Wer Theorien entwirft, dessen Rezensionen geradewegs vor Superlativen strotzen, der sollte meinen, das Rad neu erfunden zu haben. Ob dem wirklich so ist, soll ein kurzer Überblick im nachfolgenden Essay zu John Rawls Theorie der Gerechtigkeit und dem politischen Liberalismus, zeigen.
John Rawls Theorie der Gerechtigkeit – ist sie wirklich gerecht?
„...Eine Theorie der Gerechtigkeit ist ein gehaltvolles, tiefes, feinsinniges, weitgespanntes, systematisches Werk der Philosophie der Politik (...), [das] seinesgleichen sucht. (...) Die Philosophie der Politik muss von nun an im Rahmen der Rawlsschen Theorie arbeiten oder aber erklären, warum sie es nicht tut“ (Noczik 1974: 243).
Wer Theorien entwirft, dessen Rezensionen geradewegs vor Superlativen strotzen, der sollte meinen, das Rad neu erfunden zu haben. Ob dem wirklich so ist, soll ein kurzer Überblick im nachfolgenden Essay zu John Rawls Theorie der Gerechtigkeit und dem politischen Liberalismus, zeigen.
Dass Rawls zu den bedeutendsten Vertretern der politischen Philosophie des Zwanzigsten Jahrhunderts zählt, ist jedenfalls unumstritten. Er setzte sich akribisch mit dem politischen Liberalismus auseinander. Dies resultierte nicht nur im Aufleben des egalitären Liberalismus, sondern auch in einer kritischen Debatte über die Leistungsfähigkeit, Gerechtigkeit und den normativen Wert liberaler Konzeptionen, die noch bis heute anhält und äußerst wertvolle Erkenntnisse hervorgebracht hat. Rawls politische Konzeption gibt zunächst einmal Antwort auf eine der fundamentalen Fragen der politischen Philosophie der Gegenwart: Wie ist eine stabile, effiziente und gerechte Gesellschaft möglich, wenn deren Mitglieder durch teils konträre oder einander ausschließende Lehren und Weltanschauungen, d.h. Religionen, Philosophien oder Moralsysteme voneinander getrennt sind?
Rawls Antwort auf diese Frage lautet: Durch eine spezifische, liberale Ordnung, in der das Fundament der gesellschaftlichen Kooperation mittels Grundsätzen geregelt ist, die von allen Bürgern anerkannt werden – eine politische Gerechtigkeitskonzeption (vgl. Rawls 1998: 219f.).
Die Idee, dass Menschen mit teils gegensätzlichen Überzeugungen dennoch in den grundlegenden Fragen der politischen Interaktion einen übergreifenden Konsens finden, resultiert nach der Auffassung Rawls, aus dem sogenannten ‚Faktum des vernünftigen Pluralismus‘. „Die vernünftige Gesellschaft ist weder eine Gesellschaft von Heiligen noch eine Gesellschaft von Egozentrikern (Rawls 1998: 127). Das ‚Faktum des vernünftigen Pluralismus‘ ist bei Rawls die Bedingung, die der politischen Philosophie ihre Aufgabe stellt. Diese ist gleichsam die Antwort auf die Fragen, die der vernünftige Pluralismus an das politische Denken richtet. Erst durch ihn entstehen moralische und politische Streitigkeiten, die es nötig machen, eine gemeinsame Basis in der Differenz aufzufinden. Erst die Vielfalt von Werten und Lebensformen in der Moderne schafft einen Orientierungsbedarf darüber, was es heißt, sich als Bürgerin oder Bürger eines politischen Gemeinwesens zu verstehen. Und erst der moderne Pluralismus kreiert die Aufgabe der modernen Philosophie, nämlich uns begreiflich zu machen, dass der Pluralismus selbst als Gutes zu begreifen ist und weshalb die gesellschaftlichen Regeln und Institutionen uns gleichwohl nicht als Zwangssysteme gegenüberstehen.
Eine weitere Idee, die hinter der Rawls'schen Konzeption steht und nicht weniger essenziell ist, befindet sich in der spezifischen Beschaffenheit liberaler Ordnungssysteme. Wie jede andere Form von Ordnungssystemen verfügen auch liberale Systeme über politische Macht und haben daher die Möglichkeit ihre Entscheidungen via staatlicher Gewalt durchzusetzen. Jedoch unterliegt diese Gewalt zweierlei Eingrenzungen:
1. Die politische Macht einer liberalen Ordnung entspricht der kollektiven Macht freier und gleicher Bürger, woraus sich schlussfolgern lässt, dass der staatliche Zwang durch die Öffentlichkeit bestimmt wird – ergo ist dieser durch demokratische Verfahrensweisen beschränkt. Überdies unterliegt die öffentliche Gewalt einer zusätzlichen Limitierung, die eine Diktatur der Mehrheit verhindern soll.
2. Diese Limitierung ist das Legitimitätsprinzip , welches politische Gewalt dahingehend beschränkt, dass ihre Ausübung nur im Rahmen der bestehenden Verfassung ausgeübt werden darf (vgl. Rawls 1998: 222).
Des Weiteren ist es von Bedeutung, den Begriff der Vernunft in diesem Zusammenhang etwas genauer zu erläutern. Dieser bezeichnet, nach Rawls Verständnis, nicht nur ein gewisses Maß an Rationalität, sondern auch eine Palette von politischen Tugenden, welche die Bürger einer konstitutionellen Ordnung aufweisen und darüber hinaus die Kooperation auf der Basis gegenseitiger Wertschätzung erst möglich machen. Zu diesen Tugenden gehören vor allem Toleranz, Kompromissfähigkeit und ein gewisser Sinn für Fairness, wobei Rawls ebenfalls annimmt, dass diese Bürger gemäß ihrer Vorstellung des Guten auch ein Verständnis von Gerechtigkeit entwickeln. Jene Gerechtigkeitsvorstellungen variieren der Erscheinung nach, da sie Ausfluss der jeweiligen Weltanschauung sind, nichtsdestotrotz bringen sie fundamentale Gerechtigkeitsintuitionen zum Ausdruck, welche sich implizit in jeder spezifischen Gerechtigkeitskonzeption widerspiegeln (vlg. Rawls 1998: 230, 248, 257).
An dieser Stelle knüpft Rawls Idee des übergreifenden Konsenses an, der durchaus als eine Erweiterung des Prinzips des Verfassungskonsenses verstanden werden kann und das Grundkonstrukt der gesellschaftlichen Kooperation auf eine noch allgemeinere Ebene hebt. Denn seiner Auffassung nach beinhaltet ein solcher Konsens die Übereinkunft aller Bürger bezüglich einer politischen Gerechtigkeitskonzeption, welche die fundamentale Frage nach der richtigen Distribution von Gütern, Rechten und Pflichten beantworten soll und somit die diversen Interessenkonflikte einer pluralistischen Gesellschaft zu bewältigt vermag. Ihre Legitimation und ihren Anspruch erwirbt sich diese Verteilung durch den bloßen Fakt, dass alle Bürger sie annehmen und somit die Grundlage für sozialen Frieden und soziale Stabilität geschaffen sind. Diese Anerkennung bildet sich schließlich in den Institutionen einer Gesellschaft ab, welche Rawls gleichzeitig zum Ausgangspunkt seiner gesamten Gerechtigkeitskonzeption werden lässt.
Es stell sich jedoch die Frage nach der Beschaffenheit einer solchen Gerechtigkeitskonzeption. Welche Voraussetzungen müssen also gegeben sein, um eben jenes angestrebte Ziel auch zu realisieren? Hier bedarf es erneut der bereits erwähnten Gerechtigkeitsintuitionen, jedoch greift Rawls zusätzlich die Methodik des Kontraktualismus auf, auch wenn dieser Aspekt hier als reine Hypothese und keineswegs als tatsächlich zustande kommender Vertrag gesehen werden muss.
Unter diesen Voraussetzungen entwickelt Rawls somit sein kontraktualistisches Argument. Das Ziel ist eine fiktive Welt, in welcher jegliche gesellschaftlichen Einflüsse und deren Bedingungen sowie Auswirkungen wegfallen, um so sicher zu stellen, dass jegliche Komponenten, welche eine auf Gerechtigkeitsgrundsätzen basierende Wahl beeinflussen könnten, eliminiert werden.
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- Quote paper
- Martin Gramm (Author), 2018, John Rawls Theorie der Gerechtigkeit. Ist sie wirklich gerecht?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/434825