Der Naturalismus im Drama ist eine zu Unrecht vernachlässigte Literaturperiode in Großbritannien und Irland. Drei der interessantesten Stücke werden hier untersucht und insbesondere auf die Darstellung ihrer Frauenfiguren hin untersucht.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung: Frauen und Frauenfiguren zur Zeit des Naturalismus
II. John Millington Synge, The Shadow of the Glen (1903)
a. Kurzinhalt
b. Nora Burke
III. John Galsworthy, Strife (1909)
a. Galsworthys Charaktere in der Kritik
b. Kurzinhalt
c. Enid Underwood
d. Madge Thomas
e. Annie Roberts
f. Vergleich der Figuren miteinander und mit Synges Nora Burke
IV. Stanley Houghton, Hindle Wakes (1912)
a. Kurzinhalt
b. Fanny Hawthorn
c. Mrs. Hawthorn
d. Beatrice Farrar
e. Vergleich der Figuren miteinander, mit Synges Nora Burke und den Figuren aus Strife
V. Zusammenfassung
VI. Bibliographie
I. Frauen und Frauenfiguren zur Zeit des Naturalismus
[a] human being is the best plot there is […] [t]ake care of character; action and dialogue will take care of themselves![1]
Im Drama sind die erzählerischen Möglichkeiten des Autors oft beschränkt. Meist gibt es keinen auktorialen Erzähler, und Handlungsstrang, Gefühle, Intentionen der Figuren und des Autors müssen aus dem Bühnengeschehen hervorgehen. Wohl die wichtigste Rolle spielen dabei die Figuren, die mit ihrem Charakter, ihrer Sprache, ihren Bewegungen, ihrer Mimik und ihrem Verhalten den Zuschauer in das Stück eintauchen lassen, ihn berühren und mitreißen.
Da es zu den Wesensmerkmalen des Naturalismus gehört, die Charaktere in ihrem realen, detailgetreu nachgestalteten Umfeld, im Spannungsfeld ihrer Beziehungen, ihres Milieus und des Zeitgeists zu zeigen bieten naturalistische Dramen sehr komplexe und interessante Charaktere. Auch die lokalen Besonderheiten der Orte, wie Dialekte, Sagen und typische Probleme, flossen in die Stücke mit ein. Es wurde versucht, die Charaktere so genau und detailgetreu wie möglich zu zeigen. So bieten die Stücke eine große Menge an Hintergrundinformationen, die eine Charakterisierung der Figuren erleichtern.
In dieser Arbeit sollen die aktiven Frauenfiguren dreier Stücke, die dem englischen Naturalismus zugerechnet werden können, charakterisiert und miteinander verglichen werden. Sie wurden zu einer Zeit (1903-1912) in Großbritannien geschrieben, in der die Gleichberechtigung der Frauen langsam begann, ein Thema zu werden. Die Suffragettenbewegung kämpfte für das Wahlrecht der Frauen, und seit 1856/57 war es auch Frauen erlaubt, sich scheiden zu lassen, wenn auch unter schwereren Bedingungen als denen, unter denen dies für Männer möglich war. Seit dem Married Women Property Act von 1860 ging das Vermögen der Frau bei einer Heirat nicht mehr automatisch auf den Mann über. Schritt für Schritt erhielten die Frauen ein gewisses Maß an Selbständigkeit und sozialer Sicherheit, selbst wenn sie nicht verheiratet waren. Der Normalfall war aber natürlich eine Heirat, vor allem für die Frauen der Mittelschicht. Ehefrau zu sein, war für sie die höchstmögliche soziale Position. Als Ehefrau wurde man dafür respektiert, dass man den Ehemann von allen häuslichen Pflichten entband, so dass er sich von seiner Arbeit erholen konnte. Die Ehen in der Mittelschicht wurden meist von den Eltern arrangiert.
Ganz anders sah die Situation für die Frauen der Arbeiterklasse aus, die oft neben ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter noch in den Fabriken und auf den Feldern arbeiten gingen. Sie konnten sich im Notfall selbst versorgen, und obwohl die gesellschaftlichen Konventionen immer noch vorsahen, dass man heiratete, so konnten doch die Partner weitgehend frei gewählt werden. Liebesheiraten waren etwas, wovon die höher gestellten Frauen der Mittel- und Oberschicht nur träumen konnten.
Das Ideal der Frauenbewegung zu dieser Zeit war die sogenannte new woman, eine Frau, die sich durchsetzen kann und ihren eigenen Weg geht; die seelische und physische Bedürfnisse hat und diese auch befriedigt, ganz gleich, ob sie verheiratet ist oder nicht. Die Situation der Frauen und das Phänomen new woman wird von Emma Goldman in einem Text von 1914 über Stanley Houghtons Hindle Wakes wie folgt umschrieben:
To be sure, the attitude towards this holy of holies[2] has of late years undergone a considerable change. It is beginning to be felt in ever-growing circles that love is its own justification, requiring no sanction of either religion or law. The revolutionary idea, however, that woman may, even as man, follow the urge of her nature, has never before been so sincerely and radically expressed. […]But a new type of girlhood is in the making. We are developing the Fannies who learn in the school of life, the hardest, the cruelest and at the same time the most vital and instructive school. […] [w]e have gone on for centuries believing that woman's value, her integrity and position in society center about her sex and consist only in her virtue, and that all other usefulness weighs naught in the balance against her "purity"[.] If she dare express her sex as the Fannies do, we deny her individual and social worth, and stamp her fallen.[3]
Nicht nur Houghtons Fanny, sondern auch andere Figuren der drei in Betracht stehenden Stücke sind in der Problematik von Heirat, Beziehung und new woman verhaftet. Deswegen wird es eine Aufgabe dieser Arbeit sein, die Figuren hinsichtlich ihrer Qualifizierung als new woman zu vergleichen. Außerdem wird versucht werden, Unterschiede herauszuarbeiten, die vom historischen Verlauf herrühren. Daher erfolgt die Untersuchung der Stücke in chronologischer Reihenfolge. Möglicherweise werden sich auch ethnische Besonderheiten niederschlagen, da Synges Stück in Irland und die beiden anderen in England spielen.[4] Die Auswahl der zu charakterisierenden „aktiven Frauenfiguren“ erfolgte hinsichtlich des Grades an Selbstbestimmung der Figur, bzw. im Falle Annie Roberts angesichts der Wichtigkeit der Figur für den Verlauf des Stückes und als Verdeutlichung der Charakterzüge der anderen Figuren. Die Figuren werden sowohl innerhalb eines Stückes, als auch mit den Figuren der anderen Stücke verglichen und die Ergebnisse am Ende zusammengefasst.
II. John Millington Synge, The Shadow of the Glen (1903)
a. Kurzinhalt
John Millington Synges Einakter The Shadow of the Glen wurde von einer lokalen Legende um eine untreue Ehefrau inspiriert. Im Stück sucht ein junger Tramp Zuflucht in einem Bauernhaus weit außerhalb eines Dorfes. Nora Burke, die Frau des Hauses empfängt ihn mit der typisch irischen Gastfreundlichkeit, obwohl sie glaubt, dass ihr Mann gerade gestorben ist und der vermeintliche Leichnam nur mit einem Tuch bedeckt im Bett liegt. Nora ist mit einem viel älteren Bauern verheiratet, mit dem sie kaum liebevolle Gefühle verbinden. Vielmehr hatte sie sich in den langen Stunden, die ihr Mann außer Haus verbringt, um die Schafe zu hüten und anderer Arbeit nachzugehen, mit einem Schafhirten angefreundet, den auch der Tramp kennt. Nach dessen Tod ist Nora nun sehr einsam. Sie bittet den Tramp, beim Leichnam ihres Mannes zu wachen, um nun endlich Hilfe aus dem Dorf zu holen. Während ihrer Abwesenheit offenbart sich ihr Mann Daniel dem Tramp und gesteht, dass er nicht wirklich tot ist, sondern seiner Frau nur ihre angeblichen Affären heimzahlen und sie verprügeln will. Nora kehrt mit einem Nachbarn, Michael Dara zurück und hält mit ihm die Totenwache. Dabei zählen sie das Geld, das Nora von ihrem Mann erben wird und Michael hält um ihre Hand an. Der vermeintliche Tote gibt nun seine Tarnung auf und wirft Nora hinaus. Sie ist verzweifelt, weil sie sich vermutlich nicht alleine wird durchschlagen können, aber der Tramp bietet ihr an, mit ihm gemeinsam zu leben und umherzuwandern und Nora willigt ein. Das Stück endet mit einer Versöhnung von Daniel Burke und Michael Dara, während Nora mit dem Tramp in die Welt hinauszieht.
b. Nora Burke
Nora Burke ist in einigen Belangen eine typische Irin, bzw. besitzt Eigenschaften, die Iren zugeschrieben werden: Sie ist sehr gastfreundlich (“Good evening kindly, stranger, it’s a wild night, God help you, to be out in the rain falling.”[5]) und bewirtet den Tramp, obwohl sie glaubt, gerade ihren Mann verloren zu haben und obwohl seine “Leiche” noch im Haus ist; gottesfürchtig („saying a prayer for his soul“), aber auch ein wenig abergläubisch:
I was afeard, stranger, for he put a black curse on me this morning if I’d touch this body the time he’d die sudden, or let anyone touch it except his sister only, and it’s ten miles away she lives, in the big glen over the hill.
Sie hat den viel älteren Daniel geheiratet, um Sicherheit und ein wenig Geld zu haben, nicht aus Liebe: “What way would I live and I an old woman if I didn’t marry a man with a bit of a farm, and cows on it, and sheep on the back hills?” Ihre Ehe ist daher auch sehr unglücklich: “[…] he was always cold, every day since I knew him, - and every night, stranger – […]”. Das erklärt auch, warum sie nicht wirklich um ihren Mann trauert. Sie befolgt zwar die gesellschaftlichen Konventionen (“God forgive him”), ist aber vom Ableben ihres Mannes nicht sonderlich betrübt. Vielmehr sorgt sie sich hauptsächlich darum, wie sie jetzt alleine zurechtkommen soll: “[…] and there I am now with a hundred sheep beyond on the hills, and no turf drawn for the winter”. Ja, sie macht sich sogar über ihren Mann lustig: „[...] he made a great lep, and let a great cry out of him, and stiffened himself out the like of a dead sheep.“, „He was always queer, stranger, and I suppose them that’s queer and they living men will be queer bodies after.”
Das Leben mit ihrem Mann, oft alleingelassen und weit weg von allen Nachbarn hat sie stark, selbstbewusst und energisch gemacht. Sie hat keine Angst vor fremden Menschen. Vielmehr fürchtet sie sich vor der Einsamkeit und den Schrecken, die dann draußen lauern könnten:
I’m thinking many would be afeard, but I never knew what way I’d be afeard of beggar or bishop or any man of you at all. It’s other things than the like of you, stranger, would make a person afeard.
Als der Schafshirt Patch Darcy, mit dem sie sich angefreundet hatte und der sie regelmäßig besuchen kam, auf mysteriöse Weise in den Bergen starb, glaubte sie nicht an das Geschwätz der Leute: “There were great stories of what was heard at that time, but would anyone believe the things they do be saying in the glen?” Nach seinem Tod hat sie sich mit der Einsamkeit abgefunden: “[…] and then I got happy again – if it’s ever happy we are, stranger – for I got used to being lonesome.” Ihre starke Seite zeigt sich auch in der Bewunderung durch ihren Mann: “Did you ever hear another woman could whistle the like of that with two fingers in her mouth?” und den Tramp, der sie als “[…] a grand woman to talk” beschreibt.
Doch Nora hat auch eine schwache Seite. Sie fürchtet sich vor der Einsamkeit (“[…] isn’t a dead man itself more company than to be sitting alone, and hearing the winds crying, and you not knowing on what thing your mind would stay?”) und ist auch deswegen unzufrieden mit ihrer Ehe:
I do be thinking, in the long nights it was a big fool I was that time, […] for what good is a bit of a farm with cows on it, and sheep on the back hills, when you do be sitting, looking out from a door the like of that door, and seeing nothing but the mists rolling down the bog, and the mists again, and they rolling up the bog, and hearing nothing but the wind crying out in the bits of broken trees were left from the great storm, and the streams roaring with the rain?
Ihre Kinderlosigkeit trägt vermutlich mit zu ihrer Unzufriedenheit bei, denn einerseits gehört es zum irischen Idealbild der Frau dieser Zeit, Mutter zu sein,[6] andererseits kann ein Kind Gesellschaft, Wärme und Zärtlichkeit bieten. Nora ist an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, wo sie sich fragt, was sie erreicht hat. Sie vergleicht sich mit ihren Altersgenossinnen und grübelt, ob die Ehe mit Daniel die richtige Entscheidung war. Andererseits sieht sie auch, wie es anderen unverheirateten Frauen ergeht:
[...] to look on Mary Brien who wasn’t that height, and I a fine girl growing up, and there she is now with two children, and another coming on her in three months or four […] to look on Peggy Cavanagh, who had the lightest hand at milking a cow that wouldn’t be easy, or turning a cake, and there she is now walking round on the roads, or sitting in a dirty old house, with no teeth in her mouth, and no sense, and no more hair than you’d see on a bit of a hill and they after burning the furze from it.
Nora hat auch Angst vor dem Altern und fühlt sich mit dem alten Daniel unwohl:
It’s a pitiful thing to be getting old, but it’s a queer thing surely… It’s a queer thing to see an old man sitting up there in his bed, with no teeth in him, and a rough word in his mouth, and his chin the way it would take the bark from the edge of an oak board you’d have building a door… God forgive us, Michael Dara, we’ll all be getting old, but it’s a queer thing surely.
Aus dieser Situation heraus ließ sie sich mit Patch Darcy ein, wobei nie genau geklärt wird, wie eng ihr Verhältnis wirklich war. Maurice Bourgeois interpretiert die Beziehung zu Darcy als ein Zeichen für Noras Suche nach Ablenkung und neuen Horizonten:
Hers is less the love-yearning of the woman who knows the world sexually than the poetic desire for the something new or exciting which may relieve the oppression of solitude. […] The shattered ideals and thwarted aspirations of all humanity speak through her as she sits an inscrutably sad woman above the ruins of the her world.[7]
Trotzdem mag es durchaus sein, dass Nora auch ein sexuelles Verhältnis mit Darcy hatte. Ihre Erklärung Michael Dara gegenüber deutet das jedenfalls an:
It’s in a lonesome place you do have to be talking with someone and looking for someone, in the evening of the day, and if it’s a power of men I’m after knowing they were fine men, for I was a hard child to please, and a hard girl to please, and it’s a hard woman I am to please this day, Michael Dara, and it’s no lie, I’m telling you
[...]
[1] John Galsworthy, “Platitudes”, zitiert in Weiss, Rudolf: Der Januskopf der traditionellen Moderne: Die Dramenästhetik St. John Hankins und John Galsworthys. Trier: Wiss. Verlag Trier, 2002., S. 156
[2] [i.e. women’s virtue]
[3] Goldman, Emma: The Social Significance of the Modern Drama. Boston: The Gorham Press, 1914. auf http://sunsite.berkeley.edu/Goldman/Writings/Drama/hindle.html (22.02.2005)
[4] Galsworthys Strife spielt zumindest an der Grenze zu, wenn nicht direkt in Wales. England und Wales werden aber oft als eine Einheit betrachtet und auch in diesem Stück kommen die Mächtigen aus London.
[5] Alle Zitate in diesem Kapitel, sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen aus Saddlemyer, Ann (ed.): J.M. Synge. Collected Works. Plays. Book I, London: Oxford University Press, 1968.
[6] Quinn, Antoinette: Staging the Irish Peasant Woman: Maud Gonne versus Synge. In: Grene, Nicholas (Hrsg.): Interpreting Synge. Essays from the Synge Summer School 1991-2000. Dublin: The Lilliput Press, 2000. S. 128
[7] Bourgeois, Maurice: John Millington Synge and the Irish Theatre. London: Constable and Company Ltd., 1913. S. 147ff
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