Im Rahmen eines Proseminars zu Bertrand Russells „Probleme der Philosophie“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entstand während des Wintersemesters 2000/2001 diese Studie zum 11. Kapitel namens „Intuitive Erkenntnis“.
Zunächst erfolgt eine Einordnung des besagten Kapitels in den Gesamtzusammenhang des Texts; zu diesem Zweck werden die Hauptgedanken der Kapitel 1 bis 10 repetiert. Im Gegensatz zu Kapitel 5, wo es um die Erkenntnis von Dingen geht, befasst sich Kapitel 11 mit der unmittelbaren Erkenntnis von Wahrheiten. Einleitend weist Russell auf die verbreitete Ansicht der Beweisbarkeit einer jeden menschlichen Meinung hin. Alltagsprobleme wie etwa jene über die gefahrlose Genießbarkeit der vorgesetzten Mahlzeit müssten bei genauerer (sokratischer) Betrachtung letztlich mit Hilfe des bereits in Kapitel 6 behandelten Induktionsprinzips beantwortet werden. Als evident gelten hingegen der Induktionsgrundsatz wie einige andere logische Prinzipien, obwohl sie sich nicht auf einfachere und evidentere Prinzipien zurückführen lassen. Hinsichtlich des Grades ihrer Offensichtlichkeit unterscheiden sich die ersten abgeleiteten Sätze nicht von den zugrunde liegenden Prinzipien; so begreift der Laie konkrete Beispiele für den Satz vom Widerspruch rascher als das eigentliche Prinzip selbst.
Nun führt Russell einige neue Begriffe ein: Die von den Sinnesdaten zu unterscheidenden, direkt aus Empfindungen stammenden „Wahrnehmungswahrheiten“ werden durch so genannte „Wahrnehmungsurteile“ ausgedrückt. Diese können unterteilt werden in intuitive Wahrnehmungsurteile, welche nur die Existenz eines Sinnesdatums betreffen, und in analytische Wahrnehmungsurteile, welche die Beziehung zweier Faktoren eines Sinnesdatums betreffen. Mit den Wahrnehmungsurteilen verwandt sind die intuitiven, die Vergangenheit betreffenden „Erinnerungsurteile“, deren Glaubhaftigkeit von der Zuverlässigkeit des Gedächtnisses abhängt.
Schließlich nennt Russell als wesentliche Eigenschaft der Evidenz deren graduelle Verschiedenheit von absoluter Gewissheit bis zur beinahe unmerklichen Nuance von Glaubhaftigkeit. So kommt den Wahrnehmungsurteilen und einigen Grundsätzen der Logik der höchste Grad von Evidenz zu, während etwa ethische und ästhetische Werturteile kaum Evidenz aufweisen.
Gliederung
I. Vorbemerkung
II. Einordnung des 11. Kapitels in den Gesamtduktus des Textes
III. Zusammenfassende Darstellung des 11. Kapitels
IV. Versuch einer Kritik
I. Vorbemerkung
Das Thema der vorliegenden Hausarbeit ist identisch mit dem Thema des ebenfalls vom Verfasser gehaltenen Referats vom 23.01.2001. Die Darstellung des 11. Kapitels ist bewusst breit angelegt worden. Sollte bei der Lektüre ein ähnlicher Eindruck von der Einordnung besagten Kapitels in den Gesamtduktus entstehen, so möge dies als Indiz für detaillierte Textkenntnis gewertet werden.
Der Verfasser wünscht dem Leser viel Vergnügen bei der Lektüre.
II. Einordnung des 11. Kapitels in den Gesamtduktus des Textes
Russell beginnt die „Probleme der Philosophie“ im 1. Kapitel mit der Differenzierung von Erscheinung und Wirklichkeit. Die sinnliche Wahrnehmung vermittelt danach dem Individuum nur die Erscheinung eines Gegenstandes – die sog. Sinnesdaten – und nicht die Wahrheit über den Gegenstand in dessen unabhängiger Existenz. In Kapitel 2 bemüht der Autor die instinktiven Überzeugungen, welche ohne schlüssigen Beweis als plausibel annehmen lassen, dass die Sinnesdaten tatsächlich Zeichen für die Existenz von den Wahrnehmungen des Betrachters unabhängiger Dinge sind. Das innere Wesen dieser physikalischen Gegenstände selbst bleibt – als Resultat der Reflexionen im 3. Kapitel – für die sinnliche Wahrnehmung unerkennbar; allein die Eigenschaften der Beziehungen zwischen den physikalischen Gegenständen können analog den Beziehungen zwischen den Sinnesdaten abgeleitet werden. In Kapitel 4 verwirft Russell den Idealismus allgemein und die Argumentation seines Vertreters Berkeley im besonderen. Die Erkenntnis durch „Bekanntschaft“ und „Beschreibung“ ist das Thema des 5. Kapitels. Danach stellt Bekanntschaft eine direkte, ohne Herleitung aus Konklusionen oder vorhergegangene Erkenntnis von Wahrheiten erfolgende, Bewusstwerdung dar. Bekannt sind uns die eigenen Sinnesdaten, allgemeine Ideen (sog. Universalien) und das eigene Ich; darüber hinaus findet Bekanntschaft durch Introspektion (=Selbstbewusstsein) und im Gedächtnis statt. Auf das Gedächtnis wird Russell in Kapitel 11 noch einmal zurückkommen. Die zweite Erkenntnisform der Beschreibung beinhaltet jeden Ausdruck der Form „ein so-und-so“ oder „der (die, das) so-und-so“; Beispiele sind „ein Mann“ als mehrdeutige und „der Mann mit der eisernen Maske“ oder Namen wie Bismarck oder London als eindeutige Beschreibungen. Mit der Erkenntnis durch Beschreibung erhält das Individuum die Möglichkeit, die Schranken seiner persönlichen Erfahrung zu überwinden.
In Kapitel 6 behandelt der Autor das Induktionsprinzip: Dieses ist für die Geltung aller auf Erfahrung beruhenden Schlussfolgerungen unverzichtbar; es kann aber selbst nicht durch die Erfahrung bewiesen werden. Trotzdem wird es ohne weitere Zweifel – zumindest im konkreten Anwendungsfall – allgemein für wahr gehalten. Neben dem Induktionsgrundsatz haben auch andere allgemeine sowie die logischen und mathematischen Prinzipien und die ethischen Werte diese Eigenschaft der Evidenz, was im 7. Kapitel erstmals dargestellt wird. Mit der Anerkennung dieses apriorischen Wissens stellt sich Russell im Streit zwischen Empiristen und Rationalisten diesbezüglich auf die Seite der letzteren. Die genannten Prinzipien sind zwar von der Erfahrung logisch unabhängiges Wissen und somit durch diese nicht beweisbar, jedoch werden sie erst durch Erfahrung hervorgerufen. Insofern gibt der Verfasser also auch den Empiristen teilweise recht. Das Kapitel 8 befasst sich mit der Philosophie Immanuel Kants im Hinblick auf die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis. Im Ergebnis begreift Russell apriorisches Wissen nicht nur als ein Wissen von der Verfassung des Bewusstseins, sondern wendet es auch auf alles nicht zum Bewusstsein Zählende an. Problematisch bleibt aber die Einordnung von derartigen Beziehungen, wie sie beispielsweise mit dem Wort „in“ in dem Satz „Ich befinde mich in meinem Zimmer“ ausgedrückt werden. Da die Wahrheit dieses Satzes nicht durch das Denken festgestellt werden kann, können Beziehungen weder im Bewusstsein noch in der Außenwelt lokalisiert werden.
Im 9. Kapitel kommt der Autor daher wieder auf die aus Kapitel 5 bekannten Universalien in Synonymie zu Platons „Ideen“ zurück, deren Bekanntschaft Voraussetzung für die Erkenntnis von Wahrheiten ist. Zu diesen Universalien sind nicht nur die durch Substantive und Adjektive beschriebenen zu zählen, sondern auch die durch Verben oder Präpositionen wie „in“ im obigen Beispiel. Die Universalien wie „Schwärze“ oder „Gerechtigkeit“ sind – unabhängig vom Bewusstsein – keine Denkakte, vielmehr bestehen sie – im Falle ihres Erkanntwerdens – als Gegenstände des Denkens. Mit Hilfe der Universalien löst Russell im 10. Kapitel das Problem apriorischer Erkenntnis: Diese hat es ausschließlich mit Beziehungen zwischen Universalien zu tun. Zwar ist auch eine empirische Verallgemeinerung wie „Alle Menschen sind sterblich“ bei Kenntnis der in ihr vorkommenden Universalien „Mensch“ und „sterblich“ zu verstehen; die Verschiedenheit zwischen einer empirischen Verallgemeinerung und einer allgemeinen apriorischen Aussage besteht nicht im Bedeutungsunterschied beider Sätze, sondern wird aus deren differenten Begründung ersichtlich: Empirische Verallgemeinerungen werden aus Einzelfällen (=induktiv) hergeleitet und ergeben sich nicht aus einem Nachweis apriorischer Verknüpfungen zwischen Universalien wie in Logik und Arithmetik.
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- Citation du texte
- Dr. phil. Ass. iur. M.A. Reiner Scheel (Auteur), 2001, B. Russells "Probleme der Philosophie": Studie zum 11. Kapitel - Intuitive Erkenntnis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42658
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