Der Nationalismus, so wird gemeinhin angenommen, hat keine Philosophie. Im Gegensatz zum Konservatismus, dem Sozialismus und dem Liberalismus – den drei großen gesellschaftlichen Entwürfen der Aufklärung – fehlt ihm die theoretische Fundierung. Diese Ansicht ist durchaus begründet. Denn das nationalistische Menschenbild bleibt in Debatten oft unscharf. Und die Ziele nationalistischer Parolen reichen über die mittelfristige Abwehr von als bedrohlich empfundenen Entwicklungen nicht hinaus. Auf diese Weise vermittelt der Nationalismus das Bild eines archaischen Überbleibsels, man rechnet mit ihm wie mit einem tierischen Reflex des Menschen, der sich politischen und wirtschaftlichen Krisenzeiten zeigt.
Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass wir mit solch einer Auffassung, angesichts des außerordentlichen Erfolges nationalistischer Bewegungen in den letzten Jahren, glauben müssten, fortwährend in Krisenzeiten zu leben. Nur die Tatsache, dass der Nationalismus gerade in wohlhabenden Ländern erfolgreich ist, und von Generationen getragen wird, die nie Krieg oder Hunger erleiden mussten, sollte diesen Glauben an den permanenten Ausnahmezustand relativieren.
Es stimmt, dass sich, im Gegensatz zu zahlreichen liberalen oder sozialistischen Denkern, kaum „nationalistische“ Theoretiker finden lassen. Aber nationalistische Argumente lassen sich auf Grundannahmen zurückführen, die bei näherer Betrachtung eine beachtliche ideengeschichtliche Verbreitung und Tiefe haben. Wie Elie Kedourie anmerkt, kann es bereits als größter Erfolg der nationalistischen Doktrin gelten, den Begriff der „Nation“ als Kategorie der politischen Ordnung überhaupt etabliert zu haben.
Im Folgenden werde ich anhand der ersten fünf Kapitel von Kedouries Essay Nationalism, herausgegeben in London 1960 von Hutchinson, untersuchen, wie das nationalstaatliche Denken die Kraft entwickelte, die es heute hat. Ich werde Kedouries Argumentation schrittweise rekonstruieren. Dann werde ich beurteilen, inwieweit sie ausreicht, um zeitgenössische politische Phänomene zu verstehen. Schlussendlich will ich zwei Ansätze skizzieren, die meiner Meinung nach die Kraft nationalstaatlichen Denkens weiter erklären.
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- 1) Die Nation - ein ewiger Ausnahmezustand?
- 2) Anmerkungen
- II. Ein neuer Politikstil
- 1) Die Revolution der Straße
- 2) Die Revolution des Geistes
- 3) Die Entdeckung des Staates
- 4) Die Entdeckung der nationalen Identität
- 5) Nationalismus als romantische Form der Politik
- III. Ausblick
- 1) Die nationale Erhebung
- 2) Der kollektive Stilbruch
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Text untersucht die Entstehung des Nationalismus und die Rezeption des idealistischen Nationenbegriffs bei Elie Kedourie. Das Ziel ist es, die Kraft des nationalstaatlichen Denkens aufzuzeigen und dessen ideengeschichtliche Wurzeln zu beleuchten.
- Die Entwicklung des nationalstaatlichen Denkens im 19. Jahrhundert
- Die Rolle der Französischen Revolution in der Entstehung des Nationalismus
- Die Bedeutung der philosophischen Ideen des 18. Jahrhunderts für die nationalistische Doktrin
- Die Beziehung zwischen Nation und Staat im nationalistischen Denken
- Die Bedeutung der nationalen Identität für die Freiheit des Einzelnen
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die These auf, dass der Nationalismus im Gegensatz zu anderen Ideologien wie Liberalismus und Sozialismus keine feste philosophische Grundlage besitzt. Der Text analysiert Kedouries Argumentation in den ersten fünf Kapiteln seines Essays Nationalism. Im zweiten Kapitel wird die Französische Revolution als Ausgangspunkt für die Entwicklung des modernen Nationalismus herausgestellt. Die Revolution führte zur Betonung der Verantwortung der Regierung gegenüber dem Volk und zur Etablierung des Nationenbegriffs als Bezugsinstanz für die politische Ordnung. Im dritten Kapitel wird die Rolle der „Revolution des Geistes" im 18. Jahrhundert untersucht und gezeigt, wie philosophische Ideen wie der „Naturzustand" und das „Volk" in die nationalistische Doktrin Eingang gefunden haben. Im vierten Kapitel geht es um die Entdeckung des Staates als Akteur und die Verbindung zwischen Nation und Staat. Das fünfte Kapitel analysiert die „Entdeckung der nationalen Identität" und die Bedeutung der Kultur und Geschichte für die Konstruktion der nationalen Identität.
Schlüsselwörter
Nationalismus, Nation, Staat, Französische Revolution, Philosophie, Ideengeschichte, Elie Kedourie, nationale Identität, Kultur, Geschichte.
- Citation du texte
- Maximilian Priebe (Auteur), 2018, Die Genese der Nation. Zur Rezeption des idealistischen Nationenbegriffes bei Elie Kedourie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/434863