Die vorliegende Arbeit zur Theorie des politischen Philosophen John Rawls (1921-2002) ist in drei Teile gegliedert:
Zunächst soll im ersten Teil seine Konzeption, die als „Gerechtigkeit als Fairneß“ bekannt wurde, dargestellt und erläutert werden. Hierzu werden Aufsätze aus den Jahren 1978-1989 herangezogen, die in der deutschen Fassung von Wilfried Hinsch unter dem Titel „Die Idee des politischen Liberalismus“ herausgegeben wurden. Rawls hatte die ursprüngliche Version seiner Theorie, die „Theorie der Gerechtigkeit“, in diesen Aufsätzen u.a. um das „Faktum des Pluralismus“ erweitert, was für den zweiten Teil dieser Arbeit wichtig sein wird. Rawls stellt in seiner Theorie Bedingungen, die er für die Entwicklung und Durchsetzbarkeit einer Gerechtigkeitskonzeption grundlegend hält. Diese Grundkonstanten sollen zunächst erläutert werden. Daraufhin soll auf Rawls Konzeption eingegangen werden, die er unter Berücksichtigung der Grundkonstanten für realisierbar hält und in derem Zentrum die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze stehen. Wie diese Grundsätze im politischen Prozess Anwendung finden, soll erläutert werden, bevor die Rawlssche Konzeption schließlich gemäß seiner eigenen Formulierung als politisch und nicht metaphysisch charakterisiert wird.
Im zweiten Teil dieser Arbeit soll die Kritik von Jürgen Habermas an der politischen Theorie von Rawls nachvollzogen werden. Diese Kritik geht aus einer Debatte hervor, die von den beiden Philosophen in drei Aufsätzen geführt wurde. Da sich Habermas in großen Teilen seines Werkes damit beschäftigt, wie ein gerechtes Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften des nachmetaphysischen Zeitalters möglich sein kann, teilt er eine grundlegende Intention mit Rawls. Dies beschreibt er selbst, indem er feststellt, dass sich der Dissens zwischen ihm und Rawls „in den engen Grenzen eines Familienstreits“ bewegt. Habermas Kritik zeichnet sich dadurch aus, dass er sie von einer internen Position der Rawlsschen Theorie aus entwickelt. Durch diese Nähe ist es Habermas möglich, Rawls Annahmen zu Konsequenzen zu führen, die von Rawls zwar nicht intendiert, aber doch innerhalb seiner Theorie begründet werden können und somit gezogen werden müssen. Dass diese Konsequenzen vor allem prozedurale Aspekte betreffen, überrascht nicht, da Habermas in seinem eigenen Werk Möglichkeiten für ein gerechtes Zusammenleben im Verfahren des öffentlichen Diskurses zu entwickeln versucht.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die politische Theorie von John Rawls
2.1. Rawls Grundkonstanten für die Realisierbarkeit einer Gerechtigkeitskonzeption
2.1.1. Einführung
2.1.2. Der übergreifende Konsens
2.1.3. Der Urzustand
2.1.4. Die wohlgeordnete Gesellschaft
2.2. Gerechtigkeit als Fairness
2.2.1. Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze
2.3. Politischer Prozess nach dem Urzustand
2.3.1. Das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs
2.4. Eine politische, nicht metaphysische Konzeption
3. Jürgen Habermas` Kritik an der Theorie von John Rawls
3.1. Positionsbestimmung
3.2. Akzeptabilität und Akzeptanz beim übergreifenden Konsens
3.2.1. „Vernünftig“ als „freistehend“
3.2.2. Die zwei Perspektiven bei Rawls
3.2.3. Die Unwahrscheinlichkeit des übergreifenden Konsens
3.2.4. Die Notwendigkeit einer dritten Perspektive
4. Die Theorie von John Rawls im Kontrast zu Jürgen Habermas` Diskursethik
5. Resümee
Literaturverzeichnis
HABERMAS, Jürgen, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1999, S. 11-64. (Zitiert als HABERMAS [1999a])
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HABERMAS, Jürgen, ›Vernünftig‹ versus ›wahr‹ - oder die Moral der Weltbilder, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1999, S. 95-127. (Zitiert als HABERMAS [1999c])
HABERMAS, Jürgen, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1999, S. 65-94. (Zitiert als HABERMAS [1999b])
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RAWLS, John, Der Bereich des politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 333-363. (Zitiert als RAWLS [1992f])
RAWLS, John, Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 293-333. (Zitiert als RAWLS [1992e])
RAWLS, John, Der Vorrang der Grundfreiheiten, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 159-254. (Zitiert als RAWLS [1992c])
RAWLS, John, Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 364-398. (Zitiert als RAWLS [1992g])
RAWLS, John, Die Grundstruktur als Gegenstand, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 45-79. (Zitiert als RAWLS [1992a])
RAWLS, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979.
RAWLS, John, Erwiderung auf Habermas, in: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion, Frankfurt a. M. 1997, S.196-262. (Zitiert als RAWLS [1997b])
RAWLS, John, Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 255-292. (Zitiert als RAWLS [1992d])
RAWLS, John, Geschichte der Moralphilosophie. Hume, Leibniz, Hegel, Kant. Harvard-Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2002.
RAWLS, John, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a. M. 1992, 80-158. (Zitiert als RAWLS [1992b])
RAWLS, John, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998.
ROSS, Jan, Was ist Fundamentalismus?, Die Zeit, 40/2001.
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit zur Theorie des politischen Philosophen John Rawls (1921-2002) ist in drei Teile gegliedert:
Zunächst soll im ersten Teil seine Konzeption, die als „Gerechtigkeit als Fairneß“ bekannt wurde, dargestellt und erläutert werden. Hierzu werden Aufsätze aus den Jahren 1978-1989 herangezogen, die in der deutschen Fassung von Wilfried Hinsch unter dem Titel „Die Idee des politischen Liberalismus“ herausgegeben wurden. Rawls hatte die ursprüngliche Version seiner Theorie, die „Theorie der Gerechtigkeit“, in diesen Aufsätzen u.a. um das „Faktum des Pluralismus“[1] erweitert, was für den zweiten Teil dieser Arbeit wichtig sein wird. Rawls stellt in seiner Theorie Bedingungen, die er für die Entwicklung und Durchsetzbarkeit einer Gerechtigkeitskonzeption grundlegend hält. Diese Grundkonstanten sollen zunächst erläutert werden. Daraufhin soll auf Rawls Konzeption eingegangen werden, die er unter Berücksichtigung der Grundkonstanten für realisierbar hält und in derem Zentrum die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze stehen. Wie diese Grundsätze im politischen Prozess Anwendung finden, soll erläutert werden, bevor die Rawlssche Konzeption schließlich gemäß seiner eigenen Formulierung als politisch und nicht metaphysisch charakterisiert wird.
Im zweiten Teil dieser Arbeit soll die Kritik von Jürgen Habermas an der politischen Theorie von Rawls nachvollzogen werden. Diese Kritik geht aus einer Debatte hervor, die von den beiden Philosophen in drei Aufsätzen geführt wurde.[2] Da sich Habermas in großen Teilen seines Werkes damit beschäftigt, wie ein gerechtes Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften des nachmetaphysischen Zeitalters möglich sein kann, teilt er eine grundlegende Intention mit Rawls. Dies beschreibt er selbst, indem er feststellt, dass sich der Dissens zwischen ihm und Rawls „in den engen Grenzen eines Familienstreits“[3] bewegt. Habermas Kritik zeichnet sich dadurch aus, dass er sie von einer internen Position der Rawlsschen Theorie aus entwickelt. Durch diese Nähe ist es Habermas möglich, Rawls Annahmen zu Konsequenzen zu führen, die von Rawls zwar nicht intendiert, aber doch innerhalb seiner Theorie begründet werden können und somit gezogen werden müssen. Dass diese Konsequenzen vor allem prozedurale Aspekte betreffen, überrascht nicht, da Habermas in seinem eigenen Werk Möglichkeiten für ein gerechtes Zusammenleben im Verfahren des öffentlichen Diskurses zu entwickeln versucht.
Trotz dieser familiären Atmosphäre geht aus dem Dissens eine grundlegende Verschiedenheit unter den Theorien der beiden Philosophen hervor. Diese soll im dritten Teil dieser Arbeit erläutert werden. Die kontrastierende Wirkung der Abgrenzung zu Habermas kann dabei helfen, Konturen der Rawlsschen Theorie hervorzuheben, die ihr als liberalistische Theorie eigen sind.
2. Die politische Theorie von John Rawls
Die folgende Darstellung der politischen Theorie von John Rawls muss ob des begrenzten Umfangs dieser Arbeit unvollständig bleiben. Sie soll allerdings dem Anspruch genügen, die für das Verständnis seiner Theorie wichtigsten und hinreichenden Komponenten vorzustellen.
2.1. Rawls Grundkonstanten für die Realisierbarkeit einer Gerechtigkeitskonzeption
Rawls trennt die nun folgenden Bausteine seiner Theorie, die ich Grundkonstanten nenne, nicht explizit von seiner Gerechtigkeitskonzeption. Und doch tut man seiner Theorie keinen Zwang an, wenn man sie zunächst von seinen beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen unabhängig betrachtet, weil davon ausgegangen werden muss, dass sie unabhängig von einer bestimmten Konzeption als Voraussetzung für ein gerechtes Zusammenleben in einer Gesellschaft bindend sein sollen.
2.1.1. Einführung
Rawls stellt fest, dass die Vielfalt von umfassenden Lehren – das sind religiöse, philosophische und moralische Lehren – ein dauerhaftes Phänomen in den modernen demokratischen Gesellschaften ist.[4] Somit ist die Gesellschaft nicht weiter eine Gemeinschaft, „deren Einheit auf einer umfassenden Konzeption des Guten beruht“[5]. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass die verschiedenen Lehren in einer Gesellschaft einander entgegengesetzt und inkommensurabel sind. Daher kann es nicht Aufgabe der politischen Philosophie sein, eine einheitliche Konzeption des Guten zu suchen, der alle Mitglieder der Gesellschaft zustimmen könnten. Dies ist schlicht unmöglich, da eine solche Konzeption einen Wahrheitsanspruch erheben müsste und somit zu den bestehenden umfassenden Lehren in Konkurrenz träte, ohne einen Anspruch auf allgemeine Geltung erheben zu können. Rawls stellt dementsprechend für die herzustellende soziale Einheit einer pluralistischen Gesellschaft fest:
Soziale Einheit beruht nicht länger auf einer Konzeption des Guten, die durch einen gemeinsamen religiösen Glauben oder eine gemeinsame philosophische Lehre vorgegeben wird, sondern auf einer geteilten öffentlichen Gerechtigkeitskonzeption, die dem Begriff des Bürgers eines demokratischen Staates als freier und gleicher Person angemessen ist.[6]
Eine für die Vertreter der einzelnen Lehren zustimmungsfähige Konzeption muss also frei von jeglichen Wahrheitsansprüchen sein und sich von ethischen Normen fern halten.
Die Konzeption muss darauf zugeschnitten sein, die Zustimmung aller Vertreter der umfassenden Lehren erhalten zu können, um so eine gerechte Grundstruktur zu gewährleisten, die wiederum Voraussetzung für Stabilität ist. Unter Grundstruktur versteht Rawls „die Art und Weise, in der die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen sich zu einem System zusammenfügen, und in der durch sie grundlegende Rechte und Pflichten zugewiesen und die Erträge sozialer Kooperation verteilt werden“[7]. Eine Gerechtigkeitskonzeption wird nach Rawls ausgearbeitet, um auf diese Grundstruktur angewendet zu werden.[8] Da die Grundstruktur einen „regulativen Vorrang gegenüber den Grundsätzen und Standards [hat], die für andere Fälle angemessen sind“[9], ist sie bei Rawls der erste Gegenstand der Gerechtigkeit.
2.1.2. Der übergreifende Konsens
Die Gerechtigkeitskonzeption, nach der die Grundstruktur geformt werden soll, muss so konzipiert sein, dass sie eine freie und bereitwillige Übereinkunft zwischen den Vertretern der verschiedenen umfassenden Lehren darstellt, „und so suchen wir nach einer politischen Gerechtigkeitskonzeption, die von einem übergreifenden Konsens […] getragen werden kann“[10].
Für das Verhältnis zwischen der Konzeption und dem Konsens ist ein Aufsatz von Rawls aufschlussreich, der unter dem Titel „The Domain of the Political and Overlapping Consensus“ in der New York Law Review[11] 1989 veröffentlicht wurde und in dem er zwischen zwei Stufen in der Darstellung von Gerechtigkeit als Fairneß unterscheidet. Rawls betont hier, „daß der Gedanke eines übergreifenden Konsenses erst auf der zweiten Stufe in Anspruch genommen wird“[12]. Auf der ersten Stufe müsse eine politische Gerechtigkeitskonzeption dargestellt werden, „welche die sehr bedeutenden Werte ausdrückt, die dem besonderen Bereich des Politischen zukommen, wie er durch die Grundstruktur der Gesellschaft umrissen wird“[13]. Der übergreifende Konsens kommt also in Rawls Theorie erst nach der Konzeption zum Tragen: „In einem solchen Konsens stimmen die Bürger, die sonst verschiedenen und einander widerstreitenden umfassenden Lehren anhängen, dieser politischen Konzeption zu […].“[14]
Dass die Konzeption von einem übergreifenden Konsens getragen wird, heißt also nicht, dass sich der politische Philosoph bei seiner Konzeption von einem bereits erzielten Konsens leiten lässt. Vielmehr versucht Rawls zunächst, bei dem Entwurf seiner Gerechtigkeitskonzeption „ausschließlich auf grundlegende intuitive Gedanken zurückzugreifen, die in den politischen Institutionen eines demokratischen Verfassungsstaates und den öffentlichen Traditionen ihrer Interpretation verankert sind“[15]. Zu diesen intuitiven Gedanken schreibt Rawls: „Wir vermuten, daß diese Gedanken von jeder der widerstreitenden umfassenden Morallehren bejaht werden, die in einer hinreichend gerechten demokratischen Gesellschaft Einfluß haben“[16]. Daraufhin müsse man „hoffen, daß sie [die Gerechtigkeitskonzeption] zumindest durch einen […] übergreifenden Konsens gestützt wird“[17]. Rawls Methode ist hier zum einen empirisch, indem er versucht, aus vorhandenen Institutionen und Traditionen auf Grundlegendes zu schließen. Sie ist aber auch und vor allem konstruktivistisch, da er diese empirisch gewonnenen Daten als „Ausgangsmaterial“[18] dazu verwendet, eine Konzeption in Form von inhaltlichen Gerechtigkeitsgrundsätzen zu konstruieren, die eine Verbindung mit den Bürgern derart herstellen kann, dass sie zu Geltung kommen kann.
Der übergreifende Konsens, von dem eine solche Konzeption im Idealfall getragen wird, soll aus den wesentlichen Elementen der umfassenden Lehren bestehen, „in denen sich die umfassenden Lehren überschneiden“[19]. Diese Elemente sind Schlussfolgerungen, zu denen die einzelnen Lehren aus ihren je eigenen Voraussetzungen kommen.[20] Für den Konsens sind nicht die Voraussetzungen von Bedeutung. Die Schlussfolgerungen, die für die Schnittmenge der Lehren kandidieren können, müssen frei von ihren jeweiligen Voraussetzungen sein, wenn man Voraussetzungen als das jeder umfassenden Lehre eigene Verständnis vom Guten, das mit einem Wahrheitsanspruch einhergeht, versteht.
Diese Einschränkung ist notwendig, wenn der Konsens dazu dienen soll, die Grundlage einer politischen Gerechtigkeitskonzeption zu sein. Denn ihr Politisch-Sein besteht darin, wie wir gesehen haben, dass sie aus allen Bürgern gemeinsamen intuitiven Gedanken konstruiert wird, die nicht aus umfassenden Lehren, sondern aus Institutionen und Traditionen ihrer Interpretation hergeleitet werden. Insofern bezieht sie sich nur auf politische, nicht metaphysische Werte. Unter politischen Werten versteht Rawls in erster Linie „die gleichen politischen und bürgerlichen Freiheiten, Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Gegenseitigkeit, das Gemeinwohl und alles für die Verwirklichung dieser Werte Notwendige“[21].
2.1.3. Der Urzustand
Durch den Urzustand soll gewährleistet werden, dass zwischen der Konzeption und der Person, welche die Konzeption als Grundlage ihrer sozialen Kooperation[22] nehmen soll, eine Verbindung hergestellt wird. Da die einzelnen Personen als Mitglieder einer Gesellschaft die Konzeption durch den übergreifenden Konsens als geltend anerkennen sollen, kann der Urzustand auch als das Instrument angesehen werden, das gewährleisten soll, dass die Konzeption konsensfähig ist. Konsensfähig wird die Konzeption nur sein, wenn sie den Bürgern ermöglicht, ihre individuellen Ziele und Zwecke, die sich aus den verschiedenen umfassenden Lehren ergeben, in einer von Toleranz geprägten Gesellschaft zu verfolgen. Daraus folgt, dass sie von ethischen Begründungen frei sein muss, denn sonst könnte sie die Grundstruktur nicht nach dem Kriterium der Toleranz gegenüber Konzeptionen des Guten ausrichten.
Um diese Konsensfähigkeit zu erreichen, hüllt Rawls die Parteien, die im Urzustand über die Gerechtigkeitskonzeption entscheiden sollen, mit einem „Schleier der Unwissenheit“[23] ein. Dieser bewirkt, „daß die Parteien die soziale Position der Personen die sie vertreten, ihre Konzeption des Guten […], ihre verwirklichten Anlagen und psychologischen Neigungen und vieles mehr nicht kennen“[24]. Sie wissen nur, dass die Personen eine Konzeption des Guten verinnerlicht haben, ohne zu wissen, „welchen Inhalt diese Konzeptionen haben“[25]. Wenn die Parteien überlegen, welche Gerechtigkeitsgrundsätze sie „aus einer kurzen Liste von Alternativen“[26] wählen, müssen sie das Ziel verfolgen, dass die Grundsätze es den von ihnen Vertretenen ermöglichen, von ihrer jeweiligen Konzeption des Guten aus zu handeln. Insofern werden sie sich für Grundsätze entscheiden, die diese Autonomie von Personen, die Rawls als die „rationale Autonomie“[27] bestimmt, schützt.
Dem Rationalen, also dem Vermögen, einer Konzeption des Guten gemäß zu handeln, tritt in Rawls Konzeption der Person noch ein zweites moralisches Vermögen hinzu: Das Vernünftige. Vernünftig zu sein bedeutet „die Fähigkeit, faire Bedingungen der Kooperation zu achten“[28] und aus einer freien Entscheidung heraus nach ihnen zu handeln. Die vollständige Autonomie von Personen besteht nach Rawls, wenn sie rational handeln und dieses Handeln „mit der Achtung fairer Bedingungen sozialer Kooperation, das heißt: mit unseren Gerechtigkeitsgrundsätzen […] vereinbaren“[29] können.
Die Parteien im Urzustand sind zwar nur rational-autonome Repräsentanten; durch die Bedingungen des Urzustands, namentlich dem Schleier der Unwissenheit, wird ihnen jedoch das Vernünftige auferlegt.[30] Da die Parteien, indem sie rational vorgehen, die rationale Autonomie an sich zu schützen gewillt sind, ohne sie auf eine bestimmte umfassende Lehre zu beziehen, werden sie Grundsätze wählen, denen die Personen ungeachtet der Inhalte ihrer je eigenen Konzeption des Guten zustimmen können und auch wollen. Somit verhelfen die Parteien den Personen dazu, dem Vernünftigen als zweitem moralischen Vermögen Ausdruck zu verleihen, indem sie ihnen die Grundlagen sozialer Kooperation in Form von Gerechtigkeitsgrundsätzen vorgeben, die von den Personen geachtet werden können.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rawls Kants kategorischen Imperativ in das Instrument Urzustand über setzt und gleichsam um setzt. Die Parteien sind gezwungen, so zu entscheiden, dass sie dem Ergebnis ihrer Wahl ungeachtet ihrer späteren sozialen Position und ungeachtet der speziellen umfassenden Lehre, die sie zu vertreten haben, zustimmen können. Insofern müssen die Grundsätze, die sie selbst befolgen wollen, zugleich für alle gelten können. Rawls Idee des Urzustands vermag sogar, einen problematischen Aspekt des kategorischen Imperativs zu überwinden, indem er dessen monologischen Charakter umgeht. Dieser besteht darin, dass der moralisch Handelnde nach Kant über ein allgemeingültiges Weltverständnis verfügen müsste, so dass das, was aus je seiner Sicht für alle gleichermaßen gut ist, tatsächlich für alle gleichermaßen gut ist. Da diese monologisch vorgenommene Rollenübernahme im Zeitalter des Pluralismus von Weltanschauungen nicht möglich ist, wird der Rawlssche Urzustand dem Faktum des Pluralismus eher gerecht, als der kategorische Imperativ. Dies gelingt Rawls, indem er den kategorischen Imperativ durch den Schleier der Unwissenheit des Urzustands um Einschränkungen erweitert, die die empirische Person aus der Rolle desjenigen, der eine Maxime aufstellt, entlässt und die konzeptuellen Parteien befähigt, Kants Forderungen an die praktische Vernunft zu erfüllen.
[...]
[1] KERSTING, Wolfgang: John Rawls zur Einführung. Hamburg 1993, S. 223.
[2] HABERMAS, Jürgen, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch, in: Ders., Die Einbeziehung des
Anderen, Frankfurt a.M. 1999, S. 65-94. HABERMAS, Jürgen, ›Vernünftig‹ versus ›wahr‹ - oder die Moral der Weltbilder, in: Ders., S. 95-127. Sowie RAWLS, John, Erwiderung auf Habermas, in: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion, Frankfurt a.M. 1997, S.196-262.
[3] HABERMAS [1999b], S. 67f.
[4] RAWLS, John, Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main 1998, S. 106 ff.
[5] RAWLS, John, Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a.M. 1992, S. 308, Fn. 18, kursiv durch den Verf.
[6] RAWLS , John, Der Vorrang der Grundfreiheiten, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a.M. 1992, S. 174.
[7] RAWLS, John, Die Grundstruktur als Gegenstand, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a.M. 1992, S. 45. Die politische Verfassung, die gesetzlich anerkannten Formen des Eigentums, die Wirtschaftsordnung und die Struktur der Familie nennt Rawls an dieser Stelle als Beispiele für Elemente der Grundstruktur.
[8] RAWLS [1992e], S. 296.
[9] Ebd.
[10] RAWLS [1992e], S. 299f.
[11] Ins Deutsche übersetzt vgl. RAWLS, John, Der Bereich des politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a.M. 1992, S. 333-363.
[12] RAWLS [1992f], S. 333f.
[13] RAWLS [1992f], S. 334.
[14] RAWLS, John, Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a.M. 1992, S 387.
[15] RAWLS, John, Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a.M. 1992, S. 258.
[16] RAWLS [1992d], S. 286.
[17] RAWLS [1992d], S. 258.
[18] RAWLS [1998], S. 186.
[19] RAWLS [1998], S. 307
[20] Vgl. Ebd.
[21] RAWLS, John, Das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs, in: Zur Idee des politischen Liberalismus, John Rawls in der Diskussion, Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/ Wilfried Hinsch (Hg.), Frankfurt am Main 1997, S. 124-125.
[22] Zum Begriff der sozialen Kooperation vgl. RAWLS [1992c], S. 170 ff.
[23] RAWLS [1992c], S. 175.
[24] Ebd.
[25] RAWLS [1992c], S. 181.
[26] Ebd.
[27] RAWLS [1992c], S. 176. Rawls ausführlich zu rationaler Autonomie: RAWLS [1992b], S. 96-98.
[28] RAWLS [1992c], S. 172.
[29] RAWLS [1992c], S. 176.
[30] Vgl. RAWLS [1992c], S. 176.
- Citation du texte
- Birger Menke (Auteur), 2005, Die politische Theorie von John Rawls: Grundkonstanten, Grundsätze und die Kritik von Jürgen Habermas, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42908
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