Die Charaktere von Dostojewski sind auch heute noch interessant und zeitgemäß. Die Figur Ganja Iwolgin in seinem Roman "Der Idiot" wird im vorliegenden Text in allen Details analysiert. Es stellt sich die Frage, ob Menschen, die eher aggressiv, egoistisch und misstrauisch sind, eine persönliche Entwicklung erfahren können. (Die Arbeit wurde mit "sehr gut" bewertet.)
Inhalt
I . Der Weg zu Ganja
II. 1. Dostojewskis bildhafter Entwurf Ganjas
a) Der Steckbrief
b) Das Urteil der beteiligten Romanfiguren
2. Die Bedeutung des Geldes
3. Ganjas zwischenmenschliches Verhalten
a) Der Sprachgebrauch
b) Die Mimik
c) Die schriftliche Kommunikation
III. Das Porträt Ganjas
Gawrila Iwolgin "In Stichworten"
Die Bibliographie
I . Der Weg zu Ganja
Es ist Dienstag. Irgendein Dienstag im Oktober neunzehnhundertzweiundneunzig. Ich komme gerade aus Frankreich zurück. Den Sommer im Rücken, die Nebelschwaden über dem Neckar vor dem inneren Auge. Wieder in Heidelberg. Bahnhofskälte. Ein Wohnungsloser bittet mich um ein paar Pfennige. Ich gehe nach draußen, zur Bushaltestelle. Einmal Ziegelhausen, bitte! Es geht bergauf, zumindest äußerlich.
Das Wintersemester hat gegonnen. Ich begebe mich hinab ins Dorf, in den Buchladen an der Ecke gegenüber der Bäckerei. Die Verkäuferin reicht mir lächelnd das neue Vorlesungsverzeichnis. Ich blättere ein wenig darin.
Slavische Philologie. Seite einhundertvierundsiebzig. Literaturwissenschaft. Grundstudium. Proseminare. Professor Gerigk bietet das Thema "Der Idiot" von Dostojewski an. Zweistündig. Freitags. Von fünfzehn Uhr fünfzehn bis sechzehn Uhr fünfundvierzig. Übungsraum zweihunderteins.
Woher kenne ich dieses Werk? Das Buch habe ich noch nicht zur Hand genommen. Jetzt fällt es mir wieder ein. Paris, rue des Ecoles, ein Kino, ein schwarz-weiß Film, in der Hauptrolle Gerard Philippe als Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin.
Das liegt schon lange zurück. Nur dunkel erinnere ich mich an den Handlungsablauf. Doch als sehr interessant erweist sich dieses Werk, dessen bin ich gewiß. In der bescheidenen Bibliothek meiner Mutter stoße ich auf eine Übersetzung dieser russischen Erzählung von Nora Urban, gedruckt in Wien im Jahre neunzehnhunderteinundsechzig. [1] Die Würfel sind gefallen. Ich entschließe mich, an oben genanntem Proseminar teilzunehmen.
Eine Hausarbeit über Dostojewskis Werk "Der Idiot" soll verfaßt werden. Doch wen oder was könnte ich genauer unter die Lupe nehmen? Nach der Lektüre des ersten Teiles weckt eine Figur mein besonderes Interesse. Es handelt sich hierbei um Gawrila Ardalionytsch Iwolgin, auch Ganja genannt, der sich vorallem durch sein aggressives Verhalten "auszeichnet". Ich habe mir die Aufgabe gestellt, die Gestalt des Ganja in dem Roman "Der Idiot" zu porträtieren.
Es gilt, von den äußeren Merkmalen und Verhaltensweisen Gawrila Iwolgins auf dessen Charakter zu schließen. Folgende Fragen sind hierbei zu berücksichtigen:
- Wie stellt Dostojewski die Figur des Ganja vor?
- Welcher Technik bedient er sich, um dessen Wesenszüge zu durchleuchten?
- Welche Eigenschaften ordnen die beteiligten Romanfiguren Ganja zu?
- Inwieweit beeinflussen materielle Werte sein Leben?
- Zählt Ganja zu den Menschen , die sich im Laufe der Erzählung positiv weiterentwickeln?
Den Gegenstand dieser Hausarbeit bildet u. a. die Beantwortung oben angeführter Fragen. Der Hauptteil gliedert sich in zwei Themenbereiche, wobei im ersteren zur Vereinfachung chronologisches Vorgehen erfolgt. Zum einen wird das Bild (z. B. Aussehen, gesellschaftliche Stellung, Meinungen der anderen Romanfiguren über Ganja), welches Dostojewski von Ganja entwirft, behandelt, zum anderen die Handlungsweise Ganjas bzw. dessen Verhalten in bestimmten Situationen. Im Anhang befindet sich eine Übersicht, in der jedes Auftreten Ganjas kurz umrissen wird. Die bloße Nennung seines Namens findet darin ebenfalls Beachtung.
II. 1. Dostojewskis bildhafter Entwurf Ganjas
a) Der Steckbrief
Gawrila Ardalionytsch Iwolgin wird im Jahre 1839 als Sohn Nina Alexandrownas und General Iwolgins geboren. Seine Geschwister heißen Warja und Kolja. Die erstmalige Erwähnung Ganjas im Roman erfolgt in einem Gespräch zwischen Myschkin und dem Kammerdiener der Familie Jepantschin. [2]
Der Leser erfährt, daß Ganja bei einer Handelsgesellschaft angestellt ist. Im Hause Jepantschin fungiert er als Sekretär und verfügt über das Recht, jederzeit von der Familie empfangen zu werden. [3] Dies läßt auf eine Vertrauensstellung - zumindest bezüglich seiner beruflichen Tätigkeit - schließen. So erweist es sich nicht als erstaunlich, daß der Kammerdiener den Fürsten Myschkin zuerst dem Sekretär vorzustellen gedenkt, bevor er ihn bei seiner Herrschaft anmeldet. Als Gawrila Ardalionytsch mit einem Stoß Papier in den Händen erscheint - er trägt einen Pelz, den er mit Hilfe des Dieners ablegt - wird er zunächst über die Person des Fürsten aufgeklärt. Anschließend tritt er auf diesen zu und begrüßt ihn höflich. Ganja tritt nun der Hauptfigur des Romans zum ersten Mal gegenüber. Dostojewski nutzt diese Gelegenheit, um einen Steckbrief des Sekretärs zu entwerfen:
Er war etwa 28 Jahre alt, schlank, mittelgroß, blond, mit einem kleinen Napoleonbärtchen und einem klugen, hübschen Gesicht, nur war sein Lächeln etwas zu liebenswürdig, die ebenmäßigen Zähne traten zu stark hervor und sein heiterer, vielleicht absichtlich offenherziger Blick war scharf und prüfend. [4]
b) Das Urteil der beteiligten Romanfiguren
Dem ersten Eindruck zufolge könnte man Ganja für eine Lichtgestalt halten, jung, blond, mit Bart wie Myschkin, aber in Pelz gehüllt wie Rogoschin (ein Wolf im Schafspelz?). Der Fürst mißtraut sogleich dem Gesichtsausdruck des Sekretärs. Er sagt sich im Stillen: "Wer weiß, wie der aussieht, wenn er allein ist? Da ist er s icher anders und lächelt nicht so heiter." [5] Tatsächlich verfügt Ganja über keinen Grund zur Heiterkeit. Die verschiedensten Gerüchte über seine Person kursieren in Petersburg. Einerseits heißt es, Nastasja Filipowna schätze ihn sehr ("Am besten gefalle ihr, daß er so arbeitsam sei, sich Mühe gebe und seine Familie allein erhalte, daß er energisch und stolz an seine Karriere denke." [6]), andererseits wird behauptet, sie wisse genau, "Ganja heirate sie nur des Geldes wegen und sei ein schlechter, habgieriger, neidischer und vorallem entsetzlich eitler Mensch ..." [7]
Bereits hier wird deutlich, auf welche Art und Weise Dostojewski das Charakterbild des Ganja entwirft. Er bedient sich einer besonderen Technik. Anstatt als Erzähler, der die Eigenschaften Ganjas benennt, aufzutreten, läßt der die beteiligten Romanfiguren sprechen. Da diese natürlich subjektiv urteilen, ist der Leser angehalten, die Aussagen zu überprüfen und seine eigene Meinung zu bilden. Als offensichtlich erweist sich allerdings Ganjas Interesse an einem gesellschaftlichen Aufstieg, der mit materiellem Wohlstand einhergeht.
Für die Ehre, daß er seine Familie allein ernähre, kann er sich nichts kaufen. Im Gegenteil, er schämt sich für die Notwendigkeit, Zimmer in seinem Hause vermieten zu müssen, um eine Erhöhung des Familieneinkommens zu bewirken.
"Ganja nannte das Vermieten ärgerlich und unstandesgemäß, und er genierte sich in den Gesellschaftskreisen, in denen er als junger Mann mit guten Aussichten zu glänzen liebte." [8]
Als noch unangenehmer für Ganja fällt allerdings die Ansicht des Fürsten über seine Person aus. Dieser charakterisiert Ganja wie folgt: "Sie sind kein Schuft. Sie sind nicht einmal schlecht. Sie sind ein ganz alltäglicher Mensch mit schwachem Charakter und ohne originelle Einfälle." [9]
Ganja trifft diese Aussage besonders hart, denn seine Ziele sind darauf gerichtet, sich eines Tages in der Gesellschaft durch Originalität hervorzutun. Nur Geld - so die Überzeugung Ganjas - öffnet das Tor, welches den Weg, der zum originellen Menschen führt, versperrt. Ganja hat sich demnach den materiellen Dingen verschrieben.
Trotzdem glaubt der Fürst noch an "verborgene Möglichkeiten" in Ganjas Wesen, da er noch lachen könne wie ein Kind. [10] Das Kindsein spielt in Dostojewskis Roman "Der Idiot" eine besondere Rolle. Es steht u.a. für die Unschuld des Menschen, seine Fähigkeit, nicht verstandes-, sondern gefühlsorientiert und menschlich zu handeln. Ein Erwachsener, dem es gelungen ist, in vielerlei Hinsicht ein Kind zu bleiben, hat folglich zahlreiche positive Eigenschaften bewahrt.
Im weiteren Verlauf der Erzählung wird deutlich, daß Ganja seine hochgesteckten Ziele nicht erreichen wird. Er erkrankt und verliert daher seinen Posten auf dem Amt. Auch bei den Jepantschins wird er seiner Sekretär stätigkeit verlustig. Verarmt und unterstützungsbedürftig zieht er in das Haus seines Schwagers Ptizyn. [11]
Seit dieser Zeit gehen die Meinungen über den Charakter Ganjas auseinander. Während Aglaja Iwanowna der Ansicht ist, Ganja habe sich vorteilhaft verändert, behauptet Lisaweta Prokofjewna, keine Wandlung bemerkt zu haben. [12] Auch die Einstellung Hippolyts bezüglich Gawrila Iwolgin erweist sich als negativ. Als Ganja die Affäre Burdowski darlegt, wird er von Hippolyt der Langatmigkeit und der Prahlerei bezichtigt.
[...]
1 Schreibweisen der Namen sind hieraus übernommen; Angaben von Seitenzahlen bzw. Zitate beziehen sich auf diese Übersetzung.
2 Dostojewski, 1961, S. 19
3 Dostojewski, 1961, S. 20
4 Dostojewski, 1961, S . 22
5 Dostojewski, 1961, S. 107
6 Dostojewski, 1961, S. 107
7 Dostojewski, 1961, S. 154
8 Dostojewski, 1961, S. 207
9 Dostojewski, 1961, S. 22
10 Dostojewski, 1961, S. 42
11 Dostojewski , 1961, S. 43
12 Dostojewski, 1961 , S. 77
- Citation du texte
- Monika Laupus (Auteur), 1993, Ein Porträt von Gawrila Ardalionytsch Iwolgin, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/426811
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