Gesa Lindemanns mikrosoziologische Studie „Das paradoxe Geschlecht“ von 2011 ist eine überarbeitete Version ihres gleichnamigen 1993 erschienenen Werks. Lindemann begeht diese Feldforschung von einem zweigeteilten Standpunkt aus, zum Einen als Beraterin von Transsexuellen und Personen ihres sozialen Umfeldes im Rahmen der Berliner Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, zum Anderen als Soziologin, die diese Position nutzt um eine Feldstudie durchzuführen. Sie selbst empfindet sich in diesem sehr heterogenen Feld als Komplize und Fremdling zugleich, was ihr sowohl Vor- als auch Nachteile in den Interviewsituationen bot: Sie muss analytisch zerlegen was sie an geschlechtlicher Wirklichkeit mitträgt und sich zugleich einer doppelten Verfremdung unterziehen. Neben diesen eigens gesammelten Daten stützt sich ihre Studie „auf schriftliches Material wie Gerichtsurteile, Autobiographien, Berichte in der allgemein zugänglichen Presse und Szenezeitschriften“.
Gesa Lindemann, Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. (2. Aufl.) Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, 308 S., Tb., 39,99€
Geschlechtersoziologie, Eberhard-KarlsUniversität Tübingen Rezensentin: Sarah Stäbler
Schlüsselwörter: Transsexualität, mikrosoziologische Studie, Geschlechterdifferenz, Verschiedengeschlechtlichkeit, leiblich-affektive Konstruktion
Gesa Lindemanns mikrosoziologische Studie „Das paradoxe Geschlecht“ von 2011 ist eine überarbeitete Version ihres gleichnamigen 1993 erschienenen Werks. Sie unterscheiden sich ihren Angaben nach hauptsächlich durch eine erneute theoretische Durchdringung der Erkenntnisse ihrer empirischen Befunde und einer klareren Aufarbeitung der gesellschaftstheoretischen Bezüge zur Konstruktion von Geschlecht. Wie Lindemann selbst zu Beginn zum Ausdruck bringt, mangelt es nicht an Kritiken die zu ihrer Studie verfasst wurden, welchen sie sich teils in anderen Werken, teils gar nicht und teils in diesem Buch stellt. Bei allen kritischen Reaktionen und Einwänden muss jedoch angemerkt werden, dass es zum damaligen Zeitpunkt zu dem Thema Transsexualität kaum vergleichbare empirische Studien gab. Lindemann begeht diese Feldforschung von einem zweigeteilten Standpunkt aus, zum Einen als Beraterin von Transsexuellen und Personen ihres sozialen Umfeldes im Rahmen der Berliner Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, zum Anderen als Soziologin, die diese Position nutzt um eine Feldstudie durchzuführen. Sie selbst empfindet sich in diesem sehr heterogenen Feld als Komplize und Fremdling zugleich, was ihr sowohl Vor- als auch Nachteile in den Interviewsituationen bot: Sie muss analytisch zerlegen was sie an geschlechtlicher Wirklichkeit mitträgt und sich zugleich einer doppelten Verfremdung unterziehen. (Lindemann, 2011: 22, 24).
Neben diesen eigens gesammelten Daten stützt sich ihre Studie „auf schriftliches Material wie Gerichtsurteile, Autobiographien, Berichte in der allgemein zugänglichen Presse und Szenezeitschriften“ (Lindemann, 2011: 20).
Unter Transsexualität versteht Lindemann „eine wunschgeleitete subtile Veränderung der kontinuierlichen Reproduktion geschlechtlicher Normalität“ (Lindemann, 2011: 24).
Im Rahmen von fünf Kapiteln bringt die Autorin uns nahe was damit gemeint ist. Schon im ersten Kapitel wird der Leser von den theoretischen Überlegungen hin zu einer empirischen Ebene geführt, indem Lindemann „die These der sozialen Konstruktion des Geschlechts reformuliert und als leiblich-affektive Konstruktion“ (Lindemann, 2011: 26) beschreibt. Sie versucht hier außerdem „allgemeine Aussagen über die alltägliche Reproduktion der Geschlechterordnung“ (Lindemann 2011: 195) zu treffen. Im zweiten Kapitel erfahren wir wie Transsexuelle durch das Herauslösen von interaktiven Zwängen die Wirklichkeit ihres Ausgangsgeschlechts mindern. „Für einen derartigen Veränderungsprozeß müßte sich eine Person aus der leiblich-affektiven Umweltbeziehung aushaken und sich ausgehend von der neuen Geschlechtsposition erneut einhaken“ (Lindemann, 2011: 70) Im folgenden Kapitel wird ein Einblick in die ganz eigene Beschaffenheit der Wirklichkeit des neuen Geschlechts und die Folgen, die diese Geschlechtsveränderung für alle Beteiligten hat, geboten. Es wird deutlich wie sehr der Bezug zu Gleich- und Verschiedengeschlechtlichkeit sich für alle Interagierenden ändert und wie wichtig es ist, dass Transsexuelle ein Versprechen für die Gestaltung ihrer Zukunft ablegen. Das Kapitel ist zirkulär aufgebaut und soll den Prozess von den anfänglichen Schwierigkeiten bei der Erkenntnis, bis hin zum „Zerbrechen des Ausgangsgeschlechts“ und der Konstruktion des neuen Geschlechts nachvollziehen.
Anschließend daran erfahren wir im vierten Kapitel wie sich dieser Prozess der Geschlechtsänderung und die damit verbundene Umstellung für alle Angehörigen, insbesondere auf sprachlicher Ebene - in Bezug auf Personalpronomen und Vornamen - niederschlägt, bzw. welche Schwierigkeiten sie mit sich bringen kann.
Zu guter Letzt schließt Lindemann den Kreis, indem sie wieder auf die Geschlechterdifferenz zu sprechen kommt und herausarbeitet, dass es einen Unterschied zwischen einer Frau-zu-Mann und einer Mann-zu-Frau Umwandlung gibt. Sie versucht sich hier an einer systematischen Analyse dieser Differenzen und kommt zu der abschließenden These: „die transsexuelle Geschlechtsveränderung, d.h. die moderne Geschlechtsveränderung, erfolgt im Rahmen und gemäß den strukturellen Möglichkeiten der azentrischen Form der Geschlechterunterscheidung. Demnach ist die männliche Position von der weiblichen durch einen kontradiktorischen Gegensatz unterschieden, während die weibliche Position von der männlichen durch einen polaren Gegensatz unterschieden ist, wodurch ein gleitender Übergang möglich wird“ (Lindemann, 2011: 202).
Ihre theoretische Haltung zur Transsexualität und damit der Leitfaden dieser Studie liegt in Helmut Plessners Theorie zur „exzentrischen Positionalität“, welche die personale Umweltbeziehung meint „deren Struktur Plessner in ständiger Spannung zur „zentrischen Positionalität'' entwickelt (Lindemann, 2011: 34). Das leibliche Selbst ist demnach auf die Umwelt bezogen und zugleich von ihr distanziert. Durch die Distanz zu dem eigenen Selbst wiederum wird nicht nur die Umwelt erlebt, sondern auch das die Umwelt erfahrende leibliche Selbst.
Lindemann zieht Plessners Ansatz dem der anfangs aufgeführten Ethnomethodologie vor, „weil er es erlaubt, die Strukturen der Umweltbeziehung unverkürzt in den Blick zu nehmen“ (Lindemann 2011: 37). Es wird neben dem aktiven Modus des Selbst noch mit der passiven Anwesenheit im sozialen Feld ergänzt, womit sich das Funktionieren sozialer Kontrolle und damit die Stabilität der sozialen Strukturen besser erfassen lassen können.
Neben dieser Theorie bedient sie sich noch den umfangreichen Analysen von Leiblichkeit und Affektivität von Hermann Schmitz (1964-1980), aus der sie den Begriff der leiblich-affektiven Umweltbeziehung übernimmt, der im Laufe des Buches häufig zum Tragen kommt. Die Wirklichkeit nach Schmitz wird an leibliche Erfahrungen von Individuen gebunden, unterliegt aber nicht deren Macht, sondern ist selbst ein Konstituens sozialer Strukturen.
Der Anspruch den Lindemann mit dieser Studie verfolgt, liegt darin, dem Leser über den theoretischen Bezug aufzuzeigen was Transsexualität für die Wirklichkeit und Differenz von Geschlechtern bedeutet. Außerdem entwickelt und bestätigt sie für sich ihre Theorie zur azentrischen Form der Geschlechterunterscheidung, die zeigen soll, dass Mann und Frau sich in anderer Weise voneinander unterscheiden als andersherum. Es wird jedoch noch einiges mehr geboten in diesen fünf Kapiteln, die über lange Abschnitte hinweg sehr persönliche, intime Einblicke in das Empfinden und die Beziehungen von Transsexuellen und Angehörigen ermöglichen, um daraufhin von Lindemann in ihre theoretischen Vorüberlegungen einbezogen zu werden. An manchen Stellen geht dies soweit, dass der Eindruck entsteht, sie würde zwanghaft versuchen die Erzählungen der Personen in Theorien eingliedern zu können, meist jedoch ist ihr Übergang von der praktischen Empirie zur Theorie fließend und nachvollziehbar. Die Studie liefert einiges an Informationen und Input, bietet jedoch relativ wenig Einsicht in die Zeit, die vor der Erkenntnis der Geschlechtszugehörigkeit steht und zur bewussten Identifikation mit dem anderen Geschlecht führte, wobei mir eben dieser Teil als sehr interessant und bedeutsam erscheint um den Prozess der Geschlechterwirklichkeit für Transsexuelle nachvollziehen zu können. Das wird daran liegen, dass Lindemann nicht versucht eine Genealogie der transsexuellen Entwicklung nachzuzeichnen, sondern ihren Fokus ausdrücklich darauf legt, zu untersuchen was wir anhand des Phänomens Transsexualität über die moderne Geschlechterdifferenz sagen können. Lindemann entscheidet sich auf eine kultursoziologische Diagnose zum Thema Transsexualität zu verzichten und stattdessen weiterhin auf erkenntnistheoretischer Ebene zu erforschen.
Das etwas irritierende an Lindemanns Studie sind ihre finalen Aussagen zur Transsexualität. In diesen spricht sie Transsexuellen als Folge des paradoxen Wesens der Transsexualität die Möglichkeit ab, eine normale Form des Geschlechtseins jemals zu erreichen. Für jemanden der sich im Feld nicht nur als Soziologin, sondern auch als Beraterin für Transsexuelle bewegt, erscheinen diese Aussagen besonders hart. Die Paradoxie besteht für sie darin, dass für Transsexuelle ihre eigene Personalität zur wesentlichen Voraussetzung für das neue Geschlecht wird. Dabei wird die Unveränderbarkeit des Geschlechts aufgehoben, das vorher durch den Körper determiniert war, der nun aber nicht mehr länger der autoritative Faktor ist. Durch ihre Personalität verneinen Transsexuelle, dass ihr Körper ihr Geschlecht determiniert, gleichzeitig sehnen sie sich aber nach einem anderen Körper, der dem der Personalität angepasst ist, was darauf schließen lässt, dass der Körper doch das Geschlecht bestimmt. Ergänzend dazu konstatiert Lindemann, dass „die Wirklichkeit des neuen Geschlechts immer von "ich"-bezogenen Realisierungseffekten, mithin von personalen Strukturen, abhängig“ bleibt und weiter: „[...] zumindest der Bezug auf die Vergangenheit macht das neue Geschlecht als eine normale Form des Geschlechtseins, d.h. als eines, das immer schon existiert hat, zu einer Unmöglichkeit“ (Lindemann, 2011: 295).
Trotz meiner vorigen kritischen Bemerkungen ordne ich Gesa Lindemanns Studie als differenziert und lohnenswert ein und besonders geeignet für Einsteiger in das Thema, um einen ausführlichen Überblick und Einblick in das Thema Transsexualität aus verschiedenen Sichtweisen zu bekommen.
Literaturverzeichnis:
Lindemann, G. Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl; Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011
Hirschauer, S. Die soziale Konstruktion der Transsexualität; Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993
Deutsches Institut für Jugend und Gesellschaft. Studien über Transsexualität. http://www.dijg.de/transsexualitaet-geschlechtsumwandlung/studien/
(Zugriff Aug 20, 2016)
GenderWunderLand. Wissenschaftliche Bücher über Transgender.
http://www.genderwunderland.de/medien/buecher/buecherwissenschaft
2.html
(Zugriff Aug 15, 2016)
The Transadvocate. Gender Performance: The TransAdvocate interviews Judith Butler.
http://transadvocate.com/gender-performance-the-transadvocate-
interviews-judith-butler n 13652.htm
(Zugriff: Aug 16, 2016)
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- Arbeit zitieren
- Sarah Stäbler (Autor:in), 2016, Das paradoxe Geschlecht nach Gesa Lindemann. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/434373
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