Das Thema selektives Demarketing, also der Umgang mit unerwünschten Kunden, ist von großer praktischer Relevanz, denn nicht jeder Kunde wird vom Anbieter als erwünscht empfunden und eingestuft. Dies zeigt auch die empirische Untersuchung in der vorliegenden Arbeit.
Im Umgang mit unerwünschten Kunden liegen für Unternehmen zum Teil schwer überschaubare Gefahren. Genauso erfolgswirksam, wie die richtigen Kunden anzusprechen, ist es, die falschen Kunden abzuwehren. Trotzdem ist dieser Aspekt in der Wissenschaft weitgehend vernachlässigt worden. Insbesondere die Auswirkungen von selektivem Demarketing wurde bislang nicht fundiert empirisch untersucht. Die seltene Bearbeitung des Themas steht vermutlich im Zusammenhang mit Schwierigkeiten bei der Ausgestaltung empirischer Untersuchungen, was im Forschungsteil dieser Arbeit eingehender ausgeführt wird. Dabei werden auch die Gründe für die bestehenden Forschungslücken angesprochen.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Zielsetzung der Arbeit
1.3 Aufbau der Arbeit
2. Theoretische Grundlagen zu Erfolgsfaktoren im selektiven Demarketing
2.1 Demarketing
2.1.1 Begriffsklärung selektives Demarketing
2.1.2 Prozess des selektiven Demarketings
2.1.3 Definition von Erfolg im selektiven Demarketing
2.1.4 Definition von Erfolgsfaktoren
2.2 Verhaltenswissenschaftliche Grundlagen
2.2.1 Attributionstheorie
2.2.2 Equity-Theorie
2.2.3 Andere verhaltenswissenschaftliche Theorien
2.2.4 Erklärungsbeitrag der verhaltenswissenschaftlichen Theorien
3. Empirische Untersuchung
3.1 Forschungsdesign
3.1.1 Erhebungsmethode
3.1.2 Auswahl der befragten Unternehmen
3.1.3 Auswertungsmethode
3.2 Dokumentation der Untersuchungsergebnisse
3.2.1 Allgemeine Rahmenbedingungen
3.2.2 Spezielle Rahmenbedingungen
4. Diskussion
4.1 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
4.2 Kritische Reflexion
4.3 Implikationen
4.3.1 Implikationen für die weitere Forschung
4.3.2 Anregungen für Unternehmen
Literaturverzeichnis
Anhangsverzeichnis
Anhang 1: Gesprächsthemen für den Interviewpartner
Anhang 2: Leitgedanken des Interviewers
Anhang 13: Kategorie Macht und Abhängigkeit
Anhang 14: Kategorie Vertrauen
Anhang 15: Kategorie Wettbewerbssituation
Anhang 16: Kategorie zeitlich dynamische Aspekte
Anhang 17: Kategorie kulturelle Aspekte
Anhang 18: Kategorie spezielle Rahmenbedingungen; Bewertung
Anhang 19: Kategorie spezielle Rahmenbedingungen; Strategiewahl
Anhang 20: Kategorie spezielle Rahmenbedingungen; Umsetzung
Anhang 21: Kategorie spezielle Rahmenbedingungen; Konsequenzen
Anhang 22: Interpretationsregeln (Mayring 2010, S. 70)
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abb. 1: Einordnung von selektivem Demarketing
Abb. 2: Prozess des selektiven Demarketings
Tab. 1: Prozessschritte des selektiven Demarketings
Tab. 2: Befragte Interviewpartner und Unternehmen
Tab. 3: Gesamte und reduzierte Auswertungsschritte
Tab. 4: Deduktive Kategorienbildung und Prüfung
Tab. 5: Zusammenfassung der Erfolgsfaktoren
1. Einleitung
1.1 Problemstellung
Das Thema selektives Demarketing, also der Umgang mit unerwünschten Kunden, ist von großer praktischer Relevanz, denn nicht jeder Kunde wird vom Anbieter als erwünscht empfunden und eingestuft. Dies zeigt auch die empirische Untersuchung in der vorliegenden Arbeit. Hier zum Einstieg zwei Beispiele, die auch in Presse und Öffentlichkeit wahrgenommen wurden:
Im September 2012 entschied ein Cafébesitzer im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, einen Poller mittig vor der Eingangstür zu installieren, damit keine Kinderwagen in sein Café mitgebracht werden können. Der Sturm der Entrüstung, der daraufhin u.a. im Internet auf sozialen Plattformen losbrach, veranlasste den Inhaber, sein Lokal vorübergehend zu schließen. Offensichtlich war ihm nicht bewusst gewesen, welchen Schaden ihm seine Ausgrenzungsmaßnahme zufügen würde (vgl. Hutfils 2012).
Auch das zweite Beispiel weist auf die hohe praktische Relevanz von Demarketingmaßnahmen hin: Ein Beratungsunternehmen verringerte im Jahr 2013 den Servicelevel bei einem wirtschaftlich für sie relativ unbedeutenden Kunden. Da der Kunde gut vernetzt war, gelangte die von ihm erfahrene Fehlleistung schnell weiter an andere Kunden und gewann so eine starke Wirkung. Als Reaktion erteilten diese dem Beratungsunternehmen keine Aufträge mehr. Negative Effekte multiplizieren sich unter diesen Umständen wie in einem „Schneeballsystem“ oder als „Zauberlehrlingseffekt“, weil die indirekt beeinflussten Kunden zu den bedeutenden, d.h. umsatzgenerierenden gehörten. Den Verantwortlichen war nicht bewusst, dass bei der Anwendung dieser selektiven Demarketingmaßnahme eine wichtige Rahmenbedingung zur Wirkung kam, die den Erfolg in Misserfolg verwandelte.
Es wird deutlich, dass im Umgang mit unerwünschten Kunden für Unternehmen z.T. schwer überschaubare Gefahren liegen. Genauso erfolgswirksam, wie die richtigen Kunden anzusprechen, ist es, die falschen Kunden abzuwehren. Trotzdem ist dieser Aspekt in der Wissenschaft weitgehend vernachlässigt worden. Insbesondere die Auswirkungen von selektivem Demarketing wurde bislang nicht fundiert empirisch untersucht (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 828). Die seltene Bearbeitung des Themas steht vermutlich im Zusammenhang mit Schwierigkeiten bei der Ausgestaltung empirischer Untersuchungen, was im Forschungsteil dieser Arbeit (siehe Kap. 3) eingehender ausgeführt wird. Dabei werden auch die Gründe für die bestehenden Forschungslücken angesprochen.
1.2 Zielsetzung der Arbeit
Demarketing hat noch keinen festen Platz in den Marketingwissenschaften. In Lehrbüchern wie „Grundlagen des Marketings“ von Kotler, Armstrong, Wong und Saunders (2011) steht nur ein beiläufiger Satz dazu. In anderen Lehrbüchern, wie „Introduction to Marketing“ von McDaniel, Lamb und Hair (2011) oder „Marketing Management“ von Kotler und Keller (2012) findet es überhaupt keine Erwähnung. Demarketing kann thematisch dem Relationship-Marketing (Kundenbeziehungsmanagement) zugeordnet werden (siehe Abschnitt 2.1.1). Eine der wenigen Untersuchungen zum Bereich des Demarketings stammt von Matthiesen (2013). Das Gebiet des selektiven Demarketings ist von Blömeke und Clement (2009), aufbauend auf den Arbeiten von Rößl (1991), Tomzcak, Reinecke und Finsterwalder (2000) sowie Finsterwalder (2004), strukturiert worden, aber eine empirische Validierung steht auch hier aus. Erfolg im selektiven Demarketing wiederum wurde bisher nur in Fragmenten untersucht – ein Beispiel hierfür ist die Arbeit von Buyun (2013) zum Zusammenhang zwischen Kundenelimination und negativer Mundpropaganda – oder es wird von anderen Forschungsrichtungen tangiert – wie in der Untersuchung von Walsh (2007) zum Thema der wahrgenommenen Kundendiskriminierung. Zum Thema Erfolgsfaktoren ist jedoch kaum etwas zu finden, lediglich Whitney (1996) liefert einen Hinweis auf Erfolgsfaktoren im selektiven Demarketing (siehe Abschn.. 2.1.4).
Ziel dieser Arbeit ist es, auf das weitgehend unerforschte Gebiet der Erfolgsfaktoren im selektiven Demarketing vorzudringen. In diesem noch relativ schwach empirisch untersuchten Gebiet sind bislang noch keine Anstrengungen zu einer integrierten Erforschung von Erfolgsfaktoren unternommen worden. Es liegen kaum Informationen über dessen Wirkungen vor, gerade für Unternehmen, die selektives Demarketing betreiben (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 822). Der Ansatz, die Fachpresse und die wissenschaftliche Literatur entsprechend zu analysieren, wie es Blömeke und Clement (2009) unternahmen, bildet nur einen Teil der Untersuchung, es ist darüber hinaus notwendig, Unternehmen direkt zu befragen. Das wird in dieser Arbeit durchgeführt. Außerdem wurde in der Studie von Blömeke und Clement (2009) die Kundenreaktion in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt, um die Wirkungen des selektiven Demarketings darzulegen. In dieser Arbeit wird diese Perspektive erweitert und versucht, möglichst viele Aspekte der Wirkung von selektivem Demarketing aufzuzeigen. Es werden daher folgende forschungsleitende Fragen zu beantworten sein:
1. Welche Erfolgsfaktoren gibt es im selektiven Demarketing?
2. Welche Handlungsempfehlungen lassen sich aus den Erkenntnissen der Untersuchung für die Unternehmenspraxis und die Wissenschaft formulieren?
Zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage sind folgende weitere Aspekte zu klären: Was ist Demarketing bzw. selektives Demarketing? Wann spricht man in diesem Zusammenhang von Erfolg? Und was sollte unter Erfolgsfaktoren verstanden werden?
Das Ziel, Erfolgsfaktoren zu identifizieren, steht dabei im Vordergrund. Vor dem Hintergrund der zeitlichen und ressourcenabhängigen Rahmenbedingungen ist es nicht dem wissenschaftlichen Anspruch angemessen realisierbar, eine entsprechende Theorie zu entwickeln, dies wird daher nicht zwingend angestrebt (vgl. Flick 2012, S. 257 f.). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass im Zusammenhang mit einer Untersuchung des selektiven Demarketings moralische und ethische Aspekte eine Rolle spielen können (bspw. im Zusammenhang mit Kundendiskriminierung oder sozialen Leistungen). Darauf wird in dieser Arbeit jedoch nicht weiter eingegangen, da eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise gewählt wird. Darüber hinaus wird aus forschungsökonomischen Überlegungen auf die Berücksichtigung von Demarketing im internationalen Kontext verzichtet (vgl. Schmalen/Pechtl 2013, S. 289). Eine weitere Abgrenzung wird in Bezug auf die eingenommene Perspektive vorgenommen. In dieser Untersuchung wird der Fokus auf betriebswirtschaftliche Themengebiete gelegt. Damit wird sich von Demarketing in anderen Bereichen wie dem öffentlichen Gesundheitssektor (vgl. u.a. Salem 2010; Shiu et al. 2009) und dem Umweltschutz (vgl. u.a. Kotler/Lefebvre 2011; Grinstein/Nisan 2009) abgegrenzt.
1.3 Aufbau der Arbeit
Zur Beantwortung der Forschungsfragen ist es vorab erforderlich, für die Untersuchung wichtige theoretische Grundlagen zu legen. Dafür wird im zweiten Kapitel zunächst allgemein der Begriff des Demarketing (Kap. 2.1) und anschließend das der des selektiven Demarketings erläutert (2.1.1), beginnend mit einer Begriffserklärung, auf deren Basis eine Arbeitsdefinition erstellt wird. Es folgt in Kapitel 2.1.2 die Darlegung und Erweiterung des Prozesses des selektiven Demarketings. Darauf aufbauend, wird in Kapitel 2.1.3 definiert, was unter Erfolg im selektiven Demarketing im Rahmen der hier durchgeführten Untersuchung zu verstehen ist. Der erste Teil der theoretischen Grundlagen endet mit der Definition von Erfolgsfaktoren (2.1.4). Im zweiten Teil des ersten Abschnitts zu den theoretischen Grundlagen wird auf verhaltenswissenschaftliche Grundlagen eingegangen (2.2), die als Erklärungsansatz für das Verständnis von Kunden, die beim selektiven Demarketing adressiert werden, dienen sollen. Sie sollen somit auch das Verständnis des Erfolges und der Erfolgsfaktoren stützen. Die erste dargelegte Theorie ist die Attributionstheorie (2.2.1), die in Zusammenhang mit der Ursachenzuschreibung eine Rolle spielt. Darauf folgt eine kurze Darlegung der Gerechtigkeitstheorie (2.2.2). Sie soll dazu dienen, zu erläutern, warum sich jemand bei einem bestimmten Verhalten ungerecht behandelt fühlt. In Kapitel 2.2.3 werden weitere verhaltenswissenschaftliche Theorieaspekte kurz angerissen, hierzu zählen die kognitive Dissonanz, die Reaktanz und die soziale Identität. Da diese Untersuchung primär aus betriebswirtschaftlicher Sicht erfolgt, werden die verhaltenswissenschaftlichen Theorien nicht so detailliert erläutert, wie dies in einer Studie dieses Fachgebietes selbst der Fall wäre. In Kapitel 2.3.4 wird der dargestellte Erklärungsbeitrag der Verhaltenswissenschaften zusammengefasst.
Nachdem die theoretische Grundlage gelegt wurde, folgt im dritten Teil der Arbeit die Darlegung der empirischen Untersuchung. Hier wird zunächst in Kapitel 3.1 das Forschungsdesign vorgestellt und begründet, warum als Erhebungsmethode offene qualitative Interviews durchgeführt wurden und wie dabei vorgegangen wurde. Anschließend wird die Auswahl der befragten Unternehmen erläutert (3.1.2). Der erste Teil des dritten Kapitels schließt mit der Darstellung der Auswertungsmethode, die bei der qualitativen Inhaltsanalyse zur Anwendung kommt (3.1.3). Im zweiten Teil des empirischen Teils der Arbeit werden die zentralen Untersuchungsergebnisse dokumentiert (3.2). Hierbei werden einerseits Interviewergebnisse zu allgemeinen Rahmenbedingungen (3.2.1) und anschließend zu speziellen Rahmenbedingungen angeführt (3.2.2). Aus den Rahmenbedingungen werden dann im letzten Abschnitt der Arbeit die Erfolgsfaktoren abgeleitet. Dies wird in Kapitel 4.1 dargelegt. Darüber hinaus werden Hinweise auf Zusammenhänge mit den in Kapitel 2.2 vorgestellten verhaltenswissenschaftlichen Erklärungsansätzen geliefert. Die erste Forschungsfrage wird somit in diesem Abschnitt beantwortet. In Kapitel 4.2 werden die Vorgehensweise und die Ergebnisse kritisch reflektiert. Da auf keinen umfangreichen Forschungsstand zurückzugreifen ist, erfolgt kurze Einbettung in die Literatur in der Einleitung zu Kapitel 4.3, in dem die aus den Erkenntnissen der Untersuchung hervorgehenden Implikationen für die Wissenschaft (4.3.1) und daraus abgeleitete Anregungen für die Unternehmenspraxis (4.3.2) aufgeführt werden, wodurch die zweite Forschungsfrage beantwortet wird.
2. Theoretische Grundlagen zu Erfolgsfaktoren im selektiven Demarketing
In diesem Abschnitt werden die theoretischen Grundlagen zu Erfolgsfaktoren im selektiven Demarketing gelegt. Diese beginnen mit der Begriffserklärung und Erläuterung des Prozesses von selektivem Demarketing und schließt mit den verhaltenswissenschaftlichen Grundlagen.
2.1 Demarketing
In der allgemeinen Marketingforschung herrscht noch ein rudimentäres Verständnis von Demarketing, das die folgende Definition deutlich macht. Danach dient Demarketing dazu, „[...] gezielt [und] selektiv [die] Nachfrage zu senken und/oder umzulenken“ (Kotler et. al. 2011, S. 55). Die systematische Bearbeitung und damit die Etablierung des Themas Demarketing in den Marketingwissenschaften erfolgte 1971 durch Kotler und Levy. Sie beschreiben in ihrem Artikel „Demarketing, yes Demarketing“ Demarketing als der Teil des Marketings, der sich mit dem Abweisen von Kunden im Allgemeinen oder von bestimmten Kundengruppen auf temporärer oder permanenter Basis beschäftigt.
„[...] that aspect of marketing that deals with discouraging customers in general or a certain class of customers in particular on either a temporary or permanent basis.“ (Kotler/Levy 1971, S. 75; Herv. von mir J.Q.)
Demarketing bezeichnet somit die Reduzierung der eigenen Kundennachfrage durch ein Unternehmen. Eine Definition von Demarketing aus der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre als „kein Verkauf an jeden“ (Schmalen/Pechtl 2013, S. 289) reicht für die vorliegende Untersuchung nicht weit genug. Es wird hier daher die Definition von Kotler und Levy (1971) zugrunde gelegt. Die Autoren beschreiben Situationen, in denen ein Unternehmen die Nachfrage seiner Kunden reduziert. Sie nennen vier Formen des Demarketings: ostensible (vorgeblich), general (generell), unintentional (unbeabsichtigt) und selective (selektiv) Demarketing. Demarketing ist ihnen zufolge ein Teil des Marketings und verlangt ein umgekehrtes Marketing, ein „[...] marketing in reverse“ (Kotler 1973, S. 47).
Ostensible Demarketing beschreibt eine vom Unternehmen betriebene, vorgetäuschte Nachfragereduktion mit dem tatsächlichen Ziel, die Nachfrage zu steigern. Das Unternehmen gibt dabei vor, keine weiteren Kunden mehr bedienen zu wollen. Dies kann ex ante erwartete Verkäufe senken und das ex post wahrgenommene Qualitätsimage des Produkts erhöhen, was dem Unternehmen auf lange Sicht nutzen kann (vgl. Miklós-Thal/Zhang 2013, S. 68). Die zweite Form das unintentional Demarketings beschreibt eine Situation, in der ein Unternehmen unbewusst die Nachfrage reduziert. Das general Demarketing zielt dagegen bewusst auf eine echte Nachfragereduktion bei allen Nachfragern. Im Gegensatz zum selektiven Demarketing wählt das Unternehmen hierbei keine bestimmte Abnehmergruppe aus, bei der die Nachfrage reduziert werden soll. Beim selektiven Demarketing tut es dies aber gezielt. Blömeke und Clement erweitern das Konzept des selektiven Demarketings um die Betrachtungsweise des selektiven Demarketings in einem engeren und einem weiteren Sinne (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 805). Demarketing im engeren Sinne adressiert nur aktuelle Kunden, im weiteren Sinne auch potenzielle Kunden. In dieser Arbeit werden sowohl Kunden als auch Interessenten berücksichtigt und somit selektives Demarketing im weiteren Sinne behandelt.
Kotler und Levy (1971) beenden ihren wegweisenden Artikel mit dem Hinweis, dass Demarketing nicht weiter von Marketing unterschieden werden muss, wenn ein entwickeltes Verständnis von Marketing vorliegt. Marketing wird dann nicht als Instrument zur Nachfrageerhöhung gesehen, sondern es soll die Aufgabe erfüllen, die Höhe und Zusammensetzung der Nachfrage an die aktuelle Angebotssituation und die langfristigen Ziele des Unternehmens anzupassen. Dieser Entwicklungstand wurde auch 40 Jahre nach dem Artikel von Kotler und Levy nicht erreicht. Deshalb folgt unten eine detaillierte Begriffsdarlegung des selektiven Demarketings.
Demarketing wird auch unter dem Begriff Kundenausgrenzung (Tomczak et al. 2000) behandelt. Im Verständnis der Kundenausgrenzung ist die vollständige Ausgrenzung die anbieterseitige Kündigung (vgl. Lucco 2008, S. 8). Als Teilbereiche des Demarketings können die Konzepte des Exit-Managements (Bruhn 2009) und die anbieterseitige Beendigung bzw. Kündigung von Kundenbeziehungen betrachtet werden (siehe Kap. 2.1.1). Im englischsprachigen Raum wird auch der Begriff Countermarketing als Synonym für Demarketing verwendet (vgl. Gundlach et al. 2010). Hierbei ist zu beachten, dass Kotler (1973) Demarketing für die Reduzierung der Nachfrage vorsieht und Countermarketing für die Zerstörung von Nachfrage (vgl. Kotler 1973, S. 43). Für weitere Begriffe im Zusammenhang mit der Beziehungsbeendigung kann hier auf die Studie von Tähtinen und Halinen (2002) verwiesen werden.
2.1.1 Begriffsklärung selektives Demarketing
Selektives Demarketing ist, wie dargelegt, eine mögliche Durchführungsform von Demarketing. Im Folgenden wird eine Arbeitsdefinition von selektivem Demarketing formuliert. Hierzu wird die Entwicklung der Forschung zu diesem Thema aufgezeigt. Es werden verschiedene Definitionsansätze vorgestellt und davon eine eigene Definition abgeleitet. Hierbei wird eine chronologische Darlegung der Bearbeitungsansätze verfolgt.
„[...] Relationship-Marketing beinhaltet den Aufbau, die Pflege und Intensivierung stabiler Beziehungen zu Kunden [...]“ (Kotler et al 2011, S. 432). Thematisch lässt sich selektives Demarketing als das Gegenteil von Relationship-Marketing verstehen. Die folgende Darstellung verdeutlicht die thematische Einordnung (vgl. Abb. 1):
Abb. 1: Einordnung von selektivem Demarketing
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung
Kotlers und Levys (1971) definitorische Grundlage für selektives Demarketing dient der überwiegenden Mehrheit der zu diesem Thema bis heute verfassten wissenschaftlichen Arbeiten als Grundlage. Die Autoren definieren dieses wie folgt:
„Selective demarketing refers to (a) the deliberate choice of segments that are to be avoided and (b) the specific means chosen to ward off the undesired customers. Management decreases the benefit/cost ratio which the wanted segment receives from patronage.“ (Kolter/Levy 1971, S. 78; Herv. J.Q.)
Selektives Demarketing bezieht sich somit auf (a) die bewusste Auswahl von Segmenten, die vermindert werden sollen, und (b) die spezifisch ausgewählten Maßnahmen, um die unerwünschten Kunden abzuwehren.
Der nächste relevante Beitrag zum Thema selektives Demarketing stammt von Rößl (1991). Er verwendet zwar nicht explizit den Begriff selektives Demarketing, erläutert aber sinngemäß das, was Kotler und Levy (1971) als selektives Demarketing behandelt haben. Sein Fokus liegt dabei auf der Thematik der Beeinflussung der Nutzenstiftung einer Dienstleistung für eine Kundengruppe durch eine andere und den damit verbundenen Abwehrmaßnahmen. Er legt dar, wie mit einer Ausgestaltung der Instrumente Preispolitik, Produktpolitik, Kommunikation und Distribution selektives Demarketing betrieben werden kann. Im Jahr 1997 greifen die Autoren Lawther, Hastings und Lowry den Artikel von Kotler und Levy (1971) auf und versuchen ein besseres Verständnis von selektivem Demarketing zu erarbeiten (vgl. Lawther et al. 1997). Sie orientieren sich bei ihrem Vorgehen an den Ausführungen von Rößl (1991) und zeigen die Verwendung der Marketinginstrumente in der Kundenabwehr an einem Beispiel der Zahnmedizin auf. Ihr Artikel blieb aber in der weiteren Forschung weitgehend unbeachtet. Der nächste wegweisende Artikel erschien im Jahr 2000 von Tomczak, Reinecke und Finsterwalder. Der Beitrag ist zwar mit „Kundenausgrenzung“ betitelt, beschreibt aber weitestgehend selektives Demarketing so, wie es von Kotler und Levy eingeführt wurde. Die Autoren stellen zudem selektives Demarketing erstmals in Form eines Prozesses dar, der vom alten Kundenstamm über die Schritte Kundenbewertung, Kundenselektion, Ausgrenzungsstrategie und Ausgrenzungsmaßnahme zu einem neuen Kundenstamm führt. Sie gehen in ihrer Arbeit auch auf die unbeabsichtigte Kundenabwehr ein. Diese ist aber im selektiven Demarketing nur dann relevant, wenn sie als negative Nebenwirkung bei der Umsetzung der Maßnahmen auftritt. „Beabsichtigte Kundenabwehr“ ist in diesem Zusammenhang als Synonym für selektives Demarketing zu verstehen. Finsterwalder greift in seinem 2004 erschienen Artikel die Inhalte des Beitrages von 2000 auf und zeigt, dass die Ausführungen sich nicht allein auf Dienstleistungen anwenden lassen, wie dies noch im Artikel von 2000 geschildert worden war, sondern Allgemeingültigkeit haben. Er legte damit einen weiteren Meilenstein in der theoretischen Bearbeitung des Themas.
Im Jahr 2006 erscheint dann eine der wenigen empirischen Arbeiten von Gordon (2006). Er zeigt an einem Praxisbeispiel auf, welche Gefahren von schädigenden Kunden ausgehen, und beschreibt vereinfacht, dass diese Kunden systematisch anders behandelt werden sollten, will man die eigenen Ziele erreichen. Er weist interessanterweise darauf hin, dass ein Unternehmen auf zwei Weisen profitieren kann, wenn es schädigende Kunden abwehrt: Einerseits muss es sich nicht länger mit diesen beschäftigen, andererseits wird der neue Anbieter, der den Kunden aufnimmt, ggf. geschwächt. Blömeke und Clement (2009) liefern die prominenteste Forschungsarbeit zum Thema selektives Demarketing. Zum einen systematisieren sie das zu diesem Bereich bereits Gesagte, zum anderen führen sie eine validierende Analyse von empirischem Material durch. In der vorliegenden Arbeit wird mehrfach auf die Ausführungen dieser beiden Autoren eingegangen, die von „selective demarketing“ sprechen, da nur ausgewählte Konsumenten oder Konsumentengruppen angesprochen werden. Essenziell ist hier die Tatsache, dass die Reduktion der Beziehung bewusst vom Unternehmen forciert und gesteuert wird (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 807 f.)
Diese Definition trifft keine trennscharfe Aussage darüber, ob nur unerwünschte oder nur unprofitable Kundengruppen oder beide angesprochen werden. Daher ist sie für die vorliegende Arbeit um diesen Aspekt zu erweitern. Darüber hinaus ist es zielführend für die Bearbeitung der einleitend formulierten Forschungsfragen, die Definition um den Aspekt der Vermeidung von negativen Konsequenzen zu erweitern. Außerdem beschreiben die Autoren die Strategie der „Nichtbeendigung“ als Teil des selektiven Demarketings (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 817), was in dieser Arbeit nicht aufgenommen wird. Für Informationen zur „Nichtbeendigung“ von Kundenbeziehungen wird auf diverse Quellen zum Kundenbindungsmanagement verwiesen. Die Autoren beziehen sich bei ihrem Verständnis u.a. auf die Ausführungen von Finsterwalder (2004). Dieser berücksichtigt aber, wie oben beschrieben, sowohl die beabsichtige als auch die unbeabsichtigte Kundenausgrenzung. In dieser Arbeit wird jedoch nur die beabsichtigte Kundenausgrenzung bzw. die Nachfragereduktion unter selektivem Demarketing subsummiert. Der Initiator der Ausgrenzung ist damit das Unternehmen (vgl. Günter/Helm 2003, S. 53). Selektives Demarketing wird hier also in Anlehnung an die Ausführungen von Kotler und Levy (1971), Finsterwalder (2004) sowie Blömeke und Clement (2009) wie folgt definiert:
Selektives Demarketing dient der gezielten Nachfragereduktion unter ausgewählten unerwünschten Kunden und Kaufinteressenten. Auswahl und Umsetzung der Marketingstrategie in Form passender Maßnahmen sollen dabei negative Konsequenzen für das Unternehmen vermeiden.
Im Weiteren wird von Rezipienten des selektiven Demarketings gesprochen, was sowohl aktuelle Kunden als auch Kaufinteressenten einschließt. Wo es zielführend ist, explizit auf eine der beiden Gruppen einzugehen, wird dies deutlich gemacht. Die anbieterseitige Beendigung einer Geschäftsbeziehung, wie sie bspw. von Bruhn, Lucco und Wyss (2008) beschrieben wird, ist als Teilbereich des selektiven Demarketings zu verstehen. Es ist die Situation, in der die Strategie der Vollbeendigung der Beziehung zu einem aktuellen Kunden verfolgt wird (siehe Kap. 2.1.2).
2.1.2 Prozess des selektiven Demarketings
Im Folgenden wird ein Prozess des selektiven Demarketings aus den bisherigen Erkenntnissen auf diesem Gebiet hergeleitet, welcher die Grundlage für die weitere Bearbeitung in dieser Arbeit legt. Erstmals wird die Idee der Kundenabwehr von den Autoren Tomzcak, Reinecke und Finsterwalder im Jahr 2000 in einer Prozessform dargestellt. Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf dem Gebiet der Abwehr von Dienstleistungskunden. Finsterwalder greift 2004 die Prozessform wieder auf und formuliert sie allgemeingültiger. Die von ihm vorgestellten Prozessschritte sind Kundenbewertung und -selektion sowie Ausgrenzungsstrategie und Ausgrenzungsmaßnahmen (siehe Tab. 1). Blömeke und Clement erweitern die Prozessdarstellung in ihrer Arbeit. Sie führen die Betrachtung der Gründe für die Unprofitabilität am Anfang des Prozesses ein. Die Gründe für die Unprofitabilität sind zwar von Bedeutung, können aber für diese Untersuchung der Bewertung zugeordnet werden. Das Gleiche gilt für die Identifikation der schlechten Kunden (siehe Tab. 1, S. 12). Außerdem fügen sie an das Ende des Prozesses den Response des Kunden und des Marktes als Konsequenzen des selektiven Demarketings ein. Dieser Schritt berücksichtigt zum ersten Mal die Konsequenzen im Prozessschema, welche für das Thema von Bedeutung sind.
Der Trennung von Response des Kunden und Response des Marktes soll an dieser Stelle nicht gefolgt werden. Auf der einen Seite sind die Rückmeldungen nicht ohne weiteres trennbar und bedingen sich zum Teil und zum andern ist die Reihenfolge vom Response des Kunden zum Response des Marktes nicht ohne Weiteres gegeben. Der Response des Kunden kann auch auf den Response des Marktes folgen, wenn der Kunde bspw. negative Mundpropaganda verbreitet, nachdem die Presse (der Markt) z.B. bereits mit negativer Berichterstattung reagiert hat. Es ist vorstellbar, dass bspw. nur ein Wettbewerber (Markt) auf die Maßnahmen reagiert und die Kunden nicht oder erst im Anschluss eine Reaktion zeigen, indem sie erst abwandern, wenn der Wettbewerber durch eine Niedrigpreisstrategie oder besondere Werbemaßnahmen die abgewehrten Kunden direkt adressiert. Neben dem Hinzufügen von Prozessschritten haben die Autoren auch eine Schleife vom Response des Kunden zurück zur Bewertung des Kundenstammes und vom Response des Marktes zurück zur Entscheidung der weiteren Bearbeitung des Kunden eingeführt. Aufgrund der Zusammenlegung der Response des Kunden mit der des Marktes in dem Prozessschritt der Konsequenzen wird im Folgenden nur die Schleife zurück zur Bewertung berücksichtigt (siehe Abb. 2, S. 13).
Tab. 1: Prozessschritte des selektiven Demarketings
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Umsetzung der obigen Anpassungen des Prozessschemas, wie es Blömeke und Clement (2009) vorgestellt haben, soll in der folgenden Abbildung 2 verdeutlicht werden.
Abb. 2: Prozess des selektiven Demarketings
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Blömeke/Clement (2009, S. 811).
Im ersten Schritt, der Bewertung, wird analysiert und identifiziert, welche Kunden oder Interessenten als für das Unternehmen unerwünscht eingestuft werden. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei der Bewertung nicht um die Identifikation von unprofitablen Kunden handelt, sondern um die unerwünschten Kunden (siehe Kap. 2.1.1). Blömeke und Clement (2009) ziehen hierfür primär das Modell der „Customer Live Time Values“ (CLV) heran. Sie berücksichtigen zwar vorökonomische Aspekte wie bspw. Cross-Selling- oder Informationspotenziale, aber führen dies in ihrer weiteren Betrachtung des CLV nicht weiter aus. Diese Herangehensweise wird hier kritisch hinterfragt, weil sie außer Acht lässt, dass ein Kunde auch dann unerwünscht sein kann, wenn er einen positiven CLV hat und einen hohen vorökonomischen Wert, z.B. wenn er in der Vergangenheit dem Unternehmen in qualitativer Hinsicht geschadet hat (bspw. durch psychische Belastung der Mitarbeiter) oder persönliche Gründe hinter der Unerwünschtheit stecken. Dass ein Kunde trotz Unprofitabilität erwünscht sein kann, erklären die Autoren damit, dass der Kunde ein Referenzkunde sein kann, der positiv auf andere Kunden wirkt, oder die Abwehrmaßnahmen mehr kosten würden, als der Aufwand, die Beziehung aufrechtzuerhalten (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 61). Auch von Fischer und Schmöller (vgl. Fischer/Schmöller 2006, S. 483ff.) werden solche Aspekte im Zusammenhang mit Kundenbewertung und Beziehungsbeendigung durch den Anbieter nicht berücksichtigt. Sie schreiben, dass die Auswahl der Kunden durch das eigene Leitbild und Visionen geleitet sein sollte (vgl. Fischer/Schöller 2006, S. 487). Ein Kunde sollte darüber hinaus negativ bewertet werden, wenn er den Unternehmenswert senkt (vgl. Fischer/Schöller 2006, S. 288). Außerdem seien Kunden sofort zu entbinden, wenn sie sich illegal verhielten (vgl. Fischer/Schöller 2006, S. 491). Das Ergebnis der Kundenbewertung im Sinne des selektiven Demarketings ist die Festlegung unerwünschter Kunden und Interessenten, daher ist hier die Analyse des Kundenstamms, wie von Blömeke und Clement (2009) beschrieben, nicht ausreichend. Neben subjektiven Faktoren, wie den oben genannten, kann der Ansatz des CLV auch um die Bewertung der Flexibilität durch reale Optionen erweitert werden, wie Haenlein, Kaplan und Schoder (2006) vorschlagen.
Diese realen Optionen sind die Möglichkeiten, die ein Unternehmen durch die Entbindung eines Kunden erhält. Ein Unternehmen verliert dadurch einerseits die Möglichkeit, von einem Kunden zu profitieren, wenn dieser sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder als erwünscht erweist. Andererseits werden Ressourcen frei und damit Flexibilität, um neue Optionen wahrzunehmen. Zur Umsetzung der Kundenabwehr verweisen die Autoren wiederum auf das selektive Demarketing. Einen weiteren interessanten Aspekt zur Bewertung von Kunden liefern Mittal, Srakees und Murshed (2008), indem sie die verringerte Produktivität der Mitarbeiter einbeziehen, die ein unerwünschter Kunde verursachen kann (vgl. Mittal et al. 2008, S. 96). Dass Unternehmen tatsächlich nicht nur nach monetären Kriterien bewerten, zeigen Helm, Rolfes und Günter (2006).
Bezüglich der Strategiewahl werden von Finsterwalder (2004) sowie von Blömeke und Clement (2009) drei Basisstrategien unterschieden: die Nicht-Ausgrenzung, die Teil-Ausgrenzung und die Total-Ausgrenzung. Die Erste wird für diese Arbeit nicht weiter beachtet, weil sie dem Gedanken der Kundenabwehr nicht entspricht. Die Teil-Ausgrenzung kann aktiv oder passiv erfolgen. Bei der aktiven Teil-Ausgrenzung werden dem Kunden bestimmte Leistungsmerkmale entzogen, wie bspw. der Zugang zum telefonischen Kundendienst. Stoppt das Unternehmen nur seine aktive Kundenbearbeitung, wie bspw. das Zusenden von Sonderangeboten, so spricht man von passiver Teil-Ausgrenzung. Zum Thema Vollbeendigung oder Vollausgrenzung kann auf eine Reihe von Literatur verwiesen werden. Dieser Bereich wird unter anderem unter dem Namen Exit-Management (Bruhn 2009), anbieterseitige Kündigung (Bruhn 2013a; 2013b) oder Kündigungsmanagement (Lucco 2008) ausführlich systematisiert. An dieser Stelle wird unter Vollausgrenzung die vollständige Beziehungsbeendigung durch das Unternehmen verstanden. Diese Strategie kann eine Eskalationsstufe zur Teilausgrenzung darstellen, sie kann jedoch auch direkt ohne vorherige Teilausgrenzung eingesetzt werden.
Die Umsetzung des selektiven Demarketings orientiert sich an den vier gängigen Instrumenten des Marketings, den sogenannten „vier P“: Preis (Price), Produkt (Product), Distribution (Place) und Kommunikationspolitik (Promotion). Erstmals wurde diese Systematisierung von Rößl (1991) eingeführt. Finsterwalder (2004) sowie Blömeke und Clement (2009) führten die Gestaltung der vier P im Sinne des selektiven Demarketings weiter aus und erarbeiteten damit die umfassendste Beschreibung der Maßnahmen (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 818 ff.). Zu den produktpolitischen Maßnahmen zählen demnach die Änderung von Produkteigenschaften und die Eliminierung von Produkten. Erstere umfasst die Qualitätsreduktion für unerwünschte Kunden und den Ausschluss von Qualitätsverbesserungen. Letztere beschreibt das Nicht-Anbieten bestimmter Produkte an unerwünschte Kunden als indirekte Elimination (vgl. Haenlein et al. 2006, S. 17). Ebenfalls der Produkteliminierung zuzurechnen ist das Einstellen bestimmter Serviceleistungen oder der Lieferung eines bestimmten Produktes. Zu den preispolitischen Instrumenten zählen die Preisdiskriminierung und finanzielle Anreize. Eine Preisdiskriminierung kann durch zu hoch oder zu niedrig empfundene Preise betrieben werden. Zu niedrig empfundene Preise können Prestigekäufer vom Kauf abhalten (vgl. Rößl 1991, S. 445). Die Kommunikationspolitik kann zur Kundenabwehr auf drei Weisen eingesetzt werden. Es können die Werbemaßnahmen so differenziert werden, dass unerwünschte Kunden schwerer an die gesuchten Informationen herankommen (vgl. Finsterwalder 2004, S. 18). Außerdem kann der Inhalt der Kommunikationsmaßnahmen so formuliert werden, dass er unerwünschte Kunden nicht anspricht oder gezielt auf Wettbewerber verweist. Es kann darüber hinaus sozialer Druck auf den unerwünschten Kunden ausgeübt werden, wobei ihm sein Status der Unerwünschtheit kommuniziert wird, indem man ihn bspw. aus Kundenbindungsprogrammen ausschließt. Das letzte Maßnahmenbündel bildet die Distributionspolitik. Hierbei kann der Zugang zum Produkt limitiert und Distributionskanäle eingestellt werden oder ein Transfer zu anderen Wettbewerbern stattfinden.
Auf den Prozessschritt der Konsequenzen aus selektivem Demarketing soll aufgrund seiner hohen Relevanz für die Beantwortung der Forschungsfrage intensiver eingegangen werden. Die Konsequenzen von selektivem Demarketing nehmen in der Literatur eine besondere Stellung ein. Sie stellen den kritischsten Aspekt der Kundeabwehr dar, was darauf zurückzuführen ist, dass es sich um eine vom Unternehmen gewollte, aber vom Kunden ungewollte Distanzierung handelt (zur Systematisierung der Initiatoren einer Beziehungsbeendigung vgl. Günter/Helm 2003, S. 53). Die im Zusammenhang mit den Konsequenzen fokussierten Themen fächern sich auf in wahrgenommene Kundendiskriminierung (vgl. u.a. Walsh 2007), rechtliche Risiken und Imageschäden durch negative Presse oder Mundpropaganda (vgl. u.a. Buyun 2013). Die möglichen Konsequenzen von selektivem Demarketing sind vielfältig. Blömeke und Clement (2009) nennen folgende Reaktionen des Kundenverhalten auf das selektive Demarketing: Ignorieren, Beschweren, negative Mundpropaganda, Änderung des unprofitablen Verhaltens und Abwanderung. Um diese zu erklären, sind verhaltenswissenschaftliche Theorien hilfreich (siehe Kap. 2.2). Walsh (2007) zeigt, dass Kunden auf Diskriminierung auf sechs Arten reagieren: Ignorieren, formelle Beschwerde, abnehmende Kundenzufriedenheit, negative Mundwerbung, abnehmendes Vertrauen, Abwanderung (vgl. Walsh 2007, S. 33 ff.). Sie werden hier in vom Unternehmen gewollte und ungewollte sowie in kunden- und marktseitige Konsequenzen unterteilt. Die kundenseitigen Konsequenzen umfassen die Reaktion des Rezipienten und seine Einstellungsänderung (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 828). Ein Rezipient kann auf eine Maßnahme grundsätzlich reagieren oder sie ignorieren. Ignoriert der unerwünschte Kunde die Maßnahme, wird sie nicht zu einer Verhaltensänderung führen. Die Ziele (siehe Kap. 2.1.3) können so nicht erreicht werden. Ignoriert ein erwünschter Kunde hingegen die gegen ihn eingesetzten Maßnahmen, so ist dies grundsätzlich im Sinne des Unternehmens. Reagiert der Rezipient auf die Maßnahme, so kann er sich beschweren, abwandern, negative Mundpropaganda verbreiten (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 829) oder sein Verhalten dahingehend ändern, dass er für das Unternehmen erwünscht ist. Eine Beschwerde ist vom Unternehmen in der Regel nicht gewollt, mit der Einschränkung, dass dadurch Erkenntnisse erlangt werden, die dem Unternehmen nützen. Eine Ausnahme kann eine Beschwerde zudem darstellen, wenn sie einem Unternehmen die Möglichkeit gibt, sich mit ihrer Hilfe günstig zu positionieren und damit eine positive Imagewirkung erzielt werden kann. Für die Zusammenhänge zwischen Kundeneliminierung und negativer Mundpropaganda sei hier auf die Arbeit von Buyun verwiesen (vgl. Buyun 2013, S. 123).
Das Abwandern des unerwünschten Kunden ist das Primärziel des selektiven Demarketings. Es ist damit den gewollten Konsequenzen zuzuordnen und wird im nächsten Abschnitt näher erläutert. Wandern mit dem adressierten Kunden noch weitere unerwünschte Kunden ab, so ist dies gewollt. Wandern jedoch in Nachfolge des Unerwünschten erwünschte Kunden ab, aus Verbundenheitsgefühl bzw. Solidarität, oder halten sie die Maßnahmen des Unternehmens für falsch und wollen dieses abstrafen, so ist dies natürlich vom Unternehmen nicht gewollt. Als sehr problematische, ungewollte Konsequenz wirkt sich oft negative Mundpropaganda aus. Unter Mundpropaganda wird die nicht an eine Form gebundene Kommunikation zwischen Individuen über Produkte, Dienstleistungen oder Marken ohne kommerzielles Interesse verstanden (vgl. Röthlingshofer 2008, S. 27). Sie muss differenziert betrachtet werden: Trifft sie nur andere unerwünschte Kunden, kann sie durchaus gewollt sein. Auch kann negative Mundpropaganda dazu führen, dass ein Kunde sich „abreagiert“ und im Anschluss sogar mehr kauft. Kim, Wang und Malthouse stellten im September 2013 ein Projekt mit dem Titel „How negative is negative word-of-mouth?“ vor, das diese Hypothese unterstützt. Ein abschließender Bericht lag bei Abschluss dieser Untersuchung noch nicht vor. Einen weiteren Beitrag zu dem Zusammenhang von Kundenelimination und negativer Mundpropaganda hat Buyun (2013) geleistet. Das Ergebnis ihrer Studie besagt, dass eine vom Kunden nicht gewollte Beziehungsbeendigung bei diesem einen Vertrauensverlust und Unzufriedenheit hervorruft. Diese Reaktion wird mit Hilfe der Gerechtigkeitstheorie begründet. Außerdem entstehe in solch einer Situation Wut, welche sie mit Hilfe der Attributionstheorie erklärt. Sie konstruiert ein Modell der negativen Mundpropaganda, deren Entstehung von retributiver (ausgleichende) Gerechtigkeit, Unzufriedenheit und Vertrauensverlust abhängt. Den stärksten Einfluss hat demnach die Unzufriedenheit. Wut hat Buyuns Studie zufolge keinen signifikanten Einfluss (vgl. Buyun 2013, S. 170 f.).
Die günstigste verhaltensbezogene Konsequenz im Sinne des Unternehmens ist das Ändern des Kundenverhaltens, sodass er aus Unternehmenssicht (wieder) erwünscht ist (dass dies zwar positiv für das Unternehmen, aber kein direktes Ziel des selektiven Demarketings ist, wird im nächsten Kapitel gezeigt). Auf der Einstellungsebene kann einerseits das Vertrauen zwischen Anbieter und Abnehmer durch selektives Demarketing negativ tangiert sein, andererseits auch seine Zufriedenheit des Abnehmers. Verliert der Kunde durch die Maßnahmen das Vertrauen in den Anbieter und beendet von sich aus die Beziehung, so ist dies gewollt. Geht der Vertrauensbruch jedoch so weit, dass der Kunde andere potenzielle oder aktuelle Kunden warnt, ist dies ungewollt. Vergleichbares zeigt sich auf dem Gebiet der Zufriedenheit: Wandert ein Kunde aufgrund von Unzufriedenheit ab, kann dies als gewollte Konsequenz betrachtet werden. Führt die Unzufriedenheit jedoch zur Verbreitung von negativer Mundpropaganda (vgl. Buyun 2013, S. 171), ist dies vom Unternehmen natürlich nicht gewollt. Die negative Mundpropaganda stellt die problematischste Konsequenz von selektivem Demarketing dar (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 829). Reaktionen von Wettbewerbern und der Presse können essenziell für den Erfolg von selektivem Demarketing sein. Reagiert ein Wettbewerber bspw. auf eine Preisdiskriminierung, senkt das die Wahrscheinlichkeit des Erfolges der gewünschten Abwanderung. Andererseits kann ein Wettbewerber auch mit einer gegenläufigen Strategie reagieren, auf diese Weise viele Kunden hinzugewinnen und ggf. große relative Stärke am Markt erlangen. Beides ist aus Sicht des Unternehmens, das die Demarketingmaßnahmen eingesetzt hat, ungewollt. Übernimmt aber ein Wettbewerber einen unerwünschten Kunden und muss er sich dann selbst mit diesem „herumärgern“ (vgl. Gordon 2006, S. 4), so ist dies eine gewollte Konsequenz. Verbreitet die Presse ihre Kenntnis von Maßnahmen selektiven Demarketings, kann dies auf positive (wohlwollende) oder negative Art geschehen. Die positive Art der Berichterstattung ist zwar tendenziell die vom Unternehmen gewollte, aber auch die negative Art kann zum Vorteil für das Unternehmens werden, wenn dadurch andere ungewollte Kunden informiert und ferngehalten werden.
2.1.3 Definition von Erfolg im selektiven Demarketing
Erfolg im selektiven Demarketing wird als Zielerreichung definiert. Die Ziele ergeben sich aus der Definition in Kapitel 2.1.1 und aus den gewollten Konsequenzen (siehe Kap. 2.1.3). Die Ziele liegen zum einen auf der Effektivitätsebene, was bedeutet, dass die richtigen Aufgaben im selektiven Demarketing erledigt werden muss, und zum anderen auf der Effizienzebene, was meint, die Aufgaben auf die richtige Weise zu erledigen.
Die Effektivitätsziele lassen sich den Kategorien Primärziele und Sekundärziele zuordnen. Die primären Ziele sind das Abwandern der unerwünschten Kunden und das Nichtnachfragen von Seiten unerwünschter Interessenten. Sekundäre Ziele sind die Vermeidung aller nicht gewollten Konsequenzen. Hierzu gehören insbesondere die Folgen negativer Mundpropaganda, die negative Beeinflussung der erwünschten Bestandskunden oder erwünschter Interessenten sowie Beschwerden von unerwünschten oder erwünschten Kunden. Hier zeigt sich klar, dass die Ziele selektiven Demarketings nicht das Gegenteil des allgemeinen Marketings (langfristiger nachhaltiger Erfolg des Unternehmens) sind. Selektives Demarketing ist als eine Disziplin des Marketings zu sehen (siehe Kap. 2.1). Alle Ziele stimmen in letzter Konsequenz mit denen des gesamten Marketings überein, also der Schaffung von Kundennutzen, Bedürfnisbefriedigung und das Herbeiführen gewinnbringender Kundenbeziehungen (vgl. Kotler et al. 2011, S. 52).
Das Ziel der Effizienz von selektivem Demarketing kann nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül ermittelt werden. Ist es günstiger, den unerwünschten Kunden zu behalten, als die Maßnahme durchzuführen und die Konsequenzen, die durch seine Entfernung entstehen, zu tragen, so sollte der Kunde eher bleiben (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 817).
Die besondere Herausforderung bei der Erfolgsmessung ist das Sammeln valider Daten. So muss bspw. die Kaufabsicht des Kunden bzw. Interessenten ermittelt werden. Es muss folglich geklärt werden, ob eine Maßnahme tatsächlich dazu geführt hat, dass die Kaufabsicht eines Kunden bzw. Interessenten abgeschwächt worden ist. Begreiflicherweise stehen Kunden, die von Maßnahmen des selektiven Demarketings betroffen waren, später eher nicht mehr für Befragungen zur Verfügung. Entweder weil sie dem Unternehmen nicht mehr kooperativ verbunden sind oder weil das Unternehmen keine Möglichkeit mehr zur Herstellung eines Kontakt zum Betroffenen hat. Das macht die Datenerhebung bisweilen unmöglich.
Besonders schwierig sind Messungen sekundärer Ziele wie bspw. die Folgen negativer Mundpropaganda. Neben der Tatsache, dass es sich dabei ohnehin um schwer analysierbare qualitative Daten handelt, wird negative Mundpropaganda in der Regel nicht dokumentiert, sondern eher „hinter vorgehaltener Hand“ verbreitet.
2.1.4 Definition von Erfolgsfaktoren
Unter Erfolgsfaktoren werden in dieser Arbeit Rahmenbedingungen verstanden, die auf das Erreichen von Zielen Einfluss nehmen. Es geht darum, steuerbare Einflussgrößen zu identifizieren, die selektives Demarketing erfolgreich machen (vgl. zur Verwendung des Begriffes Erfolgsfaktoren im Marketing Hildebrandt 2003, S. 203). Hierbei werden zuerst die Rahmenbedingungen (siehe Kap. 3.2) und im Anschluss die Beeinflussbarkeit der einzelnen Faktoren identifiziert (siehe Kap.4.1). Die Rahmenbedingungen könnten Zwischenwirkungen bei den Prozessschritten Bewertung, Strategiewahl, Umsetzung und Konsequenzen entfalten. Eine Rahmenbedingung, die eine Kundenbewertung im Sinne des selektiven Demarketings beeinflusst, wird in dieser Arbeit dem Prozessschritt der Bewertung zugeordnet. Whitney (1996) liefert in diesem Zusammenhang einen Hinweis: Manager könnten dazu neigen, einem Kunden in der Bewertung fälschlich einen strategischen Wert zurechnen, um den eigenen Posten oder eigene Einflüsse zu schützen (vgl. Whitney 1996, S. 102). Ist die Bewertung eindeutig, wurde jedoch eine fragliche Strategie gewählt, so ist von einer Rahmenbedingung der Strategiewahl die Rede. Sind Bewertung und Strategie eindeutig und wird die anschließende Umsetzung beeinflusst, so wird diese Rahmenbedingung als eine der Umsetzung adressiert. In der vorliegenden Untersuchung wird besonderes Augenmerk auf den letzten Abschnitt des Prozesses liegen, also dem Teil, an dem die Konsequenzen des selektiven Demarketings entstehen. Aktuelle Literatur zu Konsequenzen wie negative Mundpropaganda (vgl. Buyun 2013) legen diese Vorgehensweise nahe. Denn es kann vermutet werden, dass Rahmenbedingungen, die dort wirken, wo der Erfolg in Form der Konsequenzen besonders deutlich sichtbar wird, auch den Erfolg direkt beeinflussen. Aus diesem Grund sollen im folgenden Abschnitt verhaltenswissenschaftliche Theorien dargelegt werden, die das Zustandekommen von Konsequenzen auf Kundenseite erklären könnten.
2.2 Verhaltenswissenschaftliche Grundlagen
Obwohl diese Arbeit primär wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtet ist, bedient sie sich gezielt bestimmter verhaltenswissenschaftlicher Ansätze. Im Folgenden werden daher Theorien dieses Fachgebietes dargelegt, die dazu dienen können, die Reaktionen der Rezipienten selektiven Demarketings zu erklären. Dies ist insofern wichtig, als dessen Erfolg ursächlich auch im Verhalten der Kunden verortet wird.
2.2.1 Attributionstheorie
Als Begründer der Attributionstheorie gilt der Verhaltenstheoretiker Fritz Heider. Auf dem Wege der Weiterentwicklung dieses Ansatzes zeichnet sich bis heute noch keine einheitliche Theorie ab (vgl. Zhu 2010, S. 8).
Die Attributionstheorie entstand auf dem Forschungsgebiet der kognitiven Sozialpsychologie. Sie wird bis heute zur Vorhersage von individuellem Verhalten eingesetzt. Personen schreiben menschlichem Verhalten internale und/oder externale Ursachen zu. Attribution bedeutet in diesem Sinne, dass einem Ereignis eine Ursache zugewiesen wird (vgl. Zhu 2010). Die Person erklärt dies mittels internaler und/oder externaler Attribution, d.h., das Verhalten wird entweder persönlichen Eigenschaften zugeordnet, für die die Person selbst verantwortlich ist oder es wird der Situation und den jeweiligen Umständen zugeordnet, auf die sie keinen Einfluss hat. Das Verhalten einer Person wird zudem genutzt, um diese zu bewerten (vgl. Werth 2004, S. 117 f.; Heider 1958). In diesem Sinne spricht Buyun (2013) von Zuweisung von Verantwortlichkeit in einer Wirtschaftsbeziehung und im Zusammenhang mit Kundeneliminierung. Die Attributionstheorie fokussiert primär die Schuldzuweisung in der Situation der Kündigung durch den Anbieter (Lucco 2008, S. 32 f.) Zum Beispiel wird der Anbieter als skrupellos wahrgenommen, denn er hat der Person gekündigt (internale Attribution). Oder der Anbieter war, so der Eindruck des Kunden, durch die Situation zur Beendigung gezwungen (externale Attribution). Ungerechtigkeiten, die dem Partner attribuiert werden, lösen sowohl kognitive Reaktionen wie Unzufriedenheit und Vertrauensverlust als auch emotionale Reaktionen wie Wut aus (vgl. Buyun 2013, S. 44). In der Folge wird der Kunde tendenziell unzufrieden sein (vgl. Blömeke/Clement 2009, S. 828; Finsterwalder 2004, S. 19).
Der attributionstheoretische Ansatz dient nicht nur der Erklärung von Kundenreaktionen auf das Verhalten des Anbieters, der selektives Demarketing betreibt, sondern auch der Bewertung des Kundenverhaltens durch das Unternehmen.
2.2.2 Equity-Theorie
Für einen Erklärungsbeitrag auf dem Gebiet der Beziehungsbeendigung durch den Anbieter kann als weitere verhaltenswissenschaftliche Theorie die Equity-Theorie herangezogen werden (vgl. Buyun 2013, S. 27 ff.; Bruhn et al. 2008, S. 223 ff.; Lucco 2008, S. 34 ff.). Es ist davon auszugehen, dass sie auch über die Beziehungsbeendigung hinaus Erkenntnisse für die Kundenabwehr im Sinne von selektivem Demarketing bieten kann. Die Autoren Bruhn, Lucco und Wyss (2008) weisen in ihrer Studie einen signifikanten Einfluss des Gerechtigkeitsgefühls auf die wahrgenommene Beziehungsbeendigung nach. Im Rahmen von Gerechtigkeitstheorien werden drei Dimensionen der wahrgenommenen Gerechtigkeit beschrieben: die Verteilungs- (distributive Gerechtigkeit), die Verfahrens- und die Interaktionsgerechtigkeit (vgl. Lucco 2008, S. 35 f.). Der Fokus liegt hier auf der Wahrnehmung einer Austauschbeziehung, in der man sich ungerecht behandelt fühlt, da man z.B. der Meinung ist, man brächte mehr in die Beziehung ein als der andere und profitiere weniger davon (vgl. Buyun 2013, S. 28 f.). Die wahrgenommene Gerechtigkeit in einer Austauschbeziehung ist die Basis der Equity-Theorie. Insbesondere Buyun (2013) konnte zeigen, dass sie zur Erklärung der Entstehung negativer Mundpropaganda als Reaktion auf Kundenabwehr aufschlussreich sein kann.
An dieser Stelle wird nur die distributive Gerechtigkeit beschrieben, sie fokussiert die Gerechtigkeit der Verteilung in einer Austauschbeziehung (vgl. Buyun 2013, S. 26) und ist daher für die Betrachtung von Anbieter-Abnehmer-Beziehungen im Sinne von selektivem Demarketing geeignet. Lucco (2008) beschreibt die Equity-Theorie im Zusammenhang mit anbieterseitigen Kündigungen und verweist auf ihre Übertragbarkeit vom persönlichen in den geschäftlichen Bereich (Lucco 2008, S. 35). Die von einem Kunden wahrgenommene Gerechtigkeit ist ein wesentliches Beurteilungskriterium bei der Beendigung von Beziehungen (Lucco 2008, S. 45).
2.2.3 Andere verhaltenswissenschaftliche Theorien
Weitere zielführende Ansätze finden sich in der Theorie der kognitiven Dissonanz, der Theorie zur Reaktanz sowie der Theorie der sozialen Identität. Deren Kernelemente bieten mögliche Hinweise auf Erfolgsfaktoren für das selektive Demarketing.
Die Theorie der kognitiven Dissonanz (auch Dissonanztheorie) wurde 1957 zum ersten Mal aufgestellt (vgl. Lucco 2008; Werth 2004; Festinger 1957). Sie erklärt das Streben nach innerem Abgleich von Überzeugung und Verhalten innerhalb einer Person. Ein Ungleichgewicht kann entstehen, wenn die eigenen Überzeugungen nicht mit dem eigenen Handeln übereinstimmen, folglich im Menschen zwei unvereinbare Kognitionen widerstreiten (vgl. Werth 2004, S. 372). Der Mensch strebt nach Gleichgewicht, indem er entweder divergierende Überzeugungen oder sein eigenes Verhalten anpasst bzw. es neu einschätzt. Lucco (2008) erklärt mit Hilfe dieser Theorie die Reaktionen von Kunden, denen vom Anbieter die Beziehung gekündigt worden ist. Demnach möchte der Kunde eigentlich weiter bei dem Unternehmen kaufen, was aber im Kontrast dazu steht, wie das Unternehmen ihn behandelt (vgl. Lucco 2008, S. 34).
Die Theorie der Reaktanz greift im Fall des abwehrenden Anbieters (Werth 2004, S. 73). Ein zurückgewiesener Kunde würde demnach auf die Einschränkung seines Handlungsspielraumes (aufgrund einer durch den Anbieter erzeugten Knappheit) damit reagieren, diesen wieder zurückerlangen zu wollen. Oder er würde versuchen, den Handlungsspielraum bereits im Vorfeld zu verteidigen (vgl. zur Theorie der Reaktanz u.a. Brehm 1966).
Die Theorie der sozialen Identität wird von Walsh (2007) im Zusammenhang mit Kundendiskriminierung herangezogen und gibt hier einen wichtigen Hinweis. Die soziale Identität ist dabei jener Teil der Identität eines Individuums, der sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe erklärt (vgl. Werth 2004, S. 378). Die Theorie kann auf die Kundenausgrenzung angewendet werden, falls der Konsum eines bestimmten Produktes Bedingungen für die Mitgliedschaft in einer Gruppe ist.
2.2.4 Erklärungsbeitrag der verhaltenswissenschaftlichen Theorien
Die vorgestellten verhaltenswissenschaftlichen Theorien können zum Verständnis von Anbieter- und Kundenverhalten beim selektiven Demarketing beitragen. Sie können sich bei gezielter Hinzuziehung günstig auf Kommunikationsbestandteile im Prozess des selektiven Demarketings auswirken, z.B. um ungewollte Nebenwirkungen zu vermeiden. Sie können zudem aufgrund der durch sie bereitgestellten Aktions- und Reaktionsschemata zur Klassifizierung von Verhalten dienen. Die Attributionstheorie kann für das Verständnis des Wirkungsmechanismus negativer Kundenreaktionen und die Equity-Theorie für die Entstehung negativer Kundenreaktionen herangezogen werden (vgl. Buyun 2013, S. 27). Der Erklärungsbeitrag der Equity-Theorie läge daher einerseits auf dem Gebiet der Reaktionen der Rezipienten von selektivem Demarketing, andererseits könnte sie als Erklärungsansatz für die unternehmensseitige Motivation zur Abwehr dienen.
3. Empirische Untersuchung
Da das Thema Erfolgsfaktoren im selektiven Demarketing bisher nur schwach erforscht und strukturiert worden ist, bietet sich eine explorative Untersuchung in Form eines qualitativen Ansatzes an (vgl. Flick et al. 2012, S. 24; Gelbrich et al. 2008, S. 51 f.). Diese Untersuchungsform eignet sich dazu, Neues in Hinsicht auf das untersuchte Gebiet zu entdecken und ein konkretes, plastisches Bild der Situation aus Sicht der Befragten zu erlangen (vgl. Flick et al. 2012, S. 17). Die empirische Untersuchung ist wie folgt aufgebaut: In Kapitel 3.1 wird der Entwurf des Forschungsdesigns vorgestellt, in Kapitel 3.2 folgt die Beschreibung der Vorbereitung und der Durchführung der Datensammlung und in Kapitel 3.2.3 wird die Methode zur Auswertung die Ergebnisse erläutert. Diese ist aus Gründen der Übersichtlichkeit in die Bereiche allgemeine und spezielle Rahmenbedingungen unterteilt und beinhaltet keine Interpretation der Ergebnisse. Die Interpretation erfolgt im letzten Abschnitt der Arbeit.
3.1 Forschungsdesign
Das Forschungsdesign ist „Mittel zum Zweck der Sammlung aussagekräftiger Daten“ (Diekmann 2012, S. 312) und dient der Planung und Durchführung der Untersuchung (vgl. Flick 2012, S. 252). Die eine richtige Methode gibt es hier nicht, die angewendete sollte aber gegenstandsangemessen sein (vgl. Flick et al. 2012, S. 22). In dieser Untersuchung wird auf eine Methode zurückgegriffen, die zum Datentyp passt, der qualitativer Natur ist und in Form von transkribierten Interviews vorliegt (zur Wahl der passenden Methode vgl. Diekmann 2012, S. 33 ff.). Auf eine elaborierte Hypothese wird in dieser Arbeit wegen des explorativen Charakters der Untersuchung verzichtet (vgl. Cropley 2011, S. 74). Auf Grund forschungsökonomischer Überlegungen werden zudem Querschnitts- anstelle von Längsschnittdaten erhoben (vgl. Diekmann 2012, S. 315). Auch wird ein nichtexperimenteller Ansatz verfolgt, weil eine zufällige Auswahl von Unternehmen nicht günstig wäre. Außerdem fehlt es für ein quasiexperimentelles Design an Grundlagen für die Auswahl der Untersuchungsobjekte (vgl. Diekmann 2012, S. 337; siehe Kap. 3.1.2). Die Entscheidung, zehn Unternehmen zu befragen, ist aus forschungsökonomischen Überlegungen heraus getroffen worden.
3.1.1 Erhebungsmethode
Für die Beantwortung der Forschungsfragen ist Alltagswissen über den erfragten Bereich erforderlich, daher sind die Daten im natürlichen Kontext zu erheben, also direkt in den Unternehmen (vgl. Flick et al. 2012, S. 23). Bei der Planung und vor der Durchführung der Befragungen erwies es sich als Hürde, die Gesprächseinwilligung zu erhalten, denn in vielen Unternehmen herrscht ein außerordentlich sensibler Umgang mit Informationen über selektives Demarketing. Die Hürde konnte genommen werden, indem im Vorfeld keine konkreten Fragen formuliert wurden. So wurde auf die Verwendung eines strukturierten Leitfadens verzichtet, der schon im Vorhinein der Befragung hätte abschreckend wirken können. Stattdessen wurden neutral formulierte Gesprächseinstiege verwendet (siehe Anhang 3-12). Für die Bearbeitung der Forschungsfragen war es erforderlich, eigenes Datenmaterial in Form von Primärdaten zu erheben (vgl. Kaya 2009, S. 49). Es wurden fokussierte Interviews in tendenziell offener Form geführt, damit bekamen die Befragten die Gelegenheit, auch vom Interviewer nicht antizipierte Gesichtspunkte einzubringen (vgl. Hopf 2012, S. 354). Diese Form der Befragung lässt sich der Kategorie der qualitativen Interviews zuordnen (vgl. Aghamanoukjan et al. 2009, S. 421 f.). Die Durchführung erfolgte in nicht standardisierter Form, da in den Antworten keine Häufigkeiten oder Vergleichbarkeiten im Mittelpunkt standen (vgl. Atteslander 2010, S. 135). Offene Erhebungsverfahren können als Hauptinstrument in der qualitativen Forschung bezeichnet werden (vgl. Atteslander 2010, S. 129). Als Erhebungsverfahren für Primärdaten sind Befragungen und Beobachtungen denkbar (vgl. Kaya 2009, S. 50). Vor der Durchführung der Interviews wurden in der Vorbereitungsphase Gesprächsthemen entworfen, Pretests durchgeführt und Recherchen zur befragten Person und dem jeweils betreffenden Unternehmen angestellt. Die Gesprächsthemen dienten dazu, die Aussagebereitschaft der Befragten zu erhöhen. Ein Leitfaden wurde dabei weder angestrebt noch angewendet, obwohl Leitgedanken beim Autoren selbstverständlich vorhanden waren. Diese orientierten sich am Prozess des selektiven Demarketings (siehe Kap. 2.1.2) und den Ausführungen zu Erfolgsfaktoren in Kapitel 2.1.4 (siehe Anhang 2). Ein vorab nur schwach strukturiertes Vorgehen ist für qualitative Befragung passend (vgl. Diekmann 2012, S. 438). Den Befragten wurden die Gesprächsthemen ohne weitere Kommentierung oder Fragen vorgelegt (siehe Anhang 1). Die Gesprächsthemen für den Interviewer wurden um die Leitgedanken erweitert (siehe Anhang 2), sie wurden mit Fragen und Anmerkungen versehen, um in das Gespräch bei Bedarf strukturierend eingreifen zu können.
Die Interviews wurden vor Ort im Unternehmen durchgeführt in der Hoffnung auf hohe Gesprächsbereitschaft. Der Nachteil gelegentlicher Unterbrechungen durch betriebsinterne Störungen überwog diesen Vorteil nicht. Die Pretests dienten der Vorbereitung des zeitlichen Ablaufes des Interviews und dem Umgang mit evtl. auftretenden ausweichenden und/oder ablehnenden Gesprächsverhalten der Interviewpartner. Die Recherchen zur befragten Person sollten auf die Sprachgegebenheiten des Interviewpartners vorbereitend helfen und die zum Unternehmenshintergrund sollten sachlich profunde Gespräche gewährleisten, um Darlegungen von internen Vorgängen schneller zu verstehen und gezielt einzubeziehen. Als situativer Faktor wurde die „Face to Face“-Situation präferiert, um Vertrauen, Offenheit und Spontaneität bei Reaktionen zu fördern (vgl. Diekmann 2012, S. 437). Zu unternehmensspezifischen Themen wurden nach Möglichkeit allgemeine Antworten angestrebt, um Vergleichbarkeit zu erreichen. Dafür wurden in bestimmten Fällen die Techniken der sog. Ladderingmethode angewendet. Absicht des Interviewers ist hier, entlang der Antworten gezielt weiter nachzufragen, wenn ein allgemeiner Wert hinter der Aussage vermutet wird. Es wird versucht, über von Ausprägungen verursachte Konsequenzen an dahinter liegende Werte zu gelangen (vgl. Kühnast 2013, S. 40 f.; Veludo-de-Oliveira et al. 2006, S. 298). Es wurde überwiegend positiv formuliert. Ein praxisnaher Sprachcode diente der Förderung von Verständnis des Inhaltes der Fragen und dem Aufbau von Vertrauen gegenüber dem Interviewer. Der Redefluss der Befragten wurde nur unterbrochen, wenn er zu stark vom Thema abwich, aus Zeitgründen das nächste Thema eingeführt werden musste oder keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten waren. Die Gespräche wurden bei Einwilligung der Befragten und unter Zusage anonymisierter Auswertung audioaufgezeichnet. Die Aufzeichnungen der Interviews wurden verschriftlicht. Es wurde eine wörtliche Transkription in Form einer literarischen Umschrift durchgeführt. Dies wird für Interviewdaten empfohlen, um Füllwörter wie „äh“ zu entfernen (vgl. Kowal/O’Connell 2012, S. 441; Höld 2009, S. 658), denn die Forschungsfrage lässt sich auch ohne Dokumentation von solchen „nebensprachlichen“ Inhalten der Interviews bearbeiten. Sprachbesonderheiten hingegen wurden nicht korrigiert (vgl. Höld 2009, S. 660). Die Transkriptionen wurden vereinbarungsgemäß anonymisiert, um Rückschlüsse auf befragte Unternehmen auszuschließen (siehe Anhang 3–12).
[...]
- Citation du texte
- Jassir Qushta (Auteur), 2014, Erfolgsfaktoren des selektiven Demarketings. Eine qualitative Untersuchung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/418828
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