Welche Ansprüche hat die Inklusion an den Sachunterricht und seine Didaktik? Was verbirgt sich hinter dem Phänomen inklusiver Sachunterricht? Wird Sachunterricht überhaupt als inklusiv erlebt und wenn ja, wie wird inklusiver Sachunterricht in der Praxis erlebt?
Diese Auffächerung des Forschungsinteresses greift ein bestehendes Forschungsdesiderat des Sachunterrichts auf. Denn obwohl sich der Sachunterricht schon früh den Fragen der Inklusion gewidmet hat, wurde „die Diskussion um einen inklusiven Sachunterricht ... selbst noch nicht umfassend geführt“ (Pech/Schomaker 2013, 349).
Die oben genannten Forschungsfragen sollen einen weiteren Erkenntnisaspekt zum Gesamtbild des inklusiven Sachunterrichts aufdecken. Um diese Erkenntnis zu erlangen wurden sonderpädagogische Lehramtsanwärter im Vorbereitungsdienst zu inklusivem Sachunterricht befragt. Es wurden mit ihnen Interviews zu ihrer inklusiven Tätigkeit geführt, die Einblicke in das Phänomen inklusiver Sachunterricht gewähren.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Inklusion
2.1. Integration oder Inklusion?
2.1.1. Ist Inklusion ungleich der „schlechten“ Praxis der Integration?
2.1.2. Inklusion gleich erweiterte Integration?
2.1.3. Inklusion gleich die „enthinderte“ Integration
2.1.4. Inklusion die ultimative Integration?
2.1.5. Die „Baustellen“
2.2. Inklusion
2.3. Derzeitige Situation in Deutschland und Niedersachsen
2.4. Inklusion und Unterricht
3. Der Sachunterricht und seine Didaktik
3.1. Sachunterricht ein Schulfach
3.1.1. Bildung der unverzichtbare Referenzrahmen
3.1.2. Die Inhalte des Sachunterrichts
3.2. Sachunterricht: die Verbindung zwischen Kind – Welt – Sache
3.2.1. (Lebens-) Welt
3.2.2. Kind
3.2.3. Sache
3.2.4. Das „große Ganze“ – der Sachunterricht
4. Der gemeinsame Weg – Sachunterricht und Inklusion
4.1. Inklusiver Sachunterricht noch in den „Kinderschuhen“?
4.2. „Fußabdrücke“ inklusiven Sachunterrichts
4.2.1. Didaktische Leitlinien nach Seitz
4.2.2. Didaktische Leitlinien nach Schomaker
4.2.3. Planung konkret – Planungs- und Handlungsmodelle nach Gebauer/Simon und Kahlert/Heimlich
4.2.4. „Hürden" und „Sprungbretter“
5. Gewählte Forschungsmethodik und ihre Grundlagen
5.1. Empirische Forschung und das Verständnis von Fragestellung, Methode und Forschungsgegenstand
5.2. Qualitative Forschung
5.3. Forschungsmethode Interview
5.3.1. Das episodische Interview
6. Der Forschungsprozess – Durchführung der Datenerhebung
6.1. Vorannahmen und Erwartungen
6.1.1. Lernen ist aktiv
6.1.2. Lernen ist selbstgesteuert
6.1.3. Lernen ist nicht Eins-zu-Eins Vermittlung
6.1.4. Lernen ist ein konstruktiver Prozess
6.1.5. Lernen ist ein situativer Prozess
6.1.6. Lernen ist ein sozialer Prozess
6.1.7. Konklusion
6.2. Ethische Richtlinien – wissenschaftliche Integrität
6.3. Lehramtsanwärter – purposive Sampling
6.4. Leitfaden erstellen
6.5. Zugang zum Feld
6.6. Transkription
6.7. Phänomenographie als Auswertungsmethodik
6.7.1. Phänomenologie
6.7.2. Phänomenographie
6.8. Gütekriterien
6.9. Das Forschungsdesign – eine Zusammenfassung
7. Interviewanalyse
7.1. Zur Analyse der Interviews
7.1.1. Ideenlisten
7.1.2. Ideenkategorisierungen
7.1.3. Phänomenographische Analyse
7.2. Analyse
7.2.1. Prinzipien und Ziele
7.2.2. Differenzierung
7.2.3. Sonderpädagogische Lehramtsanwärter im inklusiven Sachunterricht
7.3. Phänomenographische Kategorien zur Wahrnehmung von inklusivem Sachunterricht
8. Diskussion der Ergebnisse
8.1. Erläuterung und Interpretation der Ergebnisse
8.1.1. Verbindung zu bestehenden Konzepten des inklusiven Sachunterrichts
8.2. Reflexion des Forschungsprozesses und Forschungsimplikationen
8.3. Praktische Implikationen
9. Fazit
10. Literatur
1. Einleitung
„ Universität Ist eine große Schule im 1. Bezirk, eine Sonderschule oder so etwas – für Große“ (Kinderaussage aus Glantschnig 2010, 123 Hervorhebungen i. Original)
„ Sachunterricht Man lernt alles: Gemeinde, Bäume, wie die wachsen. Rathaus, da wohnt der Bürgermeister, da steuert man die Hunde. Das ist Geldsteuer. (...) Lernst du so von Wald und Straßen, wo geht die Straße und so weiter“ (Kinderaussage aus Glantschnig 2010, 106 Hervorhebungen i. Original)
Die vorliegende Arbeit ist eine Abschlussarbeit des Masterstudiums „Lehramt Sonderpädagogik“ mit dem Zweitfach „Sachunterricht“ an der Leibniz Universität Hannover. Sie widmet sich durch ihre Forschungsfrage der Verbindung der beiden Fächer. Diese Verbindung wurde durch die Autorin während ihres Studiums sehr bereichernd erfahren. Sie schaffte neue Perspektiven auf einen Unterricht für alle Kinder und weckte in der Verfasserin schon früh das Interesse an einer Umsetzung von inklusivem Sachunterricht. Auf diesem Interesse basierend beschäftigte sich die Autorin während ihrer Bachelorarbeit, mit einem ersten Versuch inklusive (Sach-)Unterrichts Didaktik zu beschreiben.
„Das Staunen ist der Anfang der Erkenntnis“ Platon
Diese intensive Beschäftigung mit dem Themengebiet löste immer wieder Staunen aus, ein Staunen das zur Neugier wurde und zu dem Entschluss führte sich den folgenden Forschungsfragen zu widmen:
Welche Ansprüche hat die Inklusion an den Sachunterricht und seine Didaktik[1] ? Was verbirgt sich hinter dem Phänomen inklusiver Sachunterricht? Wird Sachunterricht überhaupt als inklusiv erlebt und wenn ja, wie wird inklusiver Sachunterricht in der Praxis erlebt?
Diese Auffächerung des Forschungsinteresses greift ein bestehendes Forschungsdesiderat des Sachunterrichts auf (vgl. Seitz 2004). Denn obwohl sich der Sachunterricht schon früh den Fragen der Inklusion gewidmet hat, wurde „die Diskussion um einen inklusiven Sachunterricht ... selbst noch nicht umfassend geführt“ (Pech/Schomaker 2013, 349). Dies wird deutlich im Themenband der GDSU Tagung 2010, welche sich explizit dem Thema Inklusion gewidmet hat. Im Tagungsband selbst, sind jedoch keine Beiträge zu Schülern mit Förderbedarf zu finden (vgl. Giest/Kaiser/Schomaker 2011).
Ein Handlungsbedarf besteht, auch für die didaktische (Weiter-)Entwicklung, seit der Ratifizierung der UN – Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im März 2009 (vgl. Werning 2010a, 284). Für den Handlungsbedarf, bezogen auf eine schulische Inklusion, ist Artikel 24 der UN-BRK ausschlaggebend. Dort heißt es: „States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and livelong learning“ (UN-BRK 2011, 34).
Daher muss Sachunterricht, der sich als „allgemeinbildendes Orientierungsfach der Primarstufe“ (Pech/Schomaker 2013, 341) begreift, ein Sachunterricht für alle Kinder ein inklusiver Sachunterricht sein.
Die oben genannten Forschungsfragen sollen ein weiteres Puzzlestück des Gesamtbildes des inklusiven Sachunterrichts aufdecken und so einen weiteren Erkenntnisaspekt aufdecken. Um diese Erkenntnis zu erlangen wurden sonderpädagogische Lehramtsanwärter im Vorbereitungsdienst zu inklusivem Sachunterricht befragt. Es wurden mit ihnen Interviews zu ihrer inklusiven Tätigkeit im Sachunterricht geführt, die Einblicke in das Phänomen inklusiver Sachunterricht gewähren.
Der Weg zur Erkenntnis gliedert sich in der vorliegenden Arbeit wie folgt:
Zu Beginn wird der Forschungsgegenstand beschrieben. Hier findet eine theoretische Rahmung von Inklusion (Ab. 2.) und Sachunterricht (Ab. 3.) statt. Innerhalb des Abschnittes zur Inklusion wird Inklusion im Vergleich zu Integration diskutiert (Ab. 2.1.1. – 2.1.4) um darauffolgend die „Baustellen“ der Inklusion (Ab. 2.1.5) darzustellen. Nachfolgend wird die Definition von Inklusion, die dieser Arbeit zu Grunde liegt vorgestellt (Ab. 2.2). Um an die aktuelle Situation inklusiver Beschulung und ihrer rechtlichen Grundlagen anschließen zu können werden diese darauffolgend thematisiert (Ab. 2.3). Der Gesamtabschnitt zu Inklusion schließt mit einer Skizzierung der bisherigen Ansätze zu Inklusion und Unterricht ab.
Der zweite Aspekt des Forschungsgegenstandes wird durch den Sachunterricht gebildet. Dieser wird in seiner Struktur als Schulfach (Ab. 3.1), mit seinem Bildungsverständnis (Ab. 3.1.1) und dem ihm angehörigen Inhalten (Ab. 3.1.2), beschrieben. Der Sachunterricht konstituiert sich durch die didaktischen Kategorien „Kind“ (Ab. 3.2.2.), „Welt“ (Ab. 3.2.3.) und „Sache“ (Ab.3.2.4) die jeweils einzeln erläutert werden um als „großes Ganzes“ (Ab. 3.2.4) miteinander verbunden werden.
Auf dieser Grundlage werden die zwei Aspekte des Forschungsgegenstandes in einem Abschnitt zusammengeführt. Hier wird der gemeinsame Weg von Sachunterricht und Inklusion (Ab. 4.) beschrieben und die Forschungsfrage findet direkte Anknüpfungspunkte.
So wird vorerst die Frage beantwortet ob der inklusive Sachunterricht noch in den „Kinderschuhen“ steckt (Ab. 4.1), um darauffolgend die bisherigen Forschungsarbeiten und Konzepte („Fußabdrücke“) zu inklusivem Sachunterricht (Ab. 4.2.1 – 4.2.3) vorzustellen. Beendet wird die Rahmung des Forschungsgegenstandes durch aufgezeigte „Hürden“ und „Sprungbretter“ für inklusiven Sachunterricht (Ab. 4.2.4).
Im nachfolgenden Teil der Arbeit wird die Forschungsmethodik mit ihren Grundlagen (Ab. 5) dargestellt. Im Rahmen von empirischer Forschung (Ab. 5.1) wurde sich für eine qualitative Forschungsausrichtung (Ab. 5.2) entschieden, die sich der Erhebungsmethode des Interviews (Ab. 5.3), genauer des episodischen Interviews (5.3.1) bedient.
Im anschließenden Gesamtabschnitt wird der Forschungsprozess (Ab. 6) erläutert. Hier werden die Vorannahmen und Erwartungen (Ab. 6.1), mit dem Fokus auf den Perspektive auf „Lernen“ geklärt (Ab. 6.1.1 – 6.1.7) und die Forschungsarbeit wird durch die Folie der ethischen Richtlinien der DGFE beleuchtet (Ab. 6.2). Darauffolgend wird das Sampling (Ab. 6.3), die Erstellung des Interviewleitfadens (Ab. 6.4), der Zugang zum Feld (Ab. 6.5) und die anschließende Transkription (Ab. 6.6) der Daten erläutert.
Um dem Leser ein größtmögliches Verständnis der Auswertungsmethode (Ab. 6.7) zu erleichtern, wird die Phänomenographie (Ab 6.7.2) auf Grundlage der Phänomenologie (Ab. 6.7.1) entfaltet.
Erst im Anschluss an diese Beschreibungen werde die Gütekriterien (Ab. 6.8) erläutert, um im Vorhinein eine höchstmögliche Transparenz des Forschungsweges zu ermöglichen. Abschließend wird der Gesamtabschnitt durch eine Zusammenfassung dargestellt (Ab. 6.9).
Der vorletzte Teil der Arbeit befasst sich mit der Analyse der Interviews (Ab. 7). Hier wird der Prozess der Analyse (Ab. 7.1), von der Ideenliste (Ab. 7.1.1) über die Ideenkategorisierung (Ab. 7.1.2) hin zur phänomenographischen Analyse (Ab. 7.1.3) geschildert. Im Anschluss wird die phänomenographische Analyse (Ab. 7.2) konkret mit ihren Ergebnissen (7.2.1; 7.2.2 ; 7.3) dargestellt. Um eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten wird ein Exkurs zu den Ideenlisten zu Lehramtsanwärtern im inklusiven Sachunterricht angeführt (Ab. 7.2.3).
Im letzten Teil der Arbeit werden die Ergebnisse expliziert und diskutiert (Ab. 8.1). Dies findet in Verbindung mit einer Reflexion des Forschungsprozesses (Ab. 8.2) statt. Von den Ergebnissen ausgehend werden Verbindungen zu den erläuterten Modellen des Sachunterrichts hergestellt (Ab. 8.1.1) und praktische Implikationen (Ab. 8.3) geäußert. Abschließend findet eine Beantwortung der Forschungsfragen statt, welche im Fazit (Ab. 9) durch die persönliche Sicht der Autorin beleuchtet werden.
2. Inklusion
Um sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit dem Phänomen „inklusiver Sachunterricht“ nähern zu können, ist es essentiell, die Entwicklung des Inklusionsbegriffes zu skizzieren. Hierfür sollen im vorliegenden Kapitel die Begriffe „Inklusion“ und „Integration“ näher bestimmt und gegebenenfalls voneinander abgegrenzt werden. Darauf aufbauend wird eine Definition des Inklusionsbegriffes gegeben. Im Anschluss an die begriffliche Klärung wird der aktuelle Stand der schulischen Inklusion in der Bundesrepublik Deutschland sowie in Niedersachsen erläutert. Weitere Bundesländer finden keine Berücksichtigung, da sich nur auf das Bundesland bezogen wird, in dem die Erhebung der Interviews durchgeführt wurde. Einflussreiche Papiere sind hierbei die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), die KMK-Empfehlung zur sonderpädagogischen Förderung und das niedersächsische Schulgesetz (NSchG).
Der Fokus bei der Darstellung liegt in Angemessenheit zum Forschungsschwerpunkt und der Limitation der Abschlussarbeit auf der schulischen Umsetzung von Inklusion.
2.1. Integration oder Inklusion?
Handelt es sich bei dem Begriff „Inklusion“ nur um eine Neubenennung, des integrativen Gedankens? Oder verstecken sich hinter ihm auch neue Ansätze? Ist es überhaupt noch zeitgemäß, die beiden Begrifflichkeiten „Integration“ und „Inklusion“ voneinander abzugrenzen? Und was ist unter „Inklusion“ zu verstehen beziehungsweise welche Definition liegt dieser empirischen Arbeit zugrunde? Diese Fragen sollen in den beiden folgenden Abschnitten geklärt werden. Es wird sich, wie von Wocken gefordert (2010, 205) einer Begriffsbestimmung angenommen, um auf einer transparenten Grundlage aufbauen zu können. Dies erscheint insbesondere wichtig, um sich innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses um Inklusion zu positionieren (Hinz 2002; Reiser 2003; Sander 2004; Wocken 2010; Herz 2010), für den festzuhalten ist, dass es sich um ein kontrovers diskutiertes Thema handelt (vgl. Lindmeier/Lindmeier 2012, 179).
Der Begriff „Inklusion“ ist auf der „World Conference on Special Needs Education“, die von der UNESCO 1994 in Salamanca einberufen wurde, im wissenschaftlichen Diskurs verbreitet worden. Die als Salamanca-Erklärung bekannten Forderungen stellten den Ausdruck „inclusive education“ in das Zentrum der Ausführungen. In der deutschsprachigen Übersetzung fand sich jedoch anstelle des Wortes Inklusion der Begriff Integration wieder. Dies erschwerte eine differenzierte Verwendung der Begrifflichkeiten (vgl. Sander 2004, 240). Inzwischen fand eine Überarbeitung der Salamanca-Erklärung unter Übernahme des Inklusionsbegriffes statt (vgl. Österreichische UNESCO-Kommission 2010).
In der wissenschaftlichen Literatur findet sich häufig eine Abgrenzung der Begrifflichkeiten. Diese soll hier nicht forciert werden, da sich dem Gedankengang von Wochen angeschlossen wird, der die Zeit der Abgrenzung von Integration und Inklusion als beendet betrachtet. Er betont, dass es nicht um die Darstellung von zwei Polen gehen soll, die letztendliche eine gewisse Gegnerschaft einschließen würde. Er konstatiert, dass der Widersacher von Inklusion nicht die Integration ist, sondern die Aussonderung (vgl. Wocken 2011, 62ff).
Auf diesen Gedankengang aufbauend wird im Folgenden Inklusion erläutert. Die Darstellung ist ohne den Einbezug und Vergleich von und mit Integration nicht denkbar, jedoch geht es nicht darum, eine bewertende und polarisierende Posititon zu beziehen.
Nach den Ausführungen von Sander (2004) ist Inklusion die nächste qualitativ höhere Stufe nach Integration. In seiner Stufenbeschreibung (a.a.O., 243), in Anlehnung an Bürli (1997), findet sich das Bild der Weiterentwicklung. Folgt man dieserBetrachtungsweise drängt sich die folgende Vermutung auf: „Anscheinend hat Inklusion etwas, was Integration nicht hat bzw. hatte!“.
Diese Vermutung soll den Ausgangspunkt der folgenden Gedankengänge bilden, die sich entlang von verschiedenen möglichen Unterscheidungsmerkmalen entwickeln. Die Merkmale beziehungsweise Fragestellungen sind aus der Publikation „Das Haus der inklusiven Schule“ (Wocken 2011) entnommen.
2.1.1. Ist Inklusion ungleich der „schlechten“ Praxis der Integration?
Der Begriff Inklusion steht als „der Neue“ unter Beweispflicht. Was leistet er und was bringt er darüber hinaus an Neuerungen und Bereicherungen mit sich? Im Zentrum, dieser Beweispflicht, stehen drei an die Integration gerichteten Kritikpunkte. Diese finden sich durch die folgenden Schlagworte vertreten:
- Zwei-Gruppen-Theorie
- Assimilationstendenz
- Defizitäre Integrationspraxis (vgl. a.a.O., 61).
So nennen Hinz (2002, 355) und Sander (2004, 242) eine dichotome Sichtweise der Integrationspraxis als problematisch, denn Schüler mit besonderem Förderbedarf werden nur additiv zu der Gruppe der „Normalen“ gezählt. Dadurch bleibt de facto eine Aufteilung in zwei Gruppen bestehen. Die „Anderen“ (Menschen mit Behinderung), werden nach wie vor als separate Gruppierung gesehen, die es in die Gruppe der „Normalen“ zu integrieren gilt. Ein weiterer Vorwurf ist, dass Integration in der Praxis versucht, die zu integrierenden Personen anzugleichen. Es kann in diesem Falle von einer Assimilierung durch Normalisierung gesprochen werden (vgl. Wocken 2011, 61). Der dritte Vorwurf bezieht sich auf die Umsetzung der zum Teil bereits genannten Punkte in Bezug auf die Praxis der Integration. Diese wird als defizitär beschrieben, da sie nicht die in der Theorie geforderten Maßstäbe erfüllt. In diesem Punkt sind sich u. a. Reiser (2007, 100) und Hinz (2007, 83f) einig: Integration war nicht in der Lage ihr wirkliches Bestreben vom „Blatt“ (Theorie), in das Handeln (Praxis) umzusetzen. Eine zusammenfassende, tabellarische Übersicht der Integrations- und Inklusionspraxis findet sich bei Hinz (2002, 359).
Sowohl in der Darstellung von Hinz, als auch in den bisherigen Ausführungen dieser Arbeit versteht sich die Inklusion „optimierte Integration“ (Sander 2004, 242) zu sein. Wocken hält diesen Anspruch nicht für ausreichend, um einen neuen Begriff einzuführen, da es sich „nur“ um Veränderungen und neue Implikationen auf der Praxisebene handele und die Reibung von integrativen Bestrebungen in einem segregativen System erwartungsgemäß stark ausfallen müsse. Hier steht seine Meinung im Widerspruch zu anderen Vertretern des Inklusionsdiskurses. So positioniert sich Reiser beispielsweise wie folgt: „Wenn es gelingt, mit dem neuen Begriff Inklusion ein neues Verständnis zu schaffen, soll es mir recht sein“ (2007, 100). Und auch Speck, der als kritisch-konstruktiver Betrachter der Inklusion zu sehen ist, konstatiert: „Inklusion ist die neue Metapher“ (2011, 90) unter der die Umsetzung stattfindet.
Festzuhalten bleibt, dass „die Theorie der deutschsprachigen Integrationspädagogik [...] von Anfang an ein aus heutiger Sicht inklusives Verständnis der Integration“ (Hinz 2004, 55) zeigt, in der Praxis jedoch davon abweicht.
Herz gibt jedoch zu bedenken, dass Inklusion, wenn sie „nicht nur folgenlose Rhetorik sein“ (2010, 9) will, neben systemimmanenten Veränderungen auch weitreichende Veränderungen auf politischer und institutioneller Ebene benötigt, die Mut und Kreativität erfordern (vgl. ebd.).
Ein Begriffswechsel ist somit vollzogen, jedoch nicht alleine ausreichend, um Veränderung anzustoßen, denn auch Inklusion zeigt weniger gute Praxisumsetzungen (vgl. Wocken 2011, 63ff). So wurde empirisch nachgewiesen, dass zum Beispiel „die zweite Lehrerin bereits durch die Tatsache der bloßen Anwesenheit und der scheinbar zugeteilten Aufgaben und Tätigkeiten eine Verbesonderung dar stellt [Anm. d. Verf.], die durch die bekannten Modelle der Integration und Inklusion kaum aufgelöst werden können“ (Laubner 2013, 168).
2.1.2. Inklusion gleich erweiterte Integration?
Die Frage bleibt demnach, ob Inklusion eine erweiterte Integration darstellt. Setzt man diese Annahme in Bezug auf die bereits genannten Kritikpunkte, so läge der Schluss nahe, dass Integration nur eine einzelne Heterogenitätsdimension, nämlich die der Behinderung, einbezieht (vgl. Wocken 2011, 63f). Doch schon seit Prengels „Pädagogik der Vielfalt“ (2006 Erstausgabe von 1993) ist auch Integration offen für einen Blick auf alle Dimensionen von Heterogenität. Somit ist die Forderung nach Berücksichtigung von „Geschlechterrollen ... unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Herkünfte n [Anm. d. Verf.]... bildungsfern und bildungsnahen“ (Hinz 2004, 355) Milieus erfüllt. Was bleibt, ist, dass sowohl der inklusionspädagogische als auch der integrationspädagogische Diskurs zentral innerhalb der behindertenpädagogischen Kreise diskutiert wird (vgl. Wocken 2011, 67). Die Zielsetzung, Inklusion zu einem grundlegendem Thema der Allgemeinen Pädagogik zu machen (vgl. Hinz 2004, 70), konnte in der Breite nicht umgesetzt werden.
2.1.3. Inklusion gleich die „enthinderte“ Integration
Der Begriff „enthindert“ bezieht sich hier auf die Funktion der Dekategorisierung durch Inklusionsprozesse. Anstelle eines dichotomen Blickes wird Vielfalt positiv anerkannt und Differenzen stehen gleichwertig zueinander (vgl. Wocken 2011, 78f).
„Inklusive Pädagogik bezeichnet Theorien zur Bildung und Erziehung und Entwicklung, die Etikettierungen und Klassifizierungen ablehnen, ihren Ausgang von den Rechten vulnerabler und marginalisierter Menschen nehmen, für deren Partizipation in allen Lebensbereichen plädieren und auf eine strukturelle Veränderung der regulären Institutionen zielen, um der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Bedürfnisse aller Nutzer/innen gerecht zu werden.“ (Biewer 2010, 193)
Problematisch erscheint dieses Handeln unter der Perspektive der Ressourcenzuteilung. Bekannt unter dem Begriff „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ stellt sich die Frage, wie beziehungsweise wonach Ressourcen verteilt werden sollen, wenn Dekategorisierung, wie Biewer beschreibt, ein essentielles Merkmal einer inklusiven Pädagogik darstellt.
Mögliche Handlungsoptionen bestehen in der Zuweisung einer „präventiven sonderpädagogischen Grundausstattung“, wie bereits in den 90iger Jahren innerhalb der integrativen Regelklassen Hamburgs geschehen. Das Ziel stellt dann eine systembezogene Zuweisung entgegen einer personenbezogenen Zuweisung dar (vgl. Wocken 2011, 78ff). Ähnlich argumentiert auch Hinz der pauschalisierte Finanzzuweisungen für jede Schule fordert, um „Herausforderungen wie Mobbing, Gewalt und [Anm. d. Verf.] andere Hintergründe für Diskriminierung und psychische Problemstellungen“ (2009, 177) durch Fallarbeit bearbeiten zu können. Dieser Ansatz scheint jedoch bei Weitem nicht ausreichend, was Herz, wie folgt begründet: „Ein solches Inklusionsverständnis ist affirmativ, gesellschaftsunkritisch, praxisfern und bietet keine wirksame Unterstützung bei institutionellen und sozialen Desintegrationsprozessen.“ (2010, 7 Hervorhebungen i. Original). Wocken bezweifelt die Umsetzbarkeit ebenfalls. Er nennt als Beispiel die Durchführung von Nachteilsausgleichen für Studierende mit Beeinträchtigungen, denn auch diese erfordern eine offizielle Bestätigung des Nachteils. Ebenfalls gilt diese Problematik für einen Behindertenausweis, der bestimmte Ausgleiche für Menschen mit Behinderung gewährt. Dieser wäre in einer inklusiven Gesellschaft unter dem Maßstab der Dekategorisierung nicht denkbar (vgl. Wocken 2011, 80f).
Einen anderen differenzierten Ansatz bietet Lindmeier. Sie schreibt: „der Rückgriff auf Heterogenität (...) kann [Anm. d. Verf.] demnach zwar die Anerkennung der Persönlichkeit jedes Kindes erleichtern, nicht aber die Notwendigkeit einer genauen Bestimmung dessen ersetzen, in welcher Situation welche Kinder in welcher Weise Unterstützung benötigen“ (2005, 124). Sie schlägt den Begriff „erschwerte Erziehungs- und Bildungssituationen“ vor, in diesem finden viele Faktoren Abbildung. Diese Bezeichnung soll keine neue Kategorisierung ermöglichen, sondern eine Zusammenfassung solcher erschwerten Erziehungs- und Bildungssituationen, die dann durch ein Fachteam bearbeitet werden können. Lindmeier weist darauf hin, dass Kategorien innerhalb der Wissenschaft unverzichtbar sind, sie ermöglichen erst „eine Verständigung innerhalb der ‚scientific community’“ (a.a. O.,135).
Hier gilt es somit eine allgemein anerkannte Position für den konkreten Umgang auszuwählen und anzuwenden.
2.1.4. Inklusion die ultimative Integration?
Abschließend soll noch einmal der anfangs dargestellte Gedanke Sanders aufgegriffen werden, welcher Inklusion als weiterentwickelte Integration sieht (2004, 245). In dem von ihm vorgelegten Stufenmodell lassen sich Überschneidungen zum Stufenmodell der UNESCO erkennen, das von Lindmeier/Lindmeier (2012, 182) herangezogen wird.
In beiden werden Entwicklungsstufen dargestellt. Die folgende Abbildung ist an Sanders fünf Stufenmodell angelehnt (vgl. 2004, 243) und stellt die Prozesshaftigkeit der Entwicklung dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die einzelnen Schritte finden hier keine ausführliche Darstellung, da sie in der inklusionsthematischen Literatur ausführlich rezitiert wurden und als Basis des Diskurses vorausgesetzt werden können (vgl. Werning 2010a, 284).
Lindmeier/Lindmeier übersetzten das Modell der UNESCO (2005, 24).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. Schritte von der Exklusion zur Inklusion (Lindmeier/Lindmeier 2005, 24)
Ziel der Entwicklungsstufen ist das Recht auf Bildung für alle Menschen. Die Stufen beginnen, wie bei Sander, auf der Stufe der Exklusion und führen bis zur Inklusion, die erreicht ist, wenn die Stufe des Wissens betreten wird. Die Gesellschaft weiß „um die Verschiedenheit der Bedürfnisse aller Kinder und Jugendlicher“ (Lindmeier/Lindmeier 2012, 183) und die Anwendung dieses Wissens führt zur inklusiven Bildung.
Beiden Modellen liegt die stufenförmige Weiterentwicklung und Prozesshaftigkeit der Entwicklung zu Grunde.
Dies kritisiert Wocken, da er betont, dass dieser Prozess nicht als zeitliche Abfolge zu sehen ist. Er äußert, dass die menschliche Geschichte nur selten oder nie linear verlaufe. Am Beispiel der Euthanasie, unter Führung der Nationalsozialisten, fand ein menschenverachtendes Handeln Umsetzung, das in keinem Verhältnis zu einer Entwicklungslogik steht (vgl. Wocken 2011, 71ff). Er stellt ein Schema auf, das von Qualitätsstufen der Behindertenpolitk und –pädagogik spricht und rechtstheoretisch begründet wird. Hierdurch finden die folgenden Neuerungen Einzug:
Zum einen wird ein zentraler Einbezug der rechtlichen Basis der Qualitätsstufe berücksichtigt. Dieses scheint insbesondere unter dem Aspekt wichtig, dass Integration nur eine „Bitte“ war und Inklusion ein Menschenrecht ist. Zum anderen besteht nicht mehr das Deutungsmuster, dass nur eine Entwicklung „nach oben“ möglich ist, wenn erstmal eine Stufe erreicht wird. Die Umsetzung der Qualitätsstufen bleibt kontinuierlich eine Aufgabe der Pädagogik und Politik. Des Weiteren verbreitert Wocken das Schema durch die Stufe der „Extinktion“, die erstmals eine grundsätzliche Wertschätzung der „Exklusion“ möglich macht, denn diese ist die erste Stufe, auf der das Leben wertgeschätzt wird. In einer zweiten Darstellung wird das Schema durch die Anerkennungsform erweitert. Diese Abbildung wird für die vorliegende Arbeit nicht ausgewählt, da die Zuweisung der Anerkennungsformen als vorläufig und noch nicht eingehend geprüft beschrieben werden (vgl. ebd., 73ff).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. Qualitätsstufen der Behindertenpolitik und –pädagogik (Wocken 2011, 75)
Inklusion ist unter dieser Perspektive als ein Prädikat für die Qualität der Pädagogik und Politik zu verstehen. Ab Stufe zwei werden die Werte beziehungsweise Rechte der vorgelagerten Stufe(n) durchgesetzt und ein Rechtsgut von höherer Qualität wird angestrebt.
Aus den oben genannten Erweiterungen findet dieses Schema Einzug in die Darstellung des Inklusions- und Integrationsverständnisses dieser Arbeit. Zu kritisieren bleibt der Titel der Abbildung. Eine Zuweisung dieses Prozesses auf die Behindertenpolitik und -pädagogik ist nach einem nicht dichotomen Blick der Inklusion nicht zu rechtfertigen. Außerdem beschränkt es die möglichen Adressaten auf den genannten Bereich, wichtig ist jedoch, dass „ ressortübergreifende Anstrengungen “ (Herz 2010, 9 Hervorhebungen i. Original) notwendig sind. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass es ein exklusives Thema der Sonderpädagogik bliebe, was den Inklusionsprozess verhindert (vgl. Reiser 2003, 311).
2.1.5. Die „Baustellen“
Im Folgenden soll eine Zusammenfassung der oben genannten Ausführungen gegeben werden, die einen Ausblick auf die noch offenen Problematiken ermöglicht. Hier sollen die Kategorien des „Spickzettels“ von Wocken (2011, 52ff) benutzt werden, welcher die „Baustellen“ aufzeigt, die auf die Integration zukamen und an denen Inklusion, im Rahmen der schulischen Bildung und Erziehung, ihr Monument erbauen muss.
„Baustelle Recht“
Metaphorisch gesehen wurde auf diesem Bauplatz schon einiges verrichtet. Inklusion ist durch die UN-BRK (UN-BRK 2011) Menschenrecht und daher einklagbar. Als Menschenrecht darf nicht darauf verzichtet werden, wenn Ressourcen oder Rahmenbedingung nicht vorliegen. In diesem Bereich muss gerichtlich „dem Menschenrecht auf Inklusion zu einer uneingeschränkten Geltung“ (Wocken 2011, 53) verholfen werden. Weitere Ausführungen zur rechtlicher Situation finden sich unter Abschnitt 2.3.
„Baustelle Schüler“
Die Inklusion muss Systeme schaffen, die nicht erwarten, dass der Schüler inklusionsfähig ist oder wird, sondern die bereit sind, mit Heterogenität umzugehen. Hierzu ist es unerlässlich, dass Inklusion zum Thema der Allgemeinen Pädagogik wird und die Sonderpädagogik ihr Klientel nicht durch ihre Exklusivität aus dem Inklusionsprozess exkludiert (vgl. Reiser 2003, 311; Hinz 2009, 173).
„Baustelle Ressource“
Hier besteht eine „Großbaustelle“ für die Inklusion, die neue Lösungswege für das Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma finden muss. „Es muss Klarheit bestehen, wer welche Ressourcen in welchem Umfang rechtens beanspruchen und auf welchem Verfahrenswege er ihrer habhaft werden kann“ (Wocken 2011, 83). Hierbei ist nach Lösungen zu suchen, die nach „Baufehlern“ Ausschau halten, die die 2-Gruppen-Theorie doch wieder einschließen. Dieses Feld ist nur durch eine Zusammenarbeit mehrerer Professionen und Institutionen zu erreichen (vgl. Herz 2010).
„Baustelle Unterricht“
Da sich diese Arbeit zentral mit dem Thema des inklusiven (Sach-)Unterrichts auseinandersetzt, soll diesem Punkt mehr Raum gegeben werden. Er wird in Bezug auf das konkrete Forschungsthema in Punkt 4 ausführlich erläutert. Hier soll ein Zitat von Wocken den Handlungsbedarf illustrieren: „Auf der Baustelle Unterricht hat die integrative Pädagogik gewiss die richtigen Fundamente gelegt und auch den Rohbau fertig erstellt. Aber – dies sollte ehrlicherweise gesehen werden – der gesamte Innenausbau muss noch in sorgfältiger Detailarbeit geleistet werden – in der Theorie wie in der Praxis.“ (2011, 56).
„Baustelle Schule“
Die Idee ist seit den Bestrebungen der Integrationspädagogik die gleiche geblieben. Eine Schule für alle. Allein die Hamburger Demonstrationen gegen eine sechsjährige Grundschule, zeigen jedoch den „steinigen“ Weg dorthin. Und der „Slogan“ wird kritisch betrachtet (vgl. Speck 2011, 89) und zeigt, dass hier noch Handlungsbedarf besteht. Andere Stimmen wiederum entgegnen: wolle „sich die Idee der Inklusion gemessen an ihren eigenen grundlegenden Überzeugungen nicht selbst ad absurdum führen ... so muss die Zielvorstellung für die inklusive Schule der Zukunft eine Schule für alle sein“ (Jennessen/Wagner 2012, 340). Es stellt sich dar, dass auch an diesem Punkt noch belastbare Konstruktionen „errichtet“ werden müssen.
2.2. Inklusion
Der Begriff Inklusion löst Hoffnungen aus, die einerseits nicht überbewertet werden sollten, die andererseits jedoch als einzig möglicher Weg zu einer positiven Veränderung des Umgangs und der Reaktion auf die verschiedenen Heterogenitätsdimensionen von Menschen gesehen werden können (vgl. Markowetz 2005, 36ff). Es ist bisher noch unbeantwortet, ob Inklusion den dargestellten Anforderungen gerecht wird. Daher muss sich die Inklusionsbewegung Kritik gefallen lassen, die Inklusion als Illusion (Reiser 2007) oder auch Vision (Hinz 2007) darstellen, die keine Einlösung findet. Der in Kapitel 2.1 skizzierte Überblick über die Baustellen zeigt jedoch, dass an einer Lösung der Problematik bereits auch in praktischer Hinsicht gearbeitet wird.
Der vorliegende Forschungsarbeit liegt die folgende Arbeitsdefinition von Inklusion - mit dem Fokus auf schulische Prozesse - vor. Sie wurde in Anlehnungen an die Ausführungen von Sander (2004), Hinz (2004), Schomaker/Ricking (2012) und Lindmeier/Lindmeier (2012) erarbeitet.
Inklusion gilt für alle Menschen unabhängig von ihrer Diversität. Sie umfasst in der schulischen Umsetzung die Erziehung und Bildung aller Kinder und Jugendlichen mit ihren je spezifischen pädagogischen Bedürfnissen. Es ist dabei davon auszugehen, dass jedes Kind individuelle Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse mitbringt. Hierbei begreift Inklusion die Heterogenität der Schülerschaft als eine Tatsache und Bereicherung. Als inklusiver Unterricht kann der Lehr- und Lernprozess bezeichnet werden, sofern Schüler mit Behinderung(en), Beeinträchtigung(en) oder anderen Heterogenitätsdimensionen der Klasse angehören.
Ob Vision oder Illusion, mit den Worten von Hinz soll ein (Leit-) Gedanke formuliert werden: Inklusion kann „wirken wie ein Nordstern; auch wenn er von keinem Seefahrer erreicht werden kann, hat er beim Kurshalten eine wichtige Orientierungsfunktion“ (Hinz 2007, 95). Dabei Neben dem Halten des Kurses muss an der Bewältigung von Problemstellungen gearbeitet werden, „die im Hier und Jetzt die Fortschritte auf dem Weg zur Inklusion behindern“ (Wocken 2011, 80). Um diesen Weg „in Angriff“ zu nehmen, ist es wichtig, das „Hier und Jetzt“, also den aktuellen „Stand der Dinge“ zu kennen. Dieser wird im folgenden Abschnitt erläutert.
2.3. Derzeitige Situation in Deutschland und Niedersachsen
In diesem Abschnitt soll dargestellt werden, welche gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Umsetzung der schulischen Inklusion bestehen und wie der aktuelle Stand in der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere im Bundesland Niedersachsen ist.
Menschen mit Behinderungen sind aufgrund der UN-BRK nun in der Lage, auf einem rechtlich abgesicherten Fundament ihre Rechte einklagen zu können. Das heißt, dass die Umsetzung der Menschenrechte und damit auch die Umsetzung des Rechts auf Bildung für alle stattfinden muss. Es geht nicht um einen solidarischen Akt, der je nach Möglichkeit Anwendung findet, sondern um Veränderungen und Handlungen, die stattfinden müssen (vgl. Jennessen/Wagner 2012, 335f).
Die Kultusministerkonferenz bezieht sich auf die geforderten Entwicklungen für das Jahr 2010/2011 zum Themenpunkt „Lernende mit besonderen Bedürfnissen“ mit folgenden Worten: „Die integrativen Angebote für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden derzeit im Zusammenhang mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen durch Deutschland und der Gleichstellungsgesetzgebung in den Ländern weiter ausgebaut.“ (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2011, 11). Um die bisherige Wirkung dieser Bestrebungen zu überprüfen, sollen statistische Zahlen herangezogen werden. Hierfür wird sich der neuen Veröffentlichung der Bertelsmann Stiftung mit dem Titel „Inklusion in Deutschland – eine bildungsstatistische Analyse“ bedient. Klemm und sein Forscherteam nutzten zur Berechnung folgende Datensätze: statistisches Bundesamt Fachserie 11 der KMK-Veröffentlichung aus dem Bereich „Sonderpädagogische Förderung“ und der KMK-Veröffentlichung „Schulen und Schüler, Klassen, Lehrer und Absolventen der Schulen“(vgl. BertelsmannStiftung/Klemm 2013, 36).
Sie halten für den Gesamtschnitt in der Bundesrepublik Folgendes fest: „Im März 2009, als die UN-Konvention zur Abkehr vom derzeitigen Sonderschulsystem in Kraft trat, lag der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Handicaps an der gesamten Schülerschaft noch bei sechs Prozent. Im Schuljahr 2011/12 betrug er 6,4 Prozent. Insgesamt haben damit rund eine halbe Million Schüler in Deutschland besonderen Förderbedarf. Damit ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die nicht auf eine reguläre Schule gehen, seit 2009 von 4,9 auf 4,8 Prozent nur minimal gesunken.“ (BertelsmannStiftung 2013a).
Somit lässt sich konstatieren, dass trotz des Ausbaus des inklusiven Systems in den Zahlen keine direkte Wirkung im Sinne einer Senkung der Anzahl der Schüler, die eine „exklusive Schule“ besuchen, nachgewiesen werden kann. Um sich ein genaueres Bild davon zu machen, muss das einzelne Bundesland mit seinen rechtlichen Maßstäben angeschaut werden. So können sich hierdurch Veränderungen ergeben, die sich nicht an der Aussage einer Prozentzahl ablesen lassen. Interessante Aspekte sind beispielsweise, welche Förderschulen noch bestehen bleiben und somit Möglichkeiten zur Beschulung bieten und was eine inklusive Schule, aus rechtlicher Perspektive, darstellt. Hierfür soll der Blick direkt auf Niedersachsen gerichtet werden, da in diesem Bundesland die Datenerhebung für die vorliegende Forschungsarbeit stattfand.
Im Niedersächsischen Schulgesetz (NSchG) ist unter §4 festgehalten, dass eine inklusive Schule in Niedersachsen Umsetzung finden muss. Konkret heißt es dort:
„(1) 1Die öffentlichen Schulen ermöglichen allen Schülerinnen und Schülern einen barrierefreien und gleichberechtigten Zugang und sind damit inklusive Schulen. 2Welche Schulform die Schülerinnen und Schüler besuchen, entscheiden die Erziehungsberechtigten (§ 59 Abs. 1 Satz 1).
(2) 1In den öffentlichen Schulen werden Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam erzogen und unterrichtet. 2Schülerinnen und Schüler, die wegen einer bestehenden oder drohenden Behinderung auf sonderpädagogische Unterstützung angewiesen sind, werden durch wirksame individuell angepasste Maßnahmen unterstützt; die Leistungsanforderungen können von denen der besuchten Schule abweichen. 3Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung kann in den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung, Sprache, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen und Hören festgestellt werden.“ (2012)
Neben den inklusiven Schulen bleiben Förderschulen bestehen, eine „Auflösung“ eines Förderschulbereiches ist nur für den Primarbereich des Förderschwerpunktes Lernen in Kraft getreten.
In §14 Absatz 4 des NSchG steht geschrieben:
„(4) 1In der Förderschule können Schülerinnen und Schüler aller Schuljahrgänge unterrichtet werden. 2In dem Förderschwerpunkt Lernen einer Förderschule werden Schülerinnen und Schüler ab dem 5. Schuljahrgang unterrichtet.“ (ebd.)
Somit ist die Beschulung an Förderschulen immer noch möglich und ergibt eine Erläuterung der Zahl der Schüler, welche nicht an Regelschulen beschult werden. Es soll ein erneuter Rückgriff auf die errechnete Prozentzahlen der Bertelsmann Stiftung für eine genauere Sicht dienen. Diese zeigen für Niedersachsen Folgendes:
„Seit Deutschland sich vor vier Jahren verpflichtet hat, Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten, ist der Anteil der Förderschüler, die in Niedersachsen eine reguläre Schule besuchen, zwar von 6,6 auf 11,1 Prozent gestiegen. Nach wie vor liegt Niedersachsen jedoch damit weit unterhalb des Bundesdurchschnitts von 25 Prozent. Relativ gut im Bundesländervergleich steht Niedersachsen aber beim Anteil von Sonderschülern da, der bundesweit zu den niedrigsten gehört.“ (BertelsmannStiftung 2013b). Es bleibt damit festzuhalten, dass ein Inklusionsprozess in Niedersachsen existiert, er aber im bundesdeutschen Durchschnitt nicht als anschlussfähig betrachtet werden kann. Der geringe Anteil von Förderschülern von 4.9% (vgl. BertelsmannStiftung/Klemm 2013, 30) muss auch aus mehreren Perspektiven betrachtet werden. Er ließe sich auch durch eine weniger ausgeprägte Quantität der Beantragungen zur Feststellung von sonderpädagogischen Förderbedarf erklären. Auf diesen Punkt wird in der Studie kein Bezug genommen und daher sollte der Prozentwert in seiner Aussage als nicht ausreichend erklärt verstanden werden.
Festzuhalten bleibt, dass Niedersachsen und die Bundesrepublik Deutschland auf einem inklusiven Weg sind, jedoch immer noch Handlungsbedarf besteht. Vom Mindestziel einer inklusiven Beschulung von mindestens 80% (vgl. United Nations 2007, 85) der Schüler mit Förderbedarf ist man noch weit entfernt.
2.4. Inklusion und Unterricht
Im folgenden Abschnitt soll ein kurzer Einblick in die bisherigen Konzepte der Inklusionsdidaktik beziehungsweise -pädagogik gegeben werden. Eine ausführliche Darstellung, mit Bezug auf das Fach Sachunterricht, wird unter Punkt 4 gegeben.
Oftmals wird Comenius (1592 – 1670) als Vorreiter eines inklusiven Gedankens für Unterricht und Schule angeführt. „Mit seiner Forderung, ‚universale Schulen’ zu gründen, um hier ‚alle alles zu lehren’ ... formulierte er eine für diese Zeit revolutionäre Idee“ (Seitz 2010, 46). Der Bildungsoptimismus von Comenius soll hier nicht geschmälert werden, er stellt einen wegweisenden Denkansatz dar. Jedoch soll an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass Comenius den Ausschluss von Schülern einer „schwachen Begabung“ aus den Bildungsbemühungen durchführte. Unter dem historischen Aspekt, „ist es aber insgesamt höchst bemerkenswert, dass Comenius ‚schwache Begabung’ überhaupt thematisiert.“ (a.a.O., 47).
Im Bereich der konkreten Didaktiken der Neuzeit ist Feusers „entwicklungslogische Didaktik“ zu nennen. Er beschrieb schon in den 1980er Jahren seine ersten Ansätze für eine Didaktik des integrativen Unterrichts (vgl. 1982). Feuser schildert auf Grundlage der Trias „Analyse der Sachstruktur (...) Analyse der Tätigkeitsstruktur (...) Analyse der Handlungsstruktur“ (Feuser 1989, 26) eine Kerneinheit der didaktischen Struktur, die aus „Innerer Differenzierung“ und „Individualisierung“ besteht. Hierbei setzt integrativer Unterricht wie folgt an: „entsprechend der Dreidimensionalität des didaktischen Feldes, die drei Analysen [Anm. d. Verf.], unter dominanter Berücksichtigung der weitestmöglichen Entwicklung des einzelnen Schülers das Ziel variabel, hält aber am >>gemeinsamen Gegenstand<< fest.“ (a.a.O., 29, Hervorhebungen i. Original). Der „gemeinsame Gegenstand“ ist hierbei nicht mit einem materialen, fassbaren Gegenstand, wie zum Beispiel einem Tisch, gleichzusetzen. Er ist der Prozess, der hinter der Sache, den Dingen steht. Feuser zieht dafür die beim „Projekt Kochen“ entstehenden Veränderungen als Beispiel heran (vgl. ebd.). Es geht somit um die Fokussierung einer Gemeinsamkeit, die anhand des „Gegenstandes“ eingelöst wird, in Verbindung mit einer sachstrukturellen, individualisierten und handlungsorientierten Struktur unter der Berücksichtigung von Entwicklungsstufen. Später bezog Feuser (1998) auch differentielle Lernsituationen mit ein, unter Berücksichtigung dessen, dass der Balanceakt zwischen individuellen und gemeinsamen Lernangeboten gehalten werden müsse (vgl. Wocken 2011, 124).
Auch andere Werke müssen in diesem Bereich genannt werden, zum Beispiel die Darstellungen von Prengel (2006 Erstausgabe 1993) und von Hinz (1993).
Hinz erstellt jedoch keine neue Didaktik, sondern fertigt eine Zusammenschau, insbesondere auf der Grundlage von Feuser, an. Er leitet aus den unterrichtlichen Ansätzen der integrativen Pädagogik, der interkulturellen Pädagogik und der feministischen Pädagogik Forderungen und Handlungsoptionen ab. Die Ausführungen von Prengel und Hinz werden aufgrund des Rahmens der Abschlussarbeit nicht weiter ausgeführt.
Zentral für die Schul- und dadurch auch Unterrichtsentwicklung und -evaluation ist der Index für Inklusion zu nennen, der durch Boban/Hinz (2003) aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und angepasst wurde. Er arbeitet auf der Basis von drei Schlüsselkonzepten: Barrieren für das Lernen und die Teilhabe erkennen und abbauen; Vielfalt unterstützen; institutionelle Diskriminierung aufdecken und sie reflektieren (vgl. Boban/Hinz 2011, 11f). Der Index liefert mit drei Dimensionen zu den Bereichen Inklusive Kulturen, Inklusive Strukturen, Inklusive Praktiken, einen Reflektionsrahmen. Diese Dimensionen unterteilen sich in jeweils zwei Bereiche, die wiederum in insgesamt 44 Indikatoren gegliedert sind. Um ein sehr konkretes Arbeiten möglich zu machen, sind die Indikatoren durch 560 Fragen vertreten (vgl. Boban/Hinz 2003, 14ff). Der Index für Inklusion ist „kein fester Rahmen für die Evaluation von Schulen, aus dem etwa Rangplätze oder gar ‚Inklusionsquotienten’ abgeleitet werden können, sondern er versteht sich als Angebot zu schulweiter Kommunikation, Einigung, Weiterentwicklung und zur Qualitätssicherung“ (Boban/Hinz 2011, 12f). Insbesondere die Dimension C „Inklusive PRAKTIKEN entwickeln“ und der darunter verfasste Indikator C.1 „Lernarrangements organisieren“ befassen sich mit der Strukturierung und Ausgestaltung von Unterricht (vgl. Boban/Hinz 2003, 81ff). Der Index ist im Rahmen einer Weiterentwicklung ein ausführliches Evaluationsinstrument, das jedoch auf einem theoretisch „überschaubaren“ Fundament aufbaut. Ein Einbezug in die Entwicklung von didaktischen Ansätzen wäre hier wünschenswert für den Teilbereich „Unterricht“.
Im Rahmen der neueren Literaturwerke, die direkt versuchen einen Ansatz für inklusiven Unterricht zu beschreiben, ist unter anderem das Werk von Wocken zu nennen. Er beschreibt zentrale Möglichkeiten, um einem inklusiven Unterricht gerecht zu werden. Hierbei fokussiert er sich auf methodische Optionen und auf die Nutzung von Ressourcen, die durch die Schüler und pädagogische Kooperationen dargestellt werden.
Alle werden gemessen an der Lösung des „Problemaufrisses“, viele verschiedene Schüler zu unterrichten. Die genannten Lösungswege, die sich zum Beispiel des kooperativen Lernens bedienen und zentral an einem indirekten Unterricht orientiert sind, sollen auch die alleinige Unterrichtung einer Klasse möglich machen (vgl. Wocken 2011, 141ff). Da Wocken keinen übergreifenden Ansatz beschreibt, werden die vielfältigen Möglichkeiten unter diesem Punkt vorerst nicht weiter thematisiert.
Ein Beispiel, das inklusiven Unterricht und eine inklusive Schule miteinander verbindet, stellen Jennesen/Wagner (2012) vor.
Sie stellen bestimmte Merkmale von Lernangeboten heraus, die essentiell für einen inklusiven Unterricht sind. Dieser inklusive Unterricht „muss Lernangebote umfassen,
- in denen in heterogenen Gruppen gemeinsam an gemeinsamen Gegenständen zieldifferent gelernt werden kann,
- in denen in heterogenen und/oder homogenen Gruppen an verschiedenen Gegenständen zieldifferent gelernt werden kann,
- und in denen in exklusiv-individuellen Einzelsituationen gelernt werden kann.“ (Jennessen/Wagner 2012, 341).
Sie verknüpfen in ihrer Idee vom inklusiven Unterricht den Ansatz von Feuser „Gemeinsames Lernen am Gemeinsamen Gegenstand“ (1989) mit der Idee von Wocken, der unterschiedliche gemeinsame Lernsituationen als Alternative beziehungsweise Synthese zu Feusers Zentrierung auf den „Gemeinsamen Gegenstand“ (vgl. Wocken 1998, 39f) erarbeitet hat.
Anhand dieser kurzen Darstellung konnte gezeigt werden, dass erste Ansätze schon seit über 30 Jahren vorhanden sind. Nach wie vor besteht die zentrale Aufgabe darin, eine Didaktik auszuarbeiten, die empirisch bestätigte Ansätze erfasst und für die Praxis konkrete und anwendbare Konstrukte anbietet.
3.Der Sachunterricht und seine Didaktik
„Sachunterricht ist für mich Welterkundung. Welterkundung, weil Sachunterricht sich aus der Entdeckung der Welt speist. Was ist um mich herum? Was passiert um mich herum? Wie kann ich Welt verstehen? Und wie kann ich mit Welt umgehen? Das ist für mich die absolute Faszination vom Fach Sachunterricht!“
(Lehramtsstudentin Sonderpädagogik im Fach Sachunterricht - 07.09.2012 Ausschnitt aus der Abschlussarbeit M.Ed. von Henrik Johrden unveröffentlicht)
Im folgenden Kapitel soll herausgestellt werden, welche Merkmale für den Sachunterricht und seine Didaktik als spezifisch betrachtet werden können. Hierdurch soll deutlich werden, welche Kernpunkte den Sachunterricht kennzeichnen.
3.1. Sachunterricht ein Schulfach
Sachunterricht wird als ein Schulfach des Primarbereiches verstanden, auch wenn sich der Sachunterricht inzwischen auch als ein Bezugsrahmen für die Sachbeschäftigung in der frühen Kindheit, dem Elementarbereich sieht (vgl. Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts 2013a, 18ff). Welcher Aufgabe nimmt sich das Fach an?
„Aus pädagogischer und aus didaktischer Sicht hat der Sachunterricht die anspruchsvolle Aufgabe, Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen,
- Phänomene und Zusammenhänge der Lebenswelt wahrzunehmen und zu verstehen,
- selbstständig, methodisch und reflektiert neue Erkenntnisse aufzubauen,
- Interesse an der Umwelt neu zu entwickeln und zu bewahren,
- anknüpfend an vorschulische Lernvoraussetzungen und Erfahrungen eine belastbare Grundlage für weiterführendes Lernen aufzubauen,
- in der Auseinandersetzung mit den Sachen ihre Persönlichkeit weiter zu entwickeln sowie
- angemessen und verantwortungsvoll in der Umwelt zu handeln und sie mitzugestalten.“ (a.a.O., 9)
Der zentrale Inhalt, der sich aus dem obigen Zitat herausarbeiten lässt, ist wie folgt zu „fassen“: Schülerinnen und Schüler, die mit ihren Interessen in den Blick genommen werden, eine Orientierung an der Lebenswelt, so wie die Anbahnung einer Handlungsfähigkeit durch die Auseinandersetzung mit der Sache. Die hieraus abzuleitende Trias Kind – Welt – Sache wird im Anschluss an diesen Abschnitt unter Punkt 3.2 aufgenommen und ausführlicher erläutert.
Erweitert wird das Aufgabenfeld des Sachunterrichts im Perspektivrahmen der Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU) durch eine besondere Aufgabe des Sachunterrichts: Diese „besteht darin, Schülerinnen und Schüler darin zu unterstützen, ihre natürliche, kulturelle, soziale und technische Umwelt sachbezogen zu verstehen, sie sich auf dieser Grundlage bildungswirksam zu erschließen und sich darin zu orientieren, mitzuwirken und zu handeln“ (ebd.).
Wenn Sachunterricht Schüler befähigen will sich bildungswirksam in ihrer Umwelt zu „bewegen“, dann muss vorerst geklärt werden, von welchem Bildungsbegriff auszugehen ist.
3.1.1. Bildung der unverzichtbare Referenzrahmen
Was sich hinter dem Bildungsbegriff verbirgt, ist nicht durch eine einfache Definition für den wissenschaftlichen Diskurs auszudrücken. „Einer breit geteilten Auffassung zufolge beschreibt Bildung den sozial verankerten Prozess der Entfaltung des Menschen in seinen unterschiedlichen Fähigkeitsbereichen (emotional, kognitiv, handelnd), der ihm aktive Teilhabe und die Übernahme von Verantwortung im gesellschaftlichen Leben ermöglicht“ (Seitz 2010, 46). So ist die Allgemeinbildung auch schon im Grundschulbereich zu verorten. Sie wird zentral durch die Werke von Klafki beeinflusst (vgl. Einsiedler 2011, 217). Für Klafki liegt der Begriff der Allgemeinbildung beziehungsweise allgemeiner Bildung in zwei Dimensionen vor. Die erste Dimension beschreibt Allgemeinbildung „als Zusammenhang von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit“ (Klafki 2009, 4). Jeder Einzelne soll in die Lage versetzt werden seine individuellen Deutungen von Beziehungen und Sinnhaftigkeit, beispielsweise der Religion, selbst zu bestimmen. Für jeden gilt - im Rahmen seiner Möglichkeiten - die Teilhabe an der Mitbestimmung unserer Gesellschaft. Diese Fähigkeiten finden jedoch nur wirkliche Einlösung, wenn auch die Menschen eine Zuwendung erfahren, welchen die Fähigkeiten vorenthalten sind.
Durch die zweite Dimension erfährt Bildung eine Begriffsdifferenzierung in drei Teilen (vgl. a.a.O., 5). „Bildung muss verstanden werden: als Bildung für alle (...), als Bildung im Medium des Allgemeinen (...) und [Anm. d. Verf.] als Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten“ (ebd.). Der erste Kernpunkt der „Bildung für alle“ zieht sich von Comenius Kerngedanken, „alle alles zu lehren“ über die Gründung der Grundschule als undifferenzierte Elementarschule (vgl. Götz/Sandfuchs 2011, 32) bis hin zur rechtlichen Rahmung der UN-BRK (2011) und des NSchG (2012) die unter Punkt 2.3 ausgeführt sind.
Mit Bildung im Medium des Allgemeinen meint Klafki das gemeinsame Gewahrwerden der Frage- und Problemstellungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bildung hat die Aufgabe diese zu thematisieren und Menschen zu befähigen an ihnen aktiv zu arbeiten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen (vgl. Klafki 2009, 5f).
Der dritte Kernpunkt der zweiten Dimension von Bildung geht von einem weiten Bildungsverständnis aus. Bildung bezieht sich neben der Förderung der kognitiven Möglichkeiten des Einzelnen auf seine handwerklich-technische Produktivität, die Ausbildung zwischenmenschlicher Beziehungsmöglichkeiten, seiner ästhetischen Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Urteilfähigkeit sowie dem Auf- und Ausbau seiner ethischen und politischen Endscheidungs- und Handlungsfähigkeit (vgl. ebd.). Mit den Worten von Gaedtke-Eckardt lässt sich festhalten, dass durch Bildung „Handlungsfähigkeit in vollem Umfang zu erreichen“ (2011, 18) ist.
Aus diesen Bestimmungen von Bildung geht hervor, dass sie unweigerlich mit den zu behandelnden Inhalten zusammenhängen (vgl. Klafki 2009, 8), daher soll im Folgenden dargestellt werden, woraus sich die Inhalte des Sachunterrichts konstituieren.
3.1.2. Die Inhalte des Sachunterrichts
Ausgangspunkt dieser Darstellung bildet, wie schon von Gaedtke-Eckardt ausgewählt (vgl. 2011, 21) und zur Einführung des Oberpunktes benutzt, die Selbstdarstellung des Faches Sachunterricht durch den Perspektivrahmen der GDSU (2013a), der neu überarbeitet wurde.
Der Sachunterricht bedient sich aus fünf Perspektiven, diese stehen nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, sondern gleichberechtigt, d.h. „nicht additiv nebeneinander stehen, sondern miteinander verknüpft“ (Gaedtke-Eckardt 2011, 22) sind.
Die Perspektiven sind:
- „Sozialwissenschaftliche Perspektive (Politik – Wirtschaft – Soziales)
- Naturwissenschaftliche Perspektive (belebte und unbelebte Natur)
- Geographische Perspektive (Räume – Naturgrundlagen – Lebenssituationen)
- Historische Perspektive – (Zeit – Wandel)
- Technische Perspektive (Technik – Arbeit)“ (Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts 2013a, 14).
Aus diesen Bereichen eine begründete Auswahl zu treffen, stellt eine der komplexesten und anspruchsvollsten Aufgaben des Sachunterrichts dar (vgl. Klafki 2009, 3; Kahlert 2009a, 20; Gaedtke-Eckardt 2011, 29). Einen Ansatzpunkt bietet die Orientierung an den „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ nach Klafki an.
Durch die Hinwendung zu den Schlüsselproblemen findet die Forderung nach Bildung im Medium des Allgemeinen Einlösung. Klafki nennt in seinem Aufsatz, den er auf der Gründungstagung der GDSU 1992 in Berlin gehalten hat, fünf Schlüsselprobleme, die den Anspruch haben, zentrale Problematiken der Gegenwart und soweit wie voraussehbar der Zukunft zu sein.
Die folgende Auflistung stellt die fünf epochaltypischen Schlüsselprobleme dar:
- Die Frage nach Krieg und Frieden
- Die Umweltfrage beziehungsweise ökologische Frage
- Problemkreis des rapiden Wachstums der Weltbevölkerung
- Gesellschaftlich produzierte Ungleichheit z.B.
- zwischen sozialen Klassen und Schichten
- zwischen Männern und Frauen
- zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen
- Gefahren und Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien (vgl. Klafki 2009, 8f)
Sie bilden den Ausgangspunkt um Mensch und Welt in eine wechselseitige Erschlossenheit zu versetzen (vgl. Löffler 2009, 24) reichen jedoch nicht aus, um eine vollständige Auswahl zu treffen. Klafki stellt ihnen eine zweite Orientierung gegenüber, die Fokussierung der „Förderung vielseitiger Interessen und Fähigkeiten“ der Grundschulkinder. Dieser Punkt bildet einen ausgleichenden Pol zu den Belastungen und ggf. Überforderungen der intensiven Auseinandersetzung mit den Schlüsselproblemen (vgl. Klafki 2009, 12). Dieser Gegenpol darf nicht unterschätzt werden und gehört essentiell und gleichzeitig zum Orientierungsrahmen für die Inhaltsauswahl. Dies wird an dieser Stelle besonders betont, da Pech kritisiert, dass in den Rezeptionen von „Klafkiwerken“ insbesondere oder auch ausschließlich die epochaltypischen Schlüsselprobleme genannt werden. Die Fragen und Interessen der Kindern müssen auch nicht grundsätzlich als inhaltlich gegenteilig zu den Schlüsselproblemen gesehen werde, aus ihnen heraus lassen sich durchaus Verknüpfungen mit zentralen Problematiken herstellen (vgl. Pech 2009, 40f).
Die letztendliche Anpassung der Auswahl auf die Lerngruppe mit ihren je spezifischen Lernbedingungen „liegt im Verantwortungs- und Kompetenzbereich einer jeden Lehrerin und eines jeden Lehrers ... und [Anm. d. Verf.] gehört zum professionellen Selbstverständnis qualifizierter Lehrerinnen und Lehrer“ (Kahlert 2009a, 30). Um nicht einer Relativierung der Inhalte „zum Opfer zu fallen“, helfen Klafkis Erörterungen genauso wie das Prinzip der Exemplarität, welches besonders durch Wagenscheins „Genetisch – Sokratisch – Exemplarischen Unterricht“ ausgeführt wurde. So heißt für ihn Lehrer zu sein „Sinn haben für den werdenden und erwachenden Geist“ (Wagenschein 2010, 29). In Verbindung mit dem Fach heißt es: „zugleich Sinn haben für das gewordene und werdende Fach“ (ebd.). Es geht darum „exemplarische Tiefenbohrungen“ (a.a.O., 37) vorzunehmen, die Faszination und den historischen Werdegang der Erkenntnis zu vereinen.
Festzuhalten bleibt, dass sich in den Inhalten des Sachunterrichts immer wieder zeigt, dass der Schüler mit seiner (Um-) Welt Ausgangspunkt bietet, und an den Sachen selbst Handlungsfähigkeit erlernt. Der Sachunterricht ist demnach mehr als die Summe seiner Teile (vgl. Gaedtke-Eckardt 2011, 29), er kann nur durch die Berücksichtigung von Kind – Welt – Sache angemessen auf die Komplexität seiner Aufgabe reagieren. Daher wird im folgenden Teil die Trias der didaktischen Kategorien Kind, Welt und Sache erläutert.
3.2. Sachunterricht: die Verbindung zwischen Kind – Welt – Sache
Die Trias Kind – Welt – Sache soll im Folgenden erläutert werden, um ihre Bedeutung für den Sachunterricht zu erschließen. Hierbei wird eine Dreiteilung vorgenommen, die es dem Leser erleichtern soll sich den einzelnen Begriffen zu widmen, doch jede didaktische Kategorie ist unweigerlich mit den anderen beiden Kategorien verknüpft. Im Folgenden finden sich Schwerpunkte, die erläutert werden, jedoch immer im Zusammenhang mit den anderen Bereichen der Trias stehen und Schnittmengen aufweisen. Begonnen wird mit (Lebens-)Welt da sie den „Raum“ für Erleben, Erfahren und Entwicklung darstellt.
3.2.1. (Lebens-) Welt
Die Bedeutung der Welt für den Sachunterricht spiegelt sich in den geschichtlichen entwickelten Konzeptionen (ausführlich dargestellt in Basiswissen Sachunterricht Band 1 Kaiser/Pech 2008) genauso wieder wie in den heutigen Sachunterrichtsentwicklungen. In Inhalt oder Struktur lassen sich Ausdrücke der gesellschaftlichen Bedingungen finden, sie können als Prägestempel für den Sachunterricht beschrieben werden (vgl. Kaiser 2008a, 100f). Die Welt beeinflusst den Sachunterricht und bildet seinen Ausgangspunkt (vgl. Kaiser/Pech 2008b). So besteht auch heute wieder eine Diskussion über die Bezeichnung des Sachunterrichts als Welt- oder Heimatkunde. Gerade um die Komplexität der zu behandelnden Phänomene und Situationen im Sachunterricht zu verdeutlichen, wurden neue Benennungen für den Sachunterricht entwickelt. Exemplarisch ist der von Ramseger aufgeführte Begriff der Welterkundung zu nennen (2008), sowie die Bezeichnung Weltorientierung von Kaiser (vgl. 2008a, 101). Hier wird der Fokus auf „Welt“ schon im Namen deutlich. Um von einem umfassenden Sachunterricht sprechen zu können, muss dieser Orientierungen für alle Bereiche von Welt bieten (vgl. a.a.O., 104). Der Einbezug von weltbeeinflussenden Problemen wird auch in der für den Sachunterricht zentralen Orientierung an den epochaltypische Schlüsselproblemen von Klafki (siehe Punkt 3.1.2) deutlich. Die Bezugsbereiche bilden den Ausgangspunkt zur „Auseinandersetzung mit den Problemen und Gefahren der geschichtlich gewordenen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft, die auf absehbare Zeit nicht gelöst werden können“ (Gaedtke-Eckardt 2011, 25) und bildeten die Grundlage für das zuvor genannte Konzept der Welterkundung von Ramseger. Um deutlich zu machen, welche gesellschaftlichen Entwicklungen den Sachunterricht aktuell beeinflussen, werden hier kurz die Tendenzen der Risikogesellschaft nach Kaiser (2008) skizziert. Diese weisen Schnittmengen mit den Schlüsselproblemen von Klafki auf, werden hier jedoch explizit genannt um eine „weltliche“ Rahmung für den Sachunterricht aufzuzeigen. Durch die verstärkte Globalisierung greifen ökonomische Tendenzen systematisch in die Gestaltung von Welt ein. Dies führt insbesondere zu einer Konsumexpansion. Die Konsumgüter wie Kleidung versprechen individuelle Freiheiten und wecken hohe Ansprüche, die nur eine eingeschränkte Befriedigung finden. Durch die Ökonomisierung werden weiterhin die Ungleichheiten in Gesellschaften und zwischen Ländern forciert. In diesem Zusammenhang lässt sich für Deutschland, die Gefahr beziehungsweise Sorge um die Existenzsicherung beschreiben. Jeder kann durch Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit etc. in Armut, soziale Unsicherheit und Ausgrenzung geraten. Eine weitere Tendenz der Risikogesellschaft bildet sich in der Veränderung von Beziehungsstrukturen ab. Erziehung wird anonymer durch die Belastungen, denen Erziehende ausgesetzt sind und eine tradierte Grenzsetzung zwischen Kindheit und Erwachsenensein ist nicht mehr möglich. Durch die mediale Versorgung, ist fast alles „ansehbar“, ob Tote von Attentaten oder Minister die Sex-Partys feiern. Diese Veränderung von tradierten Bindungen und Grenzen löst eine neue und intensive Suche nach Orientierung aus. Dies soll hier nicht rein negativ konnotiert werden, denn das „Aufbrechen“ vom „Gewohnten“, schafft auch die Möglichkeit für die Implementierung vom „Neuen“. Mit dem zuletzt beschriebenen Punkt hängt die stärker werdende Individualisierung zusammen. Diese steht jedoch gekoppelt an die eingeschränkten Entscheidungsmöglichkeiten in einer „Zerreißprobe“. Menschen sollen sich autonom entwickeln und sich individuell verwirklichen, sie brechen jedoch an gesellschaftlichen Normen und der Uniformierung durch Medien.
[...]
[1] Für die vorliegende Arbeit gilt die folgende Definition von Didaktik, welche durch die Ausführungen von Comenius angeregt wurde: Didaktik ist die Kunst verschiedene theoretische Lehr- und Lernkonzepte auf die Praxis zu transferieren und sie für den jeweils aktuellen Anlass der Schulsituation zu modifizieren. Hierbei sind die Rahmenbedingungen von Schule und die individuelle Schüler- und Lehrerpersönlichkeit und -kompetenzen zu berücksichtigen um eine authentische und fruchtbare Lehr- und Lernsituation zu schaffen.
- Citar trabajo
- Mareike Wanke (Autor), 2013, Der Anspruch der Inklusion an den Sachunterricht. Qualitative Interviews mit Lehramtsanwärtern, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/426999
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