Seitdem die EU der Türkei im Jahr 1999 den Beitrittskandidatenstatus verliehen hat und spätestens seitdem die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen für den 3. Oktober 2005 festgelegt wurde, scheint der langfristige Beitritt des ersten Staates mit hauptsächlich muslimischer Bevölkerung zur Europäischen Union immer denkbarer. Die islamisch- konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungs-Partei (Adalet ve Kalkınma partisi, AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyıp Erdoğan hat die Türkei durch eine Vielzahl von Reformen innerhalb nur weniger Jahre Regierungsarbeit ein gutes Stück in Richtung Westen gerückt. Dadurch hat sie die Türkei auch der Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele des Kemalismus, der türkischen Staatsideologie, näher gebracht: der durch Anpassung an und Eingliederung in den Westen erreichten Modernisierung der Türkei.
Die neuesten Entwicklungen in der Türkei und die ihr vorangegangen Reformen, die aus türkischer Sicht reformistisch, ja fast revolutionistisch sind, werden in Europa häufig mit Skepsis betrachtet. Kritiker warnen, die Reformen bestünden nur auf dem Papier und Erdoğan täusche seine westliche Orientierung vor, um schließlich, nach Sicherung des Regierungsbodens, ausreichenden Zugeständnissen der EU und einer griffigen Kontrolle über das Militär, seinen traditionellen Kurs wieder hervorzukramen und die alte Linie des Necmettin Erbakan und der im Zuge des 28. Februar Prozesses verbotenen islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah-Partisi) wieder einzuschlagen. Insbesondere das in den letzten Monaten zu beobachtende Desinteresse der türkischen Regierung an weiteren Reformen bzw. an der Durchsetzung bereits verabschiedeter Gesetze bläst den Türkei-Kritikern wieder neuen Wind in die Segel. Nicht zuletzt sei die Türkei ein vom Islam geprägter Staat, der eine Gefährdung für die Rechtsordnung in der EU darstelle. So formuliert Reinhold Bocklet etwa:
Da aber im Islam die Emanzipation einer zivilen, säkularisierten Sphäre vom Totalitätsanspruch der Religion nicht stattgefunden hat und wo es sie – wie in der Türkei – gibt, sie auf staatlich-militärischem Oktroy beruht, bestehen nicht zuletzt im Blick auf die Entwicklungen in der Türkei während der letzen Jahrzehnte berechtigte Zweifel, ob die jüngsten demokratischen Reformen und die rechtliche Festschreibung der westlichen Werte gesellschaftlichen Bestand haben und nicht wieder von einem islamisch-fundamentalistischen Sturm hinweg gefegt werden.
Gliederung
1 Einleitung und Fragestellung
2 Die Türkische Republik: Neudefinitionen der Beziehungen zum Islam
3.1 Das Amt für Religiöse Angelegenheiten
(Diyanet İşleri Bakanlığı, DIB): ein Überblick
3.2 Kritik und Bewertung des DIB
4 Islam in der Türkei vs. Demokratie und Modernisierung?
5 Der Laizismus in der Türkei – eine Einordnung
6 Schluss
7 Quellen- und Literaturverzeichnis
8 Erklärung zur Hausarbeit
1 Einleitung und Fragestellung
Seitdem die EU der Türkei im Jahr 1999 den Beitrittskandidatenstatus verliehen hat und spätestens seitdem die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen für den 3. Oktober 2005 festgelegt wurde, scheint der langfristige Beitritt des ersten Staates mit hauptsächlich muslimischer Bevölkerung zur Europäischen Union immer denkbarer. Die islamisch- konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungs-Partei (Adalet ve Kalkınma partisi, AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyıp Erdoğan hat die Türkei durch eine Vielzahl von Reformen innerhalb nur weniger Jahre Regierungsarbeit ein gutes Stück in Richtung Westen gerückt. Dadurch hat sie die Türkei auch der Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele des Kemalismus, der türkischen Staatsideologie, näher gebracht: der durch Anpassung an und Eingliederung in den Westen erreichten Modernisierung der Türkei.
Die neuesten Entwicklungen in der Türkei und die ihr vorangegangen Reformen, die aus türkischer Sicht reformistisch, ja fast revolutionistisch sind, werden in Europa häufig mit Skepsis betrachtet. Kritiker warnen, die Reformen bestünden nur auf dem Papier und Erdoğan täusche seine westliche Orientierung vor, um schließlich, nach Sicherung des Regierungsbodens, ausreichenden Zugeständnissen der EU und einer griffigen Kontrolle über das Militär, seinen traditionellen Kurs wieder hervorzukramen und die alte Linie des Necmettin Erbakan und der im Zuge des 28. Februar Prozesses verbotenen islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah-Partisi) wieder einzuschlagen. Insbesondere das in den letzten Monaten zu beobachtende Desinteresse der türkischen Regierung an weiteren Reformen bzw. an der Durchsetzung bereits verabschiedeter Gesetze bläst den Türkei-Kritikern wieder neuen Wind in die Segel. Nicht zuletzt sei die Türkei ein vom Islam geprägter Staat, der eine Gefährdung für die Rechtsordnung in der EU darstelle. So formuliert Reinhold Bocklet etwa:
Da aber im Islam die Emanzipation einer zivilen, säkularisierten Sphäre vom Totalitätsanspruch der Religion nicht stattgefunden hat und wo es sie – wie in der Türkei – gibt, sie auf staatlich-militärischem Oktroy beruht, bestehen nicht zuletzt im Blick auf die Entwicklungen in der Türkei während der letzen Jahrzehnte berechtigte Zweifel, ob die jüngsten demokratischen Reformen und die rechtliche Festschreibung der westlichen Werte gesellschaftlichen Bestand haben und nicht wieder von einem islamisch-fundamentalistischen Sturm hinweg gefegt werden. (Bocklet 2004: 172)
In der vorliegenden Arbeit soll dieser Streitpunkt zum Thema gemacht werden: ist die Türkei tatsächlich ein religiös motivierter Staat oder löst der türkische Laizismus seinen Anspruch auf Säkularisierung ein? Diese Frage soll nach einem kurzen historischen Abriss insbesondere anhand der Institution des Amtes für religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri Bakanlığı, DIB) dargelegt werden, wobei die besondere Beziehung des türkischen Staates zu seiner Religion hervorgehoben werden soll. Besondere Bedeutung erhält hierbei die Komponente der Modernisierung, die im Gegensatz zu einem unkontrollierten Volksislam gesehen wird, wie auch kurz anhand der türkischen Kopftuchdebatte gezeigt werden soll. Eine Definition und Verortung des türkischen Laizismus wird, wenn auch ein wenig ungewöhnlich, nach der Analyse des Umgangs des türkischen Staates mit seiner Religion erfolgen, da sich die Definitionsproblematik erst aus einer genaueren Beleuchtung der Fakten ergibt. Auch die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam in der Türkei soll knapp erörtert werden. Die Ausführungen sollen schließlich in Hinblick auf die Kritiker eines EU-Beitritts der Türkei eingeordnet werden.
2 Die Türkische Republik: Neudefinitionen der Beziehungen zum Islam
Die Gründung der türkischen Republik im Oktober 1923 durch den legendären ersten Staatspräsidenten Mustafa Kemal, bekannt als Atatürk, dem Vater der Türken, setzte dem theokratischen Osmanischen Reich ein Ende. Die Beziehung von Staat und islamischer Religion wurde völlig neu konzipiert. Bekim Agai beschreibt: „Das Begreifen des Islams als potenzielle Gefahr für den modernen Nationalstaat prägt den frühen Kemalismus, der sich in dieser Zeit als Ideologie herausbildete“ (Agai 2004: 18). Die sechs Pfeiler des Kemalismus, nämlich Nationalismus, Republikanismus, Populismus, Laizismus, Etatismus und reformistischer Revolutionismus (vgl. Rumpf 2004: 33ff.), entstammen dem Parteiprogramm Atatürks von 1931 und wurden 1937 als unveränderbare Prinzipien in die Verfassung überführt. Bis heute bilden sie die Leitlinien des türkischen Staates. Im Rahmen dieser Arbeit soll nun, wie bereits oben erwähnt, insbesondere das Staatsprinzip des Laizismus und seine Durchsetzung näher untersucht werden.
Innerhalb der ersten zehn Jahre der jungen Republik setzte eine starke Marginalisierung und Zurückdrängung der Religion durch den türkischen Staat ein: religiöse Schulen wurden geschlossen, der innerschulische Religionsunterricht eingestellt[1], Ordenskonvente und religiöse Kleidung verboten, das Alphabet der heiligen Sprache des Koran, durch westliche Schriftzeichen ersetzt: 1928 mussten die arabischen Buchstaben den lateinischen weichen. Ebenfalls „1928 verlor der Islam seinen Rang als Staatsreligion in der Verfassung“ (Seufert 2004: 12) und bereits 1924 war die Kontrolle des (sunnitischen) Islam per Gesetz dem DIB auferlegt worden. Günter Seufert formuliert treffend:
Die Religion wurde nicht nur ihrer politischen Dimension beraubt, die Republik machte auch keinen Unterschied mehr zwischen privater und öffentlicher Sphäre und intervenierte in das religiöse Leben der einzelnen Bürger und Gemeinschaften. (Seufert 2004: 14)
Das strikte Eingreifen und die zügige Umsetzung der den Islam betreffenden Reformen deuten auf den bis heute bestehenden Stellenwert des Laizismusprinzips hin. Es gilt, so merkt Ece Göztepe an, „in der türkischen Verfassung neben dem Nationalismus als eines der wichtigsten Staatsprinzipien und wird in engem Zusammenhang mit dem Modernisierungsziel der Türkischen Revolution verstanden“ (Göztepe 2004: 33). Die folgenden detaillierteren Darstellungen werden deutlich machen, dass eine solche Modernisierung nach türkischer Staatsauffassung durchaus mit dem Islam vereinbar ist, jedoch nur dann, wenn dieser in kontrollierter Form und ausdrücklich als moderner Islam auftritt.
3.1 Das Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri Bakanlığı, DIB): ein Überblick
Seit 1961 ist die Religionsbehörde in der Verfassung verankert, ihre Tätigkeit wurde im Gesetz Nr. 633 vom 2. Juli 1965 geregelt. Seit 1971 sind die Mitarbeiter der Behörde Staatsbeamte […]. 1982 wurde die Aufgabe der Behörde, der nationalen Einheit zu dienen, in der Verfassung festgeschrieben. (Seufert 2004: 17)
Die Verankerung einer religiösen Institution in der staatlichen Verfassung mutet paradox an, weil doch scheinbar unvereinbar mit dem staatlichen Laizismusprinzip. In ihrer historischen Anlage gründend steht das DIB jedoch ganz im Gegenteil im harmonischen Einklang mit dem türkischen Laizismus.
Nicht erst seit 1961 existiert das DIB, schon 1924, ein Jahr nach Gründung der Republik, wurde es per Gesetz gegründet. Sein Aufgabenbereich war klar umrissen: im von Seufert benannten Gesetz Nummer 633 wurden dem DIB die folgenden Bereiche zugeschrieben[2]: „Anleitung in Fragen des Glaubens, des Kultes und […] der Sittlichkeit; Verwaltung der Gebetsstätten und Aufklärung der Bevölkerung in religiösen Fragen“ (Kara 1999: 224). Dies umfasst auch die Ausbildung von Imamen, Muezzinen, Predigern, Religionslehrern etc. Diese werden somit „paid employees of the state“ (zit. nach Davison 2003: 337).
[...]
[1] Zu einer Differenzierung dieser recht pauschalen Aussage siehe Seufert 2004: 14. Nur von 1939-1948 war der Schulunterricht komplett eingestellt.
[2] Ursprünglich definierte das weit früher erlassene Gesetz Nummer 429 die Aufgaben des DIB, in dem jedoch ähnlich formuliert worden war. Vgl. Kara 1999: 223.
- Arbeit zitieren
- Nora Sevbihiv Sinemillioglu (Autor:in), 2005, Laizismus und Demokratie versus Türkei und Islam? Eine kritische Betrachtung des türkischen Islams und seiner Vereinbarkeit mit Europa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42682
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