Die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes versteht sich als wehrhafte Demokratie . Dieser Grundsatz gehört zu den Strukturprinzipien der deutschen Verfassung. Er besagt im Wesentlichen, dass das Grundgesetz eine Vielzahl rechtlicher Maßnahmen enthält, um Bestrebungen von politischen Akteuren wirksam entgegentreten zu können, die das Ziel haben, das Grundgesetz abzuschaffen oder es in seinen zentralen Inhalten wesentlich zu verändern.
Ein besonders charakteristisches Merkmal, um gleichsam die Existenz und Identität des Grundgesetzes zu schützen, stellt dabei das Instrument der Grundrechtsverwirkung in Artikel 18 dar. Sie ist für den Fall gedacht, dass ein politisch Handelnder zwar die Grundrechte für seine politische Tätigkeit in Anspruch nimmt, aber seine Tätigkeit letztlich darauf hinauslaufen soll, die Freiheit zu zerstören, die ihm wiederum die Verfassung gibt und die somit Voraussetzung für seine eigene Tätigkeit ist. Einen solchen Gebrauch der Grundrechte gegen ihren Geist möchte das Grundgesetz mit dem Instrument der Verwirkung in Artikel 18 verhindern. Unter dem Schutz der Verfassung soll diese nicht bekämpft werden dürfen.
Allerdings wirft dieses Rechtsinstitut viele Fragen auf: Im Rahmen des Tatbestandes ist vor allem klärungsbedürftig, welche genaue Bedeutung die dort genannten einzelnen Merkmale haben, insbesondere wie man überhaupt zwischen Gebrauch und Missbrauch eines Grundrechtes trennen kann. Im Rahmen der Verwirkung als Rechtsfolge stellt sich das Problem, ob eine solche überhaupt möglich ist, − schließlich sind die Menschenrechte nach dem Grundgesetz, Art. 1 Abs.2, unveräußerlich; und wenn ja, welche Folgen damit einhergehen und was diese gerade so schwerwiegend für den Betroffenen machen.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Der Tatbestand der Grundrechtsverwirkung
A. Allgemeine Voraussetzungen
1) Das Konzept der Wehrhaften Demokratie
a) Historischer Hintergrund
b) Inhalt des Konzeptes
2) Die Schutzrichtung der Grundrechtsverwirkung
a) Angriffe „von oben“
b) Angriffe „von unten“
c) Kritik an der Schutzrichtung
3) Die freiheitlich demokratische Grundordnung als Schutzgut
a) Antitotalitäre Bedeutung als Begriffsgrenze negativer Gewissheit
b) Materielle Ausrichtung der Verfassung als Begriffskern
c) Unveränderlichkeit des Begriffkerns
d) Relative Weite des Begriffshofes
4) Praktische Relevanz der Grundrechtsverwirkung
B. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale
1) „Wer“ – der Adressatenkreis der Norm
2) Die verwirkbaren Grundrechte
a) Abschließende Enumeration?
aa) Ausweitung der Verwirkung auf alle Grundrechte
bb) Strikte, abschließende Enumeration
cc) Abschließende Enumeration mit Ausstrahlung auf andere Grundrechte
b) Identität von missbrauchtem und verwirktem Grundrecht?
aa) Keine Identität zwischen missbrauchtem und verwirktem Grundrecht
bb) Die Identitätslehre
3) Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung
a) Besondere Zielrichtung des Verhaltens
b) Besondere Art des Verhaltens
c) Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung impliziert Missbrauch
4) Die Gefährlichkeit der Person als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal
5) Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichtes
a) Konstitutive Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
b) Sperrwirkung gegenüber anderen Normen
c) Die hohen Hürden des Verfahrens
C. Die Verwirkung als Rechtsfolge
1) Das Verhältnis zum zivilrechtlichen Verwirkungsbegriff
a) Bedeutung der Verwirkung im Zivilrecht
b) Übertragung des zivilrechtlichen Verwirkungsbegriffes auf das
Verfassungsrecht?
2) Die Reichweite der Verwirkung
a) Totalverwirkungslehre
b) Teilverwirkungslehre
3) Die konkreten Auswirkungen der Verwirkungsentscheidung
a) Exekutive
b) Legislative
c) Judikative
III. Fazit
A. Besondere Ausprägung des Grunddilemmas der wehrhaften Demokratie in Artikel 18
B. Die zwei Lesearten der Grundrechtsverwirkung
C. Die „Lösung“ des Dilemmas der wehrhaften Demokratie in Artikel 18
D. Der bisherige praktische Umgang mit dem Dilemma
1) Dominierende restriktive Auslegung des Artikel 18
2) Erklärung für diese restriktive Auslegung
3) Praktische Lösung des Dilemmas durch seine Umgehung
E. Das Aufbrechen des Dilemmas in einer politischen Ausnahmelage – die Grundrechtsverwirkung 1932 im Deutschland der Weimarer Republik
F. Fazit des Fazits
IV. Literaturverzeichnis
Missbrauch von Grundrechten aus dem Blickwinkel der Wehrhaften Demokratie:
Die Grundrechtsverwirkung als Instrument der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes
I. Einleitung
Die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes versteht sich als wehrhafte Demokratie[1]. Dieser Grundsatz gehört zu den Strukturprinzipien der deutschen Verfassung.[2] Er besagt im Wesentlichen, dass das Grundgesetz eine Vielzahl rechtlicher Maßnahmen enthält, um Bestrebungen von politischen Akteuren wirksam entgegentreten zu können, die das Ziel haben, das Grundgesetz abzuschaffen oder es in seinen zentralen Inhalten wesentlich zu verändern.[3]
Ein besonders charakteristisches Merkmal, um gleichsam die Existenz und Identität des Grundgesetzes zu schützen, stellt dabei das Instrument der Grundrechtsverwirkung in Artikel 18 dar. Sie ist für den Fall gedacht, dass ein politisch Handelnder zwar die Grundrechte für seine politische Tätigkeit in Anspruch nimmt, aber seine Tätigkeit letztlich darauf hinauslaufen soll, die Freiheit zu zerstören, die ihm wiederum die Verfassung gibt und die somit Voraussetzung für seine eigene Tätigkeit ist.[4] Einen solchen Gebrauch der Grundrechte gegen ihren Geist möchte das Grundgesetz mit dem Instrument der Verwirkung in Artikel 18 verhindern. Unter dem Schutz der Verfassung soll diese nicht bekämpft werden dürfen.[5]
Allerdings wirft dieses Rechtsinstitut viele Fragen auf: Im Rahmen des Tatbestandes ist vor allem klärungsbedürftig, welche genaue Bedeutung die dort genannten einzelnen Merkmale haben, insbesondere wie man überhaupt zwischen Gebrauch und Missbrauch eines Grundrechtes trennen kann. Im Rahmen der Verwirkung als Rechtsfolge stellt sich das Problem, ob eine solche überhaupt möglich ist, − schließlich sind die Menschenrechte nach dem Grundgesetz, Art. 1 Abs.2, unveräußerlich; und wenn ja, welche Folgen damit einhergehen und was diese gerade so schwerwiegend für den Betroffenen machen.[6]
Darüber hinaus zielt die Problematik des Artikels 18 schließlich auf die Fragwürdigkeit des Konzeptes der Wehrhaften Demokratie als Ganzes. Denn ihre Maßnahmen – das macht der Artikel 18 deutlich – zielen letztlich darauf, Freiheit schützen zu wollen, indem sie bestimmten Kräften vorenthalten und abgesprochen wird. Deshalb müssen die Einzelfragen im Rahmen des Artikels 18 stets vor dem Hintergrund des Gesamtkonzeptes der wehrhaften Demokratie erörtert werden[7].
In der folgenden Arbeit sollen aus diesem Grunde nicht nur im einzelnen die verschiedenen Voraussetzungen und Probleme dargestellt werden, die mit dem Tatbestand und der Rechtsfolge des Artikel 18 zusammenhängen, sondern die Behandlung all dieser Einzelfragen soll letztlich vor dem Hintergrund folgender Leitfrage geschehen: Welche Antwort gibt das Grundgesetz in der konkreten Maßnahme der Grundrechtsverwirkung auf das Grenzproblem und Dilemma der wehrhaften Demokratie schlechthin: Nämlich einerseits politische und individuelle Freiheit wirksam gegen ihre Gegner sichern und schützen zu wollen; aber andererseits, um dies zu erreichen, Maßnahmen zu verwenden, wie etwa die Grundrechtsverwirkung, die die Freiheit – die ja gerade geschützt werden soll – empfindlich verkürzen, welche wiederum in einer Demokratie (das macht sie so besonders)[8] grundsätzlich allen Menschen − und damit auch ihren Gegnern − zukommt?[9]
II. Der Tatbestand der Grundrechtsverwirkung
A. Allgemeine Voraussetzungen
Um die Probleme angemessen darstellen und einschätzen zu können, die mit der Einzelmaßnahme der Verwirkung zusammenhängen, bedarf es zunächst einer genaueren Einordnung der Grundrechtsverwirkung in den Gesamtzusammenhang der Wehrhaften Demokratie, so wie sie im Grundgesetz angelegt ist.
1) Das Konzept der wehrhaften Demokratie
a) Historischer Hintergrund
Die wehrhafte Demokratie[10] ist eine besondere Form des Verfassungsschutzes. Dieses Konzept ist als Antwort auf das Scheitern der Weimarer Demokratie und deren Überwindung durch die NS- Diktatur zu verstehen.[11] Es sollte nach dem Willen der Verfassungsgeber des Grundgesetzes in Zukunft nie wieder in Deutschland für eine politische Gruppierung möglich sein, die ihr zustehenden demokratischen Freiheiten mit dem Ziel auszunützen, diese zu beseitigen, wie dies in Weimar in erheblichem Umfang geschehen ist.[12]
b) Inhalt des Konzeptes
Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes zeichnet sich durch eine Fülle unterschiedlichster Maßnahmen aus, um einen Umsturz der Verfassung verhindern und vorbeugen zu können, wie etwa das Parteienverbot, die Ewigkeitsklausel oder die Grundrechtsverwirkung. Die Vielzahl und Verschiedenheit dieser Instrumente belegt den Willen des Grundgesetzes, gegen jede nur denkbare Möglichkeit eines Umsturzes gewappnet zu sein, was kennzeichnend für seine Wehrhaftigkeit ist.
Allerdings soll mit diesen Maßnahmen die Verfassung nicht per se als Ganzes geschützt werden, sondern vielmehr ein dem Grundgesetz zugrunde liegender unverwechselbarer Kern an Grundfreiheiten und staatlichen Ordnungsprinzipien, die als grundlegend für die Demokratie angesehen werden und die es gilt, vor jeder Veränderung zu schützen. Das Grundgesetz bezeichnet diesen Kern als freiheitlich- demokratische Grundordnung, welche das zentrale Schutzgut der wehrhaften Demokratie ist. Dies erkennt man daran, dass letztlich alle Maßnahmen der wehrhaften Demokratie, so verschieden sie auch untereinander sein mögen, auf dieses Schutzgut bezogen sind, so dass das Konzept der wehrhaften Demokratie letztlich auf einer besonderen „Werthaftigkeit“ der Verfassung beruht.[13]
Als dritte Besonderheit dieses Konzeptes fällt die enorme Schärfe der meisten seiner Einzelmaßnahmen auf. Um sich wirksam gegen seine Widersacher verteidigen zu können, ist das Grundgesetz bereit und willens, den aktiven politischen Gegner der Demokratie aus dem politischen Prozess zu entfernen. Dabei schreckt die Verfassung auch nicht davor zurück, wenn ihre Gegner eine nicht unerhebliche Gefährlichkeit aufweisen, ihnen nachhaltig die Freiheiten zu nehmen, die andererseits das Grundgesetz als grundlegend für die Demokratie ansieht.[14] So stehen zum Beispiel die Maßnahmen des Vereins- und Parteienverbots diametral den Grundrechten auf Meinungs-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit aus Art. 5 und Artikel 8 gegenüber, so dass die Härte dieser einzelnen Maßnahmen nur in Anbetracht einer besondern Bedrohungslage für die freiheitlich- demokratische Grundordnung gerechtfertigt erscheint.
Es lassen sich daher aufgrund der harten Rechtsfolgen sowie der Tatbestandmerkmale, die in der Regel ein bewusstes und aggressives verfassungsfeindliches Verhalten voraussetzen, die vielfältigen Maßnahmen der wehrhaften Demokratie als Ausnahmemaßnahmen beschreiben. Sie sind für den Fall einer andauernden schweren politischen Krise in Deutschland gedacht – für eine Demokratie, die um ihr Überleben kämpft.[15] Die Maßnahmen der wehrhaften Demokratie sind somit in erster Linie für politische Ausnahmesituationen konzipiert und entfalten erst in ihnen ihre volle Wirksamkeit, und unterscheiden sich so auch in ihrer Zweckrichtung grundlegend von den administrativen Verfassungsschutzbehörden,[16] die ein kontinuierliches, im politischen „Normalzustand“ agierendes Element der allgemeinen Verfassungssicherung[17] darstellen. Deren besondere Aufgabe wiederum besteht gerade darin, den politischen Ausnahmezustand, herbeigeführt durch demokratiefeindliche Kräfte, möglichst im Vorfeld zu verhindern, damit im Idealfall die Instrumente der wehrhaften Demokratie gar nicht zur Anwendung kommen müssen.[18]
2) Die Schutzrichtung der Grundrechtsverwirkung
Die Grundrechtsverwirkung in Artikel 18 ist eine Einzelmaßnahme der wehrhaften Demokratie. Sie unterscheidet sich von den anderen Instrumenten durch ihre besondere Schutzrichtung; sie richtet sich gegen eine ganz bestimmte Art der Verfassungsfeindlichkeit. Dies wird deutlich, wenn man die einzelnen Richtungen gegenüberstellt, aus denen ein Angriff auf die Verfassung erfolgen kann. Innerhalb des Geltungsbereiches[19] der deutschen Verfassung lassen sich vor allem zwei mögliche Angriffsrichtungen auf die grundgesetzliche Ordnung identifizieren: So kann die Verfassung einmal „von oben“ wie auch „von unten“ attackiert werden.[20]
a) Angriffe „von oben“
Unter Angriffen von oben auf das Grundgesetz sind solche zu verstehen, die von den Staatsorganen erfolgen, die ihre Befugnisse, die ihnen die Verfassung übertragen hat, einsetzen möchten, um eine andere Staatsordnung, als sie das Grundgesetz vorsieht, zu etablieren. Dabei können diese Angriffe von oben von allen drei Staatsgewalten ausgehen: So kann die Legislative Gesetze erlassen, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, indem etwa mit einem Gesetz die Unabhängigkeit der Justiz oder die Gewaltenteilung aufgehoben werden soll. Des Weiteren kann ein Richter sich in seinen Urteilen über das Grundgesetz hinwegsetzen und Urteile fällen, die mit der Verfassung nicht in Einklang stehen, etwa indem er die Grundrechte nicht mehr für unmittelbares Recht hält. Schließlich können Bundespräsident, Bundesregierung und Verwaltung als Vertreter der Exekutive gegen die Ordnung des Grundgesetzes verstoßen, etwa indem alle drei der Überzeugung sind, in ihrer Tätigkeit nicht mehr an die Grundrechte gebunden zu sein.
Das Instrument der Grundrechtsverwirkung ist indes nicht auf diese Fälle, in denen der Staatsstreich von oben geschieht, ausgerichtet. Schließlich setzt die Verwirkung von Grundrechten tatbestandlich deren Missbrauch voraus. Grundrechte missbrauchen kann aber nur ein Grundrechtsträger, zu denen die beschriebenen Staatsorgane nicht gehören.[21] Sie sind vielmehr Grundrechtsverpflichtete, Art.1 Abs.3 GG, deren Aufgabe es gerade ist, die Grundrechte der Bürger zu gewähren und zu schützen. Das können sie wiederum nur, wenn sie sie selber nicht in Anspruch nehmen.[22] Demnach muss sich die Grundrechtsverwirkung gegen eine andere Form des Staatsstreiches richten.
b) Angriffe „von unten“
Die Verfassung kann auch durch Angriffe aus der Gesellschaft „von unten“ in ihren Grundfesten erschüttert werden. Es ist in diesem Kontext zum einen denkbar, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen als Kollektiv, also vor allem Verbände, Vereine und Parteien, das Grundgesetz beseitigen möchten. Gegen solche Absichten richten sich die Art. 9 Abs. 2 und Art. 21 Abs.2, S.1, 2. Diese bestimmen, dass Vereine und Parteien verboten werden können, wenn sich ihre Aktivitäten gegen das Grundgesetz richten.
Daneben kann die Verfassung auch von Einzelpersonen angegriffen werden, die nicht notwendigerweise gleichzeitig in einem bestimmten Kollektiv organisiert sein müssen.
Auf diesen Fall ist die Grundrechtsverwirkung als Instrument der wehrhaften Demokratie speziell zugeschnitten. Die Grundrechtsverwirkung wendet sich also gegen individuelle Verfassungsfeindschaft und unterscheidet sich so in dieser besonderen Schutzrichtung von allen anderen Instrumenten der wehrhaften Demokratie.[23]
c) Kritik an der Schutzrichtung
In der Literatur entzündet sich indes Kritik an dieser besonderen Schutzrichtung der Grundrechtsverwirkung. So machen die Kritiker geltend, dass eine ernst zunehmende Gefahr für den demokratischen Staat kaum durch individuelles Handeln geschaffen werden könne.[24] Diese sei letztlich vor allem von verbandsmäßigen Organisationen zu erwarten. Es stelle sich somit die Frage, ob dem Artikel 18 neben den Artikeln 9 und 21, die gerade der möglichen Gefahr durch Verbände und Parteien begegnen, eine eigenständige Bedeutung zukomme und er nicht vielmehr in seiner Schutzrichtung überflüssig sei.[25] Bei dieser Frage gilt zu bedenken, dass gerade Verbände, die ein solch außerordentliches Ziel, wie den Sturz der Verfassung anstreben, sehr stark von der Ausstrahlungskraft ihrer Führungsfiguren abhängig sind[26], vor allem im Hinblick auf die Resonanz, die sie mit ihren Anliegen bei der Bevölkerung erreichen können. Deshalb ist es nicht unsinnig, eine besondere Vorkehrung wie die Grundrechtsverwirkung gegen solche charismatischen Führerfiguren in der Verfassung vorgesehen zu haben.
3) Die freiheitlich demokratische Grundordnung als Schutzgut
Die Instrumente der wehrhaften Demokratie sind alle auf ein zentrales Schutzgut hin ausgerichtet: die freiheitlich- demokratische Grundordnung des Grundgesetzes.[27] Indes ist dieser abstrakte und weit gefasste Begriff für sich betrachtet zunächst wenig aussagekräftig. Andererseits ist seine möglichst präzise Bestimmung unverzichtbar, da die Rechtsfolge der Verwirkung in Artikel 18 den Kampf gegen die besagte Ordnung im Tatbestand voraussetzt, so dass eine sinnvolle Anwendung der Norm nicht möglich ist, ohne eine genaue Vorstellung von dem Bedeutungsgehalt der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu haben.
Im SRP- Urteil von 1952[28] hat das Bundesverfassungsgericht den Versuch unternommen, diesem Begriff einen festen Inhalt zu geben, der breite Zustimmung in der Literatur gefunden hat, wenngleich bestimmte Einzelheiten weiter strittig sind.[29] Dabei lassen sich insgesamt vier wesentliche Eigenschaften der freiheitlich-demokratischen Grundordnung festhalten, die auch als unmittelbare Antwort auf die NS- Diktatur wie die Defizite der Weimarer Demokratie zu verstehen sind.[30]
a) Antitotalitäre Bedeutung als Begriffsgrenze negativer Gewissheit
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung richtet sich zunächst gegen jede Art der Gewalt- und Willkürherrschaft[31], insbesondere auch gegen eine solche, die sich als demokratisch bezeichnet[32], in der es aber weder politische noch individuelle Freiheit gibt und in denen der einzelne Mensch keinen selbstständigen Wert besitzt. Das heißt, das Grundgesetz möchte sich entschieden von allen totalitären Staaten gleich welcher Art in seiner staatlichen Wertordnung unterscheiden und abgrenzen. Dabei fungiert diese antitotalitäre Stoßrichtung als absolute Begriffsgrenze negativer Gewissheit der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Das heißt, erst wenn ein bestimmtes Verhalten diese Grenze überschreitet, kann es mit Sicherheit als nicht mehr zu der freiheitlich- demokratischen Grundordnung gehörend identifiziert werden − gerade in Anbetracht der unzähligen Möglichkeiten, wie eine demokratische Ordnung im Einzelnen ausgestaltet sein kann.
b) Materielle Ausrichtung der Verfassung als Begriffskern
Zudem umfasst die freiheitlich- demokratische Grundordnung eine bestimmte inhaltliche Verfassungsausgestaltung. Insofern grenzt sich sie sich von einem bloßen formalen Verfassungsverständnis ab, welches in einer Verfassung nur ein in einem Dokument festgeschriebenes Verfahren zur Erzeugung des Gemeinschaftswillens sieht, und ansonsten wertneutral ist. Demzufolge wird nach diesem rein formellen Verfassungsverständnis die Demokratie nur als eine besondere Form der Erzeugung dieses Willens betrachtet, bei der jeder Einzelne den formal gleichen Anteil an der Gesamtwillensbildung besitzt.[33]
Die freiheitlich demokratische Grundordnung verlangt hingegen mehr als das bloße Zustandekommen von Gesetzen nach dem Willen der Mehrheit. Vielmehr muss in einer Verfassung neben dem Mehrheitsprinzip unter allen Umständen ein bestimmter Wertekanon festgeschrieben sein, durch den eine Verfassung erst ihr freiheitlich demokratisches Gepräge erhält.[34] Zu diesen Werten zählt das Bundesverfassungsgericht: die Achtung vor den Menschenrechten, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit der Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Opposition.[35]
[...]
[1] Lameyer, Streitbare Demokratie, S.13f.; Denninger, Streitbare Demokratie und Schutz der Verfassung, Rn 17; Becker, Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, S.310; Brenner, in: Mangoldt- Stark- Klein – GG Kommentar, Art.18, Rn 5 m.w.N., BVerfGE 28, 48f.
[2] Becker, aaO, 310.
[3] Becker, aaO, S.310. Dabei fasst der Begriff der wehrhaften Demokratie nicht nur die Schutzvorschriften der Verfassung als solche zusammen, sondern im Hinblick auf das besondere Schutzgut der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist die „wehrhafte Demokratie“ des Grundgesetzes als ein eigenständiges Verfassungsprinzip anzusehen.
[4] Als historisches Beispiel gilt hier vor allem die Vorgehensweise der NSDAP und KPD in der Weimarer Zeit, die einerseits unter dem Schutz der Grundrechte politisch agierten, und andererseits deren ganzes politisches Streben daraufhin ausgerichtet war, eine staatliche Ordnung zu errichten, die mit den Prinzipien einer freiheitlichen Demokratie unvereinbar sind. Becker, aaO, S.311-313: Brenner, aaO, Rn 2-4.
[5] Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechtes der BRD, Rn 709.
[6] Einen Überblick über die Probleme des Tatbestandes und der Rechtsfolge bietet das Inhaltsverzeichnis bei: Dürig, in: Maunz-Dürig – GG Kommentar, Art. 18, S.3-6.
[7] Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, § 87, Die Grundrechtsverwirkung, S.937.
[8] „Wenn die Demokratie eine gerechte Staatsform ist, so nur darum, weil sie Freiheit bedeutet; und Freiheit bedeutet Toleranz. Aber kann Demokratie tolerant bleiben, wenn sie sich gegen anti-demokratische Umtriebe verteidigen muss? Sie kann es! In dem Maße, als sie friedliche Äußerungen anti-demokratischer Anschauungen nicht unterdrückt. Gerade durch solche Toleranz unterscheidest sich Demokratie von Autokratie.“ Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 51.
[9] Maunz/ Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 20, Abs.2, Nr.1; Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, S.750.
[10] Dieses Prinzip wird auch als streitbare, militante, abwehrbereite oder kämpferische Demokratie bezeichnet; mit diesen unterschiedlichen Bezeichnungen werden jeweils verschiedene Nuancen des gleichen Verfassungsprinzips betont. Becker, aaO, S.310.
[11] Krüger/ Pagenkopf, in: Sachs – Grundgesetz Kommentar, Art.18, Rn 4.
[12] Dürig, aaO, S.10-11.
[13] Brenner, aaO, Rn 5.
[14] Wernicke, Bonner Kommentar des Grundgesetzes, Art.18, S.2, S.11.
[15] Haffner, Der Erfolg des Grundgesetzes, S.211-212.
[16] Zu diesen Behörden zählen: Das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst und der Bundesnachrichtendienst.
[17] Zu dieser Grundunterscheidung zwischen Maßnahmen de Wehrhaften Demokratie und der allgemeinen Verfassungssicherung: Denninger, aaO, Rn 17.
[18] Becker, aaO, Rn 47.
[19] Neben Angriffen, die innerhalb des deutschen Hoheitsgebietes auf die Verfassung verübt werden, sind auch solche „von außen“, also von ausländischen Staaten oder Akteuren, etwa terroristischen Vereinigungen, auf das Grundgesetz denkbar. Hier kommen vor allem kriegerische Auseinandersetzungen in Betracht. In einem solchen Fall kann das Grundgesetz nur durch die Bundeswehr und durch Inanspruchnahme des Widerstandsrechtes der Bevölkerung verteidigt werden.
Da aber verfassungsrechtliche Maßnahmen sich nur schwerlich gegenüber Akteuren durchsetzen lassen, die nicht unter die Hoheit der Verfassung stehen, sind die Instrumente der Wehrhaften Demokratie in erster Linie nicht auf Angriffe von außen zugeschnitten, weshalb diese mögliche Stoßrichtung gegen die Verfassung im Rahmen dieser Untersuchung vernachlässigt werden kann. Hesse, aa0, Rn 691.
[20] Hesse, aaO; Rn 691; Becker, aaO, S.318.
[21] Piroth/Schlink, Staatsrecht 2 – Die Grundrechte, Rn 59.
[22] Piroth/Schlink, aaO, Rn 59.
[23] Becker, aaO, Rn 51; Hofmann, in: Schmitt – Bleibtreu –Klein – Grundgesetz Kommentar, Art. 18, Rn 9.
[24] BVerfGE, 25, 44 (60). Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 3/2, 931-932.
[25] Badura, Deutsches Staatsrecht, S.117; Krebs, in: Kunig, GG- Kommentar, Art.18, Rn 26.
[26] Als historische Beispiele für die unbestreitbar prägende Ausstrahlungskraft bestimmter charismatischer Personen können zum Beispiel Hitler für die NS- Bewegung oder Osama Bin Laden für das Terrornetzwerk al- Kaida angesehen werden.
[27] Allerdings ist auch von „verfassungsmäßiger Ordnung“ als Schutzgut in einigen Maßnahmen (z.B.Art.9 Abs.2 GG) der Wehrhaften Demokratie die Rede. Es stellt sich so die Frage, ob damit auch der gleiche Schutzinhalt gemeint ist. Während früher in der verfassungsmäßigen Ordnung der etwas weitere Bergriff gesehen wurde (Wernicke, Bonner Kommentar, Art.18, S.5), gilt heute ganz überwiegend die Auffassung, dass beide Begriffe aufgrund ihrer gleichen Schutzrichtung, nämlich die grundlegenden Staatsprinzipien zu schützen, dieselbe Bedeutung haben, Dürig, aaO, Rn 58.
[28] BVerfGE, 2,2 ff..
[29] Brenner, aaO, Rn 42.
[30] Dürig, aaO, S.10.
[31] BVerfGE, 2, 12.
[32] Leibholz, Der Begriff der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und das Bonner Grundgesetz, S. 554.
[33] Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S.92-93.
[34] Dürig, aaO, S.26.
[35] BVerfGE, 2,13.
- Citar trabajo
- Sebastian Dregger (Autor), 2005, Der Missbrauch von Grundrechten aus dem Blickwinkel der wehrhaften Demokratie: Die Grundrechtsverwirkung als Instrument der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42828
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