Ziel dieser Überlegungen ist es, die Bilder, die Westeuropa und die Türkei bzw. Westeuropäer und Türken von einander und in Abgrenzung dazu von sich selbst entwarfen, durch die Jahrhunderte von der Zeit der Kreuzzüge bis zur Gegenwart zu verfolgen, die Vorstellungen, die dem Umgang miteinander zu Grunde lagen, zu erkunden und das tatsächliche Interagieren damit in Beziehung zu setzen – und nicht das Sammeln von Argumenten für oder gegen die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa. Dabei wird deutlich werden, dass auch die ältesten Vorstellungen vom jeweils „anderen“ bis heute wirksam sind; aus diesem Grund wird auch den Usprüngen dieser Ideen besonderes Augenmerk gewidmet. Die Darstellung beginnt mit der Erläuterung der Konzepte „Haus des Krieges“ bzw. „Christianitas“ als den frühesten komplementären Bilder des anderen, widmet sich dann den gegenseitigen Wahrnehmungen zur Zeit des Höhepunkts osmanischer Macht (16./17. Jh.) sowie den Veränderungen dieser Perspektiven mit dem machtpolitischen Abstieg der Osmanen ab dem 18. Jh. Das letzte Kapitel ist den Konzepten von Europa bzw. den Bildern der Republik Türkei seit Atatürk gewidmet.
Inhaltsverzeichnis
0 Zielsetzung
1 Haus des Krieges und Feind der Christianitas - die „klassischen“ komplementären Bilder des anderen
1.1 Die klassisch-islamischen Vorstellungen und Regeln für den Umgang mit Nichtmuslimen und ihre Übernahme durch Seldschuken und Osmanen
1.2 Die Konstruktion der „Christenheit“ in Abgrenzung zum Islam von Karl Martell bis zur Türkenfurcht
1.3 Pragmatismus in den tatsächlichen politischen und ökonomischen Beziehungen
2. Die gegenseitige Wahrnehmung am Höhepunkt osmanischer Macht
2.1 Osmanische Überlegenheitsgefühle
2.2 Türkenfurcht und -bewunderung in Europa
3. Der relative Abstieg des Osmanischen Reiches gegenüber dem „modernen“ Europa
3.1. Osmanische Wahrnehmung und Rezeption der Moderne im 18. und 19. Jh.
3.2. Vom Urteil zum Vorurteil – der westeuropäische Blick auf das Osmanische Reich im 18. und 19. Jh.
4. Die „moderne“ Türkei und Europa
4.1 Vom Zentrum des Hauses des Islams an die Peripherie des „Hauses Europa“
4.2 Neue Komplementarität - Gegner des EU-Beitritts in Europa und der Türkei
5. Conclusio
Literaturverzeichnis
0 Zielsetzung
Ziel dieser Überlegungen ist es, die Bilder, die Westeuropa und die Türkei von einander und in Abgrenzung dazu von sich selbst entwarfen, durch die Jahrhunderte zu verfolgen, die Vorstellungen, die dem Umgang miteinander zu Grunde lagen, zu erkunden und das tatsächliche Interagieren damit in Beziehung zu setzen – und nicht das Sammeln von Argumenten für oder gegen die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa. Dabei wird deutlich werden, dass auch die ältesten Vorstellungen vom jeweils „anderen“ bis heute wirksam sind; aus diesem Grund wird auch den Usprüngen dieser Ideen besonderes Augenmerk gewidmet.
1 Haus des Krieges und Feind der Christianitas - die „klassischen“ komplementären Bilder des anderen
1.1 Die klassisch-islamischen Vorstellungen und Regeln für den Umgang mit Nichtmuslimen und ihre Übernahme durch Seldschuken und Osmanen
Als die türkischen Stammesverbände unter der Führung der Dynastie der Seldschuken im 11. Jh. von Zentralasien aus nach Persien, in den Irak und Syrien und nach dem Sieg über die Byzantiner 1071 bei Mantzikert nördlich des Vansees nach Kleinasien vordrangen und verschiedene Staaten gründeten, waren sie bereits großteils Muslime; sie übernahmen die mittlerweile mehr als 400 Jahre alte islamische Kultur – in arabischer und persischer Sprache – und die Vorstellungen und Rechtsvorschriften des Islam. Dazu gehörten auch die Quellen des islamischen „Völkerrechts“: die Rechtsvorschriften aus dem Koran und der Sharia, das Beispiel des Propheten (die „Sunna“, überliefert im Hadith), die Rechtskommentare der vier klassischen Rechtsschulen (wobei die Osmanen der hierin flexibleren hanafitischen Schule folgten) und überlieferte Abkommen mit nichtmuslimischen Gemeinschaften.[1]
Im Koran 3, 110 heißt es an die Muslime gerichtet: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die je unter den Menschen hervorgebracht worden ist“ und in Sure 2, 193: „Kämpf gegen sie, bis es keine Verführung mehr gibt und bis die Religion nur noch Gott gehört.“ (Übers. A. Th. Khoury). Somit war die Überlegenheit und der Weltherrschaftsanspruch der Umma, der Gemeinschaft der Muslime, begründet. Als aber die arabische Expansion an ihre Grenzen stieß und auch die politische und religiöse Einheit der Umma zerfiel, bildete sich in der klassischen Zeit des Kalifats das Schema der Einteilung der Staatengemeinschaft in das „Haus des Friedens“ oder „Haus des Islams“, in der der Islam frei praktiziert und die Scharia Geltung haben konnte, und in das „Haus des Krieges“, in der diese Voraussetzungen nicht gegeben waren, heraus; zwischen diesen Entitäten herrschte theoretisch permanenter Kriegszustand, der bis zur Herrschaft des Islam über die gesamte Erde anhalten musste. Zum Haus des Friedens wurde ein nichtmuslimisches Gebiet dann, wenn seine Bewohner der Oberhoheit des Islam und der Entrichtung der für die „buchbesitzenden“ Nichtmuslime vorgeschriebenen Kopfsteuer zustimmten; durch die öffentliche und ungestörte Ausübung des islamischen Kultes (Freitagsgebet) wurde das Gebiet in das „Haus des Islam“ eingegliedert, selbst wenn es mehrheitlich von Nichtmuslimen besiedelt blieb.[2]
Die Gemeinschaft der Muslime als ganze war zum ständigen Einsatz für die Verbreitung des Islams verpflichtet; als legitimes Mittel galt hier der offensive Dschihad mit dem Schwert, der als heiliger und einzig gerechter Krieg zum Zwecke der Öffnung eines Gebietes für den Islam verstanden wurde. Wer in ihm kämpfte, erhielt den Ehrentitel des gazi, wer in ihm fiel, wurde zum Märtyrer (shahid) erklärt und hatte seinen Platz im Paradiese sicher. Diente der Krieg der Abwehr eines Angriffes auf das Haus des Islam, dann konnte er zur Individualpflicht eines jeden Muslimen erklärt werden (wie es im Krieg gegen die Heilige Allianz 1683 – 1699 und noch im Ersten Weltkrieg geschah).[3]
Der erklärte Dschihad endete dann, wenn sein Zweck erfüllt war. Das islamische Recht kannte aber auch die Möglichkeit eines Waffenstillstandes, wenn es im Interesse der Umma und des Staates lag. Diese Abkommen mussten allerdings zeitlich begrenzt bleiben, ein permanenter Friedensschluss war nur zwischen muslimischen Souveränen möglich. Die Verträge wurden im Mittelalter und auch in osmanischer Zeit immer auf eine bestimme Anzahl von Jahren (zehn nach dem Beispiel des Propheten, aber auch mehr – wie jener von Passarowitz 1718 auf 25 Jahre) oder für die Dauer der Regierungszeit der Vertragspartner geschlossen. Denn Grundsatz „pacta sunt servanda“ kannte auch das islamische Recht, aber auch „necessitas non habet legem“; im Interesse der Umma war ein Vertragsbuch möglich, wurde aber in Regel durch eine Fatwa eigens legitimiert und abgesichert.[4]
Mit der Etablierung ihres Staates auf dem Gebiet von „Rum“, dem vormals „römischen“, also byzantinischen Kleinasien, setzten sich die „Rum-Seldschuken“ nach 1071 an der „klassischen“ Front des „Hauses des Islam“, an der Grenze zum Byzantinischen Reich, fest. Dementsprechend fand sich in der Titulatur des Sultans auch die Selbstbezeichnung als „Vorkämpfer im Heiligen Krieg“ und „Wächter des Landes Allahs“.[5] Zu den „Römern“ kamen mit dem Ersten Kreuzzug (1095-1099) die neuen christlichen Feinde aus dem Westen, die „Franken“, wie in muslimischen Quellen der Zeit alle Kreuzfahrer pauschal genannt wurden. Der Erste Kreuzzug wurde zusammen mit der Reconquista in Spanien und der Eroberung Siziliens durch die Normannen als Teil eines allgemeinen Angriffs der „Franken“ auf das Haus des Islams interpretiert.[6] Die Erfolge der Seldschuken im Heiligen Krieg waren wechselnd; als ihr Reich nach dem Einfall der Mongolen 1243 zusehends verfiel, entstanden an den Grenzen zum byzantinischen Reich verschiedene Fürstentümer zum Teil neu zugewandeter turkmenischer Stammesgruppen, die ihr Gebiet auf Kosten des „Haus des Krieges“ zu erweitern versuchten; das erfolgreichste unter ihnen war der Staat des Osmanen. Die Fürsten aus dieser Dynastie legitimierten ihre Eroberungen als „Gazi“, eroberten die Reste byzantinischer Herrschaft in Kleinasien und trugen ab 1352 den Dschihad nach Südosteuropa; binnen fünfzig Jahren standen sie an der Donau, die auch offiziell als neue Grenze zwischen dem Haus des Krieges und den Haus des Islam festgelegt wurde.[7] Mit der Eroberung von Konstantinopel 1453 erfüllten die Osmanen eines der ältesten Ziele des Dschihad und konnten nun ihre Stellung als erste Vorkämpfer des Islams festigen – Sultan Mehmed II. wurde mit den Beinamen Fatih – „der Eroberer“ - bedacht; mit der Eroberung von Syrien, Ägypten und den Heiligen Stätten galten sie als Restauratoren der alten Einheit der Umma und Verteidiger und Erweiterer ihrer Grenzen.[8] Ihre militärischen Erfolge waren der Beweis für die Überlegenheit des Islam, dessen Herrschaft es theoretisch permanent in das Haus des Krieges, vor allem also in die christlichen Staaten Europas hinein, zu erweitern galt – mit allenfalls temporären Abkommen. Das „Ghazitum“ verband sich mit türkisch-zentralasiatischen Mythen von der „Stadt des Roten Apfels“ als Ziel nomadischer Sehnsüchte, die je nach Kontext mit Konstantinopel, Jerusalem, Buda, Rom oder Wien gleichgesetzt wurde.[9]
1.2 Die Konstruktion der „Christenheit“ in Abgrenzung zum Islam von Karl Martell bis zur Türkenfurcht
In das Gesichtsfeld Westeuropas traten die „Türken“ (wobei sich weder der Staat der Seldschuken noch der der Osmanen je als „Türkei“ bezeichneten, sondern erst die moderne Republik) in der zweiten Hälfte des 11. Jh.s als neue Form der muslimischen Herausforderung, in deren Abwehr sich die Christianitas, das „lateinisch-christliche Abendland“, ab dem 8. Jh. als ideelle Einheit - die der tatsächlichen politischen Zersplitterung Westeuropas allenfalls unter Karl dem Großen zeitweise entsprach – herausbildete. Zwar wurde das „Abendland“ im 9. und 10. Jh. auch durch die Angriffe der anfangs noch heidnischen Wikinger und Ungarn bedroht, doch wurde diese letztlich durch ihre Bekehrung zu einem Teil der nun vergrößerten Christianitas.[10] Am Vorabend des ersten Kreuzzuges war die Christianitas nach dem Missionserfolgen in Skandinavien, Ungarn und Polen und der Rückeroberung Toledos 1085 und Siziliens 1072 von den Arabern gewissermaßen stabilisiert; so konnte der Erste Kreuzzug (1095-1099) zum spektakulärsten Ausdruck dieser Einheit in der Konfrontation mit den Muslimen werden.
Der Islam war zum heidnischen Feind par excellence geworden. Seit dem 8. Jh. hatte sich unter den christlichen Schriftstellern die Ansicht verbreitet, dass der Islam unter die christlichen Häresien einzuordnen sei; man hatte also versucht, die neue Herausforderung in bekannte Schemata einzubauen. Damit verbunden war eine umfangreiche Polemik gegen den Propheten Mohammed; die Muslime galten als Vorläufer des Antichrist, ihre Erfolge als Strafe für die Sündhaftigkeit der Christen. In bewusster Abgrenzung wurde die Christianitas gegen diese Bedrohung konstruiert und als Einheit postuliert. Ihre auch politische Führung beanspruchte – gegen den Kaiser – der Papst; Ausdruck dieses Anspruches wurde der Aufruf zum Kreuzzug. Papst Innozenz IV. (1243-1254) legte dann als theoretische Grundlage für bereits 150 Jahre Kreuzzüge fest, dass, da ja alle Menschen der ihm anvertrauten Herde Christi angehörten, dem Papst de iure die Oberhoheit über alle Länder, auch jene der Ungläubigen, zukommt. Er konnte gegebenenfalls auch die Eroberung nichtchristlicher Länder anordnen; im Fall der Reconquista in Spanien und der Kreuzzüge ins Heilige Land konnte man dazu noch darauf pochen, dass diese Gebiete früher christlich waren. Auch der Apostolische Sendungsauftrag verpflichtete zur Expansion der Sphäre des Glaubens; Thomas von Aquin legte fest, dass kein Zwang angewendet werden dürfe, somit wurde die freiwillige Konversion durch Überzeugung das Ziel. Diesem diente auch das Wachstum an Wissen über den Islam, das vor allem in der ersten Konfrontations- und Kontaktregion Spanien gewonnen wurde (1143 fertigte man hier auch die erste lateinische Übersetzung des Korans an). Obwohl die Zwangsbekehrung untersagt und Juden und Muslimen die Ausübung ihrer Religion unter Aufsicht der Kirche zugebilligt wurde, galt gewaltsames Vorgehen als legitim, wenn der christlicher Kult unterdrückt oder das „natürliche Recht“ durch die Nichtchristen verletzt wurde; bei weitgehender Auslegung wurde damit auch oft die Mission mit dem Schwert gestattet. Kirchliche Verboten untersagten dazu den vertrauten Umgang mit den Muslimen, Handelsbeziehungen sollten allenfalls in Friedenszeiten unterhalten und Bündnisverträge in keinem Fall geschlossen werden.[11]
Zur Zeit der Kreuzzüge stellte Kleinasien nicht ein primäres Ziel der „fränkischen“ Eroberung, sondern ein Transitland nach Palästina dar. Außerdem ging die Expansion der Türken in Kleinasien und später auch in Südosteuropa zuerst zu Lasten der orthodoxen Byzantiner (die sich ebenfalls nie als Teil Europas betrachteten), mit denen man sich seit 1054 im Schisma befand und die 1204 sogar selbst – wenn auch anfangs gegen den Willen des Papstes – zum Ziel eines Kreuzzuges geworden waren. Nach 1204 hatten sich verschiedene „fränkische“ Staaten sowie Venedig und Genua in Griechenland, der Ägäis und im Schwarzen Meer etabliert. So wurde der Konflikt mit den „Türken“ zuerst in „Übersee“ ausgetragen - denn die osmanische Expansion ging vor allem auch mit der Beendigung des „Protokolonialismus“ Genuas und Venedigs in der Levante und im Schwarzen Meer einher, in jenen vormals byzantinische Gebiete, in denen diese beiden Seemächte nach 1204 mit ihren Stützpunkten und Inselkolonien (Kreta, Chios) expandiert hatten[12] Dagegen bildeten sich im 14. Jh. Kreuzzugsligen, die aber keine dauerhaften Erfolge erzielen konnten. Auch die Kreuzzüge von 1396 (Nikopolis) und 1444 (Varna), die ausgerufen wurden, als die Osmanen bereits an der Donau und an der Grenze des katholischen Ungarn standen, scheiterten. Ein wirklich fast alle Staaten Westeuropas umfassendes Unternehmen, wie es noch die ersten drei Kreuzzüge dargestellt hatten, brachte das Papsttum angesichts der inneren politischen und kirchlichen Konflikte (Hundertjähriger Krieg, Großes Abendländisches Schisma) gegen die osmanische Expansion nicht mehr zu Stande; gegenüber dem um Hilfe bittenden Byzantinern pochte man stets auf die zuerst notwendige Kirchenunion und Anerkennung der Oberhoheit des Papstes.[13]
Erst als Konstantinopel 1453 fiel, wurde dies als Schlag für die gesamte Christianitas wahrgenommen. So wie die Osmanen sich selbst als erster Vorkämpfer im Heiligen Krieg verstanden, wurde sie nun in Westeuropa als gefährlichste Feinde der Christenheit bezeichnet. Die „Türkenfurcht“ verband sich wie im frühen Mittelalter mit apokalyptischen Vorstellungen, der türkische Vormarsch galt als Strafe für die Sünden der uneinigen Christenheit.[14] Durch den gerade erfundenen Buchdruck wurden diese Ängste Thema einer „breiteren Öffentlichkeit“ (eines der ersten Druckwerke Gutenbergs war 1454 das „Turcicum“ zur Propagierung einer christlichen Abwehrfront). Enea Silvio Piccolomini rief 1453 aus: „Jetzt trifft man uns in Europa, unserer Heimat, unserem Zuhause.“ Der Begriff „Europa“ als patria der Christenheit wurde als neue Einheit angesichts der osmanischen Herausforderung konstruiert und mit den „modernen“ technischen Mitteln propagiert, die Türkengefahr wurde so zum ersten„europäischen“ Problem. In der zeitgenössischen Literatur lässt sich dieses Anwachsen in der Verwendung des Begriffs Europa deutlich feststellen. „An der Wiege des neuzeitlichen Europa standen also die Türken Pate.“[15] Dass alle Kreuzzugsaufrufe nichts fruchteten und die tatsächliche Einheit dieses Europas durch die Reformation noch weiter geschwächt werden sollte, tat diesem Phänomen keinen Abbruch.
1.3 Pragmatismus in den tatsächlichen politischen und ökonomischen Beziehungen
Auch wenn sich die Osmanen als führende Macht einer überlegenen Religion und Kultur verstanden, so zeigten sie keine Ignoranz gegenüber den Errungenschaften anderer Kulturkreise. Mit der Übernahme der islamischen Kultur waren auch jene Teile der „Wissenschaft der Alten“, der antiken Philosophie und Wissenschaft, die – über Vermittlung christlicher Gelehrter im arabischen Machtbereich - in die islamische Tradition im 9. und 10. Jahrhundert integriert worden waren, verbunden; die Blütezeit einer eigenen islamischen Philosophie und Wissenschaft, der auch das lateinische Mittelalter so viel verdankte, endete allerdings im 12. Jh. und fand ihre Schauplätze nicht mehr im Seldschukischen und Osmanischen Reich.[16]
Doch auch die Osmanen waren den Kenntnissen ihrer nichtmuslimischen Untertanen aufgeschlossen und verstanden sie zu nutzen, etwa in der Baukunst. Dazu wurden auch Fachleute und Techniker aus dem „Haus des Krieges“ eingeladen oder wechselten von selbst in den osmanischen Machtbereich und nahmen den Islam an - italienische Architekten waren an den Festungsbauten des 15. Jh.s beteiligt; christliche Renegaten gossen die osmanischen Kanonen vor Konstantinopel 1453. Besonders auch beim Aufbau der osmanischen Flotte leisteten Christen, die „Türken wurden“, wertvolle Dienste. Dazu kamen Immigranten wie die vertriebenen spanischen Juden und Muslime nach 1492. Insgesamt hatte der europäische Reichsteil für die Osmanen größte Bedeutung, ab 1369 hatten die Sultane stets ihre Residenz in Europa, er erwirtschaftete etwa 40 % der staatlichen Einnahmen und trug sowohl durch die zwangsweise Aushebung für das Janitscharenkorps als auch freiwillige Konversionen zum Islam in erheblichem Masse zur Rekrutierung der Elite des Reiches bei.[17]
[...]
[1] Goffman 2002, 7-9, subsumiert diese Phänomene unter dem Terminus “The great spiritual divide”.
[2] Khoury 1991, 351-352; Khoury 1994, 194-197; Höfert 2000, 79-84; Lewis 2002a, 328-329; Lewis 1996, 68-69. Als “Buchbesitzer” galten vor allem Juden und Christen, die über heilige Bücher und als Monotheisten einen Anteil an der wahren Religion verfügten, diese aber verfälscht hatten, aber als Schutzbefohlene – dhimmi – nicht durch Zwang konvertiert werden durften
[3] Panaite 2000, 89-94 u. 98-102; Khoury 1991, 352-357; Bürgel 1991, 73-81; vgl. Koran 9, 29: „Kämpfet wider jene von denen, welchen die Schrift gegeben war, die nicht glauben an Allah und an den Jüngsten Tag und nicht verwehren, was Allah und Sein Gesandter verwehrt haben, und nicht bekennen das Bekenntnis der Wahrheit, bis sie den Tribut aus der Hand gedemütigt entrichten.“ (Übers. M. Henning).
[4] Panaite 2000, 15-30, 94-98, 127-136, 233-248 u. 283-290; Khoury 1991, 357-358; vgl. Koran 17, 34: “ (...) Und haltet den Vertrag. Siehe, über Verträge werdet ihr zur Rechenschaft gezogen.“ (Übers. M. Henning).
[5] Cahen 2001, 136-137.
[6] Ibn al-Atīr (1160-1233) in Gabrieli 1999, 41.
[7] Panaite 2000, 77-79 u. 84-86 zur Bedeutung der Donau als “islamische Grenze”.
[8] Kreiser/Neumann 2003, 113; Tibi 1998, 200-203.
[9] Cardini 2004, 157.
[10] Delanty 1995, 23-25 (“The West was shaped by Muslim onslaught in the one hundred years from about 650 to 750.”); Manselli 1915-1916; Lewis 1996, 74.
[11] Mitterauer 1991, 199-217; Hagemann 1991, 147-150; Höfert 2000, 44-46; Höfert 2003, 180-184; Hödl 2012-2013; Richter-Bernburg 684-685; Delanty 1995, 27-29; Ertl 2004, 63-75; Khoury 1991, 150-154.
[12] Mitterauer 2003, 217-234; Höfert 2003, 94-99.
[13] Cardini 2004, 150-155 u. 159-170.
[14] Höfert 2000, 48; Cardini 2004, 193-202.
[15] Höfert 2003, 62-68 (Zitat S. 67); Khoury 1991, 154-156; Delanty 1995, 31-45.
[16] Bürgel 1991, 114-167; Tibi 1991, 19-20.
[17] Liedl u. a. 2002, 100-101, 128-140 u. 175; Kreiser/Neumann 2003, 91, 100-102; Ousterhout 1995; Kreiser 2001, 20 u. 222-225; Goffman 2002, 9-10. Schon 1240 hatte der seldschukische Sultan „fränkische“ Söldner gegen aufständische turkmenische Stämme eingesetzt, vgl. Cahen 2001, 70.
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Johannes Preiser-Kapeller (Autor:in), 2005, Die Türkei und (West)Europa , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43442
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