen erschwert wird. Inhaltlich handelt es sich also um die Belastbarkeit sowie die emotionale Stabilität einer Person. Dagegen werden Personen mit einer hohen Extraversion- Ausprägung als eher durchsetzungsfähig, aktiv und heiter bzw. optimistisch beschrieben. Insbesondere steht die Fähigkeit, sich anderen zuzuwenden, sowie Kontakte zu knüpfen und zu erhalten, im Vordergrund. Personen mit einer hohen Ausprägung in der Dimension Offenheit für neue Erfahrungen zeichnen sich durch Experimentierfreudigkeit, Wissbegierde und Interesse für Kultur und Neues aus, die sich auch besonders in geistiger Beweglichkeit niederschlägt. Eine hohe Ausprägung der Gewissenhaftigkeit ist durch Zuverlässigkeit, Ausdauer, Ordnung und Sorgfalt indiziert. Insbesondere sind hier die Konstrukte der Fähigkeit zur Selbstkontrolle sowie Leistungsdenken enthalten. Altruismus, Wohlwollen, Harmoniestreben, Moral - und hier besonders wichtig: Mitgefühl – sind vor allem Eigenschaften von Personen, die eine hohe Ausprägung des Faktors Verträglichkeit aufweisen (Costa & McCrae, 1997). Die jeweiligen Extrempole der fünf Faktoren mit all ihren Facetten sind keinesfalls als „richtig“ oder „falsch“ bzw. „schlecht“ zu verstehen, sondern als dimensionale Ausprägungen bestimmter Eigenschaften, die niemals einzeln, sondern ausschließlich im Gesamtkontext des individuellen Persönlichkeitsprofil interpretiert werden sollten.
Allerdings konnten die „Big-Five“-Dimensionen beispielsweise von Gurven et al. (2013) oder Paunonen & Ashton (2013) nicht vollständig belegt werden. Dieser Beleg wird durch Studien gestützt, die anstatt der gängigen fünf Dimensionen sechs vorschlagen, um die Persönlichkeit vollständig abzubilden (bspw. HEXACO-Modell (Ashton et al., 2004)). Allerdings ist auch dieses Modell nicht zweifelsfrei. Digman (1997) spricht sich für die Bildung einer übergeordnete Hierarchieebene über den Fünf Faktoren aus, womit im Konsens angenommen werden kann, dass die zwei grundlegenden Persönlichkeitseigenschaften Extraversion und Neurotizismus weiterhin mit relativer Sicherheit Gültigkeit besitzen werden. Insgesamt werden noch weitere Forschungen nötig sein, um abschließend zu klären, wie viele Grunddimensionen zur vollständigen Persönlichkeitsbeschreibung nötig sind – und ob diese vollständige quantifizierte Persönlichkeitsbeschreibung überhaupt möglich ist. Als Arbeitsgrundlage wird das Big-Five-Modell aufgrund der insgesamt guten Evidenzlage verwendet.
2.4. Zusammenhang von Stress, Empathie und Persönlichkeit
In dieser Arbeit soll der Zusammenhang von Stresserleben und Empathie unter Berücksichtigung des Einflusses von Persönlichkeitseigenschaften beleuchtet werden. Dazu fußt die Arbeit vor allem auf Studienergebnissen von Nancy Eisenberg und Kollegen (Eisenberg & Eggum, 2009; Eisenberg & Fabes, 1990), die den Zusammenhang von erlebtem Stress in sozialer Interaktion (auch peripherphysiologische Erregung) sowie Empathie (mitfühlende oder vermeidende Reaktion bei der Konfrontation mit einem leidenden Gegenüber) untersuchten. Als entscheidende empathische Verhaltenskonsequenz untersuchten sie, unter welchen Umständen prosoziales Verhalten bei der Konfrontation mit einem Gegenüber, das augenscheinlich leidet, gezeigt wird. Die Messung von Empathie ergab sich also indirekt aus der retrospektiven Wahrscheinlichkeit zu prosozialem Verhalten. Daraus ergab sich eine umgekehrt u-förmige Kurve zwischen dem erlebten Stress in der sozialen Interaktion (unabhängige Variable, x-Achse) sowie empfundener Empathie (abhängige Variable, y-Achse), operationalisiert in der Wahrscheinlichkeit zu prosozialem Verhalten. Dies wurde in eigener Darstellung in Abb. 1 skizziert.
Das empathische Arousal bzw. der erlebte Stress in sozialer Interaktion wurde von Eisenberg und Kollegen zuvor in vielen Studien untersucht, zum Beispiel durch Pulsmessungen (vgl. Eisenberg & Fabes, 1990). Daraus ergab sich das Ergebnis, dass das Arousal mit Empathie in Verbindung steht. Explizit korreliert die physiologische Erregung (Anstieg des Pulses) mit der affektiven Empathiekomponente personal distress positiv, wobei etwas weniger physiologische Erregung (Verlangsamung des Pulses im Vergleich), also weniger Stresserleben, mit Sympathie korreliert. Sowohl Sympathie als auch personal distress werden als Folgen einer empathischen Reaktion gesehen, die sich jeweils unterschiedlich auf die Wahrscheinlichkeit zu prosozialen Verhalten auswirken: „both sympathy and personal distress often result from empathy [...] cognitively taking the perspective of another often leads to empathy, which then, in combination with additional cognitive processing, frequently results in sympathy and/or personal distress“ (ebd., S. 132). Daher ist die indirekte Messung von Empathie durch die Wahrscheinlichkeit zu altruistischen Verhalten nach Eisenberg und Kollegen möglich (vgl. ebd.). Im Ergebnis stellen Eisenberg und Kollegen fest, dass ein bestimmtes Erregungslevel mit der Empfindung von Sympathie einhergeht. In diesem Bereich verzeichnen sie die größte Wahrscheinlichkeit zu prosozialen Verhalten, weswegen sie es als optimales Erregungslevel identifizieren. Wenn das Erregungslevel allerdings zu sehr steigt, verzeichnen Eisenberg und Kollegen weniger prosoziale Hilfsbereitschaft. Der starke empfundene Stress (personal distress) in sozialer Interaktion führt also oft ebenfalls zu einer geringeren Wahrscheinlichkeit zu prosozialen Verhalten bzw. empfundener Empathie[7]. Anzunehmen sind hier Schwierigkeiten in der Emotionsregulation des Beobachters, der zu erregt und bewegt ist, als dass er seinen Fokus auf das Gegenüber verlagern könnte. Um die emotionale Erregung zu regulieren, konzentriert sich die Person auf sich und flüchtet so aus der belastenden sozialen Situation. Bei Sympathie hingegen besteht keine erhöhte Selbstaufmerksamkeit, sondern eine Fremdorientierung. Abschließend wurde auch der Bereich von sehr wenig Stressempfinden beleuchtet, der hier bisher nicht erwähnt worden ist. Dabei ist zunächst die Vermutung naheliegend, dass wenig Stresserleben eine sehr gute Voraussetzung für Empathie bzw. prosozialem Verhalten sei. Allerdings beobachten Eisenberg und Kollegen genau das Gegenteil: Bei geringen Erregungslevels verzeichnen sie ebenfalls eine geringe Wahrscheinlichkeit zu altruistischen Verhalten, ergo habe hier ebenfalls kein starker empathischer Prozess stattgefunden. Anzunehmen ist laut Eisenberg und Kollegen ein derartiges Desinteresse des Beobachters am Gegenüber, dass es weder zu affektiver noch zu kognitiver Empathie kommt (vgl. Eisenberg & Fabes, 1990).
Abbildung in dieser eseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Zusammenhang nach Eisenberg & Fabes, 1990 (eigene Darstellung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbb. 1: Zusammenhang zwischen Erregungslevel sowie Wahrscheinlichkeit zu prosozialen Verhalten in Anlehnung an Eisenberg & Fabes (1980) eigene Darstellung.
[...]
[1] Nachzulesen unter https://www.independent.co.uk/news/science/stephen-hawking-aggression-could-destroy-us-10057658.html
[2] Zu erwähnen ist, dass die psychologischen Definitionen von Empathie in hohem Maße von der jeweiligen Forschungsausrichtung bzw. der Grundausrichtung (Psychoanalyse, Sozialpsychologie, Biopsychologie, Entwicklungspsychologie, ..) abhängig sind, sodass es bisher keine Einigung über eine allgemein gültige und gleichzeitig umfassende Definition von Empathie gibt (vgl. Gerdes, Segal, & Lietz, 2010).
[3] Nach Stein geschieht die Wahrnehmung der anderen Person auf einer Ähnlichkeitsdimension, was zur Husserls Konzept der Leibhaftigkeit (Husserl, 1989) passt: in seinem Modell ist es für eine empathische Reaktion wesentlich, dass der Beobachter das Gegenüber nicht nur als Körper, sondern als Leib wahrnehme, denn somit könne das Gegenüber als etwas Lebendiges erlebt werden, was eine Ähnlichkeit zum Beobachter schaffe.
[4] Theory of Mind meint einen Teilbereich der Fähigkeiten zur Perspektivübernahme, in dem mentale Vorgänge (inkl. begrenztes Wissen) anderer antizipiert werden können (z.B. Frith & Frith, 2005; Schurz, Radua, Aichhorn, Richlan, & Perner, 2014; Wellman, 1992). Synonym dazu könnte auch Mindreading (Golan, Baron-Cohen, & Hill, 2006) verwendet werden, sie dazu Kapitel 5.1.
[5] Darauf folgt nach Selye eine Reihe von psychologischen, physiologischen und biochemischen Prozessen, die im späteren Verlauf weiter beschrieben werden.
[6] „[...] die mehr oder weniger stabile und dauerhafte Organisation des Charakters, Temperaments, Intellekts und Körperbaus eines Menschen, die seine einzigartige Anpassung an die Umwelt bestimmt. Der Charakter eines Menschen bezeichnet das mehr oder weniger stabile dauerhafte System seines konativen Verhaltens (des Willens); sein Temperament das mehr oder weniger stabile und dauerhafte System seines affektiven Verhaltens (der Emotion oder des Gefühls); sein Intellekt das mehr oder weniger stabile und dauerhafte System seines kognitiven Verhaltens (der Intelligenz); sein Körperbau das mehr oder weniger stabile und dauerhafte System seiner physischen Gestalt und neuroendokrinen (hormonalen) Ausstattung.“ (H. J. Eysenck & Eysenck, 1987, S. 10)
[7] Personal distress führt in sozialer Interaktion nur dann zu prosozialem Verhalten, wenn dies die schnellste und einfachste Möglichkeit darstellt, das eigene Arousal zu regulieren. Stellt Flucht o.ä. die einfachste Methode dar, kommt es nicht zu prosozialem Verhalten (vgl. Eisenberg & Fabes, 1990).
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- M. Sc. Melissa Quantz (Author), 2018, Empathie? Dagegen bin ich geimpft!, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/434906
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