Die vorliegende Arbeit wird versuchen, Reibungspunkte zwischen dem Neuen Theater Elfriede Jelineks und dem traditionellen herrschenden Code, deren Nichtbeachtung einige wichtige Initiativen ihrer theatralischen Texte vereinnahmend schluckt, anhand des Beispiels "Krankheit oder Moderne Frauen" [Jelinek, Elfriede: Krankheit oder Moderne Frauen. In: dies.: Theaterstücke. Herausgegeben von Regine Friedrich. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004, S. 192-265] aufzuzeigen. Dazu werden in den ersten beiden Kapiteln des Hauptteils vorerst beide Theaterentwürfe einander theoretisch gegenübergestellt.
Daran anschließend finden ausgewählte Elemente der neuen Dramatik bezüglich des erwähnten Stückes exemplarische Darstellung, was schließlich in die ebenso exemplarische Illustration der Schwierigkeiten bei der szenischen Umsetzung dieses speziellen Textes nach herkömmlichen Methoden mündet. Ein wiederum allgemeingültig gehaltenes Kapitel behandelt schlussendlich mögliche Lösungen der angesprochenen Problematik.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der gegenwärtige Theatercode
3. Das Neue Theater der Elfriede Jelinek
4. Das Beispiel Krankheit oder Moderne Frauen
1. Die Elemente des Neuen Theaters im Stück
2. Die Reibungspunkte mit dem herrschenden Code
5. Mögliche Lösungen
6. Zusammenfassung
7. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Elfriede Jelinek ist eine Dramatikerin, die, wenn sie die Welt anschaut, nie dazulernen möchte.“[1] Trotzdem scheint sich gerade diese Haltung der Autorin mit all ihrem Haß und den scheinbar unmäßigen Textmengen widerstandslos in die heutige Theaterwelt einzufügen: Stecken, Stab und Stangl wurde im Jahr 1996 zum ‚Stück der Saison’ gekürt, nach der geglückten Wiener Inszenierung von Ein Sportstück wurde Jelinek 1998 ‚Autorin des Jahres’ und 2002 bekam sie schließlich den Berliner Theaterpreis.[2]
Scheinbar nichts erinnert mehr daran, wie sie von deutschen und vor allem österreichischen Bühnen als Stiefkind behandelt wurde und das aus einem sehr oft formulierten Grund: die Stücke sind mit den Mitteln des existierenden Theaterapparats einfach nicht zu spielen.
Berücksichtigt man nun die dazu völlig gegenteilige Situation der unmittelbaren Gegenwart, wirft sich augenscheinlich eine Möglichkeit auf, die Jelineks Texten schlussendlich doch noch den Weg in die erfolgreiche theatralische Produktion bahnte: zuforderst steht dabei die Annahme einer „geistlose[n]“[3] Geschichte dieses Kunstgewerbes, das die Stücke ausschließlich nur zum Zwecke der Abgrenzung zu früherer Zeit spielt – aber eben aus dem gleichen Grund, der damals ihre Aufführung verhinderte.[4] Daran schließt sich jedoch sofort der Gedanke an eine willkürliche Dramaturgie an, die Jelineks unbändige Textströme gezielt kanalisiert und damit wiederum nur dem Primat des Theaters unterwirft.[5] Zu dieser Problematik finden sich unzählige versteckte wie auch deutlich markierte Anspielungen innerhalb des dramatischen Werkes der Österreicherin.[6]
Die allmähliche Konstituierung neuer Impulse – welche die Stücke der Autorin zweifellos implizieren und somit weiterhin dem Theater eine Chance bieten, sich gesellschaftlich wieder ins Gespräch zu bringen – vor allem in Bezug auf den Einsatz eines neuen Codes, der auch Jelineks theoretischen Theaterentwurf ausdrücklich mit einbezieht, sucht man noch immer vergebens. Natürlich wäre es utopisch anzunehmen, eine jahrhundertealte Ordnung sei innerhalb kürzester Frist zu demontieren, scheint doch die „beliebige Postmoderne der Spielpläne“[7] eher Klassikern ein neues Gewand übersteifen zu wollen als das wirklich Neue auch als solches zu erkennen und entsprechend progressiv – nicht regressiv – zu behandeln.[8]
Die vorliegende Arbeit wird im Folgenden versuchen, Reibungspunkte zwischen dem Neuen Theater Elfriede Jelineks und dem traditionellen herrschenden Code, deren Nichtbeachtung einige wichtige Initiativen ihrer theatralischen Texte vereinnahmend schluckt, anhand des Beispiels Krankheit oder Moderne Frauen[9] aufzuzeigen. Dazu werden in den ersten beiden Kapiteln des Hauptteils vorerst beide Theaterentwürfe einander theoretisch gegenübergestellt. Daran anschließend finden ausgewählte Elemente der neuen Dramatik bezüglich des erwähnten Stückes exemplarische Darstellung, was schließlich in die ebenso exemplarische Illustration der Schwierigkeiten bei der szenischen Umsetzung dieses speziellen Textes nach herkömmlichen Methoden mündet. Ein wiederum allgemeingültig gehaltenes Kapitel behandelt schlussendlich mögliche Lösungen der angesprochenen Problematik.
Grundlage der Ausführungen bilden zum einen Primäraussagen der Autorin selbst[10], zum anderen stützen sie sich besonders auf die Publikation von Corina Caduff[11], verschiedene allgemeinere Beitrage zu den Theaterstücken Jelineks[12], kleinere Kommentare zu Krankheit oder Moderne Frauen[13] sowie mehrere variierende Internetveröffentlichungen[14] und aktuelle Zeitschriftschriftenaufsätze[15].
2. Der gegenwärtige Theatercode
Das illusionistische Theater basiert auf der Zuordnung von Signifikat und Signifikant. Das propagierte Unikum der Symbolsetzungen wird so theatralisch überhöht wiedergegeben: „je illusionistischer das Theater, desto symbolischer sein Code“[16]. Der wichtigste Bedeutungsträger dabei bleibt der Schauspielkörper. Konträr zu anderen künstlerisch eingesetzten Medien ist er gleichzeitig Objekt und Subjekt seiner Produktion, denn statt körperfremdem Material bedienen sie sich ausschließlich ihrer eigenen Physis, womit der Signifikant hier völlig mit dem Material des Signifikats übereinstimmt. Notwendigerweise muss dadurch der Fokus des Arbeitsprozesses auf der jeweiligen Individualität des einzelnen Schauspielers liegen, die sich zwangsläufig mit dessen Endprodukt verbindet. Dem menschlichen Körper ist daher ein „physische[r] Null-Zustand“[17] auf der Bühne in keinem Fall möglich. Die unmittelbare Sinngebung begründet sich in dem Zusammenspiel von Textkörper, Schauspielkörper und schauspielerischen Code.
Selbst der Bereich des nicht-illusionistischen Theaters – weitestgehend gekennzeichnet durch eine freie symbolistische Zuordnung - bedient sich dem organischen Element als das, was es darstellt: einen Menschen, der technisch sehr schwer zerlegbar ist, denn die markante Verbindung seiner Gliedmaßen ist im Gegensatz zu anderen ästhetischen Artefakten nicht veränderbar. Der Schauspieler fungiert damit als Ganzheit, was ihm den Weg zu künstlerischer Heterogenität versperrt. Einzig die Gebärdensprache bietet hier eine Möglichkeit, die „theatralische Imitation des Symbolischen“[18] wenigstens teilweise zu umgehen.
Solange die beschriebene Ordnung durch die Materialisierung entsprechender dramatischer Werke im Sinne heutiger, allgemein bekannter, jeweils kulturell geprägter Zeichensysteme beibehalten wird, ist ein nicht-symbolisches, etablierte Einheiten zersetzendes Programm im Theater im höchsten Maße schwierig umzusetzen, repetiert es doch eben nicht wie ersteres den herrschenden gesellschaftlichen Diskurs, der ferner auch für das Verständnis des Publikums fast unabdingbar ist.[19]
3. Das Neue Theater der Elfriede Jelinek
In ihrem metatheatralischen Text „Ich möchte seicht sein“, der 1990 vollständig erschien, bringt Elfriede Jelinek ihre Abneigung gegen die bestehenden Strukturen des gegenwärtigen Theaters und insbesondere gegen den Schauspieler als zentrales Element der theatralischen Produktion deutlich zum Ausdruck.[20]
Ihre Position beschreibt den lebendigen, dreidimensionalen Schauspielkörper und dessen Ausdruck als „unnötig“[21] und „ohne Sinn“[22]. Dessen Charakteristikum, sich fremde Personen im Sprechen und Spielen anzueignen und ihnen damit Leben einzuhauchen, ist für die Autorin die Darstellung einer „falschen Einheit“[23], die es zu unterlaufen gilt[24], indem „Unbelebtes erzeug [ t ]“[25] beziehungsweise „dem Theater das Leben“[26] ausgetrieben wird.
Die Autorin stellt ihre Stücke dadurch dem psychologischen Theater entgegen, da sie sich dem Leben, „der Einheit von körperlicher Gebärde, Bild und Wort“[27] verweigern[28], denn dem Zuschauer soll, indem er auf der Bühne nicht sieht, „was er hört“[29], die Möglichkeit des autonomen Assoziierens vorbehalten werden.[30]
Damit führt Elfriede Jelinek die Tradition von Brechts epischem Theater weiter, die sie aber an einem wichtigen Punkt zuspitzt: Statt einheitlich fremdes Leben auf der Bühne zu verkörpern, soll der Schauspieler „sagen, was sonst kein Mensch sagt, denn es ist ja nicht Leben“[31]. Wo Brecht die verfremdenden Desybolisierungsleistungen – gerichtet gegen jede Art der Einfühlung auf dem Theater – vorrangig erst in der körperlichen Darstellungsebene realisierte, leistet Jelinek diese schon auf literarischer Stufe.[32]
Jelineks Gestalten werden dadurch entpersonalisiert und von jeder körperlichen, individuellen menschlichen Regung entbunden[33], etablieren sich so als reine, „überdimensionale Sprachmaschinen“[34], die nur während des Sprechens selbst explizit existieren und sonst völlig verschwunden sind.[35]
[...]
[1] Zitiert nach: Stadelmaier, Tollwut.
[2] Vgl. Kurzenberger, moralische Anstalt, S. 21 und Scharang, Moderne, S. 1.
[3] Zitiert nach: Scharang, Moderne, S. 1.
[4] Vgl. Scharang, Moderne, S. 1.
[5] Vgl. ebd. und Stadelmaier, Tollwut, der jedoch in seinem Text die völlig gegensätzliche Meinung vertritt.
[6] Vgl. Caduff, Theatertexte, S. 236-237.
[7] Zitiert nach: Landes, Zu Elfriede Jelineks Stück, S. 89.
[8] Vgl. Nyssen, Nachwort, S. 266-267 und Caduff, Theatertexte, S. 245, 263.
[9] Jelinek, Elfriede: Krankheit oder Moderne Frauen. In: dies.: Theaterstücke. Herausgegeben von Regine Friedrich. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 72004, S. 192-265 (Künftig: K, [Seitenzahl]).
[10] Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. In: Gürtler, Christa (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik 1990, S. 157-161 (Künftig: Jelinek, Ich möchte seicht sein); Roeder, Anke: „Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater.“ Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: dies.: Autorinnen. Herausforderungen an das Theater. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1989, S. 141-160 (Künftig: Roeder, Autorinnen); Reiter, Wolfgang: Elfriede Jelinek. In: Wiener Theatergespräche. Über den Umgang mit Dramatik und Theater. Wien: Falter Verlag 1993, S. 15-27 (Künftig: Reiter, Theatergespräche); Interview mit Elfriede Jelinek, geführt von Anke Roeder, abrufbar unter: http://www.ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/INTERVW.HTM (Künftig: Roeder, Interview).
[11] Caduff, Corina: Ich gedeihe inmitten von Seuchen. Elfriede Jelinek – Theatertexte. Bern, Berlin, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang Verlag 1991 (= Züricher Germanistische Studien, Bd. 25) (Künftig: Caduff, Theatertexte).
[12] Nyssen, Ute: Nachwort. In: Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Herausgegeben von Regine Friedrich. Hamburg: Rowohlt Taschebuch Verlag 72004, S. 266-285 (Künftig: Nyssen, Nachwort); Dies.: Zu den Theaterstücken Elfriede Jelineks. In: Fürs Theater schreiben. Über zeitgenössische deutschsprachige Autorinnen. Bremen: Zeichen und Spuren 1986 (= Schreiben. Frauen-Literatur-Forum 29/30), S. 75-89 (Künftig: Nyssen, Zu den Theaterstücken); Haß, Ulrike: Grausige Bilder. Große Musik. Zu den Theaterstücken Elfriede Jelineks. In: Text und Kritik (1993), Heft 117: Elfriede Jelinek, S. 21-30 (Künftig: Haß, Grausige Bilder).
[13] Landes, Brigitte: Zu Elfriede Jelineks Stück Krankheit oder Moderne Frauen. In: Fürs Theater schreiben. Über zeitgenössische deutschsprachige Autorinnen. Bremen: Zeichen und Spuren 1986 (= Schreiben. Frauen-Literatur-Forum 29/30), S. 89-95 (Künftig: Landes, Zu Elfriede Jelineks Stück); Jung, Martin: Elfriede Jelinek: Krankheit oder Moderne Frauen. In: Weber, Richard (Hg.): Deutsches Drama der 80er Jahre. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1992, S. 250-263 (Künftig: Jung, Krankheit): Janz, Marlies: Krankheit oder Moderne Frauen. In: dies.: Elfriede Jelinek. Stuttgart: Metzler Verlag 1995, S. 87-99 (Künftig: Janz, Frauen); Ruthner, Clemens: Dämon des Geschlechts: VampirInnen in der österreichischen Literatur nach 1955 (Bachmann, Artmann, Jelinek, Neuwirth). In: Modern Austrian Literature 31 (1998), H. 3-4, S. 65-88 (Künftig: Ruthner, Dämon).
[14] Gerhard Stadelmaier: Jelineks Theaterstücke. Bambis Tollwut, abrufbar unter: http://www.faz.net/s/RubEBDD5EF3D7744C408A8E6C3311718848/Doc~ED0622693B29649DFAFB0A30B5A3F18A7~ATpl~Ecommon~Scontent.html (30.06.2005, künftig: Stadelmaier, Tollwut); C. Bernd Sucher, Die Dramatikerin Elfriede Jelinek: Die Textflächenfrau, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/784/40744/ (30.06.2005, künftig: Sucher, Textflächenfrau); Theoretischer Exkurs: Ursachen und Formen des ‚postmodernen’ Theaters’, abrufbar unter: http://www.ni.schule.de/~pohl/literatur/theater/tendenzen.htm (30.06.2005, künftig: Theoretischer Exkurs).
[15] Schnelle, Barbora: Aktualität der Dramatik Elfriede Jelineks für das tschechische Theater. In: Theaterwissenschaft 47 (2002), H. 3-4, S. 125-133 (Künftig: Schnelle, Aktualität); Scharang, Michael: Die Sache der Moderne. In: Theater heute (2002), H. 6, S. 1-2 (Künftig: Scharang, Moderne); Kurzenberger, Hajo: Die heutige Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet. Über das Erbe der Aufklärung im postdramatischen Theater der Elfriede Jelinek. In: Forum Modernes Theater (2000), H. 1, S. 21-37 (Künftig: Kurzenberger, moralische Anstalt).
[16] Zitiert nach: Caduff, Theatertexte, S. 248.
[17] Zitiert nach: ebd., S. 250.
[18] Zitiert nach: ebd., S. 252.
[19] Vgl. Zum Gesamtkomplex: Caduff, Theatertexte, S. 246-254.
[20] Vgl. Caduff, Theatertexte, S. 237.
[21] Zitiert nach: Jelinek, Ich möchte seicht sein, S. 158.
[22] Zitiert nach: ebd.
[23] Zitiert nach: ebd., S. 157.
[24] Vgl. ebd.
[25] Zitiert nach: Roeder, Autorinnen, S. 153.
[26] Zitiert nach: ebd.
[27] Zitiert nach: Caduff, Theatertexte, S. 239.
[28] Vgl. Roeder, Autorinnen, S. 143.
[29] Zitiert nach: ebd., S. 153.
[30] Vgl. ebd.
[31] Zitiert nach: Jelinek, Ich möchte seicht sein, S. 157.
[32] Vgl. Caduff, Theatertexte, S. 239.
[33] Vgl., Reiter, Theatergespräche, S. 20. Demnach wird jedwede Emotion, Willensäußerung und Sensibilität durch die Sprache selbst transportiert und der Pathos findet damit ausschließlich auf der sprachlichen Ebene statt, vgl. Nyssen, Zu den Theaterstücken, S. 82.
[34] Zitiert nach: ebd., S. 22.
[35] Vgl. ebd., S. 23-24. So kann es der Autorin laut eigener Aussage durchaus passieren, dass sie eine Figur, die gerade nicht spricht, völlig vergisst, diese damit nicht länger steuert und ihr keine weitere Handlung zuweist, vgl. S. 24.
- Quote paper
- Henriette Kunz (Author), 2005, "Ich komme von der Sprache her." - Das Neue Theater der Elfriede Jelinek und seine Konfrontation mit dem herrschenden Code, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43347
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