Sprachen sind nicht statisch, sondern verändern sich ganz im Gegenteil mit der Zeit in wechselndem Tempo und in unterschiedlichem Ausmaß. Für den Wandel sind verschiedene Faktoren verantwortlich, die in zwei Gruppen unterteilt werden können: Faktoren der inneren und der äußeren Sprachgeschichte. Zu den ersteren zählen funktionale Schwächen des Systems, die bei den Sprechern den Wunsch erwecken, diese zu optimieren, das Ökonomieprinzip (Prinzip des geringsten Aufwands) sowie das Phänomen der Reanalyse. Unter der äußeren Sprachgeschichte werden geographische, soziale, kulturelle und politische Dimensionen einer Sprache subsummiert. Sie wird nicht nur durch die historischen Ereignisse, sondern auch durch Sprachkontakte sowie sprachpolitische Maßnahmen geprägt. Bei genauerem Betrachten der Entwicklung des Französischen kann festgestellt werden, dass sich seine Sprachgeschichte über mehrere Jahrhunderte streckt und es einen immensen Sprachwandel vorweisen kann. Um eine grobe Vorstellung über die Entwicklung der französischen Sprache zu gewinnen empfiehlt es sich, einen Blick auf seine Periodisierung zu werfen.
Um grundlegende Informationen zu vermitteln, erfolgt zu Beginn eine Erläuterung des Begriffs „Varietätenlinguistik“ und eine Veranschaulichung der unterschiedlichen Varietäten. Daraufhin werden die Begriffe „gesprochene“ und „geschriebene Sprache“ definiert, ihre Charakteristika konkretisiert und die
markantesten Unterschiede zwischen diesen beiden im Französischen kurz vorgestellt. Der Hauptteil dieser Arbeit widmet sich der voneinander abweichenden Negationsbildung in der französischen gesprochenen und geschriebenen Sprache. Hierfür wird die Entstehung der Verneinung im Französischen erläutert, ihre Entwicklung vom Lateinischen bis ins Neufranzösische dargestellt sowie auf den Jespersen-Zyklus eingegangen. Des Weiteren werden die inner- und außersprachlichen Faktoren, die einen Einfluss auf den Schwund der Partikel ne in der gesprochenen Sprache ausüben, ausgearbeitet. Den letzten Teil bildet eine Korpusanalyse, die ermöglichen soll, auf die Fragen zu antworten, ob und wenn ja welche Faktoren den Ausfall von ne herbeiführen, wann diese Partikel beibehalten wird und inwiefern das Alter, die Herkunft, das Geschlecht etc. des Sprechers eine Rolle spielen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Dimensionen der heutigen Varietätenlinguistik
2.1 Das Diasystem der Sprache nach Coseriu
2.1.1 Die diatopische Variation
2.1.2 Die diastratische Variation
2.1.3 Die diaphasische Variation
2.2 Gesprochene und geschriebene Sprache
3. Unterschiede zwischen françaisparlé und français écrit
3.1 Die Gliederungssignale
3.2 Der Gebrauch der unbetonten Subjektpersonalpronomina
3.3 Die Interrogation
3.4 DieAngleichungdesPartizips
3.5 DasTempussystem
4. Die historische Entwicklung der Negation im Französischen
4.1 Die Negation im Lateinischen
4.2 Die Negation im Alt- und Mittelfranzösischen
4.3 Die Negation im Neufranzösischen
5. Der Jespersen-Zyklus
6. Einflussfaktoren für den Ausfall von ne
6.1 InnersprachlicheEinflüsse
6.2 Außersprachliche Einflüsse
7. Das Korpus
7.1 Begründung für die Wahl
7.2 Darstellung des Korpus
8. Analyse desKorpus
8.1Außersprachliche Kriterien
8.1.1DasAlter
8.1.2 Die kommunikative Situation
8.1.3DasGeschlecht
8.1.4Die Muttersprache
8.1.5 Zwischenergebnis: Einfluss außersprachlicher Faktoren
8.2 Innersprachliche Kriterien
8.2.1DiePronomen
8.2.2 Die lexikalisierten Konstruktionen
8.2.3 Das Tempus des Verbs
8.2.4 Der Satztyp
8.2.5 Die Dislokation
8.2.6 Die Verneinung von Infinitiven
8.2.7 Die variablen Negationselemente
8.2.8 Zwischenergebnis: Einfluss innersprachlicher Faktoren
8.3 WeitereNegationsformen
9. Interpretation der Ergebnisse
10. Ist ±ne das Ergebnis einer potentiellen Diglossiesituation im Französischen?
11. Die Expansion von ±ne
12. Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Vorwort Préface de Cromwell zum Drama Cromwell, das 1827 veröffentlicht wurde, schreibt der berühmte französische Schriftsteller Victor Hugo:
[...] la langue française n’est point fixée et ne se fixera point. Une langue ne se fixe pas. L’esprit humain est toujours en marche, ou, si l’on veut, en mouvement, et les langues avec lui. Les choses sont ainsi. Quand le corps change, comment l’habit ne changerait-il pas? Le français du dix-neuvième siècle ne peut pas plus être le français du dix-huitième, que celui- ci n’est le français du dix-septième, que le français du dix-septième n’est celui du seizième. [...] Toute époque a ses idées propres, il faut qu’elle ait aussi les mots propres à ses idées. Les langues sont comme la mer, elles oscillent sans cesse. À certains temps, elles quittent un rivage du monde de la pensée et envahissent un autre. Tout ce que leur flot déserte ainsi sèche et s’efface du sol. C’est de cette même façon que des idées s’éteignent, que des mots s’en vont. Il en est des idiomes humains comme de tout. Chaque siècle y apporte et en emporte quelque chose. Qu’y faire? Cela est fatal. C’est donc en vain que l’on voudrait pétrifier la mobile physionomie de notre idiome sous une forme donnée. C’est en vain que nos Josué littéraires crient à la langue de s’arrêter; les langues ni le soleil ne s’arrêtent plus. Lejour où elles se fixent, c’est qu’elles meurent (Souriau 1973: 287-289).
Die Tatsache, dass Sprachen nicht statisch sind, sondern sich ganz im Gegenteil mit der Zeit in wechselndem Tempo und in unterschiedlichem Ausmaß verändern, untermauert Hugos Aussage. Für den Wandel sind verschiedene Faktoren verantwortlich, die in zwei Gruppen unterteilt werden können: Faktoren der inneren und der äußeren Sprachgeschichte. Zu den ersteren zählen funktionale Schwächen des Systems, die bei den Sprechern den Wunsch erwecken, diese zu optimieren, das Ökonomieprinzip (Prinzip des geringsten Aufwands) sowie das Phänomen der Reanalyse (vgl. Blumenthal 2003: 40). Unter der äußeren Sprachgeschichte werden geographische, soziale, kulturelle und politische Dimensionen einer Sprache subsummiert. Sie wird nicht nur durch die historischen Ereignisse, sondern auch durch Sprachkontakte sowie sprachpolitische Maßnahmen geprägt (vgl. Blumenthal 2003: 39). Bei genauerem Betrachten der Entwicklung des Französischen kann festgestellt werden, dass sich seine Sprachgeschichte über mehrere Jahrhunderte streckt und es einen immensen Sprachwandel vorweisen kann. Um eine grobe Vorstellung über die Entwicklung der französischen Sprache zu gewinnen empfiehlt es sich, einen Blick auf seine Periodisierung zu werfen. Die Diachronie der französische Sprache wird von der historischen Sprachwissenschaft prinzipiell in drei Abschnitte eingeteilt, von denen der erste das Altfranzösische ist und in der Regel auf das 9. Jh. bis 1320 datiert wird.[1] Im Laufe des 9. Jahrhunderts nahm die Geschich te des Französischen durch die Zunahme von Texten in der langue d'oïl[2] wie z. B. die Eulalia Sequenz[3] (880) seinen Anfang. Die zweite Phase bildet die Epoche des Mittelfranzösischen, dessen Beginn auf 1320 und dessen Ende auf das 16. Jh. festgelegt ist. Diese Periode war vor allem durch das Verschwinden der meisten germanischen Wörter, die Bereicherung der Sprache aus Dialekten und anderen Sprachen und die Zunahme von Latinismen gekennzeichnet (vgl. Stein 2010: 112). Mit dem Ende des 16. und dem Anfang des 17. Jahrhunderts beginnt die Phase des Neufranzösischen, die bis in die Gegenwart reicht.[4] Infolge der Italienfeldzüge (ab 1494) der französischen Könige lernten die Franzosen die italienische Kultur und somit auch die Renaissance kennen. Dieses Ereignis trug dazu bei, dass zahlreiche Italianismen (balcon, arcade, escorte etc.) sukzessiv in den Wortschatz eindrangen (vgl. Stein 2010: 112). Somit blieb das Italienische bis ca. 1950 diejenige Sprache, die den größten Einfluss auf das Französische hatte, bis das Englische zur führenden Spendersprache wurde (vgl. Geckeler/Dietrich 2012: 230). Zur Emanzipation der französischen Sprache trugen im Wesentlichen die Dichter der Pléaide bei, in deren Mittelpunkt die bedeutendsten französischen Lyriker Pierre de Ronsard und Joachim du Bellay standen. Letzterer forderte in seinem Manifest La Deffence et illustration de la langue frangoyse (1542), dass das Französische zu einer Sprache gemacht wird, die dem Lateinischen oder Italienischen ebenbürtig ist (vgl. Stein 2010: 119). Um die Konkurrenzfähigkeit des Französischen zu stärken, sollte ihr Glanz und Klarheit verliehen werden, die nur durch die Bereicherung des Wortschatzes bewirkt werden konnte. Als Verfahren hierfür schlug du Bellay sowohl die Bildung von Neologismen als auch die Verwendung von Archaismen und Wörtern aus Fachwortschätzen vor. Pierre de Ronsard erweiterte die lexikalische Bereicherung des Wortschatzes um folgende Verfahren: „Entlehnungen aus den Dialekten Frankreichs, Bildung von Komposita nach lateinischem und vor allem griechischem Modell sowie Wortbildung durch Suffigierung“ (Geckeler/Dietrich 2012: 233). Die von Joachim du Bellay und Pierre de Ronsard empfohlenen Verfahren zur Bereicherung des Wortschatzes wurdenjedoch im Zuge des Purismus (17. Jh.) wieder beseitigt (vgl. Stein 2010: 119). Die Entwicklung betraf aber nicht nur die Lexik, sondern auch die Syntax. Bei der Entwicklung der französischen Sprache fand eine Veränderung im Bereich der Satzstruktur statt, sodass sich das Französische mit der Zeit sukzessiv von einer SOV- zu einer SVO-Sprache entwickelte. Obwohl sich die Veränderung des Satzbaus vom SOV- zum SVO-Typ schon bereits zwischen 1100 und 1200 andeutete, generalisierte sich die SVO-Struktur im Französischen erst gegen 1400. Dies wird vor allem in der Novellensammlung Cent Nouvelles Nouvelles sichtbar, da hier das direkte Objekt in der Regel dem Verb folgt und die Voranstellung des Objekts nur noch eine Seltenheit ist (vgl. Bauer 1992: 155). Im 18. Jahrhundert konstatierte der Schriftsteller Antoine de Rivarol (1757-1801), dass die französische Sprache eine genaue Wortordnung, nämlich SVO, aufweist (vgl. Bauer 2009: 242). Letztendlich erlangte die französische Sprache im Laufe des 18. Jahrhunderts ein großes Ansehen, sodass sie im 19. Jahrhundert zur Sprache der Diplomatie wurde und sich während der kolonialen Expansion weltweit verbreitete. Somit hat sich Hugos Annahme und Voraussage, dass sich die französische Sprache - nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch heute - nicht befestigt hat und niemals befestigen wird, bewahrheitet.
Allerdings bezogen sich ungefähr bis zum Ende des 20. Jh. die Forschungen über die Entwicklung des Französischen überwiegend auf die geschriebene Sprache. Der britische Linguist Randolph Quirk (1955: 169) kritisierte die Vernachlässigung des gesprochenen Englisch in der Forschung gerechterweise mit den folgenden Worten:
It is almost incredible that after some three hundred years of active and continuous academic interest in the English language, we should still be without an even moderately detailed description of the English we speak, as opposed to the English we write.
Diese Kritik konnte analog auf die französische Sprache ausgeübt werden. Der französische Sprachwissenschaftler Antoine Culioli (1983: 292) beklagte, dass die Wissenschaft, hervorgerufen durch das unzutreffende Vorurteil, français parlé[5] sei français familier gleichzusetzen, dem gesprochenen Französisch nicht genug Beachtung schenkt. Françaisparlé stellejedoch die Art und Weise dar, sich oral auszudrücken und diese sei nicht mit der Vorgehensweise, Inhalte schriftlich zu vermitteln identisch. Ferner merkte er an, dass das Interesse der Linguistik am français parlé zwar gewachsen ist, es aber dennoch keine ausreichenden Studien darüber gibt. Seit der Publikation des Aufsatzes von Culioli sind nun mehr als 20 Jahre vergangen und in dieser Zeitspanne befassten sich mehrere Sprachwissenschaftler mit der oben genannten Problematik. Im Vergleich zum 20. Jh. existiert in dem heutigen wissenschaftlichen Buchmarkt eine große Zahl an Werken über das gesprochene Französisch. Besteht der[5]
Wille, das français parlé zu untersuchen, so bieten sich hierfür zahlreiche bestehende Korpora und neuere Referenzgrammatiken.[6] Im Bereich der Lexikographie hat das gesprochene Französisch sein Feld ebenfalls ausgeweitet, sodass innerhalb von kurzer Zeit eine Vielzahl von Spezialwörterbüchern publiziert wurden, die Lexeme der gesprochenen Sprache und des Argot beinhalten.[7] Während bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ziemlich markante Unterschiede zwischen der Lexik des français parlé und français écrit herrschten, hat sich Müller (1975: 74) zufolge der lexikalische Abstand zwischen gesprochenem und geschriebenem Französisch nach 1945 stark abgeflacht, wohingegen der Kontrast im morphologischen System zunahm. Die Tatsache, dass die französische Sprache derart auffallende und hochgradige Unterschiede zwischen ihrer geschriebenen und gesprochenen Ausprägung aufweist, führt zu der umstrittenen Frage, ob oder inwieweit das gesprochene Französisch als ein eigenständiges Sprachsystem aufzufassen sei. Einige Autoren, darunter Blanche- Benveniste (2010: 65) und Radtke (2008: 100) vertreten die Position, dass zwar signifikante Divergenzen zwischen gesprochenem und geschriebenem Französisch bestehen, diese jedoch nicht für die Syntax gelten. Aufgrund gewichtiger Unterschiede zwischen français parlé und français écrit im Bereich der Grammatik, diagnostiziert Koch (2004: 623) dahingegen deutlich ausgeprägte Tendenzen der Diglossie. Fakt ist, dass im Großen und Ganzen den nähesprachlichen Varietäten wie etwa dem français parlé und ferner dem Vulgärlatein ein sowohl innovationsfreudiger als auch progressiver Charakter zugeschrieben wird, als den eher konservativen distanzsprachlichen Varietäten wie z.B. dem klassischen Latein und der gehobenen französischen Schriftsprache. Wird heute ein Blick auf die auffälligsten Unterschiede zwischen gesprochenem und geschriebenem Französisch geworfen, so lassen sich viele Auffälligkeiten konstatieren, die nicht nur im Bereich der Lexik, sondern auch Syntax und Grammatik sind. Zu den wohl interessantesten Verschiedenheiten kann der Ausfall der Partikel ne bei der Bildung der Verbnegation zugeordnet werden, dem vor allem in den letzten Jahrzehnten eine besonders große Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Hierbei handelt es sich um das Phänomen, dass im français parlé bei der Verneinung des Verbs auf die Verwendung der ursprünglichen Verneinungspartikel ne zunehmend verzichtet und die Negation nur durch die Lexeme pas, point, plus, jamais, rien, personne gebildet wird, da die Sprecher diese Negationsmorpheme als die eigentlichen Negationselemente betrachten. So werden Verben immer häufiger mit diesen postverbalen Partikeln negiert: *Je sais pas, *Tu sais pas?, *Je l'ai pas vu, *Je l'ai dit à personne. Philippe Martinon zählt zu denjenigen Sprachwissenschaftlern, die diesen Zustand im Französischen relativ früh bemerkten und sich mit diesem auseinandersetzten. Der französische Romanist schreibt, dass die Auslassung von ne bei der Negationsbildung eine Erscheinung ist, die zwar bei einem schnellen Redefluss auftreten kann, auf deren Beibehaltung jedoch weitgehend geachtet werden sollte, da es äußerst unwahrscheinlich sei, „que cela devienne correct, même d'ici un fort long temps“ (Martinon 1938: 556). Die Realität hingegen zeigt das Gegenteil dieser Aussage. Die Ergebnisse der Auswertungen phonisch-nähesprachlicher Korpora von Söll (1985), deren Erstellung auf die 60er und 70er Jahre zurückgeht, lassen schlussfolgern, dass die Auslassungsquoten von ne sichtbar niedriger sind als in den Korpora von Coveney (2002) und Hansen/Malderes (2004). Ist es folglich möglich, dass es sich hierbei um einen kontinuierlichen Sprachwandelprozess handelt, dessen Resultat der endgültige Schwund der Negationspartikel ne sein wird? Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit wird sich mit dieser Frage befassen.
Um grundlegende Informationen zu vermitteln, erfolgt zu Beginn eine Erläuterung des Begriffs „Varietätenlinguistik“ und eine Veranschaulichung der unterschiedlichen Varietäten. Daraufhin werden die Begriffe „gesprochene“ und „geschriebene Sprache“ definiert, ihre Charakteristika konkretisiert und die markantesten Unterschiede zwischen diesen beiden im Französischen kurz vorgestellt. Der Hauptteil dieser Arbeit widmet sich der voneinander abweichenden Negationsbildung in der französischen gesprochenen und geschriebenen Sprache. Hierfür wird die Entstehung der Verneinung im Französischen erläutert, ihre Entwicklung vom Lateinischen bis ins Neufranzösische dargestellt sowie auf den Jespersen-Zyklus eingegangen. Des Weiteren werden die inner- und außersprachlichen Faktoren, die einen Einfluss auf den Schwund der Partikel ne in der gesprochenen Sprache ausüben, ausgearbeitet. Den letzten Teil bildet eine Korpusanalyse, die ermöglichen soll, auf die Fragen zu antworten, ob und wenn ja welche Faktoren den Ausfall von ne herbeifuhren, wann diese Partikel beibehalten wird und inwiefern das Alter, die Herkunft, das Geschlecht etc. des Sprechers eine Rolle spielen. Den Abschluss dieser Arbeit bilden eine Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse sowie die Erörterung der Aussage Martinons, dass die Bildung der Negation ohne die Partikel ne unwahrscheinlich zur Norm werde.
2. Die Dimensionen der heutigen Varietätenlinguistik
„Dès qu'il y a communauté linguistique, ilya variation“ (Gadet 1992: 5).
Diese Aussage der französischen Professorin für Soziolinguistik Françoise Gadet ist durchaus berechtigt, denn keine Sprache besteht nur aus einer einzigen und allgemein gültigen Norm, sondern aus verschiedenen Subsprachen. Hierbei handelt es sich um die Tatsache, dass jeder erwachsene Sprecher in der Regel über mehrere Register verfügt, die er je nach Situation oder Gesprächspartner in Anwendung bringen kann, wobei gewisse Faktoren, wie Herkunft, Bildung sowie Erfahrung etc. eine wichtige Rolle spielen. Mit den vielfältigen Formen innerhalb einer Sprache, auch „Variationen“ genannt, beschäftigt sich die noch recht junge Disziplin der Varietätenlinguistik, die sich in den 70er Jahren etabliert hat und eine Teildisziplin der Soziolinguistik darstellt.[8] Auf den folgenden Seiten sollen die unterschiedlichen Varietäten der französischen Sprache näher betrachtet und erläutert werden.
2.1 Das Diasystem der Sprache nach Coseriu
Zu den bedeutendsten Beiträgen innerhalb der Varietätenlinguistik zählen die Forschungen und Arbeiten von Eugenio Coseriu. Der rumänische Romanist beschäftigte sich seit seinen frühesten Schriften mit der sprachlichen Variation und konstatierte, dass die Sprache kein homogenes System ist, sondern viel mehr ein heterogenes Gebilde repräsentiert: Ein System von mehreren Systemen, ein Diasystem (vgl. Coseriu 1988: 24). Ihm zufolge besteht die Besonderheit darin, dass diese Sprachsysteme nicht nur in Bezug auf die Grammatik, sondern auch auf die Lexik und Phonetik voneinander divergieren können. Diese spezifische Varietätenstruktur bezeichnet Coseriu als „Architektur der Sprache“ und teilt die unterschiedlichen Sprachsysteme in drei Varietätendimensionen ein, die er diatopisch, diastratisch und diaphasisch nennt (vgl. Coseriu 1988: 24).
2.1.1 Die diatopische Variation
Unter diatopischer Variation (von griech. topos, dt. 'Ort', 'Platz') werden im Allgemeinen die geographisch bedingten regionalen Sprachvarietäten, auch Dialekte, verstanden, die aus synchroner Sicht geringes Prestige genießen (vgl. Coseriu 1988: 24). Einige der in Frankreich gesprochenen Dialekte sind: l'occitan, le francoprovençal und l'alsacien.[9] Der diatopische Aspekt verliert jedoch im französischen Sprachraum immer mehr an Bedeutung, da sich die Erosion der französischen Dialekte seit dem 19. Jahrhundert stets fortsetzt. Diese Gegebenheit kann auf den jahrhundertelangen Anpassungsdruck an die Überdachungssprache Französisch zurückgeführt werden, die sowohl durch zivilisatorische als auch durch soziologische Kräfte wie die allgemeine Schulpflicht[10], die Industrialisierung und die damit einhergehende Bevölkerungsumschichtung, den Einfluss der Medien etc. beschleunigt wird (vgl. Müller 1975: 133).
2.1.2 Die diastratische Variation
Die Sprache ist eine Erscheinung, die stets soziokulturell und somit an die Gemeinschaft gebunden ist. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass sich je nach soziokultureller Sprachschicht und Bereich der Gesellschaft gewisse Eigentümlichkeiten, d.h. diastratische Variationen (von lat. stratum, dt. 'Schicht') in der Sprache ergeben, die Soziolekt genannt werden (vgl. Bußmann 2002: 729). Unterschiede der Soziolekte betreffen hauptsächlich die Lexik, wohingegen Phonetik und Syntax seltener betroffen sind. Diese werden entsprechend dem Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf etc. des Sprechers in verschiedene gesellschaftliche Gruppen eingeteilt. Altersspezifische Unterschiede manifestieren sich insbesondere in der Lexik. Ein adäquates Beispiel hierfür ist z.B. die Jugendsprache. Im Gegensatz zu den älteren Generationen, die in Bezug auf die Sprache konservativ sind, ist diejüngere Generation innovationsfreudiger und stets bereit, den Wortschatz durch Neologismen (les autres sont débs oder gols > les autres sont bêtes, stupides) zu erweitern. Was die geschlechtsspezifischen Registerunterschiede anbelangt, wurde nach reichlichen Untersuchungen festgestellt, dass ,,en ce qui concerne le français, les femmes se distinguent linguistiquement des hommes“ (Müller 1985: 175). Der Unterschied besteht darin, dass im Gegensatz zu den männlichen Sprechern einer Sprache, weibliche Sprecher in der Regel eher die Gemeinsprache verwenden, über einen breiteren und gehobeneren Wortschatz verfügen sowie obszönes Vokabular vermeiden (vgl. Müller 1985: 176). Ein weiteres Beispiel für diastratische Varietät ist die Fachsprache, frz. langues de spécialités bzw. langues techniques, die der beruflichen Spezialisierung dient.
2.1.3 Die diaphasische Variation
Unterscheidet sich eine Sprachvarietät in expressiver Hinsicht, d.h. je nach Kommunikationssituation, -partner oder -gegenständ, so stellt sie eine diaphasische Variation (von griech. phäsis, dt. 'Erscheinungsform') dar (vgl. Coseriu 1988: 24). Bezüglich dieser Variation kristallisieren sich häufig zwei Schwierigkeiten heraus: Die erste Problematik besteht darin, dass eine präzise Unterscheidung zwischen diastratischer und diaphasischer Varietät des Öfteren schwierig ist. Die zweite Problematik betrifft die Darstellung der französischen Register, da die Festlegung einer klaren Grenze zwischen diesen kaum bzw. nur schwer möglich ist. Als Grund für die Verwischung der Grenzen zwischen den qualitativen Registern wird angegeben, dass im Laufe der Zeit Lexeme, Idiomatismen sowie Redensarten aus dem français familier oder français vulgaire in das neutrale français commun aufgenommen wurden (vgl. Müller 1975: 190). Soll eine Beschreibung der unterschiedlichen Formen des Französischen und deren Charakteristika erfolgen, so werden im Allgemeinen zwischen fünf diaphasischen Registern unterschieden: français cultivé, français courant, français familier, françaispopulaire und français vulgaire.
Das français cultivé (auch français soutenu genannt) stellt die „Übernorm“ dar. Es wird als qualitativ höchste Stufe des Französischen betrachtet, genießt hohes Prestige und nur eine privilegierte Minderheit der Muttersprachler ist dieser gehobenen Stilebene mächtig. Verwendung findet es prinzipiell in der geschriebenen Sprache, kann aber durchaus auch in der gesprochenen Sprache eingesetzt werden.[11] Charakteristisch für dieses Register sind z.B Archaismen auf lexikalischer Ebene (le péril, l'outrecuidance, issir), die häufige Anwendung der Liasons und die Bewahrung des e caduc auf phonetischer Ebene sowie der Gebrauch des subjonctif imparfait auf grammatischer Ebene (vgl. Müller 1985: 257-259). Im Gegensatz zu den anderen Registern, wird im français cultivé nicht das Prinzip der Ökonomie, sondern das Prinzip der maximalen Variation in der Sprache betrieben (vgl. Müller 1975: 215).
Dasjenige Register, das dem français cultivé folgt, wird français courant, bzw. français commun oder français usuel, genannt. Es ist - wie die Bezeichnung schon verrät - unter den Sprechern der französischen Sprache das usuellste, d.h. gebräuchlichste und verbreitetste Französisch, das sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen Verwendung findet. Zwar wird diese Stilebene diatopisch gesehen mit Paris und ferner mitIle-de-France in Verbindung gesetzt, aus diastratischer Sicht gehört es jedoch keiner bestimmten sozialen Gruppe an. Das français courant kennzeichnet sich durch ein schlichtes Vokabular und die weitgehende Beachtung der syntaktischen sowie grammatischen Regeln.
Das français familier[12] wird prinzipiell als das Register der „zwanglosen Unterhaltung in der Familie, Beruf, Alltag, unter Bekannten und Nahestehenden“ (Müller 1985: 250) gesehen. Es schafft zwar eine angenehme Atmosphäre sowie eine persönliche Nähe und steht nicht im starken Kontrast zum „guten Französisch“, ist jedoch für den öffentlichen Verkehr oder bei einem Gespräch mit höher gestellten Personen weder zu empfehlen, noch geeignet. Von der Verwendung dieses Registers in der Schriftsprache ist ebenfalls abzuraten.[13] Bezüglich der Syntax, werden z.B im français familier Fragen nicht durch Inversion, sondern durch Intonation oder periphrastisch mit est-ce que gebildet (vgl. Müller 1985: 252).[14] Was die Lexik betrifft, ist das français familier gekennzeichnet durch Reduplikationsbildungen (dodo), Abbreviationen (le frigo < le frigorifique, la télé < la télévision), sowie Neologismen, die durch Derivation[15] (connard < con) entstehen. Die Formation der Diminutive durch -et fette) und -ot (-otte) ist in diesem Register ebenfalls üblich.
Das français populaire wird häufig als eine „Sprache in der Sprache“ betrachtet, die eigengesetzliche Regularitäten aufweist (vgl. Müller 1985: 239). Der Begriff populaire stammt aus dem späten 19. Jahrhundert und wird häufig als ein Register definiert, „qui qualifie le langage du locuteur peu instruit, peu éduque, donc souvent peu fréquentable ou inférieur (par rapport à la 'bonne société cultivée')“ (Eloy 1985: 8). Es befindet sich zwischen dem français familier und français vulgaire, wobei die Grenze zwischen ihm und français familier nicht eindeutig, gar kaum vorhanden ist (vgl. Gadet 2003: 16). Für die Verwischung der Grenzlinie zwischen diesen beiden Registern sind unterschiedliche Gründe verantwortlich. Der soziodemographische Wandel spielt hierbei die größte Rolle: Infolge der Verlängerung der Schulpflicht bis zum 16. Lebensalter wurden auch Arbeiterkinder ab den 50er Jahren intensiver in das Bildungssystem eingeschlossen und somit länger von der normierten Sprache geprägt. Als ein weiterer Grund ist der Übergang der sprachlichen Phänomene ins français familier zu sehen, die kennzeichnend für das français populaire sind. Im Allgemeinen ist français populaire in Bezug auf die verschiedenen Ebenen kreativer als français cultivé und français courant. Auf morphologischer und syntaktischer Ebene zeichnet es sich vor allem durch das Fehlen des Personalpronomens il (*0 faut < ilfaut, *0ya< il y a), den falschen accord (*Hs sont où les fleurs que je vous ai offert?) und die fehlerhafte Benutzung der Auxiliare être und avoir (*J'ai resté toute la semaine au lit) aus (vgl. Gadet 1992: 55). Außerdem herrscht im français populaire eine mangelnde Stabilität der Flexionsformen, vor allem bei der Bildung der Femininformen (mask. partisan, fem. partisane vs. *partisante) (vgl. Gadet 1992: 59). Was die phonetische Ebene betrifft, wird die Aussprache auf das Minimum reduziert, indem z.B. das e caduc weggelassen (petit: [poti] > [pti])und konsonantische Gruppen verkürzt werden (quelque chose: [kelkojoz] > [kekjoz], ildit: [ildi] > [idi][16] ) . Besonders innovativ ist das français populaire auf lexikalischer Ebene. Neue Wörter werden in der Regel durch die Derivation gebildet. Da dieses Register jedoch regelmäßig neue Lexeme aufnimmt und simultan dazu die Verwendung einiger Wörter abnimmt, ist die Lexik des français populaire durchaus instabil.
Auf der untersten Stufe der Registerskala befindet sich français vulgaire, das oftmals auch als français argotique bezeichnet wird, da es argottypische Charakteristika aufweist.[17] Wie zwischen français familier und français populaire, ist auch zwischen letzterem und français vulgaire eine präzise Trennung nicht unkompliziert, zumal Begriffe aus dem Wortschatz des Argot zunehmend in den populären Wortschatz aufgenommen werden. Schmitt (1990: 285) zufolge besteht der Unterschied darin, dass der Argot sich im Wesentlichen auf die Lexik bezieht und prinzipiell von einer bestimmten Gruppe gesprochen wurde[18], wohingegen das français populaire alle Bereiche der Sprache tangiert und in der Regel von der Mehrheit der Sprecher genutzt wird. Im Vulgärfranzösischen sind Kraftausdrücke und Schimpfwörter {merde, putain) wiederzufinden, die in anderen Registern unerwünscht sind. Vor allem im Bereich der Lexik ist français vulgaire sehr kreativ: Wortspiele sind keine Seltenheit, Lexeme werden nach Belieben verkürzt, verlängert oder auch verändert und Phantasiekombinationen sind in diesem Register durchaus geläufig.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich eine genaue Differenzierung zwischen den einzelnen Registern im Laufe der Zeit immer schwieriger gestaltet, da die Vermischung der sozialen Klassen zwangsläufig die „Demokratisierung der Sprache“ nach sich zieht. Aus diesem Grund wird von Romanisten, darunter Duneton {1998: 14) vorgeschlagen, die drei nichtoffiziellen Sprachregister des Französischen unter einem Register, dem^rançais non conventionnel, zusammenzufassen.
2.2. Gesprochene und geschriebene Sprache
Ein weiteres Problem, das in der Sprachwissenschaft unterschiedlich gelöst wird, ist die explizite Definition der gesprochenen Sprache. Es wurde bereits erwähnt, dass français cultivé das einzige Register ist, das sich für die schriftliche Sprache empfiehlt. Während diese Gegebenheit dazu führt, dass die französische Schriftsprache mit dem höchsten Register gleichgesetzt wird, haben aus soziologischer Sicht die negativen Eigenschaften, die dem français parlé beigemessen werden zur Folge, dass viele Linguisten dieses und unterschiedliche diaphasische Variationen wie z.B. français populaire oder français familier, auf eine Stufe stellen.[19] Das gesprochene Französisch mag zwar dem familiären, geschriebenes Französisch dahingegen eher dem gehobenen Sprachgebrauch näher stehen, dennoch ist es wichtig, darauf Aufmerksam zu machen, dass die Realisierungsform „n’a rien à voir, techniquement, avec le 'niveau' de langue, et qu’on peut écrire du français que les puristes appellent 'relâché', tout comme on peut oraliser du français académique“ {Blanche-Benveniste 1983: 24). Das gesprochene Französisch und die oben genannten Varietäten mögen gewiss viele Berührungspunkte aufweisen, doch der Bereich der gesprochenen Sprache ist viel weiter, da sie von allen Sprachteilhabern benutzt wird. Damit eine eindeutige Differenzierung zwischen français parlé und den nicht-konventionellen Registern des Französischen gewährleistet werden kann, erweiterte der italienische Linguist Alberto Mioni im Jahre 1983 Coserius Modell um eine weitere Dimension: Die diamesische Variation. Diese äußerst umstrittene These, die besagt, dass gesprochene Sprache und geschriebene Sprache als eigenständige Varietäten zu betrachten sind, wurde zuletzt von dem Linguisten Edgar Radtke (2008: 99) mit der Begründung, dass es sich hierbei nicht um eine Varietätendimension, sondern um eine universal-essentielle Mediumsdifferenzierung handele, kritisiert. Einen weiteren Erklärungsansatz zur Distinktion zwischen français parlé und den Registern im Französischen liefert Söll (1985: 19-44) in seiner grundlegenden Arbeit für die Gesprochene-Sprache-Forschung. Der deutsche Romanist reduziert - wie auch viele andere Sprachwissenschaftler, darunter Koch/Oesterreicher (2011: 4) - das gesprochene Französisch im Großen und Ganzen auf das im Alltag verwendete spontane Französisch.[20] Zum einen betont er, dass français parlé und français écrit reine Abstraktionen sind und folglich nicht mit français familier, populaire o.ä gleichgesetzt werden dürfen. Zum anderen differenziert er zwischen code écrit, d.h. der Konzeption einer Sprache und code parlé, der Realisierungsform einer Sprache, die eine Mittelstellung zwischen français populaire und français écrit einnimmt. Des Weiteren stellt Söll fest, dass diese beiden auf unterschiedliche Weise funktionieren und in vielen Aspekten voneinander divergieren. Im folgenden Abschnitt sollen die signifikantesten Unterschiede, die zwischen gesprochenen und geschriebenen Französisch bestehen, kurz veranschaulicht werden.[21]
3. Unterschiede zwischen françaisparlé wnd français écrit
3.1 Die Gesprächswörter
Bei genauer Betrachtung kann bemerkt werden, dass spontane Alltagsdialoge - verglichen mit geschriebener Sprache oder lexikalischen Dialogen wie z.B. in Theaterstücken - aus zusätzlichen lexikalischen Elementen bestehen.[22] Hierbei handelt es sich um Wörter, Laute oder Lautkombinationen, die dazu dienen, Redebeiträge zu gliedern (Gliederungssignale[23] ), den Kontakt aufrecht zu erhalten (Kontaktsignale) oder diesen aufzunehmen (Turn-taking-Signale) und Gesprächspausen zu überbrücken (Überbrückungsphänomene). Geläufige Gesprächswörter in der französischen Sprache sind z.B. die Temporaladverbien alors undpuis, die Konjunktionen et und mais sowie die Intonationsfragen Tu sais? Tu vois? (vgl. Barme 2012: 38).[24]
3.2 Der Gebrauch der unbetonten Subjektpersonalpronomina
Das Französische unterscheidet sich von den restlichen romanischen Sprachen durch die obligatorische Setzung der Subjektpersonalpronomina (frz. tu parles), während es im Italienischen (0 parli), Portugiesischen (0 falas), Rumänischen (0 vorbeşti) sowie im Spanischen (0 hablas) fakultativ ist (vgl. Barme 2012: 71). Im Gegensatz zum geschriebenen Französisch, kann im français parlé nicht selten auf die Ellipse des Subjektpronomens gestoßen werden. Insbesondere das Pronomen il wird bei den unpersönlichen Verben. falloir und_y avoir immer häufiger ausgelassen.
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Des Weiteren unterscheidet sich français parlé von français écrit durch die Ersetzung des unbetonten Subjektpersonalpronomens nous durch on[25]. Grevisse (2004: 645) zufolge kennzeichnete der Gebrauch des Pronomens on anstelle von nous im 17. Jh. die gehobene Sprache und war stilistisch markiert. Die Grammatikalisierung setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts höchstwahrscheinlich zuerst in der Sprache des einfachen Volkes durch. Aktuell ist die Ersetzung von nous durch on in der gesprochenen Sprache äußerst weitverbreitet, sodass selbst Politiker in ihren öffentlichen Reden auf das Pronomen der dritten Person Singular zurückgreifen, um ein Kollektiv auszudrücken.
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3.3 Die Interrogation
Im Französischen existieren für die Satzfrage drei geläufige Verfahren: Die Inversionsfrage (Est-il ici?), die periphrastische Frage (Est-ce qu'il est ici?) und die Intonationsfrage (Il est ici?) (vgl. Söll 1985: 138).[26] Anhand von zahlreichen Korpusanalysen konnte festgestellt werden, dass die Intonationsfrage in der gesprochenen Sprache das dominantere Verfahren darstellt, wohingegen in der geschriebenen Sprache die Inversionsfrage eine größere Häufigkeit aufweist (vgl. Barme 2012: 81ff).[27] Die Frageform mit est-ce que erklärt Söll (1983: 301) zur subsidiären Form, die trotz ihrer größeren Verbreitung in der Sprechsprache als in der Schriftsprache, seltener als die Intonationsfrage ist.
3.4 Die Angleichung des Partizips
Im Gegensatz zur deutschen Sprache, verlangt die normative Grammatik im Französischen bei den Tempusformen, die mit den Verben avoir und etre + participe passé gebildet werden, die Angleichung des Partizips mit dem Subjekt oder dem direkten Objekt. Die Genus- und Numeruskongruenz des Partizips, die lange Zeit einen problematischen Bereich in der französischen Sprache repräsentierte, wurde im 16./17. Jh. infolge einer präskriptiven Regelung normiert.
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Während die Kongruenz des Partizips im français écrit weitgehend vollzogen wird, wird die Angleichung im gesprochenen Französisch größtenteils unterlassen. Sauvageot (1962: 87) kritisiert, dass selbst gebildete Personen den accord du participe passé nur gering beachten.
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3.5 Das Tempussystem
Die Reduzierung der Modi und Tempora ist wahrscheinlich das bekannteste Charakteristikum des français parlé. Im Vergleich zum français écrit, fehlen Blanche- Benveniste (2003: 330) zufolge im gesprochenen Französischen nicht nur das passé simple (j'écrivis)[28] und passé antérieure (j'eus écrit), sondern auch der subjonctif passé (que j'aie écrit). Die narrative Funktion des passé simple wird im français parlé im Allgemeinen vom passé composé (j'ai écrit) übernommen, wohingegen das passé antérieure durch das passé surcomposé (j'ai eu écrit) ersetzt wird. Der subjonctif présent wird in seiner Anwendung stark eingeschränkt, während der subjonctif passé gänzlich aus dem System der gesprochenen Sprache gestrichen wird. Schogt (1968: 60) vermerkt, dass ,,[.. ,]au nord de la Loire un Français peut mourir âgé de quatre-vingt ans sans avoir jamais employé en parlant un seul imparfait du subjonctif“. Bezüglich des futur simple (j'écrirai) kann gesagt werden, dass es zwar in der gesprochenen Sprache nach wie vor lebendig ist, doch weniger vorgefunden wird als das futur périphrastique (je vais écrire). Aus diachroner Sicht ist jedoch keine bedeutende Zunahme des letzteren zu beobachten was dazu führt, dass es selten von Sprachwissenschaftlern als Merkmal der gesprochenen Sprache betrachtet wird.
4. Die historische Entwicklung der Negation im Französischen
Ein weiterer Unterschied zwischen français parlé und français écrit besteht in der Bildung der Verneinung. Im Hinblick auf die Unterschiede zwischen gesprochenem und geschriebenem Französisch, stellt die Negation ohne Zweifel eines der am meisten behandelten Phänomene dar. Vor der Darlegung des Kontrastes zwischen der Negationsbildung im français écrit und français parlé, soll in diesem Abschnitt auf die Herkunft und die historische Entwicklung der französischen Negationspartikeln eingegangen und diese näher betrachtet werden.
4.1. Die Negation im Lateinischen
Wie bekannt, entwickelte sich aus dem Vulgärlateinischen allmählich die französische Sprache heraus. Im Lateinischen, das die Basis aller romanischen Sprachen bildet,[28] wurde die Satznegation durch die einfache Negationspartikel non ausgedrückt, die eine verkürzte Form des altlateinischen Lexems noenum[29] darstellte und sich in der Regel unmittelbar vor dem negierten Verb befand. In ihrer präverbalen Position genoss sie aber auch teilweise syntaktische Freiheit, da sie nicht immer in direkter Nähe vom zu verneinendenVerb platziert wurde (vgl. Schwegler 1990: 152).
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Neben der einfachen Verneinung, existierten bereits zu Zeiten des römischen Dichters Plautus (254 v. Chr. - 184 v. Chr.) verstärkende Konstruktionen wie non passum ('nicht einen Schritt'), non guttam ('nicht einen Tropfen'), non punctum ('nicht einen Punkt') oder non micam ('nicht einen Krümel') als Ausdruck emphatischer Negation.
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4.2 Die Negation im Alt- und Mittelfranzösischen
Zwar wurde im Altfranzösischen die Verbnegation im Allgemeinen mit der präverbalen Partikel ne gebildet,
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doch die komplexe Negationskonstruktion ne...pas[30], ne...goutte, ne...mie bzw. ne...point wurde zunehmend obligatorisch. Brunot (1966: 496f.) und Catalani (2001: 189) stellen fest, dass zu Beginn des 15. Jh. ne im Mittelfranzösischen gewöhnlich durch postverbales pas oderpoint ergänzt wurde, mie jedoch zunehmend außer Gebrauch kam.[31] Zudem verloren die Negationsmorpheme ne und pas ihre freie Stellung und konnten - bis auf wenige Ausnahmefälle - nicht getrennt vom Verb stehen (vgl. Schwegler 1990: 155). Ab dem Beginn des 17. Jh. wurde die Anwendung der postverbalen Verneinungspartikeln zur Norm.
4.3 Die Negation im Neufranzösischen
Im modernen Französisch existieren Bezüglich der Zahl und Position der Negationspartikeln drei unterschiedliche Strukturen. Hierzu zählen die präverbale Negation (je ne saurais vous dire), die doppelte Negation {je ne pense pas) und die postverbale Negation (*j'y vais pas), die ihren Bereich insbesondere im gesprochenen Französisch ausgeweitet hat. In der schriftsprachlichen Norm (code écrit) ist für die Verneinung verbhaltiger Äußerungen die zweigliedrige syntaktische Negation, die sowohl aus dem konstanten Negationsmorphem ne als auch einer variablen Partikel besteht, obligatorisch. Das Inventar der syntaktischen Negation bilden: pas, guère, nullement, aucunement, jamais, plus, nulle part, personne, rien, aucun, pas un, nul und ni. Diese aus zwei oder mehreren Elementen gebildeten Negationsmorpheme rahmen üblicherweise das finite Verb ein. Besteht das Verb aus einem temps composé wie z.B. passé composé, so umranden die Negationsmorpheme nicht nur das Hilfsverb, sondern auch diepronoms atones (N'as-tupas chanté?). Das erste Element ne ist stets präverbal, steht also vor dem finiten Verb und kann als eine Art „Vorsignal“ der Negation betrachtet werden, das die Verneinung vorbereitet und einführt, wohingegen das Hauptsignal dem finiten Verb folgt und das eigentliche Gewicht für die Negation trägt (vgl. Weinrich 1982: 710).
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Die Distribution ändert sich allerdings, wenn mit ne ein Infinitiv, d.h. ein infinites Verb negiert werden soll. In solchen Fällen rückt der adverbiale Negationsträger ebenfalls in die präverbale Position und wird unmittelbar rechts neben ne platziert.[32]
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[...]
[1] Die Datierung der Epochen kann literaturbedingt voneinander abweichend sein. In dieser Arbeit beruht sie auf dem Werk von Geckeler/Dietrich (2012: 207f).
[2] Die langu d'oïl ist eine Gruppe romanischer Sprachen bzw. Dialekte, die im Mittelalter in Nordfrankreich gesprochen wurden.
[3] Die Eulalia Sequenz ist der erste literarische Text aufFranzösisch (Geckeler/Dietrich 2012: 205).
[4] Die neuere Periode des Französischen kann ebenfalls in vier Phasen unterteilt werden: Französisch der Renaissance (16. Jh.), klassisches Französisch (17. und 18. Jh.), modernes Französisch (von der Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg) und Gegenwartsfranzösisch (seit 1945). Näheres zu den einzelnen Phasen in Müller (1975: 37).
[5] Kiesler (1995: 50f) betont, dass hinter neuen Termini in der Regel die gleichen Erscheinungen auftreten. Er bezeichnet langage parlé, code parlé, langue parlé, français parlé und langue de la conversation als Quasi-Synonyme. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit werden für das gesprochene Französisch die Begriffe françaisparlé oder codeparlé verwendet.
[6] Für das gesprochene Französisch in Frankreich dienen z.B. die Texte von Biggs/Dalwood (1976). Das umfangreiche Korpus von Beauchemin/Martel, das zwischen 1975-1981 entstand, bezieht sich auf das gesprochene Französisch in Kanada.
[7] Empfehlenswert sind die Wörterbücher von Caradec (1998) und Dontchev (2007).
[8] Zwischen Varietätenlinguistik und Soziolonguistik existieren Abgrenzungsprobleme. Während viele Sprachwissenschaftler den Standpunkt vertreten, dass Varietätenlinguistik ein Teilgebiet der Soziolinguistik ist (Arrive/Gadet/Galmiche 1986: 627-628; Bußmann 2002: 729), setzen andere Linguisten beide Richtungen gleich (Radtke 1982: 153) oder überordnen die Varietätenlinguistik der Soziolinguistik (Blasco Ferrer 1994: 27).
[9] Da eine detailliertere Ausarbeitung der Dialekte in Frankreich irrelevant für die vorliegende Arbeit ist, werden diese nicht näher erläutert. Näheres zu den französischen Dialekten in Müller (1985: 139-168) oder Geckeler/Dietrich (2012: 148-150).
[10] In Frankreich wurde die allgemeine Schulpflicht im Jahre 1881/82 eingeführt (Les lois Jules Ferry).
[11] Müller (1975: 209) weißt daraufhin, dass die Übernorm in trivialen Sprachsituationen mit einem diesem Register unvertrauten Gesprächspartner deplatziert wirken kann.
[12] Müller (1975: 226-227) differenziert zwischen français commun undfrançaisfamilier. Kiesler (2013: 21) dahingegen hält eine Trennung von diesen beiden Registern sowohl aus lexikalischen als auch aus morphologischen Gründen nicht für möglich.
[13] Duneton (1998: 24) schreibt, dass françaisfamilier ein Register ist, das zwar in einer Konversation im schulischen Kontext toleriert wird, in der Schriftsprachejedoch nicht angebracht ist.
[14] Näheres dazu im Abschnitt 3.3.
[15] Die Derivation (auch Ableitung) ist ein Wortbildungsverfahren. Hierbei wird durch das Anfügen eines Affixes (Präfix oder Suffix) an die Derivationsbasis ein neues Wort gebildet. Durch das Suffix -ade, das überwiegend im registre familier kursiert, wird in der Regel eine pejorativ konnotierte Ableitung erhalten (braillard, démerdard, crevard).
[16] Im heutigen Französisch wird der Konsonant [l] des Pronomens il in der Regel dann artikuliert, wenn ihm ein Wort folgt, das mit einem Vokal anlautet. Gadet (1992: 42) weist daraufhin, dass „[idi] est la seule forme correcte au XVIIe siècle, même en style soutenu. La prononciation [ildi] paraissait alors un orthographisme“.
[17] Das Wort argot entstand gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Hierbei handelt es sich um die Geheimsprache der Gauner und Kriminellen (langue de tricheurs), die diese verwendeten, um sich untereinander verständigen zu können (vgl. Calvet 1994: 3).
[18] Gadet (1992: 7) zufolge bestand der Argot lange Zeit aus einer autonomen Lexik, die nur von Banditen verstanden wurde.
[19] Dugas (2012: 170) schreibt bezüglich des français parlé: „Si le français parlé est toujours opposé au français écrit, les caractéristiques habituelles qui le décrivent, d'un point de vue sociologique, sont négatives et synonymes de français relâché, de français appauvri, de français non conventionnel, de français fautif, de français incorrect, de français vulgaire...“
[20] Laut Bally (1951: 285) ist langueparlée "l'expression spontanée de toutes les pensées qui se rattachent d'une manière ou d'une autre à la vie réelle (§ 215), prise dans son sens le plus compréhensif, à l'exclusion de toute expression spéculative de la pensée, c. à d. de tout énoncé d'une pensée pour cette pensée elle- même" (Hervorhebung im Original).
[21] Für eine detaillierte Veranschaulichung bezüglich der Unterschiede zwischen français parlé und français écrit siehe: Kiesler (2013); Blanche-Benveniste (2010); Barme (2012).
[22] Die Differenzierung zwischen code écrit und code parlé ist nicht immer unproblematisch, zumal es schriftlich produzierte Texte gibt, die sprechsprachliche Züge aufweisen wie z.B. Comics oder Privatbriefe und ebenfalls mündlich realisierte Texte vorhanden sind wie z.B. Vorträge oder Predigten, die schriftsprachliche Charakterzüge enthalten.
[23] Weitere Bezeichnungen für Gliederungssignale sind Flickwörter, Füllwörter und Modalwörter.
[24] Näheres zu den Turn-taking-, Anfangs-, Schluss- und Kontaktsignalen in Barme (2012: 38-48); Koch/Oesterreicher (2011: 41-60).
[25] Das Pronomen on stellt den Nominativ des lateinischen Wortes homo, dt. 'Mensch' dar.
[26] Als eine weitere Möglichkeit, eine Frage zu formulieren, bietet sich das Morphem -ti (Tu viens-ti?). Dieser Fragesatztyp wird jedoch nicht behandelt, da es sich hierbei um einen aussterbenden Regionalismus handelt, der z.B. im Gebiert Haut-Marne vorkommt.
[27] Coveney (2002: 99) schreibt, dass die Inversionsfrage im Altfranzösischen die üblichere Frageform war und die Intonationsfrage als markierter Fragetyp galt. Im français parlé hat sich die Intonationsfrage jedoch inzwischen zum unmarkierten Fragetyp entwickelt.
[28] Das passé simple wird in der Regel als ein temps littéraire präsentiert und gehört nicht mehr dem System der gesprochenen Tempora an (vgl. Söll 1985: 122). Es kann aber okkasionell in der gesprochenen Gebrauchsnorm (bei Vorträgen oder Lesungen) in Erscheinung treten.
[29] Das Lexem noenum ist eine Amalgamierung, die sich aus dem indogermanischen Negationselement n- und dem Zahlwort oenum 'eins' zusammensetzt (vgl. Lüdtke 1980: 212).
[30] Schwegler (1990: 154) schreibt, dass im Altfranzösischen die Verneinung mit pas ausschließlich auf die Verben der Bewegung reduziert war. Erst nachdem das Verneinungsmorphem seine lexikalische Bedeutung verlor, trat es auch in Negationen anderer Verben in Erscheinung.
[31] Die Struktur ne...mie war im 14. Jh. im pikardischen, lothringischen und wallonischen Sprachraum verbreitet. Infolge der immer stärker werdenden Vorrangstellung der Pariser Sprache, reduzierte sich der Gebrauch von ne...mie und ging zu Gunsten von ne...pas zurück. Heute stellt sie einen Archaismus dar, die überwiegend in der Literatursprache vorzufinden ist (vgl. Catalani 2001: 96).
[32] In der époque classique (Periode zwischen der Renaissance und dem 18. Jh.) umklammerten die Negationsmorpheme das infinite Verb: Il est mieux de ne l'y mettrepas (vgl. Grevisse 2004: 1459). Diese Form war üblich und grammatisch nicht fehlerhaft.
- Arbeit zitieren
- M.o.A. Fatma Betül Akcora (Autor:in), 2017, Die Negation im Französischen im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/426476
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