Problemstellung
Kulturwissenschaftliche Studiengänge verzeichnen seit ihrer Einrichtung eine enorme Nachfrage seitens der Studierenden. Dieser umfassenden Attraktivität steht die Heterogenität des Faches gegenüber und erschwert die Bildung eines disziplinären Selbstverständnisses, welches wiederum die Voraussetzung für eine wirkungsvolle hochschulpolitische Interessenvertretung wäre. In dieser Arbeit soll das Problem des Selbstverständnisses aufgegriffen werden, indem zum einen die historische Anthropologie als historische Teildisziplin innerhalb der Kulturwissenschaft mit der geschichtswissenschaftlichen Methodologie konfrontiert wird, wie sie die Annales-Schule vertritt. Zum anderen ist zu erörtern, ob und inwiefern sich Entstehung und Wandel dieser Schule (im Hinblick auf ihre akademische Institutionalisierung) als Modelle für die universitäre Konsolidierung der Kulturwissenschaft eignen. Entgegen der Vorgehensweise der Annales-Schule werden dazu zunächst einige ihrer zentralen Personen aufgeführt, wobei die Gründergeneration durch Febvre und Bloch und die Generation der Bewahrer durch Braudel vertreten sind. Die dritte Generation der Reformer und Revolutionäre kann wegen der Vielfalt und Fragmentierung ihrer Positionen hier nicht zur Sprache kommen. Da Personen zu Einrichtungen und jene zu Schulen sich gleichsam aggregieren, werden in der Folge bedeutende Organe und erst dann inhaltliche Charakteristika und Grenzen der Annales-Bewegung (AB), denn so möchte ich sie auffassen, behandelt. Dabei wird die methodologische Kritik der historischen Anthropologie besonderes Gewicht erhalten.
1 Inhaltsverzeichnis
2 Problemstellung
3 Die Ecole des Annales als Institution
3.1 Personen
3.1.1 Lucien Febvre – Der forsche Gründer
3.1.2 Marc Bloch – Der stille Gründer
3.1.3 Fernand Braudel – Der Bewahrer
3.1.4 Exkurs: Akademische Schulen und Hagiographien
3.2 Organe
3.2.1 Annales d'histoire économique et sociale
3.2.2 Ecole Pratique des Hautes Etudes
4 Die Ecole des Annales als Disziplin
4.1 Charakteristika
4.2 Grenzen
4.3 Sozialgeschichte und historische Anthropologie
4.3.1 Verhältnis zur Moderne
4.3.2 Strukturen vs. Kulturen
4.3.3 Periodisierung vs. anthropologische Grundformen
4.3.4 Institutionalisierung
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
2 Problemstellung
Kulturwissenschaftliche Studiengänge verzeichnen seit ihrer Einrichtung eine enorme Nachfrage seitens der Studierenden. Dieser umfassenden Attraktivität steht die Heterogenität des Faches gegenüber und erschwert die Bildung eines disziplinären Selbstverständnisses, welches wiederum die Voraussetzung für eine wirkungsvolle hochschulpolitische Interessenvertretung wäre.
In dieser Arbeit soll das Problem des Selbstverständnisses aufgegriffen werden, indem zum einen die historische Anthropologie als historische Teildisziplin innerhalb der Kulturwissenschaft mit der geschichtswissenschaftlichen Methodologie konfrontiert wird, wie sie die Annales-Schule vertritt. Zum anderen ist zu erörtern, ob und inwiefern sich Entstehung und Wandel dieser Schule (im Hinblick auf ihre akademische Institutionalisierung) als Modelle für die universitäre Konsolidierung der Kulturwissenschaft eignen.
Entgegen der Vorgehensweise der Annales-Schule werden dazu zunächst einige ihrer zentralen Personen aufgeführt, wobei die Gründer generation durch Febvre und Bloch und die Generation der Bewahrer durch Braudel vertreten sind. Die dritte Generation der Reformer und Revolutionäre kann wegen der Vielfalt und Fragmentierung ihrer Positionen hier nicht zur Sprache kommen. Da Personen zu Einrichtungen und jene zu Schulen sich gleichsam aggregieren, werden in der Folge bedeutende Organe und erst dann inhaltliche Charakteristika und Grenzen der Annales- Bewegung (AB), denn so möchte ich sie auffassen, behandelt. Dabei wird die methodologische Kritik der historischen Anthropologie besonderes Gewicht erhalten.
3 Die Ecole des Annales als Institution
3.1 Personen
Wenngleich es zu den zentralen Forderungen der AB gehörte, die historische Bedeutung von Personen zugunsten der strukturellen Determinanten ihres Verhaltens hintan zu stellen, so ist das Ziel dieses Abschnittes doch mehr eine kulturwissenschaftliche Dekonstruktion als eine Beurteilung der historischen Bedeutung und akademischen Funktion dieser Richtung. Es wird daher vom Besonderen zum Allgemeinen, von der Einzelperson (Mikroebene), wenn auch gewiss in all ihren historischen Verstrickungen, über die Institutionen (Mesoebene) bis hin zur »Herrschenden Lehre« (Makroebene) der AB fortgeschritten.
3.1.1 Lucien Febvre – Der forsche Gründer
Febvre wurde 1878 in Nancy geboren. Im Alter von 19 Jahren immatrikulierte er sich an der Ecole Normal Superieure, einem elitären Institut, an dem u.a. Henri Bergson und Lucien Levy-Bruhl lehrten. Während Febvre zu Bergson Abstand hielt, wurde Levy-Bruhl für seine spätere Hinwendung zu sozialpsychologischen Fragstellungen bedeutsam. Bereits Febvres Dissertation zeichnet den Forschungsstil vor, den er in die AB einbrachte: Äußerlich eine regionalhistorische Arbeit, die sich mit Febvres Heimatregion zur Zeit Phillips II. befasst, handelt es sich im Kern um eine sozialhistorische Analyse, in der sich die regionale Zurichtung letztlich als Aufhänger für eine grundlegende Erörterung des Neben- und Gegeneinanders zweier sozialer Klassen als Triebkraft für Entwicklung erweist[1]. Kennzeichnend ist zudem, dass Lokalität vor allem durch geographische Bezüge hergestellt wird. Hier griff Febvre in Entgegnung auf den deutschen Geographen Ratzel einer modernen Auffassung von Humangeographie vor, indem er die Gestaltungsmacht des Menschen in einem gegeben Raum betonte und sich von einem geographischen Determinismus absetzte.
Die Linie seiner Doktorarbeit führte Febvre in seiner Habilitationsschrift fort, die er 1911 eineichte, bevor er 1914 bis 1918 Kriegsdienst leistete. Unmittelbar danach erhielt er eine Professur in Straßburg, wo er auf Marc Bloch traf. Die folgenden 14 Jahre können als maßgeblich für die Entstehung der AB gelten. 55-jährig wird Febvre schließlich im Jahre 1933 Professor am angesehenen College de France, nach dem zweiten Weltkrieg, an welchem er im Gegensatz zu Marc Bloch nicht aktiv teilnimmt, wird ihm die Gründung einer Abteilung an der Ecole Pratique des Hautes Etudes übertragen. Die Aufgaben des Hochschulmanagements nahmen Febvre derart ein, dass ihm bis zu seinem Tod im Jahr 1956 kaum noch Zeit für seine wissenschaftliche Arbeit blieb. Anders als Bloch wird Febvre als „[...] expansiv, ungestüm und kampfeslustig [...][2] “ beschrieben. Er wird daher hier als »forscher Gründer« bezeichnet.
3.1.2 Marc Bloch – Der stille Gründer
Marc Bloch wurde 1886 in Paris geboren, wo sein Vater eine Professur für Geschichte an der Sorbonne innehatte. Sein akademischer Werdegang ähnelt stark dem Febvres und wie jener diente auch Bloch in den Jahren 1914-1918 an der Front. Im Unterschied zu Febvre absolvierte Bloch einen Teil seiner Studien in Deutschland, namentlich in Leipzig bei dem Psychologen Wundt, welcher bereits Durkheim inspiriert hatte. Bereits mit 34 Jahren erhielt Bloch 1920 eine Professur in Straßburg, wo er rasch Freundschaft mit Febvre schloss. Bezeichnend ist die Aussage, ihre Arbeitszimmer hätten nebeneinander gelegen und die Türen immer offen gestanden[3]. 1936 wurde Bloch an die Sorbonne berufen, meldete sich jedoch 1939 zum Kriegsdienst. Nach dem Sieg der Deutschen ging er wegen seiner jüdischen Abstammung in den Untergrund. Im Jahre 1944 starb Marc Bloch unter der Folter der Gestapo[4]. Burke berichtet, dass „[...] Bloch heiter, ironisch und lakonisch war und einen fast britischen Hang zu Einschränkungen und understatement hatte“[5]. ich möchte ihn daher als den »Stillen Gründer« bezeichnen.
3.1.3 Fernand Braudel – Der Bewahrer
Braudel wurde 1902 in Luneville-en-Ornois geboren und folgt damit seinem akademischen Ziehvater Febvre und Marc Bloch in Generationenabstand. Nach seiner Graduierung (agregation) mit nur 21 Jahren war er 10 Jahre lang in Algier als Gymnasiallehrer tätig. Mit seiner Berufstätigkeit und seinem langen Aufenthalt im –französisch kontrollierten- Ausland unterscheidet sich Braudel maßgeblich von den o.g. Gründern der AB. Hinzu kommt, dass Braudel noch nicht aktiv am Ersten Weltkrieg beteiligt war und daher trotz der zehnjährigen Unterbrechung[6] seiner wissenschaftlichen Karriere (i.e.S.) mit nur 33 Jahren einen Ruf nach Sao Paulo annahm, um schließlich, zwei Jahre später, eine Professur an der Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris wahrzunehmen. Gleichwohl ging er wie Bloch ab 1939 an die Front und geriet von 1940 bis 1945 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Dort habe er seine Habilitationsschrift, das Monumentalwerk »Das Mittelmeer« aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, um sich schließich im Jahre 1947 formell zu habilitieren. 1949 wurde er der Nachfolger Febvres am College de France und folgte seinem Lehrer 1956 in den Vorsitz der von ihm gegründeten Abteilung der Ecole Pratique des Hautes Etudes. Im Jahre 1982 distanzierte sich Braudel von der Annales d'histoire économique et sociale, der Zeitschrift der AB, welche inzwischen in die Hände seiner Schüler le Goff und Leroy-Ladurie übergegangen war. In dieser Abgrenzung liegt ein gewichtiges Indiz zu einem Wandel der AB, die spätestens unter Braudels Führung von einer Bewegung zu einer Partei geworden war.
3.1.4 Exkurs: Akademische Schulen und Hagiographien
Das Beispiel Braudels zeigt nicht nur die Genealogie einer akademischen Bewegung, es lenkt die Aufmerksamkeit auch auf einen weiteren Aspekt, der mit der Rekonstruktion von Biographien in einem aufgeladenen Feld verbunden ist: je monumentaler und »klassischer« Braudels Arbeit zum Mittelmeer (als Indikator für die Schriften der AB zu seiner Zeit) wurde, desto mehr erhält seine Lebensbeschreibung hagiographische Züge. So lässt sich Braudels Vita auch wie die Berufungsgeschichte eines Propheten lesen: nach untadeligem wenn auch unauffälligem Lebenswandel in der ersten Lebenshälfte bricht in den beginnenden Aufstieg das Unheil des Krieges herein. Im leidvollen Umfeld der Kriegsgefangenschaft schreibt Braudel sein Epos ohne Hilfsmittel nieder, so dass man sich fragen muss: handelt es sich bei »Das Mittelmeer« um eine Art Offenbarung oder »Sruti« ? - Nicht weniger als die Frage nach Geschaffenheit oder Ungeschaffenheit, nach Gehörtem oder Erinnertem hat ein solches hagiographisches Framing eine diskursbrechende Wirkung. Es wäre m.E. ein durchaus lohnendes Unterfangen, die Biographien akademischer Kolossalfiguren auf dieses Element zu prüfen, insbesondere wenn sie wie Braudel Personifikationen starker Institutionen waren.
[...]
[1] Burke, S. 18f.
[2] Burke, S. 17.
[3] Febvre „Combats pour l`historie“ , S. 393. Zit. n. Burke, S. 21.
[4] Moeglin, S. 29.
[5] Burke, S. 17. Hervorhebung im Original.
[6] Vgl. aber Burke, der eine promotionsbegleitende Lehrtätigkeit als normalen Begleitumstand der Qualifikation für eine Hochschullaufbahn im Frankreich jener Zeit beschreibt. Xxxx.
- Quote paper
- Alexander-Kenneth Nagel (Author), 2003, Kulturen und Strukturen. Kulturwissenschaft im Spiegel von Strukturgeschichte und Historischer Anthropologie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42514
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