„If people have opinions and a representative’s function is to reproduce them, then everyone’s voice should be counted equally.
Legislators should resemble their constituents ideologically, not any special group.“
(ACHEN 1978: 481)
Die vornehmste Aufgabe der Abgeordneten in einer repräsentativen Demokratie ist es, die Interessen ihres Volkes zu vertreten. Ob, wie stark und über welche Kanäle dies geschieht, damit befasst sich traditionell die Responsivitätsforschung. Vernachlässigt wird in fast allen Arbeiten die Frage, ob die Abgeordneten die Interessen aller Bürger gleich vertreten, oder ob die Interessen bestimmter Gruppen stärker berücksichtigt werden als die Interessen anderer Gruppen. Dieser Frage geht diese Arbeit nach.
Die Verteilungsgerechtigkeit ist dann verletzt, wenn die Abgeordneten, die in ihrer soziodemographischen Zusammensetzung nicht der des Volkes entsprechen, auch im Amt die Interessen ihrer Bevölkerungsgruppe vertreten. Diese Arbeit untersucht darum, inwieweit die Bedürfnisse von Personen mit abweichenden soziodemographische Eigenschaften, also zumeist Jüngere, weniger Gebildete und Frauen, weniger befriedigt werden als die Bedürfnisse der Gruppen, aus denen sich die Abgeordneten rekrutieren. Untersucht wird des Weiteren,
inwieweit Partizipation, also die Beteiligung der Bürger an politischen und gesellschaftlichen Prozessen, diese Ungleichheiten verstärkt oder reduziert.
Datengrundlage zur Beantwortung dieser Frage stellt eine Fallstudie der Stadt Vaihingen an der Enz dar. Die Bürgerpräferenzen wurden mittels einer repräsentativen Bürgerbefragung ermittelt. Verglichen werden diese Präferenzen mit denen der gewählten Orts- und Gemeinderäte, die durch eine zeitgleich durchgeführte Vollerhebung dieser Gruppe ermittelt wurden.
Es ist wichtig, nicht auf der Einstellungsebene zu verharren, da Ungleichbehandlung nur dann zum Problem wird, wenn sie sich auch in den Politikergebnissen widerspiegelt. In einem zweiten Schritt wird daher untersucht, inwieweit die auf Einstellungsebene gefundenen Zusammenhänge bestätigt werden, wenn statt der Einstellungen der Räte der Haushalt der
Gemeinde als Vergleichsmaßstab herangezogen wird.
INHALTSVERZEICHNIS
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Gleichungsverzeichnis
EINLEITUNG
TEIL I: THEORIE UND METHODEN
1. Forschungsstand
1.1. Was bedeutet Responsivität
1.2. Skizzierung des Forschungsfeldes
1.2.1. Das Forschungsdesign von MILLER und STOKES
1.2.2. Die unabhängige Variable: Bestimmung der „constitutency“
1.2.3. Die intervenierende Variable: Das Rollenverständnis der Abgeordneten
1.2.4. Die abhängige Variable: Abstimmungsverhalten vs. Einstellungen des Abgeordneten
1.3. Responsivität und Gerechtigkeit
1.3.1. Einstellungen und sozio-demographische Eigenschaften
1.3.2. Gerechtigkeit in der Demokratietheorie
1.3.3. ARZBERGER (1980): Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik
1.3.4. VERBA und NIE (1987): Participation in America. Political Democracy and Social Equality
1.3.5. SCHUMAKER und GETTER (1977): Responsiveness Bias in 51 American Communities
1.4. Messung von Responsivität
1.4.1. Indikatoren für die öffentliche Meinung
1.4.2. Indikatoren für die Einstellungen der Räte und für den Policy-Output
1.4.3. Kollektive Responsivität
1.4.4. Dyadische Responsivität
1.4.5. Der „responsiveness bias“
1.5. Implikationen für die Arbeit
TEIL II: EMPIRISCHE STUDIE
2. Forschungsdesign und Hypothesen
3. Die relevanten Einheiten: Bestimmung der „constituency“
4. Operationalisierung und Beschreibung der abhängigen Variablen
4.1. Kollektive Responsivität: Mittelwertdifferenzen der Ausgabepräferenzen
4.2. Dyadische Responsivität
4.3. Die Policydifferenzen
5. Die unabhängigen Variablen und ihre bivariate Erklärungsleistung
5.1. Test der Hypothese 1: Bildungsniveau
5.2. Test der Hypothese 2: Schichteinstufung
5.3. Test der Hypothese 3: Geschlecht
5.4. Test der Hypothese 4: Alter
5.5. Test der Hypothese 6: Berufstätigkeit
5.6. Test der Hypothese 7: Familienstatus
5.7. Zusammenfassung der Tests zu den unabhängigen Variablen
6. Die Bedeutung der intervenierenden Variablen
6.1. Gesellschaftliches Engagement
6.2. Politische Partizipation
7. Das multiple Regressionsmodell
7.1. Ohne gesellschaftliches Engagement als intervenierende Variable
7.2. Mit gesellschaftlichem Engagement als intervenierender Variable
7.3. Zusammenfassung der multiplen Regressionsanalysen
8. Tatsächliche Ausgaben
8.1. Beschreibung der Ausgabenentwicklung
8.2. Überprüfung der auf der Einstellungsebene gefundenen Zusammenhänge
8.2.1. Bivariate Zusammenhänge
8.2.2. Das multiple Regressionsmodell
8.2.3. Die Gerechtigkeit bei der Betrachtung der Ausgaben
TEIL III: ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
ANHANG
9. Anhang A: Tabellen
10. Anhang B: Repräsentativität der Bürgerbefragung
11. Anhang C: Fragebogen
LITERATUR
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Das Forschungsdesign von MILLER und STOKES (1963)
Abbildung 2: Forschungsdesign
Abbildung 3: Durchschnittliche Ausgabepräferenzen der Bürger und der Räte zu Politikfeldern
Abbildung 4: Graphische Darstellung des Zusammenhanges zwischen Schulbildung und Einstellungsdifferenz
Abbildung 5: Graphische Darstellung des Zusammenhanges zwischen Schichteinstufung und Einstellungsdifferenz
Abbildung 6: Ausgabepräferenzen der Arbeiter-, Mittel- und Oberschicht zu den einzelnen Items
Abbildung 7: Graphische Darstellung des Zusammenhanges zwischen Alter und Einstellungsdifferenz
Abbildung 8: Ausgabepräferenzen der verschiedenen Altersgruppen zu den einzelnen Items
Abbildung 9: Ausgabepräferenzen der Berufstätigen und Nicht-Berufstätigen zu den einzelnen Items
Abbildung 10: Ausgabepräferenz der Personen mit und ohne Kinder im Haushalt nach Items
Abbildung 11: Graphische Darstellung des Zusammenhanges zwischen gesellschaftlichem Engagement und der Bürgerdistanz
Abbildung 12: Forschungsdesign für die multiple Regressionsanalyse
Abbildung 13: Residuenanalyse für Modell 1: Familienstatus, Berufstätigkeit, Alter
Abbildung 14: Entwicklung der Ausgaben in den Politikfeldern mit geringen Ausgaben von 1999-2002
Abbildung 15: Entwicklung der Ausgaben in den Politikfeldern mit hohen Ausgaben von 1999-2002
Abbildung 16: Graphische Darstellung des Zusammenhanges zwischen Alter und Ausgabendifferenz
Abbildung 17: Die Altersverteilung der befragten Bürger
TABELLENVERZEICHNIS
Tabelle 1: Mittelwerte über alle neun sportpolitischen Items
Tabelle 2: Style and Focus of the representative’s role
Tabelle 3: Bürger und Eliten: Vergleich der Prioritätensetzungen für zehn Aufgabenbereiche
Tabelle 4: Measures of Differential Responsiveness to Various Subpopulations
Tabelle 5: Zusammenfassung der in Kapitel 1.3 dargestellten Ergebnisse
Tabelle 6: Zusammenhang zwischen den Einstellungen der Räte und den Bürgern nach Stadtteil
Tabelle 7: Beispieldaten für die Verdeutlichung des Methodenunterschiedes
Tabelle 8: Ausgabepräferenzen der Bürger und der Räte im Vergleich
Tabelle 9: Ausgaben im Haushaltsplan zu den 20 Items
Tabelle 10: Gruppendistanzen nach Bildungsniveau
Tabelle 11: Gruppendistanz nach Schichteinstufung
Tabelle 12: Gruppendistanz nach Schichteinstufung (3 Kategorien)
Tabelle 13: Gruppendistanz nach Geschlecht
Tabelle 14: Gruppendistanz nach Alter
Tabelle 15: Koeffizienten der Regressionsschätzung mit Alter als unabhängiger Variable
Tabelle 16: Responsivitätsniveaus nach Berufstätigkeit
Tabelle 17: Koeffizienten der Regressionsschätzung mit Berufstätigkeit als unabhängiger Variable
Tabelle 18: Responsivitätsniveaus nach Familienstatus
Tabelle 19: Koeffizienten der Regressionsschätzung mit Familienstatus als unabhängiger Variable
Tabelle 20: Die Einflüsse der unabhängigen Variablen auf die Responsivitätsniveaus
Tabelle 21: Gesellschaftliches Engagement
Tabelle 22: Koeffizienten der Regressionsschätzung mit Bürgerengagement (dichotom) als unabhängige Variable
Tabelle 23: Partizipation der Bürger
Tabelle 24: Koeffizienten der Regressionsschätzung Modell 1
Tabelle 25: Koeffizienten der Regressionsschätzung Modell 2
Tabelle 26: Korrelationen nach Pearson für die unabhängigen Variablen des dritten Regressionsmodells
Tabelle 27: Koeffizienten der Regressionsschätzung Modell 4
Tabelle 28: Koeffizienten der Regressionsschätzung Modell 5
Tabelle 29: Euklidische Distanz der Veränderung der tatsächlichen Ausgaben der Jahre bis 2002 von den Ausgabepräferenzen der Bürger
Tabelle 30: Die Bürgerpräferenzen und die Entwicklung der tatsächlichen Ausgaben
Tabelle 31: Koeffizienten bivariater Regressionsanalysen mit der quadrierten Ausgabendifferenz als abhängiger Variable
Tabelle 32: Differenzen in der Responsivität der Ausgaben gegenüber verschiedenen Bevölkerungsgruppen
Tabelle 33: Koeffizienten der multiplen Regressionsschätzung mit den Ausgabedifferenzen als abhängiger Variable
Tabelle 34: Zusammenfassung der empirischen Befunde
Tabelle 35: Mittelwerte der Ausgabepräferenzen der Räte I
Tabelle 36: Mittelwerte der Ausgabepräferenzen der Bürger I
Tabelle 37: Ausgaben im Haushaltsplan der Jahre 2001 und 2002 für die einzelnen Items II
Tabelle 38: Vergleich des Bildungsniveaus der Bürger und der Räte III
Tabelle 39: Vergleich der subjektiven Schichteinstufung der Bürger und der Räte III
Tabelle 40: Vergleich der Altersverteilung der Bürger mit den Räten III
Tabelle 41: Koeffizienten der Regressionsschätzung Modell 4 mit der einfachen Einstellungsdifferenz (EDIF) als abhängiger Variable IV
Tabelle 42: Koeffizienten der Regressionsschätzung Modell 5 mit der einfachen Einstellungsdifferenz (EDIF) als abhängiger Variable IV
Tabelle 43: Verteilung Bürgerbefragung und Bevölkerung nach Stadtteilen VI
Tabelle 44: Repräsentativität der Bürgerbefragung VII
GLEICHUNGSVERZEICHNIS
Gleichung 1: Berechnung der Kongruenz bei VERBA/NIE (1987)
Gleichung 2: Simulation der Bürgerpräferenzen bei SCHUMAKER / GETTER 1977
Gleichung 3: Berechnung der Responsivität bei ACHEN (1978)
Gleichung 4: Berechnung der Proximität bei ACHEN
Gleichung 5: Berechnung der Zentralität bei ACHEN
Gleichung 6: Berechnung der Euklidischen-Distanz
Gleichung 7: Berechnung des Bias
Gleichung 8: Berechnung der Zentralität zu einzelnen Politikfeldern
Gleichung 9: Berechnung der Gesamtzentralität
Gleichung 10: Bürgerdistanz
Gleichung 11: Berechnung der Gruppendistanz
Gleichung 12: Multiple Regressionsgleichung Modell 1
Gleichung 13: Multiple Regressionsgleichung Modell 2
Gleichung 14: Multiple Regressionsgleichung Modell 3
Gleichung 15: Multiple Regressionsgleichung Modell 4
Gleichung 16: Multiple Regressionsgleichung Modell 5
Gleichung 17: Multiple Regressionsgleichung für die Ausgabendifferenz
EINLEITUNG
„If people have opinions and a representative’s function is to reproduce them, then everyone’s voice should be counted equally.
Legislators should resemble their constituents ideologically, not any special group.“
(ACHEN 1978: 481)
Die vornehmste Aufgabe der Abgeordneten in einer repräsentativen Demokratie ist es, die Interessen ihres Volkes zu vertreten. Ob, wie stark und über welche Kanäle dies geschieht, damit befasst sich traditionell die Responsivitätsforschung. Vernachlässigt wird in fast allen Arbeiten die Frage, ob die Abgeordneten die Interessen aller Bürger gleich vertreten, oder ob die Interessen bestimmter Gruppen stärker berücksichtigt werden als die Interessen anderer Gruppen. Dieser Frage geht diese Arbeit nach.
Die Verteilungsgerechtigkeit ist dann verletzt, wenn die Abgeordneten, die in ihrer soziodemographischen Zusammensetzung nicht der des Volkes entsprechen, auch im Amt die Interessen ihrer Bevölkerungsgruppe vertreten. Diese Arbeit untersucht darum, inwieweit die Bedürfnisse von Personen mit abweichenden soziodemographische Eigenschaften, also zumeist Jüngere, weniger Gebildete und Frauen, weniger befriedigt werden als die Bedürfnisse der Gruppen, aus denen sich die Abgeordneten rekrutieren. Untersucht wird des Weiteren, inwieweit Partizipation, also die Beteiligung der Bürger an politischen und gesellschaftlichen Prozessen, diese Ungleichheiten verstärkt oder reduziert.
Datengrundlage zur Beantwortung dieser Frage stellt eine Fallstudie der Stadt Vaihingen an der Enz dar. Die Bürgerpräferenzen wurden mittels einer repräsentativen Bürgerbefragung ermittelt. Verglichen werden diese Präferenzen mit denen der gewählten Orts- und Gemeinderäte, die durch eine zeitgleich durchgeführte Vollerhebung dieser Gruppe ermittelt wurden.
Es ist wichtig, nicht auf der Einstellungsebene zu verharren, da Ungleichbehandlung nur dann zum Problem wird, wenn sie sich auch in den Politikergebnissen widerspiegelt. In einem zweiten Schritt wird daher untersucht, inwieweit die auf Einstellungsebene gefundenen Zusammenhänge bestätigt werden, wenn statt der Einstellungen der Räte der Haushalt der Gemeinde als Vergleichsmaßstab herangezogen wird.
In der bisherigen Forschung konkurrieren unterschiedliche Messmethoden für Responsivität. Es konnte bereits gezeigt werden, dass diese für das Niveau und die Struktur der Responsivität zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommen. Ungerechtigkeit der Responsivität wurde bisher jedoch immer nur mit einer Methode untersucht. In dieser Arbeit werden drei unterschiedliche Methoden verwendet um nachweisen zu können, ob es sich bei den gefundenen Zusammenhängen lediglich um Methodenartefakte handelt, oder ob eine Struktur der Ungerechtigkeit valide nachgewiesen werden kann.
Aus zwei Gründen ist die kommunale Ebene für die Beantwortung dieser Forschungsfragen besonders relevant. Zum einen gestalten die Kommunen das Lebensumfeld der Bürger viel unmittelbarer als die übergeordneten Ebenen, d.h. hier werden Differenzen zwischen der Prioritätensetzung der Entscheidungsträger und den eigenen Präferenzen am deutlichsten spürbar. „Nahezu alle für die Lebensqualität einer Stadt oder Region ausschlaggebenden Aufgaben gehören zu den freiwilligen oder pflichtigen kommunalen Selbstverwaltungsaufgaben.“ ( GABRIEL u.a.1999: 331) Zum anderen sind die Kommunen die größten Investoren der öffentlichen Hand. Da sie „etwa zwei Drittel aller staatlichen Investitionen tätigen, sind Erkenntnisse über Struktur, Wandel und Bestimmungsfaktoren kommunaler Aufgaben nicht allein für die Wissenschaft, sondern auch für die kommunalpolitische Praxis von großer Tragweite. Die Art und Weise, in der die Kommunen ihre Aufgaben erfüllen, ist für die Infrastrukturausstattung einer Gesellschaft außerordentlich bedeutsam.“ ( GABRIEL u.a. 1992: 23; ähnlich auch MÄDING 1991: 95)
Die vorliegende Arbeit soll basierend auf dem Konzept des „responsiveness bias“ (SCHUMAKER / GETTER 1977) ein wenig Licht in diese Bedingungen für die Stadt Vaihingen bringen. Mit einer solchen Fallstudie sind selbstverständlich keine generalisierbaren Aussagen über „die Art und Weise, in der die Kommunen ihre Aufgaben erfüllen“ möglich. Sie kann jedoch zwei Dinge leisten. Zum einen kann sie den kommunalpolitischen Akteuren in Vaihingen wichtige Hinweise über die Ursachen und Folgen ihres Handelns vermitteln und damit eine Reflexion des eigenen Handelns ermöglichen. Zum zweiten kann eine Fallstudie, verstanden als Pre-Test, viele wichtige Hinweise für weitere wissenschaftliche Arbeiten liefern. Da es sich um die erste Anwendung des „responsiveness bias “-Konzeptes in der Bundesrepublik handelt, folglich kaum Hypothesen aus dem bisherigen Forschungsstand abgeleitet werden können, erscheint eine solcher Pre-Test nicht nur sinnvoll, sondern sogar notwendig.
Diese explorative Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, neben der Überprüfung der wenigen vorhandenen Hypothesen weitere zu entwickeln, die dann in einer breiter angelegten vergleichenden Gemeindestudie überprüft werden könnten. In einer solchen Arbeit müsste den Strukturdaten und supralokalen Faktoren größere Bedeutung geschenkt werden, als das hier der Fall ist (vgl. HAASIS 1978, ARZBERGER 1980, KUNZ 2000).
Zunächst wird in dieser Arbeit der Forschungsstand aufbereitet. Nach der Einordnung der Forschungsfrage in den Kontext werden diejenigen Arbeiten ausführlicher dargestellt, die sich zumindest teilweise mit der Frage der Gerechtigkeit beschäftigt haben, sowie diejenigen, welche interessante methodisch Anregungen für die hier untersuchte Fragestellung bieten (Kapitel 1). Anschließend werden, abgeleitet aus dem Forschungsstand und aus eigenen Überlegungen, die Hypothesen formuliert, die im empirischen Teil dieser Arbeit getestet werden sollen. Für den Test wird ein Forschungsdesign entworfen. Im vierten Kapitel dieser Arbeit werden die theoretischen Begriffe operationalisiert und die Daten beschrieben. Kapitel fünf bis sieben sind den empirischen Tests auf der Einstellungsebene gewidmet. Im achten Kapitel werden die Ergebnisse mit den tatsächlichen Ausgaben überprüft. Zum Schluss werden die Ergebnisse nochmals zusammengefasst und mit den Ergebnissen der bisher vorliegenden Arbeiten verglichen. Außerdem werden Anregungen für eventuell aufbauende Forschung gegeben.
TEIL I: THEORIE UND METHODEN
1. Forschungsstand
Mit der klassischen Studie „Constitutency Influenc e in Congress“ von MILLER und STOKES (1963) wurde eine rege Forschungstätigkeit angeregt, die zunächst in den USA und mit gewisser Verzögerung auch diesseits des Atlantiks zu einer Vielzahl von Veröffentlichungen führte. Eine umfassende Aufarbeitung dieser Arbeiten kann an dieser Stelle nicht geleistet werden und ist auch nicht notwendig, da dies bereits in mehreren Arbeiten geschehen ist (z.B. BRETTSCHNEIDER (1995) und WALTER (1997 / 2001)). Nach der Klärung des Begriffs erfolgt eine kurze Skizzierung des Forschungsfeldes. Dies ist für die Einordnung dieser Arbeit unerlässlich. Danach werden diejenigen Studien vorgestellt, die sich mit dem Aspekt der Gerechtigkeit im Rahmen der Responsivitätsforschung, beschäftigt haben.
1.1. Was bedeutet Responsivität
Betrachtet man die Arbeiten, die in der Regel dem Bereich Responsivitätsforschung subsumiert werden, dann fällt die Vielfalt der Fragestellungen, der verwendeten Indikatoren und Methoden auf. Wie schwer es ist, die sich dahinter verbergenden Vorstellungen von Responsivität unter einen Hut zu bekommen, zeigt der Definitionsversuch von EULAU und KARPS (1978:62). Sie definieren Responsivität „as a complex, compositional phenomenon that entails a variety of possible targets in the relationship between representatives and represented“. Dieses komplexe Phänomen lässt sich in vier Bereiche unterteilen:
1. „Policy responsiveness“: Sie bezieht sich auf das Handeln eines Abgeordneten und ist dann gegeben, wenn sein Abstimmungsverhalten mit den Einstellungen der constituency übereinstimmt.
2. „Service responsiveness“ bedeutet, dass der Abgeordnete für einzelne Personen oder Gruppen Leistungen erbringt.
3. „Allocation responsiveness“: Im Kampf um knappe Ressourcen versucht der Abgeordnete für seine constituency möglichst viel zu erreichen.
4. „Symbolic responsiveness“: Der Abgeordnete vermittelt den Wählern durch symbolische Handlungen das Gefühl, repräsentiert zu werden, unabhängig davon, ob dies tatsächlich der Fall ist.
Die meisten Responsivitätsstudien und auch diese Arbeit beschäftigen sich mit der Fragestellung, die von EULAU und KARPS als „policy responsiveness“ bezeichnet wird.
Uneinigkeit besteht jedoch, selbst bei dieser Verengung des Konzeptes, sowohl in der abhängigen (siehe 1.2.4) als auch in den unabhängigen (siehe 1.2.2) Variablen.
1.2. Skizzierung des Forschungsfeldes
Um einen Überblick über das Forschungsfeld zu erlangen erscheint es mir zunächst sinnvoll, die bisher erschienenen Arbeiten nicht nach den verwendeten Variablen zu unterscheiden, sondern anhand der Untersuchungsebene und des Untersuchungsdesigns (BRETTSCHNEIDER 1995).
1. Untersuchungsebene: Mikro - Meso - Makro
Untersuchungen auf der Mikro-Ebene bedienen sich wie MILLER und STOKES des Abstimmungsverhaltens bzw. der Einstellung (in parlamentarischen Demokratien) des einzelnen Abgeordneten als abhängige Variable. Makro-Studien nutzen als abhängige Variable den Policy-Output. Auf der Meso-Ebene sind Studien angesiedelt, die sich mit der Position von Fraktionen als abhängiger Variable beschäftigen.
2. Untersuchungsdesign: Statisch - dynamisch
Mit statischen Untersuchungen können keine Aussagen über die Richtung des Zusammenhanges zwischen öffentlicher Meinung und Abstimmungsverhalten bzw. Policy- Output gemacht werden. Daher haben sich einige Arbeiten mit Meinungswandel, der zwischen mindestens zwei Zeitpunkten gemessen wurde, beschäftigt. Hier wurde untersucht, ob parlamentarische Aktivitäten bereits vor dem Meinungswandel stattgefunden haben oder erst danach.
Da in den Daten für diese Arbeit nur ein Messzeitpunkt vorliegt und die Einstellungen der Bevölkerung mit denen der Räte und mit den Politikergebnissen verglichen werden sollen, sind statische Mikro- und Makrostudien relevant.
1.2.1. Das Forschungsdesign von MILLER und STOKES
Das in den meisten Mikrostudien verwendete Forschungsdesign geht auf die Pionierstudie von MILLER und STOKES (vgl. Abbildung 1) zurück. Ziel ihrer Studie war es nicht so sehr, das Niveau der Responsivität zu ermitteln, sondern den Pfad, über den Responsivität hergestellt wird. Der stärkste von ihnen gefundene Pfad geht von der Bevölkerungsmeinung über die wahrgenommene Distriktmeinung zum Abstimmungsverhalten des Abgeordneten. Auch von den eigenen Einstellungen wird sein Verhalten stark beeinflusst.
„Our evidence shows that the Representative’s roll call behavior is strongly in fluenced by his own policy preferences and by his perception of preferences held by the constituency“ (MILLER/STOKES 1963:56).
Aufgrund methodischer Probleme werden die Ergebnisse von MILLER und STOKES von einigen Forschern angezweifelt und überprüft (CNUDDE / MCCRONE 1966, KUKLINSKI / MCCRONE 1980). Sie kamen jedoch nicht zu stark abweichenden Ergebnissen. Es kann daher als bestätigt betrachtet werden, dass das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten nicht direkt von der Distriktmeinung beeinflusst wird, sondern nur vermittelt über die wahrgenommene Distriktmeinung. Nicht eindeutig geklärt ist, ob die wahrgenommene Meinung die eigenen Einstellungen beeinflusst und diese wiederum das Abstimmungsverhalten (Pfad b - f - d) oder der Pfad b - c von größerer Bedeutung ist und die Einstellungen des Abgeordneten, von der wahrgenommenen Meinung relativ unabhängig, das Abstimmungsverhalten beeinflussen.
Abbildung 1: Das Forschungsdesign von MILLER und STOKES (1963)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Auf Grund unterschiedlicher institutioneller Arrangements kann das Forschungsdesign von MILLER und STOKES der Responsivitätsmessung in dieser Arbeit nicht zugrunde gelegt werden. Es ist weder Ziel dieser Arbeit noch wäre es methodisch möglich, ein Responsivitätsmodell der Vaihinger Gemeinderäte zu entwickeln. Dennoch beruht natürlich auch die in dieser Arbeit verwendete Methode der Responsivitätsmessung auf bestimmten Modellannahmen, die in Kapitel 2 dargestellt werden. Zunächst gilt es jedoch, die Unterschiede herauszuarbeiten, die eine Modifizierung des Forschungsdesigns notwendig machen. Diese haben ihre Ursachen erstens in der unabhängigen Variablen, der Distriktmeinung, zweitens in der intervenierenden Variablen, dem Rollenverständnis der Abgeordneten, und drittens in der Bestimmung der abhängigen Variablen, dem Abstimmungsverhalten.
1.2.2. Die unabhängige Variable: Bestimmung der „constitutency“
MILLER und STOKES untersuchten die Übereinstimmung des Abstimmungsverhaltens einzelner Abgeordneter mit den Einstellungen der Bürger aus ihrem Wahlkreis. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Abgeordneten, um wiedergewählt zu werden, versuchen, sich so zu verhalten, wie es die Mehrheit der Bürger von ihnen erwartet. Diese Operationalisierung der „geographical constituency“ ist sinnvoll, wenn auch nicht zwingend, wenn, wie in den USA, ein System des Einerwahlkreises mit Mehrheitswahlrecht besteht. In parlamentarischen Demokratien muss sie anders erfolgen. Da in der Bundesrepublik nur die Hälfte der Abgeordneten des Bundestages über ein Direktmandat in das Parlament einziehen und darüber hinaus, aufgrund der Regierungsbildung aus dem Parlament heraus, die Fraktionsdisziplin eine viel stärkere Bedeutung hat, ist es nicht sinnvoll die Wähler des Wahlkreises als „geographical constituency“ zu betrachten1. Die gesamte Nation ist hier die relevante Bezugsgröße. Auf kommunaler Ebene kann diese Frage nicht so klar beantwortet werden. In Vaihingen/Enz wird der Gemeinderat mit der unechten Teilortswahl gewählt (§27 GemO). Dieses Verfahren garantiert, dass aus jedem der Ortsteile Gemeinderäte im Rat vertreten sind. Die Kandidaten werden bei diesem Wahlverfahren im Wahlvorschlag getrennt nach Ortsteil aufgeführt. Sie müssen in dem Ortsteil wohnen, für den sie kandidieren. Die gewählten Räte sitzen dort also als Vertreter ihres Ortsteiles2. Neben den Gemeinderäten befinden sich auch die Ortschaftsräte in dem untersuchten Datensatz. Deren Funktion ist es, die Interessen ihres Ortsteils zu vertreten. Aufgrund dieser institutionellen Arrangements und der Eigenschaften des Datensatzes können aus dem bisherigen Forschungsstand keine Aussagen zur Bezugsebene gemacht werden. Es bleibt eine empirisch zu klärende Frage, ob die Gemeinde- und Ortschaftsräte stärker mit den Einstellungen der gesamten Bürgerschaft oder mit den Einstellungen des Stadtteils in dem sie wohnen, übereinstimmen. Dem wird im empirischen Teil dieser Arbeit nachgegangen (Kapitel 3).
Neben der „geographical constituency“ werden noch weitere mögliche relevante Bezugseinheiten unterschieden. Die am häufigsten verwendete Unterscheidung stammt von FENNO (1977). Er unterscheidet neben der „geographical constitutency“, also der Meinung des gesamten Distrikts, die „re -election constitutency“. Darunter versteht er die Wähler des Abgeordneten bei der letzen Wahl. Die „primary constituency“, die stärksten Anhängern eines Kandidaten und schließlich der „personal constitutency“, die persönlichen Unterstützer. ALMOND (1956) verwendete noch eine weitere Kategorie, die „issue public“. Dazu gehört der Kreis von Personen, die zu einer bestimmten politischen Sachfrage Präferenzen aufweisen.
Die „re -election constituency“ wird in parlamentarischen Demokratien in der Regel mit den Wählern der Partei des Abgeordneten gleichgesetzt. Auch in den Studien auf kommunaler Ebene wurde bisher immer so vorgegangen. Dabei erscheint es mir durchaus sinnvoll, auf kommunaler Ebene, dem amerikanischen Ansatz folgend, die „re -election constituency“ als die jeweiligen Wähler des Kandidaten zu definieren. Auf kommunaler Ebene spielen die Parteien nach wie vor eine geringere Rolle3. Begünstigt wird dies durch den engeren persönlichen Kontakt und auch durch das Wahlrecht, das mit der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens den Wählern eine stärkere Kandidatenorientierung ermöglicht. Vermutlich wurde auf ein solches Vorgehen bisher aufgrund der Schwierigkeit der Datenerhebung verzichtet. Zum einen erfordert die Erhebung der einzelnen Kandidaten einen umfangreichen Frageblock und zum anderen dürfte es den Befragten einige Zeit nach der Wahl nicht mehr erinnerlich sein, welchen Kandidaten genau sie wie viele ihrer Stimmen gegeben haben. Aufgrund dieser Schwierigkeiten wird auch in dieser Arbeit auf die Bestimmung der „re - election constituency“ verzichtet.
WRIGHT (1989) unterscheidet zwei andere Wählergruppen und zwar die Parteigebundenen (partisans), die eine relativ stabile Bindung an die Partei aufweisen, und die Parteilosen (independence). Diese Unterscheidung ist auch in parlamentarischen Demokratien möglich und sinnvoll. Auf kommunaler Ebene dürfte sie, wie bereits bei der „re -election constituency“ erläutert wurde, geringere Bedeutung haben. Da Angaben über die Parteibindung für die Gruppe der Bürger fehlen, kann diese Frage nicht weiter untersucht werden.
Als „primary constituency“ werden in parlamentarischen Demokratien in der Regel die Parteimitglieder betrachtet. Auf kommunaler Ebene ergeben sich bei diesem Vorgehen Schwierigkeiten durch die Bedeutung von Wählervereinigungen und der Möglichkeit der offenen Listen, d.h. dass auf einer Parteiliste auch Kandidaten aufgenommen werden können, die gar nicht Mitglied einer Partei sind. Für einen bedeutenden Anteil der Räte lässt sich daher gar keine „primary constituency“ definieren. Ähnliche Schwierigkeiten treten bei der „personal constituency“ auf. Um diese zu erheben, wäre ein anderes Untersuchungsdesign wie z. B. eine Netzwekanalyse notwendig. Daher werden auch diese beiden „constituencies“ hier nicht weiter untersuchtr.
Etwas mehr Bedeutung dürfte auf der kommunalen Ebene die ebenfalls von WRIGHT (1989) untersuchte Gruppe der „party elites“ für die Einstellung en der Räte haben. Als „party elites“ können auf kommunaler Ebene die Fraktionskollegen verstanden werden. Ihr Einfluss auf die Einstellung des einzelnen Rates wäre zwar eine interessante Forschungsfrage, ist jedoch für den hier untersuchten Zusammenhang nicht von Belang.
Die „issue public“ bildet aus methodischen Gründen die Grundlage aller empirischen Untersuchungen, da von den befragten Bürgern und Funktionsträgern nur diejenigen in die Analysen eingehen, die eine Ausgabepräferenz zu den einzelnen Politikfeldern besitzen. Da qua definition die anderen keine Einstellung zu den Items ausgebildet haben, kann ein Ausmaß an Responsivität zur Nicht-„issue public“ auch nicht berechnet werden.
Nach diesem kurzen Überblick über die Möglichkeiten zur unterschiedlichen Bestimmung der „constituency“, werden im Folgenden die Ergebnisse der wenigen empirischen Studien zu diesem Bereich zusammengefasst.
Zum Repräsentantenhaus in den USA untersuchte STONE (1979) die Übereinstimmung des Abstimmungsverhaltens der Abgeordneten mit den in Meinungsumfragen ermittelten Einstellungen der Wahlkreise. Die constituency unterteilte er in die Anhänger der Mehrheitspartei und die Anhänger der Minderheitspartei. Er fand eine stärkere Übereinstimmung zwischen den Abgeordneten und den Anhängern der Mehrheitspartei („re - election constituency“) als zwischen den Abgeordneten und den Anhängern des unterlegenen Kandidaten. Zum selben Ergebnis kommen auch SHAPIRO u.a. (1990: 608) für das Abstimmungsverhalten der Senatoren: „The policy preference s of a senator’s party constituency have the largest positive effect on the senator’s economic voting score... The other party’s preferences have a negative effect..., and independent preferences have a small positive effect“. Dasselbe Ergebnis lässt sich auch für die anderen untersuchten Politikbereiche feststellen. Kurz bevor ein Senator zur Wahl steht, orientiert er sich stärker an den parteiungebundenen Wählern, nach der Wahl nimmt die Bedeutung der Parteimitglieder wieder zu. Bei den Senatoren des US-Kongresses findet WRIGHT (1989) bei der Unterscheidung von „geographical constituency“, „re -election constituency“, „independents“, „partisans“ und „state party elites“ heraus, dass es die größte Übereinstimmung zwischen dem Abstimmungsverhalten und den Einstellungen der Parteielite der eigenen Partei gibt. Die zweitgrößte Übereinstimmung gibt es mit den Parteiungebundenen unter den Bürgern. Er argumentiert, dass dies geschieht, da die Abgeordneten um deren Stimmen werben. Die „geographical constituency“ spielt hingegen kaum eine Rolle. Auch POWELL (1982) und STONE (1982) differenzieren nach der Parteiidentifikation der Befragten und stellen übereinstimmend fest, dass die Abgeordneten stärker mit ihren Wählern übereinstimmen als mit den Wählern der Konkurrenten der anderen Partei.
Obwohl alle hier vorgestellten Studien darunter leiden, dass zur Berechnung der Distriktmeinung keine für den Distrikt, sondern nur für die Nation repräsentative Stichprobe verwendet wurde4, die Repräsentativität der Ergebnisse daher in Frage gestellt ist, kann aufgrund der übereinstimmenden Ergebnisse aus unterschiedlichen Studien, die z.T. auch mit deutlich unterschiedlichen Methoden berechnet wurden, folgendes festgehalten werden:
„Aus der Durchsicht der wenigen Studien zu diese m Thema ergibt sich also erwartungsgemäß der Eindruck, daß sich Politiker gegenüber ihren eigenen Wählern und Unterstützern responsi- ver verhalten als gegenüber dem gesamten Distrikt. Wie genau darüber hinaus zwischen ver- schiedenen Bevölkerungseinheiten differenziert werden kann, bleibt jedoch unklar.“ (BRETTSCHNEIDER 1995: 67) Dieses Ergebnis ergibt sich sowohl für die US-Repräsentanten als auch für die US-Senatoren.
Für die kommunale Ebene haben zwei Arbeiten Responsivitätsunterschiede zwischen Fraktionen und Parteiwählern bzw. dem Durchschnittswähler untersucht. Für das Kommunalparlament in Stuttgart kam WALTER (1997: 155f) für den Bereich Sportförderung zu dem Ergebnis, dass die Kommunalpolitiker der einzelnen Fraktionen die durchschnittliche Bevölkerungsmeinung besser wahrnehmen als die Meinung ihrer Parteianhänger. WALTER untersucht die Responsivitätsunterschiede nicht in Bezug auf die Einstellungen beider Gruppen, daher ist die Beantwortung dieser Frage nur mit eigenen Berechnungen möglich. Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass der Fraktionsdurchschnitt vom Durchschnitt der Parteiwähler etwas geringer abweicht als vom Durchschnittswähler5. Dieses Ergebnis kommt vor allem durch die kleinen Parteien zustande, die sich erwartungsgemäß stärker an ihren eigenen Wählern als am Durchschnittswähler orientieren. Bei den beiden großen Parteien sind keine Unterschiede feststellbar. Untersucht man statt der Wahrnehmung die Einstellungen, so kommt man für die Stadt Stuttgart zum selben Ergebnis, wie für das US-Parlament.
Tabelle 1: Mittelwerte über alle neun sportpolitischen Items
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Daten entnommen aus WALTER 1997, Tabelle 11 (S. 151), Tabelle14 (S. 155) und Tabelle 2A (S. 195) und eigene Berechnungen
ARZBERGER (1980) hat diesen Zusammenhang für die Stadt Wertheim untersucht (siehe Tabelle 3). Die Eliten, die der CDU nahe stehen bzw. Mitglied in der CDU sind6, stimmen dort mit den CDU Sympathisanten unter den Bürgern tatsächlich am besten überein. Die SPD-. und FDP-Anhänger unter den Bürgern werden jedoch ebenfalls von den CDU-Eliten besser repräsentiert als von den Eliten ihrer eigenen Partei. Bezogen auf alle Bürger hat ARZBERGER kein Responsivitätsniveau der einzelnen Elitegruppen berechnet, daher lässt sich nicht angeben, ob der erwartete Zusammenhang besteht. Stark kann er jedoch nicht sein, da die Eliten unabhängig von ihrer Parteiidentifikation die Interessen der FDP-Anhänger unter den Bürgern am besten repräsentieren. Dies gilt auch, wenn nur alle Räte betrachtet werden.
Für die Stadt Vaihingen kann diese Frage nicht beantwortet werden, da den Bürgern die Frage nach der Parteiidentifikation nicht gestellt wurde.
1.2.3. Die intervenierende Variable: Das Rollenverständnis der Abgeordneten
Ebenfalls aus den USA stammt die theoretische Debatte über das Rollenverständnis der Abgeordneten. THOMASSEN (1991) identifiziert zwei Dimensionen, mit denen sich das Rollenverständnis der Abgeordneten beschreiben lässt (siehe Tabelle 2).
Der „delegate“ versteh t sich als Vertreter seiner „constituency“, deren Interessen er dadurch vertritt, dass er sich in seinem Abstimmungsverhalten an der Bürgermeinung orientiert. Der „trustee“ hingegen versteht sich stärker als Repräsentant. Er entscheidet zum Wohl des Volkes , auch wenn dies im Einzelfall nicht mit den Präferenzen der Bevölkerung übereinstimmt. Die Variable „focus“ gibt an, gegenüber wem sich ein Abgeordneter verpflichtet fühlt. Fühlt er sich gegenüber seinen potentiellen und tatsächlichen Wählern verpflichtet, orientiert er sich in den USA am Wahlkreis. Er kann sich jedoch auch als Repräsentant des ganzen Volkes verstehen und sich insoweit von seinen Wählern entfernen. Für einen „delegate“ erscheint diese Alternative wenig realistisch, bei einem “trustee“ hing egen erscheint beides möglich.
Tabelle 2: Style and Focus of the representative’s role
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese Überlegungen regten eine Vielzahl empirischer Studien an. Für das US- Repräsentantenhaus zeigte sich eine starke Orientierung am Distrikt, also am Wahlkreis aus dem der Abgeordnete stammt. Dieses Rollenverständnis als „instructed delegate“ wird durch das Wahlsystem der Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen begünstigt. Jedoch verliert es an Bedeutung: “The idea of an instructed delegate, taking his instructions from his district comes from another time with different ideas about the role of the state.” (THOMASSEN 1991: 263) Noch weniger trifft dies auf die Senatoren in den USA zu. WRIGHT (1989) fand heraus, dass das Abstimmungsverhalten der Senatoren die größte Übereinstimmung mit den Parteieliten der gesamtstaatlichen Ebene aufweist.
HOLMBERG (1991) fand für das schwedische Parlament heraus, dass das Rollenverständnis des Abgeordneten keine Auswirkungen auf die Einstellungskongruenz hat. Auch BARNES (1977) kommt für das italienische Parlament, CONVERSE und PIERCE (1986) kommen für das französische Parlament zu diesem Ergebnis.7
„Mit Sicherheit l ässt sich eine solche Vorstellung (des Rollenverständnisses als „instructed delegate“, Anm. BP) jedoch für die westeuropäischen Regierungssysteme nicht aufrechterhalten. Selbst diejenigen Länder, in denen Formen des Mehrheitswahlrechts in Einerwahlkreisen praktiziert werden - in erster Linie England und Frankreich - sind Parteiendemokratien in dem Sinne, dass für das Abgeordnetenverhalten die Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei die Bedeutung von Wahlkreisinteressen bei weitem überwieg.“ (HOFFMANN-LANGE 1991: 277)
Dieser Überzeugung ist auch DALTON (1985: 269): „The basic argument of the research presented here, however, is that the emphasis on the individual legislator is an inaccurate description of the representation process in most contemporary democracies (i.e., nonAmerican systems).” Aus diesem Grund lehnt DALTON (1985) die Analyse des einzelnen Abgeordneten und dessen Rollenverständnis als „delegate“ bzw. „trustee“ ab, und schlägt stattdessen das „responsible party“ -Modell vor. Mit der dahinterliegenden normativen Annahme,, die Parteien sollten sich ihren Wählern gegenüber responsiv verhalten. Diese Annahme basiert wiederum auf der Feststellung, dass in parlamentarischen Demokratien die Bürger die Partei wählen, die ihre Interessen am besten vertritt.
Wie sieht es nun für die kommunale Ebene der Bundesrepublik Deutschland aus? Empirische Untersuchungen über das Rollenverständnis als „trustee“ oder „delegate“ liegen nicht vor. Jedoch lassen sich aufgrund des institutionellen Arrangements theoretisch plausible Annahmen treffen. Bei den Kommunalwahlen werden keine Parteien, sondern Personen gewählt, die auf unterschiedlichen Parteilisten stehen. „Die Kandidatenorientierung der Wähler ist die entscheidende Bestimmungsgröße kommunalen Wahlverhaltens.“ ( LÖFFLER 2000: 126) Daher haben Persönlichkeitsmerkmale häufig größeren Einfluss auf die Wahlentscheidung der Bürger als die Parteizugehörigkeit oder die Themenorientierung. Für die Wahlentscheidung der Bürger bietet die Vereinsmitgliedschaft bzw. -aktivität eine wichtige Orientierungsfunktion. Es ist von geringerer Bedeutung, auf welcher Parteiliste eine Person steht (siehe LÖFFLER 2000, WEHLING 2000b). Das „responsible party“ -Modell kann daher abgelehnt werden. Vielmehr dürfte eine Mischung aus „trustee“ und „delegate“ existieren. In Vereinsangelegenheiten dürften sich die Räte, auch im Bewusstsein der Bedeutung der Unterstützung ihres Vereins bei ihrer Wahl, als „delegate“ verstehen, in den restlichen Fällen, was sicherlich den Großteil der P olitik ausmacht, ist eher ein „trustee“ -Bewusstsein zu vermuten. Dies kommt auch in dem für Kommunalparlamente gebräuchlichen Begriff des „Honoratiorenparlamentes“ zum Ausdruck (WEHLING 2000a, MIELKE / EITH 1994). Eine empirische Klärung dieser Frage ist in dieser Arbeit jedoch nicht möglich.
Die Frage nach dem „focus“ wurde bereits in Abschnitt 1.2.2 gestreift. In parlamentarischen Demokratien wird die Vorstellung eines Abgeordneten, der sich an seinem Wahlkreis orientiert, in der Regel abgelehnt. Für die Situation auf der kommunalen Ebene könnte es jedoch durchaus sein, dass sich die Gemeinderäte als Vertreter ihres Ortsteiles verstehen, der „focus“ also auf dem Wahlkreis liegt. Mit der Untersuchung ob die Einstellungen der einzelnen Gemeinderäte stärker mit der Meinung der Gesamtbevölkerung übereinstimmen oder mit der den Interessen der Bevölkerung aus dem Stadtteil aus dem sie stammen, lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit sagen, ob dies durch das Rollenverständnis verursacht ist oder durch die quasi natürliche Interessenidentität in vielen Bereichen, die durch die objektiven Bedingungen in einem Stadtteil ausgelöst wird. Dennoch wird diese Frage im empirischen Teil als erstes untersucht. Wird die Hypothese bestätigt, muss in allen folgenden Analysen nach Stadtteil getrennt werden, da sonst das Responsivitätsniveau unterschätzt wird.
1.2.4. Die abhängige Variable:
Abstimmungsverhalten vs. Einstellungen des Abgeordneten
Die in der Tradition von MILLER und STOKES durchgeführten Studien in den USA haben mit dem Abstimmungsverhalten der Abgeordneten als abhängige Variable gearbeitet. Dies ist aus zwei Gründen in der vorliegenden Arbeit nicht möglich. Zum einen gibt es keine Aufzeichnungen, anhand derer das Abstimmungsverhalten der einzelnen Räte bestimmt werden könnte, und zum anderen sind die Abstimmungen im Vaihinger Gemeinderat in der Regel einstimmig, d.h. es fehlt die für eine Erklärung notwendige Varianz. Der Mangel an namentlichen Abstimmungen und die Fraktionsdisziplin hat - nach einigen gescheiterten Versuchen, das MILLER und STOKES Design auf parlamentarische Demokratien zu übertragen - dazu geführt, das „responsible party“ -Modell (DALTON 1985, BRETTSCHNEIDER 1995) zu verwenden, also das Abstimmungsverhalten der Fraktionen als abhängige Variable zu betrachten. Auch dies ist in der vorliegenden Arbeit aufgrund der nicht vorhandenen Varianz nicht möglich. Es bleiben zwei Möglichkeiten die Responsivität zu messen. Die in parlamentarischen Demokratien gängigste Methode der Bestimmung der Einstellungskongruenz zwischen Bürgern und Parlamentariern8 und der von BRETTSCHNEIDER (1995) für den deutschen Bundestag angewendeten Methode der Bestimmung der Übereinstimmung der Präferenzen der Bürger mit den Ergebnissen der Politik. Beide Möglichkeiten sollen im empirischen Teil der Arbeit Verwendung finden.
1.3. Responsivität und Gerechtigkeit
In diesem Kapitel wird das dieser Arbeit zugrundegelegte Verständnis von Gerechtigkeit präzisiert. Dabei geht es zunächst darum aufzuzeigen, warum die Frage nach der Gerechtigkeit im Rahmen der Responsivitätsforschung dringend gestellt werden muss. Nach der Begründung der Relevanz der Fragestellung werden unterschiedliche Gerechtigkeitskonzeptionen vorgestellt, wie sie in der Demokratietheorie diskutiert werden, und das hier vertretene Konzept wird eingeordnet. Als letzter Punkt der Aufbereitung des Forschungsstandes werden in diesem Kapitel außerdem diejenigen Arbeiten vorgestellt, die das Problem der Gerechtigkeit in die Responsivitätsforschung bereits integriert haben.
1.3.1. Einstellungen und sozio-demographische Eigenschaften
Diese Arbeit untersucht, ob das Ausmaß der Responsivität der Vaihinger Räte gegenüber den Bürgern mit unterschiedlichen sozio-demographischen Merkmalen systematisch variiert. Einstellungen werden stark von sozio-demographischen Merkmalen wie Geschlecht, Alter und Bildungsstand beeinflusst. Da die Räte sich in eben diesen Merkmalen deutlich vom Durchschnitt der Bürger unterscheiden, kann die Hypothese aufgestellt werden, dass diejenigen Bürgergruppen besser repräsentiert werden, die in diesen Eigenschaften mit dem Durchschnitt der Räte am stärksten übereinstimmen.
Alter und Geschlecht verweisen auf mit ihnen verbundene Lebenslagen. Nicht das genetische Geschlecht (sex) oder das biologische Alter, sind ausschlaggebend für den Erklärungsgehalt dieser Variablen, sondern mit diesen Variablen verbundenen latente Konstrukte. Mit dem Geschlecht und dem Alter sind spezifische Sozialisationserfahrungen und Positionen im Lebenszyklus verbunden. Diese latenten Konstrukte lassen sich zum Teil durch konkrete Indikatoren auflösen. In der Responsivitätsforschung wurde dies bisher nicht versucht. Bei der Identifikation entsprechender Indikatoren werden daher Anleihen bei der Partizipationsforschung unternommen. WESTLE (2001: 154ff) benutzte drei Indikatoren (Verheiratet bzw. zusammen lebend, Kinder im Haushalt, Erwerbstätigkeit). Die beiden letzten Indikatoren werden auch in dieser Arbeit verwendet, für den ersten liegen keine Daten vor.
Eine zu erwartende höhere Übereinstimmung der Einstellungen der Räte und der statushohen Gruppen in der Bevölkerung wird noch durch weitere Effekte verstärkt. So konnte die Partizipationsforschung zeigen (z.B. VERBA / NIE 1972: 332ff), dass Partizipation noch zu einer Verstärkung dieser Ungleichheiten führt, da unter den Partizipanten diese Gruppen ebenfalls überrepräsentiert sind. Auch die Pluralismusforschung kommt zu dem Ergebnis, dass Organisationsfähigkeit wie Konfliktfähigkeit und damit das Ausmaß der Berücksichtigung der Interessen verschiedener Gruppen vom Charakter der Interessen abhängig ist. „Wenn die Organisationsfähigkeit von Interessen davon abhängt, daß sie in der Lage sind, ausreichend motivationale und materielle Ressourcen zu mobilisieren und für die Verbandsbildung bereitzustellen, und die Konfliktfähigkeit davon, daß sie eine für die Gesellschaft funktionsnotwendige Leistung kollektiv verweigern oder diese Verweigerung glaubhaft androhen können, dann sind z.B. Interessen aus dem Bereich allgemeine Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Wohnen, Freizeit nur schwer zu organisieren und Interessen marginalisierter Gruppen wie Frauen, Alte, Kinder, Behinderte usw. nicht konfliktfähig. Solche Interessen werden im pluralistischen Willensbildungsprozeß denn auch kaum berücksichtigt, was zu strukturellen Ungleichgewichten führt.“ ( MASSING 1993: 252)9. Damit ist die Frage nach der politischen Gerechtigkeit aufgeworfen.
1.3.2. Gerechtigkeit in der Demokratietheorie
In der Politischen Theorie werden unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen diskutiert (siehe dazu z.B. HÖFFE 1995: 147f, DRUWE 1995: 201ff, SCHUMAKER 1977: 251f). Analytisch lassen sich zwei Formen von Gerechtigkeit unterscheiden. Verfahrensgerechtigkeit bezieht sich auf die gleichen Rechte aller Bürger zur Teilnahme an den demokratischen Willensbildungsprozessen und äußert sich z.B. im Wahlrecht. Die Abgeordneten werden in „allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ (Art. 38 Abs. 1 GG) Damit und mit der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG), der Versammlungs-, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art 8 +9 GG) ist die Gleichbehandlung aller Bürger im politischen Prozess im Grundgesetz festgeschrieben. Diese Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit sind elementare Bestandteile unserer Demokratie. Über sie besteht weitgehend Einigkeit in der Demokratietheorie.
In dieser Arbeit wird das Problem der Verteilungsgerechtigkeit angesprochen. Hier geht es nicht um die gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger am politischen Prozess, also die InputSeite des politischen Systems, sondern um die Output-Seite, also die Frage des Nutzens der Ergebnisse des politischen Prozesses. Dieser Nutzen kann für einzelne Gruppen und Personen ganz unterschiedlich ausfallen.
Nicht so einfach wie bei der Verfahrensgerechtigkeit lässt sich für den Komplex der Verteilungsgerechtigkeit feststellen unter welchen Bedingungen sie gegeben ist. Eine noch immer anhaltende Debatte in der Demokratietheorie befasst sich mit dieser Fragestellung. Unterschiedliche Denkschulen kommen nach wie vor zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Ohne an dieser Stelle auf die Begründungen näher eingehen zu können, lassen sich vier klassische Konzepte unterscheiden.
1. Jedem nach seinen Leistungen:
Dieses von den Wirtschaftsliberalisten vertretene Konzept fordert, stark vereinfacht, dass diejenigen von staatlichen Leistungen am meisten profitieren sollen, die am meisten Steuern bezahlen. (s. LEVY u. a. 1974)
2. Jedem das Gleiche:
Nach diesem Prinzip soll jedem Bürger unabhängig von seinen Fähigkeiten und seinen Bedürfnissen dieselbe Leistung zuteil werden. Diese Position wird u. a. von NOZICK (1976) und BUCHANAN (1984) vertreten.
3. Gleiche Ergebnisse:
Ziel dieser Gerechtigkeitskonzeption ist es, die Bürger durch politische Umverteilung bezüglich vorher definierter Eigenschaften gleich zu machen.
4. Gerechtigkeit als Chancengleichheit:
„Chancengleichheit betrifft ... die Ausgangbedingungen. Sie sind so zu gestalten, dass jeder die Chance hat, gemäß seinen Vorstellungen zu leben.“ ( DRUWE 1995: 212) Dieses Konzept wird von FRANKENA (1966) vertreten.
Dieser Arbeit ist ein Gerechtigkeitskonzept zugrunde gelegt, das von seinen Begründern SCHUMAKER und GETTER (1977) als „responsiveness bias“ bezeichnet wird. Es unterscheidet sich von den bisher vorgestellten Konzepten zunächst im Abstraktionsgrad. Das erste Gerechtigkeitsprinzip stammt aus dem Marktmodell, die drei folgenden sind aus vertragstheoretischen Überlegungen (HOBBES) analytisch abgeleitet. Das Konzept des „responsiveness bias“ basiert auf Umfragedaten und direkt beobachtbaren Politikerg ebnissen. Ungerechtigkeit wird hier definiert als die ungleiche Umsetzung der Bedürfnisse der Bürger in materielle Politik. Der „responsiveness bias“ und damit die Ungerechtigkeit ist um so höher, je unterschiedlicher die Präferenzen einzelner Bevölkerungsgruppen von den Politikergebnissen, repräsentiert werden. Inhaltlich kann dieses Konzept als eine mögliche Operationalisierung der Gerechtigkeit als Chancengleichheit verstanden werden. Dieses Konzept ist den drei erstgenannten überlegen: „…, the concept o f responsiveness bias provides researchers with an analytical construct which links citizen inputs with governmental outputs and suggests the possibility of asking not only ‘who get what?’, but also asking the more refined question of who gets how much of what they prefer in ‘the authoritative allocation of values.’” (SCHUMAKER / GETTER 1977: 253, Herv. im Orginal) Responsivität ist nur dann „unbiased“, d.h. gerecht, wenn jedem im selben Maß das gegeben wird was er auch wirklich braucht.
Die bisher vorgestellten Arbeiten zur Responsivitätsforschung haben sich nicht mit dem Problem der Verteilungsgerechtigkeit beschäftigt. Es gibt nur eine Responsivitätsstudie die dies bisher explizit getan hat. Sie stammt von SCHUMAKER und GETTER (1977). Zwei weitere Arbeiten haben die Frage nach der unterschiedlichen Repräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen aufgeworfen, ohne dies jedoch explizit in die Gerechtigkeitsdiskussion einzuordnen. Sie untersuchen Einstellungskongruenzen zwischen Bürgern und Eliten. Die eine stammt von VERBA und NIE (1987, erstmals 1972) die zweite Arbeit von ARZBERGER (1980).
1.3.3. ARZBERGER (1980): Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik
Die Arbeit von ARZBERGER (1980): „Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik“ stellt eine Kombination von Elitenstudie und Responsivitätsstudie dar. Die Studie ist vergleichend angelegt. Es wurden insgesamt sechs Repräsentativbefragungen und Elitebefragungen in Gemeinden unterschiedlicher Größenklassen durchgeführt. Ergänzt wurden diese Befragungen um die statistische Erfassung des Infrastrukturangebots und eine Analyse der Lokalberichterstattung der Tageszeitungen. „Das allgemeine Ziel des Projektes bestand darin, die kommunalpolitisch relevanten Bedürfnisse und Erwartungen der Bürger detailliert zu erfassen und deren Zustandekommen und Veränderungen zu erklären.“ ( ARZBERGER 1980: 18) Es handelt sich also nicht um eine Responsivitätsstudie im engeren Sinne, da die Einstellungen der Bürger hier nicht als unabhängige, sondern als abhängige Variable betrachtet werden. Die Einstellungen der Eliten und der Outcome werden in dieser Studie zwar auch untersucht, aber eben nicht in Abhängigkeit von den Einstellungen der Bürger, sondern als diese beeinflussende Größen. „Die Ursachen für die unterschiedlichen Bedürfnisse, Einst ellungen und Verhaltensformen sollten zum einen in den Merkmalen der Person selbst, zum anderen im Vorhandensein oder im Mangel an bestimmten Einrichtungen und Leistungen in der sozialen Umwelt ermittelt werden. [...] Als dritter möglicher Einflussfaktor, dessen relatives Gewicht es festzustellen galt, wurde die Berichterstattung in den Lokalteilen der Tageszeitungen in die Untersuchung einbezogen.“ ( ARZBERGER 1980: 19) Die jeweiligen lokalen Eliten sollten zum einen ebenfalls als erklärender Faktor für die Erwartungen der Bürger, zum anderen als Vergleichsmaßstab für diese betrachtet werden. Diese Vergleiche der Einstellungen der Eliten und verschiedener Bürgergruppen sind für die Fragestellung meiner Arbeit relevant. Als Persönlichkeitsmerkmale der Bürger wurden untersucht: Alter, Geschlecht und soziale Herkunft.
Auch in der Elitendefinition weicht diese Studie von dem sonst üblichen Verständnis in der Responsivitätsforschung ab. Als Elite werden nicht die Parlamentarier verstanden. In der Tradition der „co mmunity power“-Forschung identifiziert Arzberger die Eliten mit einer Kombination aus Positions- und Reputationsansatz (ARZBERGER 1980: 29ff). Die von ihm auf diese Art und Weise identifizierten Personen gehören unterschiedlichen Sektoren an. Die Zusammensetzung der Positionen variiert etwas in den untersuchten Gemeinden, sie umfasst jedoch nie das gesamte Kommunalparlament, sondern nur die wichtigsten Personen darin, wie z.B. die Fraktionsvorsitzenden. Die von ihm gefundenen Zusammenhänge sind aus diesen Gründen nur mit Einschränkungen für die vorliegende Arbeit relevant.
Zunächst hat ARZBERGER versucht, Differenzen im Anspruchsniveau unterschiedlicher Bürgergruppen zu identifizieren. Zu 57 Items wurde abgefragt, ob weniger, gleich viel oder mehr ausgegeben werden soll. Nur selten wurde „weniger“ genannt, daher wird das Anspruchsniveau nach der Anzahl der Nennungen „mehr“ ausgeben berechnet und geht daher von 0 bis 57. Die Eliten bekamen von den 57 Items nur 18 gestellt. Für die Erklärung des Anspruchsniveaus erweist sich bei den Bürgern das Alter, das Bildungsniveau bzw. eng damit zusammenhängend die soziale Herkunft und in etwas geringerem Umfang das Geschlecht als relevant. Junge Männer mit hohem Bildungsniveau zeichnen sich demnach durch besonders hohe Ansprüche aus. Mit einem hohen Anspruchsniveau geht eine schlechte Beurteilung der Stadtverwaltung einher, das weist darauf hin, dass die Bürger die Stadtverwaltung für die Bereitstellung verantwortlich machen.
Das Forderungsniveau der Bürger liegt über dem Bewilligungsniveau der Eliten, und das, obwohl die Eliten sich aus den Bevölkerungsschichten rekrutieren, die das höchste Forderungsniveau haben.
Es wurde der Rangkorrelationskoeffizient sowohl für zehn Politikfelder als auch für 18 Detailmaßnahmen bzw. Einrichtungen berechnet. Dabei ergab sich ein uneinheitliches Bild über alle Eliten und alle Bürger. Bezüglich der Politikfelder nahm die Korrelation bei abnehmender Gemeindegröße zu von 0,01 bis 0,64. Bei den Dateilmaßnahmen war die Korrelation in den Kleinstädten am geringsten (s. ARZBERGER 1980: 145f). Neben der Gegenüberstellung von Eliten und Bürgern als Einheit wurden auch Vergleiche der Eliten mit einzelnen Bürgergruppen durchgeführt. „Als das entscheidende Merkmal erweist sich dabei für die Bürgerseite der Bildungsgrad. Je höher dieser ist, desto besser wird auch die Übereinstimmung bei der Setzung kommunalpolitischer Prioritäten sowohl mit den Eliten insgesamt als auch - mit einer einzigen Ausnahme - mit allen ihren hier untersuchten Untergruppen. Die zu zwei Dritteln aus Akademikern bestehenden lokalen Eliten stimmen in ihrer Problemsicht also am besten mit den Akademikern unter den ‚Normalbürgern’ überein.“ (ARZBERGER 1980: 148)
Die Bedürfnisse der Männer stimmen besser mit den Eliten überein als die der Frauen, was bei 98% Männern unter den lokalen Eliten auch nicht verwundert. Ebenfalls besser repräsentiert werden die „opinion leader“, also die Personen, die im politischen Bereich besonders aktiv sind. Ihre Korrelation ist fast so hoch wie bei den Hochschulabsolventen, obwohl sie nicht die Bildungselite darstellen. Beim Alter wird die Gruppe zwischen 25 und 34 Jahren am besten repräsentiert. Es gibt jedoch keinen linearen Zusammenhang. Bei der Gruppe der 55- bis 64- Jährigen zeigt sich die geringste Übereinstimmung10.
Tabelle 3: Bürger und Eliten: Vergleich der Prioritätensetzungen für zehn Aufgabenbereiche
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Werte sind Rangkorrelationen zwischen den Prioritätensetzungen der jeweiligen Bürger- und Elitengruppen. Tabelle entnommen aus ARZBERGER 1980:149
Seine Ergebnisse fasst ARZBERGER (1980: 153) so zusammen:
„Der Aufstieg in politische, administrative, wirtschaftliche oder g esellschaftliche Führungspositionen und der damit einhergehende Wandel von persönlichen und sachlichen Bezugshorizonten setzt die wahrnehmungs- und interessensteuernde Wirksamkeit solcher Merkmale wie des Geschlechts, des Alters, der sozialen Herkunft oder des Bildungsniveaus nicht wesentlich herab. Die gemeinsame Zugehörigkeit zur gleichen Alters- oder Geschlechtsgruppe, zur gleichen Bildungsstufe oder sozialen Schicht schafft Konvergenzen in den kommunalpolitischen Zielen, die durch die Trennlinie zwischen den Entscheidungen fällenden Eliten und den von Entscheidungen betroffenen „Normalbürgern“ nur zum Teil berührt werden. [...] Die Bildungsbürger und Oberschichten wollen ähnliche Dinge wie die Eliten, aber sehr viel mehr davon als diese. [...] Die unteren Schichten hingegen überfordern die Stadtväter quantitativ nicht, haben aber etwas andere Zielvorstellungen als jene.“
1.3.4. VERBA und NIE (1987): Participation in America. Political Democracy and Social Equality
VERBA und NIE (1987) untersuchen in ihrer Arbeit „Participation in America. Political Democracy and Social Equality“ für 64 amerikanische Gemeinden den Einfluss von Partizipation auf die Responsivität der Eliten. Zwischen sieben und neun Eliten wurden pro Gemeinde befragt. Wie bei ARZBERGER (1980) handelt es sich nicht nur um Parlamentarier, sondern um Personen aus unterschiedlichen Sektoren, die mit der Positionsmethode ausgewählt wurden. Obwohl die Einstellungen der Eliten untersucht werden, handelt es sich um eine Makrostudie, da nicht die Einstellungen der einzelnen Eliten sondern nur der Elite als ganzes interessieren.
„We will measure the extend to which community leaders agree with the citizenry as to the most important problems facing the community and the extend to which the leaders act on these problems.“ (VERBA/NIE 1987: 301) Sie betrachten die Messung von Einstellungskongruenzen als Ersatz für den Policy-Output, dessen Ermittlung ihnen zu aufwendig war. Die Datenerhebung erfolgte in Form von offenen Fragen nach dem wichtigsten Problem in der Kommune. Die Führungskräfte wurden weiterhin gefragt, welches das wichtigste Problem aus Sicht der Bürger sei und für die Lösung welcher Probleme sie sich am meisten Zeit genommen hätten. Die Antworten wurden 25 Kategorien zugeordnet.
Das Maß der individuellen Kongruenz der Bürger wird so berechnet:
Gleichung 1: Berechnung der Kongruenz bei VERBA/NIE (1987)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dieses Maß drückt aus, wie viel Prozent der Entscheider dasselbe Problem als das wichtigste bzw. als eines der zwei wichtigsten erkennen, wie der Befragte selbst. Dabei wird, wenn der Befragte mehrere Probleme genannt hat, nur das Problem berücksichtigt, das am häufigsten von den Entscheidern genannt wurde. Als Maß für alle Befragten wird der Durchschnitt berechnet. „In short, the concurrence score for a community can be thought of as a measure of the relative frequency with which the problems reported by the citizens of a community are also reported by the leaders.”(VERBA / NIE 1987: 413)
Sie untersuchen die Übereinstimmung von Bürgern und Eliten sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Auf der individuellen Ebene kommen sie zu folgenden Ergebnissen:
1. Die Partizipationsrate ist der stärkste Erklärungsfaktor für den berechneten „concurrence score“. Partizipation führt zu höherer Übereinstimmung.
2. Höherer sozio-ökonomischer Status geht mit höherer Übereinstimmung einher.
3. Die Einstellungen von Männern stimmen stärker mit den Eliten überein als die von Frauen.
4. Die höchste Übereinstimmung findet sich in der Altersklasse der 30- bis 60-Jährigen (VERBA/NIE 1987: 306f, 330ff).
In einem zweiten Schritt untersuchten sie, ob der Zusammenhang zwischen Partizipation und dem von ihnen verwendeten Responsivitätsmaß, dem „concurrence score“, von einem dritten Faktor verursacht wird. Dazu korrigieren sie den Zusammenhang um das Alter, das Geschlecht und den sozio-ökonomischen Status. Die Erklärungsleistung der Partizipationsvariablen nimmt nur minimal ab.
Als drittes untersuchen sie, wie stark der Einfluss des sozio-ökonomischen Status ist, wenn die individuelle Partizipationsrate kontrolliert wird. Partizipation ist in der Bevölkerung nicht gleichmäßig verteilt. Es partizipieren hauptsächlich Personen mit höherem sozioökonomischen Status, daher, so die nahe liegende Hypothese, schafft nicht die Partizipation die bessere Übereinstimmung der Einstellungen, sondern die soziale Nähe zwischen Partizipanten und Eliten. Doch diese Hypothese wird von ihnen klar widerlegt: „we see the relationship between socioeconomic status and concurrence disappear when one controls for the participation level of the citizens at various socioeconomic levels.“ (VERBA/NIE 1987: 307f) Damit scheint eindeutig geklärt, dass nicht die soziale Nähe zu einer besseren Repräsentation führt, sondern die individuelle Partizipation.
1.3.5. SCHUMAKER und GETTER (1977): Responsiveness Bias in 51 American Communities
Mit der in Kapitel 1.3 dargestellten Gerechtigkeitsdefinition untersuchen SCHUMAKER und GETTER (1977) in ihrer Arbeit „Responsiveness Bias in 51 American Communities“ die Ungerechtigkeit in 51 amerikanischen Kommunen. “The major questions being addr essed in these relatively new research areas concern the degree to which governments adopt policies which are congruent with the preferences of their citizens and the degree to which policy benefits are distributed equally among various community subpopulations.” (SCHUMAKER
[...]
1 FAHRA (1980) hat dies getan und ist mit ihrem Ansatz gescheitert.
2 Unecht ist diese Teilortswahl deshalb, weil über Ausgleichsmandate sichergestellt wird, dass die Ergebnisse der einzelnen Listen sich am Ende in der Sitzverteilung widerspiegeln (siehe GemO §27; LÖFFLER / ROGG 2000: 113).
3 Dies ist vor allem in kleineren Gemeinden noch der Fall, in denen Beschlüsse häufig einstimmig gefasst werden.
4 Dies führt zu sehr geringen Fallzahlen pro Distrikt (in den meisten Fällen unter 20)
5 Eingeschränkt wird dieses Ergebnis dadurch, dass für die Wähler der FDP/DVP und der Republikaner aufgrund der geringen Fallzahl kein Bevölkerungsdurchschnitt berechnet werden konnte.
6 ARZBERGER arbeitet mit einer anderen Elitendefinition als in der Responsivitätsforschung üblich. Siehe dazu Kapitel 1.3.3.
7 Die Ergebnisse von FAHRA’ s (1980) Studie über den deutschen Bundestag werden hier nicht präsentiert, da sie aufgrund des methodischen Designs gar nicht in der Lage war Unterschiede in der Responsivität für deutsche Abgeordnete angemessen zu untersuchen. Da Sie das Abstimmungsverhalten der Fraktion als Ersatz für nicht vorhandene Informationen über das Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneter nutzte, kann sie letztlich nur Aussagen über die Responsivität einzelner Parteien gegenüber der Bevölkerungsmeinung in den einzelnen Wahlkreisen machen. Der Nutzen einer solchen Information bleibt fraglich.
8 Auf kommunaler Ebene wurde dieses Design vielfach angewendet, z.B. BRETTSCHNEIDER 1997, FRERK 1997, WALTER 1997, GABRIEL u.a. 1992 und 1993, VERBA / NIE 1987, ARZBERGER 1980
9 Zur Bedeutung von Vereinigungen im kommunalen Willensbildungsprozess siehe auch HERBERT 1994: 30ff
10 Die genauen Zusammenhangsmaße zwischen allen untersuchten Gruppen sind Tabelle 3 zu entnehmen.
- Citation du texte
- Bernhard Payk (Auteur), 2002, Studie zur Gerechtigkeit in der Kommunalpolitik Responsivitätsunterschiede der Vaihinger Räte gegenüber verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42628
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