Das Wort 'Spiritualität' kann als Chiffre für den Aspekt des menschlichen Bewußtseins gesehen werden, aus dem der Impuls zur Selbst-Transzendierung und die individuelle Werte-Orientierung erwächst. Religion als kollektive Ausformung dieser uns angeborenen Bestrebungen ist ein wichtiger gesellschaftlicher Ordnungsfaktor und ein oft entscheidendes Kritererium kultureller und individueller Identität. Als solche motiviert unsere Spiritualität unser individuelles Handeln, das schliesslich auch im politischen Bereich zum Tragen kommt. Wie kann man das Phänomen der Spiritualität im politischen Kontext betrachten, wo liegt sein politischer Beitrag im internationalen Umfeld?
Inhalt
Einleitung
Das globale Umfeld
Kulturelle Vermittlung
Thema
A. Spiritualität und Moderne
Begriff und Definition der Spiritualität
1. Kulturformen des Spirituellen
a. Indigene Kulturen und natürliche Spiritualität
b. Weltreligionen und Heilsreligionen
Hinduismus
Der Geist Chinas
Buddhismus
Judaismus
Christentum
Islam
c. Die esoterischen Traditionen
2. Die Spiritualität der Moderne
a. Neue Religiosität und New Age
b. Struktur des Spirituellen
3. Spiritualität in politikwissenschaftlicher Perspektive
a. Komplexität, Totalität, Realität
b. Topologie der Metapher
c. Operationalisierung
Handlung und Institution
Die internationale Dimension
Transkulturelle Institutionalisierung
B. Die spirituelle Dimension der Politik und die Vereinten Nationen 53
1. Der ‚spirituelle Kern’ der Vereinten Nationen
a. Der Geist der Gründungsdokumente
Die Charta der Vereinten Nationen
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
b. Der Faktor „Persönlichkeit“
Dag Hammarskjöld
Robert Muller
2. Die Ebene der Nichtregierungsorganisationen
a. NGOs und die internationale Zivilgesellschaft
b. Rechtlicher Status und Formen der Mitwirkung
c. Arbeitsbereiche religiöser, spiritueller oder
weltanschaulicher Nichtregierungsorganisationen
Politische Einflußnahme
Menschenrechte, Humanitäres
Konferenzen
3. Aktivitäten ausgewählter NGOs im religiösen, spirituellen und weltanschaulichen Bereich
a. Christliche Kirchen, Glaubensgemeinschaften und Organisationen
Katholische Kirche
Quaker UN Office
Interfaith Center of New York
b. Theosophische Gruppen
Die Theosophie
Lucis Trust Association und verwandte Organisationen
c. Andere Gruppierungen
Soka Gakkai
Baha’i
C. Schluß
Zusammenfassung
Befunde
Ausblick
Anmerkungen
Literatur
Einleitung
"Im Vergleich zum Denken des 21. Jahrhunderts, das notwendig ist, damit die Menschheit überlebt, wird sich das Denken des 20. Jahrhunderts steinzeitlich ausnehmen.“ Ervin Laszlo
[Spiritualität ist ein Topos geistiger und politischer Erneuerung] Eine der Grundvorstellungen der politiktheoretischen Strömung des 20. Jahrhunderts, die sich „Politische Theologie“[i] nennt, ist die, daß die Ordnung der Gesellschaft und der Politik aus dem geistigen Grunde der Zeit schöpfen.[ii] Die institutionelle Verfassung des Politischen und die spirituelle Konstitution von Individuen und der Gesellschaft stehen so gesehen in einer engen Wechselbeziehung. Eric Voegelin betont die universale Bedingtheit des Politischen durch das ‚Bewußtsein’.[iii] Dabei ist das Spirituelle, das Geistig-Seelische, dasjenige Erfahrungsmoment menschlicher Existenz, das der Öffentlichkeit des gesellschaftlichen und politischen Alltagsbetriebes am meisten abgewandt scheint. Man verbindet damit Innenkehr, Meditation, Mystik, Schweigen. Das spirituelle Bewußtsein hat, wenn es sich auch zur Welt zurückwenden mag, doch die Transzendenz im Sinn und nicht die Immanenz. Von daher, in ihrer Haltung zur Welt, scheinen spirituelles und politisches Leben weitmöglichst voneinander entfernt. Aber zwischen den am weitest entfernten Polen herrscht oft die größte Spannung. Und so kann es sein, daß zum Beispiel im Ruf nach neuen Werten gerade das Bedürfnis nach einer erneuten Befruchtung der politischen durch die geistige Sphäre anklingt. Der Funke springt, wenn, dann meist auf dem Höhepunkt einer Krise über. Die Krise der Weltsituation heute schafft aber Bedingungen, die geschichtlich einzigartig dastehen, denn die Bedingungen der Möglichkeit einer geistigen Erneuerung sind am Anfang des neuen Jahrtausends auf globalen Maßstab angewachsen.
Das globale Umfeld
[In der letzten Dekade ist die Welt verstärkt in Bewegung geraten] In der letzten Dekade des alten Jahrtausends ist (welt-)politisch vieles in Bewegung geraten. Der politische Handlungsspielraum des Nationalstaates wird mit fortschreitender Globalisierung und den Dominanzansprüchen der Ökonomie kleiner und kleiner. Aus der bipolaren Welt des Kalten Krieges ist eine Welt geworden, die sich zwar auf eine multipolare Ordnung hinbewegt, ihre gegenwärtige Stabilität aber aus der wirtschaftlichen Dominanz der Vereinigten Staaten bezieht. Mit dem Ende des Kalten Krieges scheint auch das Zeitalter der politischen Ideologien vorbei zu sein, und das Bewußtsein dafür wächst, daß viele Probleme - zum Beispiel im Umweltbereich - grenzüberschreitenden Charakter haben und nur von allen Nationen gemeinsam gelöst werden können. Gleichzeitig tun sich neue Konfliktlinien auf, die zwischen Kulturen und Religionen zu verlaufen scheinen. Das Projekt Moderne krankt an seiner eigenen Dynamik und ist in die Krise geraten. Zu dieser Krise tragen die Aporien des Wachstums und der Machbarkeit bei, die das westliche Kulturmodell selbst heraufbeschworen hat. Die ökologische Dimension der Endlichkeit der Ressourcen bedingt geradezu ein Umdenken. Zu diesem Umdenken gehört auch, die geistigen Grundlagen des Kulturprojekts Moderne zu überdenken.
Was kann am Ende dieser globalen Entwicklung stehen? [Ein negatives Szenario bestünde im globalen Versagen der Politik und zunehmenden Zerfallserscheinungen] Vorstellbar ist der Fehlschlag der globalen Integrationstendenzen, einfach weil die politischen und wirtschaftlichen Systeme mit der Dynamik der globalen Prozesse nicht Schritt halten können. Zu einem derartigen Alptraumszenario gehört die Bevölkerungsexplosion mit entsprechenden grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen, die Verknappung der Ressourcen, die Entfremdung des Menschen von der kulturellen Substanz seiner Menschlichkeit dadurch, daß die notwendigen Leistungen der Gemeinschaft (Sicherheit, Freiheit, Bildung, Lebenschancen), die zu seiner Entwickung nötig sind, nicht oder nicht in ausreichendem Maße erbracht werden. Am Ende einer derart negativen Entwicklung stünde der Zerfall des Weltsystems in kleinere Einheiten oder Parzellen, die sich in ihrer Entwicklung selbst überlassen bleiben. Dieses postnationale, quasi-anarchistische Szenario würde das Ende der westlichen Zivilisation, das Ende zentraler Konzepte wie Nationalstaat und Bürgerrecht und damit auch das Ende der Internationalismen (bsp. der Menschenrechte) bedeuten. Der Weltbevölkerung würde der Horizont ihrer Einheit wieder ganz verloren gegangen sein.
[Eine Lösungsmöglichkeit wäre die totalitäre Dominanz einer Kultur] Ein mögliche Antwort auf die politischen Unwägbarkeiten einer solch negativen Entwicklung wäre die forcierte Dominanz eines einzelnen Gesellschafts- und Denkmodells, das die Bewegungsfreiheit seiner Mitglieder und den Zugang zu verfügbaren Ressourcen restriktiv reguliert, die Antworten auf zentrale Lebensfragen standardisiert und die Freiheit zur Wahl der Lebensweise einschränkt. In gewissem Sinne war der Kalte Krieg (sofern man überhaupt von einer ‚geplanten’ Entwicklung sprechen kann) eine Strategie, die Konflikte einer zunehmend selbstbewußten Menschheit durch die Koppelung an einen Monopolkonflikt zu kontrollieren und über die wirtschaftlichen Belange zu steuern. Und heute – nach dem Zusammenbruch des Monopolkonfliktes und der Alternativideologien zum Kapitalismus – scheint der ökonomische Trilateralismus Japans, Deutschlands (bzw. der EU) und der USA die einzige ordnende Kraft in der Welt zu sein.[iv] Aber die weltpolitische Situation ist seit 1989 sehr viel unberechenbarer geworden, wie beispielsweise John Mearsheimer in einem vielzitierten Artikel des Jahres 1990 beklagte.[v] Wenn Samuel Huntington davon spricht, daß die USA die Weltgeschicke am liebsten unilateral regeln würden und nach einem Zusammenrücken der atlantischen Wertegemeinschaft ruft, um das westliche System auch in das 21. Jahrhundert zu retten, dann schlägt er eine Lösung vor, die mit den vielen Unwägbarkeiten einer multipolaren Welt auch die vielen Chancen einer kulturell ‚offenen’ Weltgesellschaft unterdrücken würde.
[Das Faktum kultureller Vielfalt wird aber durch die Emanzipation der Kulturen und die Universalität der Moderne offensichtlich] Je globaler der Horizont der Wahrnehmung, der sich uns heute eröffnet, desto deutlicher wird, daß eine Vielzahl von Lebensweisen und Weltsichten nebeneinander existiert und existieren soll. Was für die pluralistischen Gesellschaften des Westens gilt, muß für die ‚Weltgesellschaft’ umso mehr gelten: das Gebot der Vielfalt gerät aber dort zum Problem, wo die Einzelperspektiven miteinander konkurrieren und die Toleranz oder die nötige Vermittlung fehlt. Die existierenden Vorstellungen vom ‚rechten Leben’ sind hinsichtlich der Ordnungsvorstellungen miteinander oft nicht kompatibel. Und sie werden von unterschiedlichen geistigen Grundverfassungen informiert. Man könnte typisierend diese weltweit auftretenden kulturellen Fronten auf das Gegensatzpaar Okzident – Orient reduzieren, wie dies einleitend Johan Galtung in seinem Buch über Menschenrechte tut.[vi] In Bezug auf die Menschenrechte melden sich die selbstbewußtesten Stimmen aus Asien und dem Nahen Osten: aber Tatsache ist, daß sich alle Nationen, nicht nur die orientalischen, am westlichen Kulturmodell orientieren und seiner Mechanismen und Institutionen bedienen, Tatsache ist, daß das gesamte Weltsystem von der technischen Rationalität des Abendlandes geleitet wird: mit dem Verweis auf ihre Souveränität, mit dem manche Länder gegen den universalistischen Anspruch der Menschenrechte protestieren, bestätigen sie eines der zentralen Prinzipien im Politikverständnis des Westens.
[Die Bewältigung der Krise fordert eine neue Qualität internationaler Kooperation] Angesichts der selbsterzeugten Herausforderungen kann sich die technologische Rationalität des Okzidents ihrer Fähigkeit zur hegemonialen Integration des Weltsystems nicht mehr sicher sein.[vii] Die Antworten der Moderne stoßen an die erwähnten Grenzen der Ökologie und der systemimmanenten Restriktionen.[viii] Zur Bewältigung dieser Herausforderungen ist die Errichtung von Dependenz- oder Interdependenzstrukturen nicht ausreichend: heute wird deutlich, daß eine neue Qualität der internationalen Kooperation gefordert ist, um den ‚Terror der Ökonomie’[ix] zu bremsen und den ‚Kampf der Kulturen’[x] zu vermeiden. Eine der Annahmen der vorliegenden Arbeit ist, daß diese neue Qualität die kulturelle und geistige Dimension miteinbeziehen muß. Die neue Qualität besteht in einer Qualifizierung weltpolitischer Strukturen und Institutionen, vor allem auch deswegen, weil die ökonomischen und sozialen Transformationen[xi] zu Ängsten vor dem Verlust der Identität und zu entsprechenden Protesten führen. Die jüngsten Unruhen in Seattle beim Vorbereitungstreffen für die nächste Liberalisierungsrunde der WTO und bei der Tagung des World Economic Forum in Davos lassen nur ahnen, wie sich entsprechende Konflikte zwischen der ökonomischen Weltelite und einer immer besser organisierten transnationalen Zivilgesellschaft in Zukunft entwickeln könnten.
[Spiritualität ist ein zentrales Motiv kultureller Identität] Für die Ausbildung und Aufrechterhaltung der kulturellen Identität ist neben den Bindungen an Ethnie, Territorium und die (nationale) Schicksalsgemeinschaft vor allem die Religion wichtig. In traditionellen Gesellschaften hat die jeweilige Religion für die soziale Identität eine zentrale Bedeutung. Ihre Institutionen können an die Stelle politischer Einrichtungen treten und das Gemeinwesen strukturieren. In Theokratien (Tibet) oder Hierokratien sorgt die Priesterschaft für die Herstellung von Identität, Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Kohärenz. In den religiösen Institutionen traditioneller Gesellschaften konzentriert sich das ‚Symbolmanagement’ der Gesellschaft. Umgekehrt können auch politische Institutionen eine rituelle Funktion erhalten, die vorher religiöse Institutionen innehatten; so kann eine Art des Profanritus des Politischen entstehen, der für die ‚Gläubigen’ – leger gesagt: diejenigen, die ihre Hoffnungen in die politischen Institutionen setzen – die Funktion eines religiösen Ritus übernimmt. Religion ist von ihren kulturellen Konnotationen kaum zu trennen und die Kultur birgt in ihrem Kern meist die spirituellen Grundüberzeugungen ihrer Angehörigen.
Kulturelle Vermittlung
Die Vermittlung, die stattfinden muß, so eine der Thesen der vorliegenden Arbeit, hat neben der technischen eine gleichwertige kulturell-geistige Komponente. Die Erwartung vieler Beobachter, daß die Religion als Aberglauben entlarvt und im Schwinden begriffen ist[xii], hat sich als ungerechtfertigt herausgestellt. Allenthalben ist in der Gesellschaft von heute eine Renaissance des Religiösen zu bemerken, das – angepaßt an den neuen Geist der Zeit – in alten und neuen Formen nach wie vor eine wichtige kulturelle Funktion erfüllt. Und dies gilt nicht nur für den Westen, sondern ist ein weltweites Phänomen. Mit seinen Symbolen, Werten und Normen informiert das religiöse Bewußtsein die Bildung kultureller Identitäten und stellt ein Reservoir ethischer Handlungsorientierungen bereit, die die Wahrnehmung der gesellschaftlichen und politischen Realität prägen.
[Zwei Ebenen] Wenn man die Bedingungen dieser Vermittlung untersuchen will, kann man dies auf zwei Ebenen: einerseits auf der Ebene der Gesellschaft, wo sich religiöse Subsysteme ausformen und einen nicht unwesentlichen Einfluß auf die Hoffnungen, Erwartungen und Werte der Individuen und damit auch auf die institutionelle Struktur und den sozialen Charakter der Gesellschaft haben. Andererseits auf der Ebene der Institutionen und Organisationen selbst, in denen sich die normative Struktur der Gesellschaft manifestiert. Die Individuen, die als Akteure innerhalb und für die politischen Institutionen wirken, handeln zweifach: erstens als institutionelle Funktionsträger, die ihrer Satzung verpflichtet sind, zweitens als selbstverantwortliche Individuen, die ihrerseits über eine gewisse Kontextautonomie verfügen, was die Wahl von Symbolen, Erklärungsmustern und Zielsetzungen betrifft und sich in der Entwicklung von Präferenzen und Handlungsorientierungen niederschlägt.
[Ort der Vermittlung] Der Ort dieser Vermittlung zwischen religiösen Kulturen und geistigen Traditionen ist nicht der soziale Kontext einer gewachsenen, national umfaßten Gesellschaft, sondern die internationale Politik, in der Konflikte, seien sie religiöser oder anderer Art, in der Regel zwischen Staaten – und nicht zwischen einzelnen Bürgern, Gruppen oder Glaubensgemeinschaften – ausgetragen werden. Die Übertragung der obigen Differenzierung gesellschaftlichen Handelns in den internationalen Bereich führt zu zwei Feststellungen. Zum einen zeigt die institutionelle Ebene hier mittlerweile eine große organisatorische Vielfalt: es gibt internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, Regierungsorganisationen, Wirtschaftsregime und multinationale Konzerne, interparlamentarische Foren und internationale Nichtregierungsorganisationen. Zum anderen übersetzt sich aber auch die gesellschaftliche Ebene – was die internationale Politik betrifft – in eine institutionelle Form, denn Individuen treten hier in den seltensten Fällen als Privatpersonen miteinander in Kontakt: soziale Interaktion ereignet sich – wenn von politischer Bedeutung – dann immer in einem institutionellen Umfeld, das den Kontakt herstellt und die politischen Aktivitäten koordiniert.
Thema
Ein wichtiges, wenn nicht das entscheidende Ziel einer realistischen politikwissenschaftlichen Betrachtung ist es, zu erkennen, welche Kräfte im politischen Kraftfeld am Werk sind.[xiii] Eine bedeutende Komponente für individuelles wie institutionelles politisches Handeln sind die Motivation und die wahrnehmungsbedingte Perspektive des Handelnden. Das bewußte Interesse mag punktuell auf den Gegenstand des Handelns gerichtet sein, der Handlungsausgang oder die Entscheidung wird aber durch vielfältige Erfahrungen vom eigenen Ich, von der Natur menschlichen Daseins, vom Sinn des Lebens und der Beschaffenheit des Kosmos qualifiziert, wenn nicht determiniert. Und man spricht in Gelehrtenkreisen mittlerweile auch wieder von einer Rückkehr der Werte in die Theoriediskussion internationaler Beziehungen.[xiv]
[Spirituelle und Institutionelle Ordnung] Es ist natürlich unmöglich, der Vielfalt an Theorien und Analysen aus unterschiedlichen Fachgebieten gerecht zu werden, die sich mit den Begriffen von Spiritualität, Handeln und Institution beschäftigen. Und es geht in vorliegender Arbeit auch nicht darum, etwaige kausale Zusammenhänge zwischen Spiritualität, Handeln und Institutionen theoretisch zu erklären. Daß Handeln immer darauf beruht, welchen Sinn der Mensch seinem Dasein zuschreibt, scheint selbstverständlich. Implizit schwingt dies ja in Webers Bestimmung des Handelns als gerichtetem Verhalten und des ‚sozialen Handelns’ als 'sinnvollem Handeln’ mit.[xv] Daß das Gerippe institutioneller Ordnung das Fleisch individueller Handlungen und Impulse braucht, um lebendig zu werden, scheint genauso selbstverständlich. Das Funktionieren von Institutionen und Organisation kann weder ganz aus den ihnen eigenen Reglements erklärt werden, noch kann man Institutionen ganz auf die Akteursebene reduzieren.
[Ziel dieser Arbeit] Das Ziel dieser Arbeit ist vielmehr, den Begriff der Spiritualität einzuführen, und die praktische Relevanz der spirituellen Thematik auf der internationalen Ebene aufzuzeigen. Folgende zusammenfassende Feststellungen geben den thematischen Kontext der Arbeit an.
a) Die Strukturmerkmale der Moderne verändern auch das religiöse Leben der Gesellschaft. Seit 1945 und ganz besonders seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre haben sich neue Formen religiöser Symbolik und Praxis herausgebildet. Während die Monopole der großen Kirchen erodieren, sucht sich der primäre spirituelle Impuls der Menschen neue Ausdrucksformen.
b) In Ergänzung zur Staatenwelt bildet sich nach und nach ein Netzwerk globaler Institutionen aus, in denen ein intensivierter Dialog zwischen den Kulturen implizit oder explizit stattfindet, um in lebenswichtigen Sachfragen eine Einigung zu erzielen. Diese Institutionen sind zum einen ein Forum für das klassische ‚Bargaining’ zwischen den Nationen. Aber sie sind auch der Ort, wo vor dem Hintergrund bürokratischer Satzung und Prozedur die symbolische Interaktion der Kulturen stattfindet.
c) Vielleicht nicht das Überleben der Menschheit als Gattung, aber zumindest der Fortbestand der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, braucht einen internationalen Konsens über globale Problemlösungen. Über die normativen Setzungen besteht ja größtenteils Einigkeit.[xvi] Wesentliche, konkrete Impulse zu ihrer Umsetzung müssen aber aus dem religiös-spirituellen Sektor kommen, der die Menschen auch dort noch bewegt, wo die Mittel der Politik versagen.
d) Im Bereich internationaler politischer Organisationen wird die religiös-kulturelle Thematik intensiv diskutiert und als durchaus relevant betrachtet. Die globalen Veränderung im ‚religiösen Klima’ finden auch hier – in der individuellen Orientierung und in der öffentlichen Diskussion – ihren Wiederhall. Die fundamentale Bedeutung des religiös-weltanschaulichen Bereichs zeigt sich in der zunehmenden Zahl von Nichtregierungsorganisationen, die explizit in Bezug auf derartige Inhalte tätig sind.
[Anregung der akademischen Sensibilitäten] Bei aller Vielfalt der Theorien, bei all dem Streit zwischen den Fakultäten und den ‚scientific communities’ muß das gemeinsame Ziel – apodiktisch formuliert - sein, als Welt-Kultur zu ‚überleben’, denn die Alternative heißt Zerfall und Untergang. Von daher hat die Arbeit das praktische Ziel, über die Bedingungen des Überlebens mit den Mitteln der Politikwissenschaft nachzudenken. In diesem Sinne ist die Arbeit eine Aufforderung, neue Sensibilitäten zu entwickeln, um auf die Fülle der Anforderungen als menschliche Wesen reagieren zu können. Und vielleicht ist dies: die Entwicklung neuer Sinne, neuer Sensibilitäten und Sinngehalte, tatsächlich ja - wie Skolimowski meint - die eigentliche Triebkraft der Evolution.[xvii]
A. Spiritualität und Moderne
„Wo immer ein Wirkliches im religiösen Erlebnis sich als ein Heiliges zu erkennen gibt, wird es zum Allerwirklichsten, zum Realissimum. Diese Grundwandlung vom Natürlichen zum Göttlichen hat zur Folge eine sakrale und wertmäßige Rekristallisation der Wirklichkeit um das als göttlich Erkannte. Welten von Symbolen, Sprachzeichen und Begriffen ordnen sich um den heiligen Mittelpunkt, verfestigen sich zu Systemen, füllen sich mit dem Geist der religiösen Erregung und werden fanatisch als die „richtige" Ordnung des Seins verteidigt.“ Eric Voegelin [xviii]
Begriff und Definition der Spiritualität [8]
[‚Spiritualität’ als Krisen- und Kritikbegriff] Spiritualität ist heute zu einem Modebegriff geworden. Mit dem Verlust des religiösen Monopols der Kirchen, mit der bunten und unüberschaubaren Vielfalt neuer Formen der Religiösität und dem wachsenden Interesse für nichteuropäische Religionen ist nicht mehr so klar, was Spiritualität eigentlich bedeutet.[xix] An diesen neuen Formen der Spiritualität in der Gesellschaft entzündet sich dann von mal zu mal das Unbehagen, das viele bei der Analyse der eigenen Kulturentwicklung ergreift. ‚Spiritualität’ ist also ein Krisen-, ein Kritikbegriff. Jedes Reden über Spiritualität impliziert damit – zumindest vor dem aktuellen Hintergrund – auch eine Auseinandersetzung mit dem inneren Kern der Moderne.
[Die Etymologie des Wortes ‚Spiritualität’] Das Wort ‚Spiritualität’ verweist auf seine lateinische Wurzel ‚spiritus’[xx] mit der Doppelbedeutung als ‚Atem’ und ‚Geist’ als das belebende, beseelende Prinzip. Dieser Zusammenhang findet sich in vielen indoarischen Sprachen: griechisch pneuma, sanskrit atman – mit den Bedeutungen ‚Atem’, ‚Lebenshauch’, Geist, aber auch im semitischen Sprachraum: hebräisch: ru’ach = ‚Hauch’, ‚menschlicher Geist’, ‚Sitz des Bewußtseins’.[xxi] Im Kern meint ‚Spiritualität’ das Leben in und aus dem Geist, das seelisch-geistige Streben nach Kontakt mit dem Göttlichen oder mit dem transzendenten Seinsgrund. Die spirituelle Erfahrung bereichert das psychische Leben um die Teilhabe an einer Dimension des Daseins, die die begrenzte und kontingente Personalität des Einzelnen tranzendiert. Die Psychologie, die sich vorwiegend auf die Pathologie des Psychischen konzentrierte, hat selten zu einer entsprechenden Würdigung dieser Kapazitäten des Seelischen gefunden. Manche Psychologen, zum Beispiel Roberto Assagioli oder Stanislav Grof, haben dies mit der Transpersonalen Psychologie versucht; Aurobindo, der große indische Denker des Yoga, hat aus den traditionellen Formen des Yoga eine Psychologie des ‚Supramentalen’ geformt. Unzählige Namen haben die religiösen, spirituellen und mystischen Traditionen dafür gefunden und die spirituelle Erfahrung in unzähligen Gedichten, Gebeten und Traktaten besungen, gefeiert und dargelegt.
[Der Begriff der Spiritualität] Der Begriff der Spiritualität bezieht sich allgemein auf die geistig-seelischen Wesensaspekte des Menschen, auf das, was am Menschen 'nicht in der Welt' und 'nicht von dieser Welt' ist;[xxii] unmittelbar religiöse Erfahrungen, Erweckung, Bekehrung, Erleuchtung, Offenbarung, aber auch nichtreligiöse Pendants wie die Erfahrungen von inklusiver Ganzheit, Lebendigkeit, Sinnhaftigkeit, evidenter Erkenntnis, Transformation und Neuorientierung kann man dem Bereich spiritueller Erfahrungen zuordnen. Der objektivierte Kern der spirituellen Erfahrung - gleich ob man dies nun Selbst, Seele, Atman oder Buddhanatur nennt – wird als Quelle individueller Handlungsorientierungen erfahren.[xxiii] Gleichzeitig konnotiert der Begriff aber auch die Ebene kollektiv wirksamer Ausdrucksformen des Geistig-Seelischen, die als Weltansichten, als religiöse Gebräuche oder Riten, aber auch als quasi säkulare Wertesysteme und Institutionen politische Wirksamkeit erlangen.
[Vermittlung der spirituellen Erfahrung] Die Vermittlung der spirituellen Erfahrung lag seit jeher in der Zuständigkeit geistiger Lehrer, die in der Lage waren, den Schüler durch ihr lebendiges Beispiel selbst zur Realisierung dieser Erfahrung, zum Nachvollzug, anzuregen. Aber die Sprache der Mystiker, der Offenbarer, der Propheten, der Erwachten und der ‚Gurus’ ist zwangsläufig dunkel und kann die authentische Erfahrung nicht direkt bewirken. Weil die spirituelle Erfahrung ihrer Natur nach höchst privat und subjektiv ist, kann sich ihre politische Bedeutung auch nicht direkt über den subjektiven Inhalt dieser Erfahrungen erschließen. William James hat aber eindrucksvoll gezeigt, daß das Spirituelle eine eigene Kategorie persönlicher, subjektiver Erfahrung darstellt und daß von derartigen Erfahrungen eine enorme Wirkung auf die persönlichen Motivationen, Lebensziele und Handlungsorientierungen, sowie auf die Wahl der Handlungsmittel ausgehen kann.[xxiv]
Private Erfahrungen, gleich welcher Art, werden jedoch immer erst dann politisch relevant, wenn sie sich ‚objektivieren’ – durch spezifisches Verhalten, durch entsprechende Handlungen oder Mitteilungen – und dadurch in den Bestand der Allgemeinheit übergehen, eine soziale, gesellschaftliche oder auch politische Wirkung entfalten, sei es als Ideal, als Wertesystem, als spezifische Formel der Weltwahrnehmung oder auch als religiöse Lehre. Das Wirkungsspektrum des Religiösen in der Gesellschaft ist denkbar weit: man denke nur an die religiös motivierten Revolutionen im Nahen Osten, die vielen Konflikte zwischen Volks- und Gesellschaftsgruppen, die sich religiöser Symbolik zu ihrer Legitimation bedienen, oder an die Tatsache, daß eine religiöse Massenbewegung wie die Falun Gong in China zu fast hysterischen Reaktionen des sonst sehr gelassenen Regimes führt. Die Religion ist in der Lage, Menschen und Massen zu mobilisieren, im religiösen Leben der Menschheit liegt eine elementare Triebkraft und religiöse Führer erlangen oft den Zugang zum Herzen der Menschen, der einer rationalen Politik versagt bleiben muß. Und wie Eric Voegelin gezeigt hat, verschleiert die Politik, wenn sie diesen unmittelbaren Zugriff auf das Innerste der Menschen erlangen will, ihre wahre Absicht gerne hinter der Rhetorik des Religiösen oder will gar selbst zur Religion werden.[xxv]
[Definition: Der spirituelle und der rituelle Anteil der Religion] Auch wenn sich die Spiritualität des Menschen gegen die institutionalisierte Religion wenden kann, so macht es doch keinen Sinn, Spiritualität in Abgrenzung zum Phänomen der Religion zu definieren. Vielmehr ist das Spirituelle ein wesentlicher Aspekt jeder Religion. Spiritualität soll hier und im Folgenden die Dimension des Religösen benennen, die im Inneren die Anbindung an den geistigen Grund des Daseins entweder sucht und findet oder auch mit diesem plötzlich konfrontiert ist; Sinn, Vision und Erneuerung sind die Merkmale des Spirituellen; in ihrer Unmittelbarkeit und Verbindlichkeit kann die spirituelle Erfahrung auch beunruhigend wirken und dem gewohnten Lebenslauf eine abrupte Wendung geben. Die spirituelle Erfahrung ist der Motor, der belebende Impuls für die rituellen Formen religiöser Aktivitität. Das Ritual dagegen bringt die spirituelle Gabe im individuellen Dasein, in der Gemeinschaft und in der Gesellschaft zur Wirkung. Rhythmus, Manifestation und Teilhabe sind die wesentlichen Attribute des rituellen Aspekts der Religion.[xxvi]
[Weitere Konnotationen des Begriffs] Diese Definition soll jedoch nicht über die ‚Reibung’ hinwegtäuschen, die im Alltagsverständnis zwischen den Begriffen der Spiritualität und der Religion besteht. ‚Spiritualität’ bleibt ein Kritikbegriff mit vielfältigen Konnotationen. Sie meint die ursprüngliche Daseinserfahrung als der kreativen, ideellen Quelle aller zeitlichen Schöpfungen und verwehrt sich von daher dem Versuch, sie wie Durkheim, James und andere[xxvii] als ‚religiöse Erfahrung’ oder ‚Religiosität’ ganz in eine Gesellschaftstheorie oder eine Ökonomie spiritueller Bedürfnisse einzugliedern. Der kreative, unvorhersehbare, freiheitliche Aspekt soll hier wesentlich für das Begriffsverständnis sein. Thematisiert werden sollen die subtilen Wandlungen und politischen Manifestationen des allgemeinmenschlichen Bedürfnisses nach Transzendenz und Daseinserhellung. Mit der Einführung des Begriffes der Spiritualität in politikwissenschaftliche Fragestellungen verbindet sich aber auch der Versuch, das enge Verständnis von Religion, das sich allein auf das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz verläßt, zu erweitern, um so die globale Vielfalt religiöser Phänomene fassen zu können. Wem dies selbstverständlich klingt, sei daran erinnert, daß die Bezeichnung ‚Religion’ bis vor nicht allzulanger Zeit allein den Religionen der jüdisch-christlichen Tradition vorbehalten war.[xxviii] Allerdings verweist ‚Spiritualität’ immer auf das Übernatürliche: die Möglichkeit, das ens realissimum im Diesseitigen zu identifizieren, sei es als Führergestalt, als politische Struktur oder als Ideologie, ist nicht inbegriffen.[xxix] Nur solche Erfahrungen sind wahrhaft ‚spirituelle’ Erfahrungen, die mit dem Bewußtsein einhergehen, daß sie in ihrer wesenhaften Innerlichkeit niemals ganz ins Äußere, ins Sprachliche, Dingliche gebracht werden können; nur als solche entwickeln sie die Kraft zur Inspiration und Transformation, die ihnen hier – definitorisch - zugeschrieben wird.
1. Kulturformen des Spirituellen
[Kultivierung der Spirituellen Erfahrung] Die spirituelle Erfahrung fließt ein in und artikuliert sich durch die vorhandenen Kulturformen. Die Religion als Teil des sozialen Umfeldes liefert den Symbolvorrat und die semantische Topologie für die Formulierung und Deutung spiritueller Erfahrungen. Der intime Zusammenhang zwischen dem symbolischen „Instinkt“ des Menschen und der religiösen Dimension drängt sich dem Beobachter geradezu auf und wird von den Gelehrten je nach Fachrichtungen unterschiedlich verarbeitet: sei es, daß der Konstruktivist von „Konstruktion“, der Semiotiker von Semiose, von der „Welt als Zeichen“ (Eco) oder vom Mythos spricht, in dem das Symbol selbst zur Wirklichkeit wird (Barthes), sei es, daß der Soziologe von der symbolischen Sinnwelt[xxx] spricht, oder auch wie Voegelin von den Symbolwelten, Sprachzeichen und Begriffen, die sich um die heilige Mitte ordnen – trotz dieser Emphase hat die moderne Wissenschaft die zentrale Bedeutung des Zeichens und des Symbols für die ‚Herstellung’ der Seinswirklichkeit nicht als erste entdeckt. Das magische Wort, das Schöpfungswort oder die Wurzelsilbe, sind ebenfalls Ausdruck dieser Erkenntnis. Die Dogon in Mali haben eine abstrakte Kosmogonie, an deren Anfang ein bewegungsloses Wort steht, dessen Vibration dann nach und nach zuerst Wesen und dann die Existenz der Dinge bestimmt. Jeder Grashalm, jede Mücke ist Träger eines ‚Wortes’.[xxxi] Für die Tibeter ist das beschriebene Papier, vor allem das mit heiligen Schriften beschriebene Papier unantastbar – der Tibeter vermeidet es, auf Schriftstücke zu treten oder sie achtlos wegzuwerfen.[xxxii] Die hermetischen Traditionen, die Kabbala und das indische Mantra-Yoga haben eine lange Tradition des Nachdenkens über das Wort als dem göttlichen Laut, der eine unmittelbare schöpferische und transformierende Kraft besitzt. Arthur Avalon, der große Gelehrte des Tantra, hat dies umfassend in seinen Büchern dargelegt.[xxxiii] Das Wort hat dort überall eine wesentlich kosmologische und ontologische Dimension, die sich in unserer wissenschaftlichen Auffassung nicht mehr findet – hier wendet sich das Denken auf sich selbst und der Gedanke einer symbolischen Konstruktion der Wirklichkeit wird zu einem Argument von Erkenntniskritik und Epistemologie. Der Bruch zwischen dem Innen und dem Außen, typisch für den modernen Menschen, wird nun deutlich sichtbar. Die Kluft zwischen dem subjektiv Erfahrenden und der objektiven Realität wird nicht mehr überbrückt. Das naive Verständnis nimmt die Realität so wie sie erscheint. Das wissenschaftliche Denken aber muß sich der Unvollständigkeit jeder Beschreibung, jeder formulierten Wahrheit, jeder Perspektive bewußt sein. Das aufgeklärte kritische Denken muß sich mit dieser Unüberbrückbarkeit der Seinswirklichkeit von Subjekt und Welt, von Geist und Natur begnügen. Und die moderne Kultur hat diesen Bruch in Form von ‚Entfremdung’ und ‚Entsakralisierung’ in alle Lebensbereiche transportiert.[xxxiv]
[Nichtwissen und Heil] Das Symbol und die Zeichen schieben sich vor, verschleiern, überwuchern die Wirklichkeit, gleichzeitig sind sie das zentrale Medium der Wirklichkeitserfahrung. Wir leben und wirken in Zeichen.[xxxv] In unseren kulturellen Mythen renaturalisiert sich das Symbol und verleiht letzlich auch der sozialen Realität den Status des - über das Normative erhabenen – Faktischen.[xxxvi] Aber Erkenntnis ist eine Frage der Maßstäbe. Alles was wir wissen, wissen wir nur durch das Bewußtsein. Die wahre Natur des Seienden, das wahre Wesen der Realität entzieht sich unserer Kenntnis. Für das religiöse Denken ist diese Problematik von zentraler Bedeutung: der Hinduismus spricht vom ‚Schleier der Maya’, der großen Illusion, die die ‚wahre Natur des Seins’ vor unseren Augen verbirgt; und ‚avidya’ – Nichtwissen - ist im Hinduismus und Buddhismus die Ursache für den Kreislauf der Geburten und alles abhängige Entstehen. Aber Religionen zeigen im Gegensatz zur Wissenschaft einen Weg zur Überbrückung dieser Kluft auf, einen Weg, der in Form einer Heilsbotschaft dem Subjekt aus seiner existenziellen Welt-Not hilft. Und sie geben der unmittelbaren geistigen Erfahrung, sei es als existenzielle Erfahrung der Daseinswirklichkeit und der Vereinzelung im Meer der Dinge, sei es als spirituelle Erfahrung von Transzendenz, einen ersten symbolischen und kognitiven Rahmen.
[Spirituelle Erfahrung und religiöse Innovation] Authentizität und schöpferische Kraft ist ein Kennzeichen der spirituellen Erfahrung: die wesentlichen Innovationen im religiösen Leben der Menschheit sind weniger das Ergebnis bloßer Vermengung und Neukombination altbekannten Materials, als vielmehr das Werk von Kulturheroen und Offenbarern des Heiligen. So gesehen hat die Konstruktionsthese in Hinsicht auf ‚spirituelle Realität’ nur bedingte Gültigkeit: nur die Vermittlung der spirituellen Vision muß an das Bekannte und Vertraute anknüpfen; das Spirituelle selbst entzieht sich letzten Endes dem formativen Zugriff des Sozialen. Das ‚Neue’ und ‚Unmittelbare’ der religiösen Innovation hat weniger mit ihrer Formgebung und Rhetorik zu tun, sondern mehr mit der Begeisterung, die sie vermittelt: sie ist in der Lage, einzelne Individuen und ganze Kulturen zu beleben und die Vitalität und Spannkraft ihres Bewußtseins zu erhöhen. Damit sich diese belebende Kraft in der Bildung innovativer kultureller Vorlagen auswirken kann, ist ein sprachlicher Genius erforderlich, der dem spirituellen Erleben ebenbürtig ist. In den Erzählungen, Gleichnissen, Briefen, Aphorismen, Evangelien und inspirierter Literatur finden sich überall die Metaphern der geistigen Erfahrung. Hier offenbart und ‚materialisiert’ sich die spirituelle Erfahrung.
[Der heilige Mittelpunkt der Religion]Im religiösen Kontext bedeutet die spirituelle Erfahrung eine Annäherung an den „heiligen Mittelpunkt des Religion“ (Voegelin), eine Berührung mit ihrer unmittelbaren Kraft, die als kulturelles System dann zur Manifestation drängt. Dieser heilige Mittelpunkt ist das Herz der spirituellen Erfahrung und ihre Qualität zeigt sich am unmittelbarsten in der Anwesenheit der Heiligen und in den Gesängen der Mystiker. In der aktiven Peripherie um dieses Zentrum geistiger Anziehungskraft sind in geringerer oder größerer Entfernung jene spirituellen Regungen angeordnet, die vielleicht anfangs nur in einem flüchtigen Gefühl seiner Existenz bestehen, sich aber nach und nach durch Lebenserfahrung und Übung, durch Krisen und deren Meisterung sowie durch die rituelle Bestätigung gewonnener Erfahrungen in feste Gewißheit verwandeln, bis schließlich der Mensch im Licht steht und durch das Licht verwandelt wird. Der Wandlungsmetaphorik und der spirituellen Krise begegnet man in vielen religiösen Traditionen und auch die Lichtmetapher ist bekanntes Allgemeingut. Es ist unschwer zu erkennen, daß diese Metaphern leicht in das Politische übertragen werden können und übertragen werden. Es ist der gleiche geistige Grund und das gleiche Bewußtsein, in dem und aus dem heraus sich das politische wie das spirituelle Leben des Menschen ereignet.
[Drei Strömungen menschlicher Spiritualität] Der Versuch auch nur einen Überblick über die spirituellen Traditionen der Menschheit geben zu wollen, scheint vermessen und von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deswegen soll hier ein etwas unkonventioneller Plan verfolgt werden. Die Kulturgeschichte läßt meines Erachtens drei große Strömungen des geistigen Lebens erkennen, die sich auch deutlich unterscheiden, was ihre Einordnung und Funktion im gesellschaftlich-politischen Kontext betrifft. Die erste große Strömung ist die der urtümlichen Religionen der eingeborenen Völker und Naturvölker. Die zweite ist die der Hochreligionen, der Heilsreligionen oder der großen religiösen Traditionen, die von ihrer Ausbreitung oder ihrer Wirkung her nicht auf einzelne Ethnien, Völker, Gebiete oder geschichtliche Abschnitte beschränkt sind, sondern Menschheitsideen und –ideale verkörpern. Schließlich der große Strom hermetischer, gnostischer und mystischer - kurz: esoterischer - Spiritualität, der wiederum seinen ganz eigenen geistigen Horizont besitzt. Alle drei Strömungen existieren nebeneinander. Alle drei Strömungen beeinflussen sich gegenseitig. Und alle drei Strömungen inspirieren und beeinflussen auf ihre spezifische Weise das politische Leben der Menschheit. Vor dem Hintergrund dieses spezifischen Beitrag heute soll im Folgenden das Spektrum des religiösen Lebens explorativ betrachtet werden.
a. Indigene Kulturen und natürliche Spiritualität
[Aktualität und Vielfalt indigener Spiritualität] Spätestens seit dem Gipfel von Rio melden sich die Indigenen Völker zu Wort, und konfrontieren die Internationale Gemeinschaft mit ihren politischen Forderungen, ihrer Weltsicht und ihrer Form der Spiritualität.[xxxvii] Gerade die indigenen Völker – die Ureinwohner aller Länder - präsentieren eine große Vielfalt an Einstellungen, Werthaltungen und religiösen Systemen. Umso interessanter ist die Tatsache, daß ein Prozeß der Selbstorganisation zu beobachten ist, der den Ureinwohnern erlaubt, international mit einer Stimme zu sprechen.[xxxviii] Eine „Vierte Welt“ beginnt in Erscheinung zu treten, die politische Mitsprache verlangt und sich gegen die massive Verletzung ihrer angestammten Rechte wehrt. Der Volksaufstand der indianischen Bevölkerung in Chiapas, Mexiko, oder das American Indian Movement der Sioux in den USA[xxxix] sind ein Zeichen für das wachsende Selbstbewußtsein der Ureinwohner dieser Welt.
[Rezeption indigener Spiritualität im Westen] Die - teils romantisierende – Begeisterung für die Lebensweisen und naturverbundene Religiosität der ‚Wilden’ hat in Europa eine lange Tradition. Vor allem aber seit den 60er Jahren hat sich die Rezeption dieser Kulturen im Rahmen der New Age – Bewegung intensiviert und ausgedehnt. Die populären, halbfiktionalen Bücher von Carlos Castaneda beschreiben die geheimen Lehren eines mexikanischen Schamanen; sie sind in großen Auflagen verbreitet und können fast als Schlüsselwerke des ‚New Age’ bezeichnet werden. Und in Deutschland hat sich eine regelrechte Subkultur um den indianischen Lebensstil gebildet, die - der Karl May-Romantik entwachsen – ein genuines, wenn auch nicht wissenschaftliches Interesse an der indianischen Kultur hat. Die Suche nach dem Ursprung und die Sehnsucht nach dem Paradies eines naturverbundenen Lebens hat in der europäischen Öffentlichkeit auch für ein großes Interesse an der ethnologischen Forschung geführt.[xl] Diese Rezeptionsgeschichte spielt eine große Rolle dabei, welcher Status indigenen Kulturen hinsichtlich der Integration zugesprochen wird.
[Indigene Spiritualität nicht minderwertig] Den Kolonialmächten galten die Kulturen der Eingeborenen meist als minderwertig, sie waren dem Kolonialismus Ware, wenn nicht Beute. Die indigenen Kulturen sind das Opfer kolonialistischer Geringschätzung, Ausbeutung und Versklavung. Die Entstehung neuer Nationen auf dem Gebiet ehemaliger indigener Stammeskulturen führte oftmals zum Ethnozid, zur Zerstörung der ursprünglichen Lebenbedingungen durch Immigranten, oder zur Missionierung oder Überlagerung durch kulturfremde Elemente. Indigene Kulturen erscheinen auf den ersten Blick primitiv, unterlegen und fremdartig – und wenn ‚Entwicklung’ zunehmende Autarkie und Unabhängigkeit von den Unbilden der Natur bedeutet, dann sind sie tatsächlich auf einer primitiveren Stufe anzusiedeln. Diese aus dem technisch-instrumentalen Bewußtsein westlicher Kultur getroffene Beurteilung ist aber nicht angemessen bei der Betrachtung der symbolischen Ordnung der Kulturen, wie sie in der sozialen, spirituellen oder politischen Sphäre anzutreffen sind. Wie Eliade treffend anmerkt, kann man nicht davon sprechen, daß die Naturreligionen primitiver sind.[xli] Sie sind inhaltlich und strukturell anders, aber deshalb nicht notwendigerweise weniger komplex und systematisch.
Indigene Religion ist also nicht unbedingt ‚primitiv’: Sie ist nicht beschränkt auf Tabu, Totem und Mana, sondern weist eine große Vielfalt von Modalitäten des Sakralen auf, die sich nicht in einem simplen Naturismus oder Animismus erschöpfen.[xlii] Sofern Generalisierungen angesichts der großen Heterogenität indigener Geistigkeit überhaupt statthaft sind, kann man sagen, daß sie dem unmittelbar naturbezogenen Erleben nahe steht und aus dem Staunen und der Ehrfurcht lebt, die die Unkontrollierbarkeit der natürlichen Umwelt hervorruft. Im Sinne der Tiefenökologie[xliii] ist von der indigenen Spiritualität viel zu lernen: sie steht für die Achtung vor der Natur, für eine nachhaltige Lebensgestaltung und für eine Erfahrung menschlicher Daseinswirklichkeit im Einklang mit der Natur.
[Merkmale indigener Spiritualität] Freilich haben indigene Ethnien im Kontakt mit der europäischen oder arabischen Zivilisation viele christliche oder islamische Elemente aufgenommen oder haben der übernommenen Religion eine eigene kulturelle Note gegeben. Allein die Fähigkeit, sich konstruktiv mit westlicher oder islamischer Kultur auseinanderzusetzen, setzt schon eine gewisse Inkulturation voraus. Auch wenn sich in Indonesien eine Megalith-Kultur noch bis ins 20. Jahrhundert retten konnte – heute gibt es keine unversehrte indigene Kultur mehr. Ihre Heterogenität und die Vermengung mit Elementen der modernen Hochkultur macht es schwierig, überhaupt Aussagen über indigene Spiritualität zu treffen.
Trotzdem: ein wichtiger Aspekt naturnaher, indigener Spiritualität scheint der Schamanismus zu sein, der, wie Mircea Eliade gezeigt hat, ein weltweit verbreitetes Phänomen darstellt und gleichermaßen bei süd- und nordamerikanischen Indianern, bei Eskimos und bei sibirischen und zentralasiatischen Völkern anzutreffen ist. Eliade definiert den Schamanismus als Ekstasetechnik, die in dem Glauben an ein höchstes Himmelswesen gründet. Der Schamane ist in der Lage, in der Ekstase in den Himmel aufzusteigen und eine direkte Beziehung mit dem/den Himmelswesen zu unterhalten. Zentrale Motive des Schamanismus sind das Himmelfahrtsmotiv,[xliv] und das Motiv von Leiden, Tod und Auferstehung[xlv] im Rahmen der Initiationserfahrung des Schamanen, ein Motiv, das - wenn auch nur von der Struktur her - unschwer in der Leidensgeschichte Jesu wiedererkannt werden kann. Von zentraler Bedeutung ist der Initiationsvorgang, der im Yoga und in den hermetischen Traditionen des Abendlandes ebenfalls eine große Rolle spielt. Die Neuerschaffung seines Körpers im Rahmen der Initiationserfahrung verleiht dem Schamanen seine heilende oder mantische Kraft – die Ekstase des Schamanen ist kein pathologisches Phänomen, denn es kommt nicht unvermittelt, sondern ist eingebunden in ein umfassendes theoretisches Wissen. Der Schamane als Mittler des Heiligen ist ein Prototyp des Charismatikers, der in seinem Auftreten, seinen geistigen Gaben und seiner Berufung andere von seiner inneren Macht zu überzeugen vermag. Wenn seine Berufung mit irgendeiner Krankheit (z.B. Epilepsie) einherging, so ist der Schamane nicht einfach nur ein Kranker, sondern ein Kranker der sich selbst geheilt hat.[xlvi] Weit verbreitet ist in schamanistisch geprägten religiösen Systemen auch die Rede vom Inneren Licht - eine Erfahrung, die in allen religiösen Traditionen – ob archaisch oder modern - bekannt ist.[xlvii]
[Totalität, Identität] Vor dem Hintergrund der Komplexität und der theologischen Reife vieler indigener Kulturen[xlviii] ist der anthropologische Evolutionismus des 19. Jahrhunderts als überholt anzusehen. Die Kulturen der Welt sind - vor allem in Bezug auf ihre Spiritualität - nur von innen heraus, nach den durch sie selbst definierten Maßstäben zu verstehen. Als die europäischen Missionare die Eingeborenen Indonesiens zur Übernahme der christlichen Religion drängten, stießen sie auf völliges Unverständnis, denn für die Ureinwohner Indonesiens war Religion und Spiritualität untrennbar mit dem Stamm und Volk verbunden und eine Übernahme ‚fremder’ Götter undenkbar. Anders als in modernen Gesellschaften, wo die Religion einen abgegrenzten Raum innerhalb der Gesellschaft einnimmt, umfing die altindonesische Religion die Totalität aller Lebensäußerungen in der Einheit von Mensch, Kultur und Umwelt. Die ethnische Bindung und die Totalität des religiösen Lebens weist auf die eminente identitätsstiftende Funktion der Religion hin, die in diesem Maße in den Hochreligionen nicht mehr gegeben ist, wo das Religiöse nur einen Teil zur immer komplexeren gesellschaftlichen Identität beiträgt.[xlix]
[Das Negative und dessen therapeutischer Nutzen] Die indigenen Kulturen sind leidgeprüfte Protagonisten im Drama der Modernisierung: ihre Sprache, ihre Symbolsysteme, ihre geistigen Kulturen sind vielfach vom Aussterben bedroht. In besonderer Weise muß sich an ihnen der Erfolg und Mißerfolg kultureller Integrationsbemühungen bemessen. Gerade die negativen Erfahrungen fehlender Repräsentation im System der Nationalstaaten, der Nicht-Teilhabe und Marginalisierung in modernen Gesellschaften, der allseitigen Menschenrechtsverletzungen gegen indigene Populationen und des Verlusts der natürlichen Lebensgrundlagen, thematisieren traumatische Aspekte einer westlich dominierten Weltkultur, die wir allzugerne verdrängen, die aber großen therapeutischen Nutzen bei der Verwirklichung größerer kultureller Eintracht haben könnten.[l]
b. Weltreligionen und Heilsreligionen
Die Entstehung der ersten Hochkulturen in Vorder- und Mittelasien brachte mit einer Vielzahl zivilisatorischer Innovationen auch einen neuen Typus von Religiosität, aus dem schließlich die Hoch- und Weltreligionen entstanden, die heute über den ganzen Globus verbreitet sind. Diese Religionen haben dem Menschen neue Freiheiten gebracht: sie lösen – zumindest potentiell – die naturreligiöse Bindung des Individuums an Stamm, Volk oder Land und verweisen den Menschen auf seinen individuellen geistigen Grund. Zum zweiten wird die Natur im Verhältnis zum Menschen zurückgedrängt. In der Geburtsstunde der sozialen Weltentstehungsmythen verliert die Natur mit den sie beseelenden Kräften ihre Schiedsmacht über Leben und Tod der Menschen. Stattdessen wird sie Teil einer Kosmogonie, die die natürlichen Tatsachen mit den sozialen Gegebenheiten in eine umfassende, kosmische Ordnung zu bringen versucht. Die ‚Hoch’-religionen entstanden als geistige Errrungenschaft der ‚Hoch’-Kulturen: mit den Anfängen der Zivilisation, mit dem Beginn des Ackerbaus und der Metallbearbeitung, mit den Stadtgründungen, den ersten Schritten zu einer arbeitsteiligen Gesellschaft und der Ausbildung komplexerer sozialer Zusammenhänge emanzipierte sich der Mensch erstmals von der Willkür der Natur. Die ‚grandiose neolithische Spiritualität’[li] Mesopotamiens und später Ägyptens stand ganz unter den Zeichen von Stadtkultur, Königtum und organisierter Priesterschaft.[lii]
Diese Schöpfungen des spirituellen Lebens der Menschheit waren nicht nur inhaltlich neu. Hier zeigte sich eine ganz neue Struktur des spirituellen Lebens: hier zeigte ich zum ersten Mal der Universalismus großer Kulturreligionen. Deren Götter - Marduk, Assur, Schamasch oder Osiris - wurden nach und nach zu Universalgottheiten. Der Schutz der ägyptischen Götter (z.B. des Horus) wurde in späterer Zeit auch auf Palästinenser, Nubier, Libyer ausgedehnt:[liii] Das Ideal der Ökumene, der Weltkirche, die alle Menschen eint, erschien am Horizont des Denkmöglichen. Dies gilt natürlich noch nicht für die kultischen Religionen Sumers, Akkads, Babylons, auch nicht für die Religion der Ägypter oder der Hellenen. Aber zumindest war dies dort bereits angelegt, weiter gediehen als in den naturnahen Stammesreligionen.
[Die Emanzipation des Menschen als geistiges Individuum] Der Keim des Universalismus geht einher mit einer zunehmenden Emanzipation des Individuums. Die Religion ordnete ihre Strukturen neu – um den Menschen als Mittelpunkt. Die akkadische Religion Mesopotamiens hatte eine geradezu pessimistische Anthropologie, die in einer tragischen Sicht des Menschen die Fragwürdigkeit seiner Existenz betont. Der Mensch hatte dort Teil am Geiste und war dem Universum in einem umfassenden System kosmischer Wechselbeziehungen und symbolischer Entsprechungen (z.B. der Stadt als imago mundi) verbunden. Gleichzeitig aber sprach die Kosmologie von der Erschaffung des Menschen durch die Götter aus dem Blute des Erzdämons Kingu.[liv] Bereits die großartige akkadische Spiritualität also betonte die Doppelnatur des Menschen[lv] und läßt ein Motiv anklingen, das in der weiteren Geistesgeschichte nun immer gegenwärtig sein wird. Hier klingt schon etwas an, was erst später begann, sich zu konkretisieren: die Erkenntnis des Solitärseins, das den Menschen überhaupt erst zu authentischer spiritueller Erfahrung befähigt.[lvi]
[Gesetz und Offenbarung] Helmuth von Glasenapp hat die großen Religionen der Welt grob eingeteilt in die Religionen der ewigen Weltgesetzes (Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus) und die Religionen der geschichtlichen Gottesoffenbarung (Judaismus, Christentum, Islam).[lvii] Diese Unterscheidung kann aber nur eine grobe Strukturdifferenz der Spiritualität von West und Ost aufzeigen, denn selbstverständlich gibt es zwar große Unterschiede aber auch viele Übereinstimmungen zwischen den Religionen, die dem chinesischen, dem indoarischen oder dem semitischen Kulturraum entstammen. Das Differenzkriterium, das Glasenapp anwendet, ist hier die Frage nach der personalen Natur des Göttlichen. Eine andere Differenzierung wählt Whitehead mit der Dreiteilung in den ostasiatischen Weg der Immanenz, den semitischen Weg der Transzendenz und den pantheistischen Weg des Monismus, der die manifestierte Wirklichkeit lediglich als eine unter vielen Modalitäten des Göttlichen auffaßt.[lviii] Dieser pantheistische Weg ist wohl der ur-indoarische, der auf der Achse Europa – Persien – Indien eine Vielzahl religiöser Systeme hervorgebracht hat, die mit der Dualität von Geist und Wirklichkeit ringen und deren Leitbild und Ideal aber wohl die ungeteilte Einheit und das Geborgensein in der göttlichen Wirklichkeit ist. Wie immer man die Weltreligionen einteilen will, sie sind nicht einfach nur aus kulturellen Gegebenheiten oder aus einem religiösen Grundbedürfnis abzuleiten, sondern meist die Schöpfungen der großen Stifter oder des religiösen ‚Genies’ eines Volkes. Die folgenden Abschnitte versuchen nun eine Annäherung an Essenz und Identität des spirituellen Lebens in seinem historischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext.
Hinduismus
[Ursprünge, Kontinuität] Der Hinduismus ist eine Religion von großer Kontinuität mit einer immer wieder erstaunlichen Fähigkeit zur Innovation und zur Absorption fremder Einflüsse. Die Funde in den beiden Städten der frühgeschichtlichen Induskultur, Harappa und Mohenjo-Daro, weisen auf vier verschiedene Ethnien[lix] hin, die vor dem Eindringen der Indoarier in vermutlich theokratisch organisierten, merkantilen Stadtkulturen zusammenlebten. Man glaubt, die religiöse Gestalt Indiens sei aus einer geistigen Synthese von Urbevölkerung und Indoariern entstanden. Die kulturelle Kontinuität der Urkultur mit dem modernen Hinduismus zeigt sich in vielerlei Hinsicht, zum Beispiel in dem Kult um die große Göttin,[lx] oder in dem – Shiva ähnlichen – Zeugungsgott. Ganz im Sinne dieser großen Kontinuität unterscheidet sich der Hinduismus durch den Gedanken des ‚sanatâna-dharma’ (ewige Religion) von anderen Religionen. Der Veda wird als zeitlos geoffenbartes und immer in der gleichen Form von Weltzeitalter zu Weltzeitalter wiederentdecktes heiliges Wissen von allen Hindus anerkannt, und seine Weisheit wird von Lehrverkündern und göttlichen Gesandten immer wieder erneuert und für die jeweilige Zeit reformuliert; aber aus dem gleichen Grund kann der Hinduismus keiner einzelnen Persönlichkeit einen vergleichbar exklusiven Status zuerkennen, wie ihn z.B. Jesus Christus für die Christen als Religionsstifter, alleiniger Erlöser und Mittler der göttlichen Gnade innehat.
[Yoga] Am deutlichsten zeigt sich die Kontinuität indischer Spiritualität aber wohl im System des Yoga,[lxi] von dem Eliade sagt:
„Der Yoga bildet eine spezifische Dimension des indischen Geistes. ... [er] hat alle Arten spiritueller und mystischer Techniken von den elementarsten bis zu den komplexesten in sich aufgenommen und integriert ... Von Anfang an bezeichnete der Yoga die Reaktion gegen die metaphysischen Spekulationen [des Brahmanismus] und die Auswüchse eines versteinerten Ritualismus; er vertrat nämlich die Neigung zum Konkreten, zum persönlichen Erlebnis ... man trifft immer auf eine Form des Yoga, wenn es gilt mit dem Heiligen zu experimentieren oder zu der vollkommenen Meisterschaft über sich selbst zu gelangen.“[lxii]
Yoga ist ein Komplex archaischer Spiritualität, der die indische Geistigkeit über Jahrtausende hinweg belebt hat. Das erste Śloka (Vers) des berühmten Yoga-Sutra des Patanjali (500 v.Chr.) lautet: „Yogaś citta vritti nirodha“ (d.h. Yoga ist die Unterdrückung der Bewegungen der Denksubstanz). Das königliche Yoga (Raja-Yoga) richtet seine Konzentration auf das Bewußtsein selbst, um die unwillkürliche Eigenaktivität des Denkens zu kontrollieren. Im Versuch, auf jeder Ebene (des Körpers, des Gefühls, des Denkens) die normalen Lebensfunktionen zum Stillstand zu bringen, zeigt sich der archaische Status der yogischen Spiritualität. Denn das Ziel ist – wie im Schamanismus - selbstverständlich die initiatische Wiedergeburt und der Eintritt in eine neue Modalität des Seins, die nur durch den symbolischen Tod und die Verwandlung des Körpers erlangt werden kann.[lxiii] „Das Ideal des Yoga, der Zustand des jîvanmukta, ist ein Leben in «ewiger Gegenwart», außerhalb der Zeit.“[lxiv] Zur Erlangung dieses Zieles hat der Yoga eine komplizierte «mystische» oder «subtile» Physiologie entwickelt, die sich erst in der yogischen Meditation offenbart.[lxv] Die spirituelle Energetik des menschlichen Körpers steht im Kontext einer komplizierten Metaphysik der Seelenzustände. Die meditative Manipulation der Seelenzustände wirkt direkt auf die subtile Konstitution des menschlichen Körpers ein und führt schließlich zu dessen Transformation. Wenn man die Ausführungen Patanjalis betrachtet, oder die Verfeinerung und Abstraktion, zu der sich diese Metaphysik der Psyche im buddhistischen Abhidhamma[lxvi] aufschwingt, dann muß man C. G. Jung Recht geben, der gesagt hat, der Geist des Ostens sei introvertiert, seine Erkenntnis orientiere sich allein an der Realität der Psyche. Aber, so Jung weiter, die psychische Kategorie des Seins sei die einzige Kategorie des Seins, von der wir unmittelbare Kenntnis haben, weil uns alle Erscheinung immer nur im psychischen Erleben erscheinen kann.[lxvii] Die metaphysische Spekulation Indiens ist in ihrem spezifischen Gestus der Erkenntnis (fast) immer auf diese Grundbedingung psychischer Existenz zurückgebunden.
[Stufenleiter des Seins, Maya] Im Denken des Yoga, aber auch in den anderen Systemen des indischen Denkens, hat der Kosmos selbst eine spirituelle Struktur, in der sich Ebene über Ebene in immer feinerer, ‚geistigerer’ Substanz übereinanderschichtet, die in Analogien des Oben-Unten miteinander verbunden sind. Die physischen Phänomene sind von dieser (esoterischen) Perspektive aus „mâyâ“, sie sind bloß Folge energetischer Wechselwirkungen aber nicht selber Ursache. Die Lehre von mâyâ, der großen Illusion, dem Schleier der Unwissenheit, ist eine der Grundsäulen des Vedanta und gehört zu den zentralen Aussagen der Bhagavadgîta, findet sich aber auch im Buddhismus wieder. Sie bestreitet nicht die Existenz der Phänomene, sondern belehrt über ihren Status und ihr Verhältnis zur letzten Wirklichkeit. Alle Erscheinungen sind nur bewirkt und entstehen und vergehen nach dem Gesetz des karma. Selbst die überirdischen Manifestationen der Götter und Devas gehorchen diesem Gesetz göttlicher Gerechtigkeit und kehren eines Tages in den Kreislauf der Wiedergeburt zurück. Alle Erscheinungen und Wesen haben ihren Platz auf der großen Stufenleiter des Weltenplans. Auch die Tiere und Pflanzen und selbst die unbelebte Natur sind Teil dieses Plans, in dem alle Wesen zur Erlösung streben. Die Erlösung aber kann nur in der menschlichen Verkörperung erlangt werden. Aus diesem Gedankenkomplex erklärt sich auch die indische Vorstellung der Seelenwanderung, nach der ein Mensch durchaus als Tier oder Dämon, als Engel oder sogar als Gott, entweder belohnt oder bestraft, wiedergeboren werden kann. „Natur“ ist im Sinne indischer Spiritualität niemals einfach nur ‚wertfreie Natur’, sondern in ihrer Vielgestaltigkeit immer eingebunden in eine durch und durch sittliche Ordnung des Seins. Jedes Wesen verfügt danach über ein eigenes ‚dharma’, über einen in seiner Natur verankerten Maßstab der Sittlichkeit. Gemäß diesem – individuellen - Dharma kann das Heil auch auf vielen unterschiedlichen Wegen verfolgt werden: der Yoga spaltet sich auf in den Yoga des Körpers (Hatha-Yoga), den Yoga des Wissens um das Wirkliche (Jnana-Yoga), den Yoga der Hingabe (Bhakti-Yoga) oder den königlichen Yoga (Raja-Yoga). Die indische Glaubenstoleranz speist sich maßgeblich aus dieser Anerkennung individueller Heilswege.
- seltsam apolitisch und unethisch (à Kautilya)
Der Geist Chinas
Auch die andere große Strömung östlicher Spiritualität, die chinesische Religion, ist eine Schöpfung von außergewöhnlicher Kontinuität und großer Originalität. Der Taoismus ist eine reiche Mischung aus Volksreligion, Ahnenverehrung, Aberglauben, Magie, Mystik, echter Weltweisheit und tatsächlicher hoher Geistigkeit und wird in Legenden auf den sagenhaften Gelben Kaiser (ca. 2700 v. Chr.) zurückgeführt, entstammt aber wahrscheinlich ähnlich dem Yoga einem ursprünglichen Komplex volkstümlicher Glaubensvorstellungen, die ihre große kulturprägende Kraft über die Jahrtausende erhalten haben.
Den chinesischen Religionen als Gesamtheit ist das Motiv der Weltablehnung und Weltüberwindung, das in der indischen Spiritualität so verbreitet ist, weitgehend fremd. Leitmotiv chinesischer Geistigkeit ist der Weltweise,[lxviii] der fähig ist, die Kräfte des Himmels und der Erde durch alle Wandlungen hindurch im Gleichgewicht zu halten. Diese Weisheit findet ihren Ausdruck im Begriff des TAO, aber auch im System des I Ging, dem Buch der Wandlungen, das alle Erscheinungen, persönliche und kollektive, natürliche und soziale, irdische und himmlische, in ein symbolisches System zusammenfaßt.[lxix] Die Vorstellungen von der höchsten Gottheit dagegen sind inkonsistent und höchst widersprüchlich.[lxx] Shang-Ti, der oberste Herrscher, Urheber der Welt, kommt der monotheistischen Vorstellung am nächsten, ist aber doch eher eine Personifizierung der Ordnung und weniger ein Gott, zu dem ein persönliches Verhältnis aufkommen kann. T’ien, der Himmel, ist das oberste Weltprinzip, das zusammen mit der Erde alles Existierende hervorgebracht hat. Konfuzius spricht statt von Shang-Ti immer von T’ien, andere Denker aber sehen in T’ien eine selbst von Gesetzen regierte Kraft.[lxxi] Das chinesische Denken bezieht eben Kohärenz und Identität nicht wie andere Kulturkreise von der Hinorientierung auf einen transzendenten Gott.
Auch der Begriff des TAO bezieht sich auf ein höchstes Weltprinzip, bezeichnet aber mehr einen höchsten Seinszustand als ein höchstes Wesen.[lxxii] Das TAO ist das Namenlose, das Ursein, die Leere, die Stille, das alle Dinge und das Nichts, das ihnen vorhergeht, umfaßt. „Der SINN, der sich aussprechen läßt, ist nicht der ewige SINN. Der Name, der sich nennen läßt, ist nicht der ewige Name.“ (Tao te king, Vers 1) Alle Erklärungsversuche versagen vor dem TAO, das einer grundlegenden Intution entspricht, die sich der begrifflichen Fixierung letztlich entziehen muß.[lxxiii] Das TAO ist gewissermaßen die Chiffre für das Absolute, die als konkretes Symbol für das Unbeschreibliche steht, ohne dieses Unbeschreibliche zu abstrahieren. Der chinesische Stil des Denkens ordnet sein Denken über metaphorischen Sprachgebrauch – konkret und bildhaft, dabei aber von großer exemplarischer Ausdruckskraft, in einer Vielfalt möglicher Assoziationen über sich hinaus und auf das Andere, Ähnliche hinweisend, und mit einem ausgesprochenen Sinn für Angemessenheit und die Harmonie der Bedeutungen und sinngemäßen Entsprechungen.[lxxiv] Dieses Sich-Betätigen des Denkens in makro-mikrokosmischen Entsprechungen, dieses In-Eins-Setzen der Ordnungen, ist, wie Weber anmerkt, der letzte Grund für den chinesischen ‚Universismus’.[lxxv] Das TAO ist die Chiffre für das Gesetz des Himmels, dem eine harmonische Ordnung der Welt entspricht. In ihrem höchsten Ausdruck löst die chinesische Spiritualität die quälenden Gegensätze von Transzendenz und Immanenz, von Subjekt und Welt, von Natur und Kunst, von Ästhetik und Ratio, und umgreift alles in einer großartigen Ordnung des ‚Sein-Nichtseins’. Diese Vision klingt an in dem (vom Buddhismus geprägten) Buch von Bewußtsein und Leben (Hui Ming Ging), dessen letzte Stanze folgendermaßen lautet:
DIE LEERE UNENDLICHKEIT
Ohne Entstehen, ohne Vergehen,
Ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.
Ein Lichtschein umgibt die Welt des Geistes.
Man vergißt einander, still und rein, ganz mächtig und leer.
Die Leere wird durchleuchtet vom Schein des Herzens des Himmels.
Das Meerwasser ist glatt und spiegelt auf seiner Fläche den Mond.
Die Wolken schwinden im blauen Raum.
Die Berge leuchten klar.
Bewußtsein löst sich in Schauen auf.
Die Mondscheibe einsam ruht. [lxxvi]
Mit Konfuzius spitzt sich die kosmische Harmonik des TAO auf einen Rationalismus der innerweltlichen Ordnung[lxxvii] zu, der mit den traditionellen religiösen Kategorien anderer Kulturen kaum zu begreifen ist. Der Konfuzianismus postuliert keine Seele als Wesensnatur des Menschen, kein transzendentes Heilsziel, kein Jenseits; die Götter und der Himmel (T’ien) werden zu bloßen Prinzipien reduziert; auch gibt es im Konfuzianismus keine Priesterschaft, die eine irgendwie geartete außerweltliche Heilshoffnung vermitteln könnte.[lxxviii] An ihre Stelle tritt die Bürokratie. Statt einer unveränderlich eingeborenen Wesensnatur oder transzendenten Heilsbestimmung oder auch biologischen Determiniertheit, aus der dann entsprechende Gesetzmäßigkeiten abzuleiten wären, sieht der Konfuzianismus im Kosmos ein System von Verhaltensweisen, [lxxix] in dem sich der Mensch anhand von Sitte und Brauch der Verwirklichung der grundlegenden Harmonie widmet. Der Mensch wird niemals aus seinem gesellschaftlichen Zusammenhang gelöst, er wird nicht kraft einer unveränderlichen Wesensnatur von ebenso unveränderlichen Gesetzen bestimmt, sondern er wird durch Vorbilder und Regeln geleitet. Der Konfuzianismus ist also gewissermaßen eine kosmische Tugendlehre.
Das Ideal, das der Konfuzianismus dem Menschen zuweist, ist die Vollendung seiner Menschlichkeit durch Erfüllung seiner Pflicht, nach den Maßstäben der Angemessenheit und Korrektheit.[lxxx] Der Konfuzianismus ist Ausdruck einer umfassenden handlungsethischen Einstellung. Der Erkenntnisansatz ist – der Begriff sei hier gestattet - pragmatisch-behavioristisch. Die menschliche Gesellschaft wird geordnet durch das Gesetz der Liebe, das sich in väterlicher Liebe und kindlicher Ehrerbietung erfüllt. Dahinter verbirgt sich aber keine konfuzianische Liebesbotschaft, die den Wert des einzelnen Individuums bestätigt, sondern das grundlegende Gebot der Ordnung der Gesellschaft, die gleichbedeutend mit der Ordnung des Kosmos ist. Wie die Geschichte gezeigt hat – die konfuzianische Moral war bis 1911 das Fundament des chinesischen Kaiserreiches[lxxxi] – erschöpft sich die patriarchalische Ideologie des Konfuzius leicht in einem formalen Kult und Ritus, in einer Sakralisierung der Bürokratie, in einer sinnentleerten Bewahrung der Vergangenheit, und verfällt in blinden Gehorsam gegenüber totalitären Ansprüchen.
Wenn man aber die Lehre des Konfuzius nur schwerlich als ‚Religion’ bezeichnen kann, wo liegt dann ihr spiritueller Gehalt? Die Verwirklichung von Mitte und Maß auf Kosten der Freiheit, die seelenlose Ritualisierung, das Obrigkeitsdenken und die Verhaftung in die Autorität der Vergangenheit zeigen auf, wo die Grenzen des Strebens nach Ordnung zu ziehen sind. Aber mit der Vollendung der Menschlichkeit im Hier und Jetzt, mit dem illusionslosen Verzicht auf das Streben nach dem Überweltlichen, mit der elementaren Sittlichkeit und allgemeinen Humanität,[lxxxii] dem Glauben an die Güte und die grundlegende Befähigung des Menschen zur Herstellung der Harmonie – mit all dem formuliert der Konfuzianismus ein zeitloses Ideal menschlichen Daseins. Konfuzius zeigt dem magischen Supernaturalismus des Taoismus seine Schranken, aber er bleibt letzlich doch eingebettet in die Logik des TAO. Vielleicht findet die chinesische Geistigkeit nach der Zerschlagung der konfuzianischen Himmelsordnung und den Wirren der kommunistischen Herrschaft ja eines Tages Mitte und Maß wieder in der Besinnung auf das TAO, ohne der alten Starre des Traditionalismus anheimzufallen.[lxxxiii]
So groß die Unterschiede in der Lehre und im Motiv auch sein mögen: In seiner Verweigerung gegenüber dem Transzendenten und seiner Konzentration auf die Bedingung der Menschlichkeit ist Konfuzius dem Buddha ähnlich, der etwa zur gleichen Zeit (um mit Karl Jaspers zu sprechen: zur ‚Achsenzeit’) für die indische Religiosität ein nicht weniger bedeutendes Reformprogramm initiiert hat.
Buddhismus
[lxxxiv]
Der Buddhismus ist heute in Gefahr, zu einer ‚zweimal vertriebenen’ Religion zu werden. Nach dem ersten Erblühen und der - durch Kaiser Ashoka forcierten – Verbreitung über ganz Indien ist der Buddhismus scheinbar irgendwann vom Hinduismus reabsorbiert und vom Islam aus Indien verdrängt worden. Das ‚Kleine Fahrzeug’ (hinayâna), auch ‚Fahrzeug der Hörer’ (ś ravakayâna) genannt, hat im Süden und in Sri Lanka eine Zuflucht gefunden, wo die ursprüngliche Lehre bewahrt und gepflegt wird. Das große Fahrzeug (mahayâna) hat zuerst in Tibet Wurzeln geschlagen und sich dann in einer Vielzahl von Synthesen, Anpassungen und Wandlungen über China und Südostasien verbreitet. Heute, nach der Eroberung Tibets durch die Chinesen und die systematische Zerstörung des tibetischen Geistes, verbreitet in einer zweiten – man könnte fast sagen ‚historischen’ - Welle der Vertreibung die Exilgemeinschaft tibetischer Mönche den Buddhismus in adaptierter Form überall im Westen und stößt auf enormes Interesse und Sympathie.[lxxxv] Der Dalai Lama ist zum Medienstar geworden, seine politische Mission tritt dagegen vergleichsweise in den Hintergrund. Überall in der westlichen Welt gibt es Tibetinitiativen und Zentren, in denen eine mehr oder weniger angepaßte Form buddhistischer Spiritualität gelehrt wird.
Der Buddhismus steht für eine Spiritualität, die der Vernunftorientierung des Abendlandes mit ihrer Leidenschaftslosigkeit und Analytizität sehr entgegenkommt. Der Buddhismus ist rational in dem Sinne, daß sich seine Grundintuitionen der intellektuellen Befragung und Diskussion nicht versperren. Aufgrund dieser diskursiven Neigung hat sich das buddhistische Lehrsystem in eine Vielzahl unterschiedlicher Schulen aufgespalten, die sich hinsichtlich der Grundintuitionen Buddhas einig sind, aber sonst über keine gemeinsame Dogmatik verfügen. Die Lehre vom Leiden und seiner Überwindung, wie sie in aller Einfachheit in den vier edlen Wahrheiten formuliert ist, sowie der edle achtfache Pfad - die buddhistische Tugendlehre – als der Weg zur Überwindung des Leidens, sind allen historischen Schulen gemeinsam.[lxxxvi] Aus der Klarheit dieser ursprünglichen Intuition sind umfangreiche spekulative Lehrsysteme entstanden.
Der Dalai Lama nennt vier charakteristische Ansichten, die einen Buddhisten kennzeichnen. Erstens: alle Phänomene sind in Abhängigkeit von Ursachen entstanden und müssen auch wieder vergehen. Zweitens: alle Phänomene sind befleckt und von daher mit Leid behaftet. Drittens: alle Phänomene sind leer und ohne Selbst; die Vorstellung eines ewigen Selbst, das im Kreislauf der Geburten immer wiederkehrt, ist danach eine Illusion. Viertens: Nirvana ist Frieden; diese Ansicht bestätigt das Heilsziel der Erlösung des Menschen. Ein Buddhist nimmt seine Zuflucht zu den drei Juwelen – des Buddhas, der Lehre und der geistigen Gemeinschaft. Der Buddha zeigt das Ziel auf und ist gleichzeitig das Unterpfand, daß das Ziel erreicht werden kann; jeder Mensch hat die Buddhanatur zumindest keimhaft in sich angelegt. Die eigentliche Zuflucht ist die Lehre, die die Möglichkeit zur Beendigung des Leidens bekräftigt und die Mittel oder Pfade zur Beendigung des Leidens aufzeigt. Die geistige Gemeinschaft schließlich gewährt die Unterstützung von Bodhisattvas, Hörern und Alleinverwirklichern,[lxxxvii] also denjenigen, die die Verwirklichung oder einen gewissen Grad der Realisierung auf dem Pfad zur Verwirklichung bereits erreicht haben.
Der edle achtfache Pfad besteht aus grundsätzlichen Geboten der Sittlichkeit und der Sammlung, deren Befolgung zur Weisheit führt und deren Ergebnis die Beendigung des Leidens ist.[lxxxviii] Die Pfade bestehen also aus einem praktischen Teil, der die Meditation betrifft, und dem Studium zum Erwerb von Weisheit. Die Buddhaschaft wird durch geistige Verwirklichung im Beschreiten des achtfachen Pfades erreicht.[lxxxix] Der Fortschritt ist dabei das Produkt unmittelbarer, innerer Erfahrung und keine Frage des Glaubens.[xc] Schon früh entwickelt der Buddhismus deshalb eine außerordentlich komplexe Bewußtseinslehre, die der Beherrschung der in der Meditation erfahrenenen niederen und höheren Bewußtseinszustände dient. Das Abhidamma stellt die Modifikationen des Bewußtseins dar, wie sie im kausalen Werdeprozeß primärer Bewußtseinseinheiten (Augenblickspunkte, genannt ‚dharmas’) auftreten. Die Modifikationen des Bewußtseins werden in eine Vielzahl von Geistesfaktoren eingeteilt, die man auf verschiedenen Ebenen (Sinnesbewußtsein, subtile Ebene der Denkstrukturen, subtile Ebenen der Leere) beobachtet und in verschiedene Gruppen zusammenfaßt, unter anderem: in sechs Faktoren, die jeden Bewußtseinszustand begleiten (Empfindung, Unterscheidung, Wille, Aufmerksamkeit, Berührung), in elf heilsame Faktoren (Vertrauen, Haßlosigkeit, Begierdelosigkeit, Verblendungslosigkeit usw.) und in sechs Wurzelleidenschaften (die wichtigsten sind Haß, Gier und Verblendung als die drei Aspekte des Nichtwissens). Diese Klassifizierung und Analyse psychischer Kräfte ist keine intellektuelle Übung, sondern dient dem Ziel, die im Alltag und auf verschiedenen Stufen der Meditation erfahrenen Bewußtseinszustände erkennen zu können, zu beherrschen und schließlich umzuwandeln.[xci]
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht immer ein praktisches Interesse an der Befreiung und ihren Bedingungen. Die ‚spirituelle’ Philosophie des Buddhismus schwingt sich in höchste Abstraktionsstufen auf und kann sehr spekulativ, sehr mystisch und sehr fremdartig sein – man denke nur an die gerüchteumrankte Praxis des Kalachakra-Tantra mit seiner im Westen meist mißverstandenen Sexualmetaphorik. Der Buddhismus sollte aber nicht als negative, weltabweisende Religion verstanden werden. Das Leiden in der Welt ist eine Tatsache – es zeugt von klarem Denken, diese Tatsache anzuerkennen. Das Nirvana bedeutet nicht die Auslöschung des Daseins, wohl aber eine grundlegende Wendung des Bewußtseins in einen Zustand, in dem der illusionshafte Charakter aller Phänomene erkannt wird, Verblendung und Verhaftung enden und wahre Glückseligkeit erlangt wird, der das ‚Verlöschen’ des Alltagsbewußtseins vorhergeht. Die Lehre vom Nichtselbst (anatta) bedeutet nicht, daß das Selbst oder die ‚Seele’ nicht existiert, sondern daß das, was wir als Seele bezeichnen, ein komplexes Aggregat von Bewußtseinszuständen darstellt, das sich mit dem Tode auflöst und in ein Kontinuum übergeht, aus dem dann die nächste Manifestation entsteht. Die Weigerung des Buddha, über die Seele oder Gott zu spekulieren, zeigt die praktische Orientierung seiner Heilsabsicht – dem Ertrinkenden ein Seil zu reichen, statt mit ihm über Gott und die Welt zu diskutieren. Nicht Weltablehnung, sondern Überwindung der Welt im Bewußtsein und Mitleid mit den leidenden Wesen war das Motiv des Buddha.
Im mahayanischen Buddhismus Tibets entstand unter dem Einfluß der vorbuddhistischen magischen Bön-Religion ein ganzes Pantheon von Dhyani-Buddhas,[xcii] Avataras,[xciii] Göttern, Dharmapalas[xciv] und dämonischen Kräften. Diese Wesen haben als Versinnbildlichungen geistiger Prinzipien, Kräfte oder Einflüsse ihren Platz im Rahmen der buddhistischen Lehre. Jede Verabsolutierung solcher Kräfte zur Gottheit wird demnach als Abweichung von der Lehre des Buddha verstanden.[xcv] Im Mittelpunkt aber steht das Konzept des Bodhisattva, zu dem einerseits ein Mensch aufgrund seiner geistigen Entwicklung heranreifen kann, der andererseits aber auch als Avatar erscheint, um von dem Ziel der Verwirklichung zu künden und auf dem Weg geistiger Entwicklung zu vermitteln.
Während für die östlichen Religionen ein Weltgesetz bzw. ein metaphysisches Prinzip wirkt, das dem Dasein des Menschen in der Welt Sinn und Richtung gibt, beschreiten die monotheistischen Religionen des Abendlandes einen prinzipiell anderen Weg zur Annäherung an das Mysterium des Heiligen. Das Absolute, Transzendente kommt dem Menschen entgegen. Hier steht der personale Gott der Offenbarung im Mittelpunkt, der in die Geschicke des Menschen eingreift und eine göttliche Ordnung stiftet. Seinen Ausgang nimmt dieses religiöse Muster in der Religion des jüdischen Volkes.
Judaismus
[xcvi]
Das Judentum ist nicht nur eine Religion, es ist eine geistige Identität, die in der Spannung von Partikularismus und Universalismus lebt. In seiner langen Geschichte des Exils, der Verteidigung gegen feindliche Kräfte, der Fremdherrschaft und der Diaspora hat das Judentum seine erstaunliche Fähigkeit bewiesen, bei aller Anpassung seine kulturell-religiöse Identität zu wahren. Dabei haben die Juden von Anfang an immer wieder religiöse Elemente der sie umgebenden Kulturen aufgenommen und assimiliert.[xcvii] Doch der Gott der Juden ist nicht an ein Land gebunden, er ist der Gott aller Menschen.[xcviii] Und trotz der Selbstabgrenzung der Volksgemeinschaft hat das Judentum immer wieder Mission betrieben.[xcix] Von daher ist dem Judentum ein Grad des religiösen Universalismus zueigen, der den Religionen Ägyptens und Mesopotamiens noch fehlt. Ein wesentlicher Einfluß ist später auch von den altiranischen Religionen (Mazdaismus, Manichäismus) und vom hellenischen Denken (Platonismus, Stoa) ausgegangen, ohne freilich das Judentum in der Substanz seines Denkens zu korrumpieren.
Der Gott der Juden (wie auch der Christen) ist keine mythische Gottheit, kein Astralgott und auch kein deus otiosus. Er greift tätig in die Geschichte der Menschheit und seines Volkes ein, erstens mit der Schöpfung und Unterhaltung aller Wesen, zweitens mit den Bündnissen, die er mit der Menschheit insgesamt (Adam, Noah), mit seinem erwählten Volk Israel (Moses) und mit einzelnen Menschen (David) eingeht, drittens mit der Offenbarung seines Willens durch die Propheten und viertens schließlich dadurch, daß er als Erlöser seinem Volk und der gesamten Menschheit durch seine Lehre (Torah) und seine Gebote die Vollkommenheit ermöglicht. Der Gott der Juden ist ein personaler Gott, gleichzeitig entrückt und gegenwärtig; er ist ein wesenhaft ethischer, moralischer Gott, gleichzeitig liebend und gerecht; er ist das Sinnbild der Heiligkeit, der den Menschen auffordert, auf seinen Wegen zu wandeln[c] und heilig zu sein, so wie er heilig ist.[ci]
Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen. Er existiert, sich ihm anzugleichen. „Die Nachahmung Gottes,“ sagt Martin Buber, „ist die zentrale Paradoxie des Judentums ... denn wie vermöchte der Mensch den Unsichtbaren, Unfaßbaren, Gestaltlosen, nicht zu Gestaltenden nachahmen?“ In den Wegen Gottes zu wandeln, so Buber, heißt nicht, sich dem unsichtbaren Gott angleichen zu wollen, sondern es Gottes offenbarten Werken gleich zu tun. Im ethischen, rechtschaffenen Tun und Handeln erfüllt sich die Ebenbildlichkeit des Menschen, nicht in seiner anmaßenden Selbstverherrlichung. Im rechten Handeln gleicht sich die Seele Gottes Bildnis an.[cii] Das Thema der imitatio dei, das bereits in der Torah anklingt, aber erst später, im Rabbinismus, ausgearbeitet wurde, offeriert einen ethischen Leitfaden für die Lebensführung des Menschen und der Gemeinschaft. Weil der Bund Gottes mit dem Volk Israel als Ganzes geschlossen ist, nicht mit jedem Einzelnen, ist das Judentum eine Religion, die die Gemeinschaft erfordert und in der der Gehorsam oder Ungehorsam des Einzelnen insgesamt zum moralischen Status der Gemeinschaft vor den Augen Gottes beiträgt. Gemeinschaftliches und individuelles Verhalten gehören so untrennbar zusammen. Das entscheidende Kriterium des Menschseins ist im Judentum die Fähigkeit, eine ethische Entscheidung zu treffen. Nicht die Natur seiner Seele, nicht seine metaphysische Konstitution als seelisch-körperliches Wesen an sich, sondern die Tatsache, daß er aufgrund dieser Doppelnatur zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, befähigt ihn, den Bund mit Gott einzugehen, der im Wesentlichen ein ethischer Bund ist. ‚Mensch sein’ heißt im jüdischen Glauben demnach ‚moralisch Mensch sein’. Die Torah kennt kein Weiter-‚Leben’ der Seele nach dem Tode. Die Beziehung des Menschen zu Gott erfüllt sich in der Welt und durch die Welt. Die Welt verwandelt sich dadurch in den Schauplatz der Erfüllung des göttlichen Willens – deshalb macht die Trennung in säkulare und religiöse Lebensbereiche keinen Sinn. Die jüdische Lebenspraxis zielt auf eine Heiligung aller Aspekte des Alltag im Rahmen der Gemeinschaft. Nach Ansicht der Propheten reicht die Souveränität Gottes in jeden Aspekt des Lebens hinein, sie ist nicht auf Ritual oder Gebet beschränkt. So privilegiert und berufen die Propheten in ihrer Vision sind, so demokratisch ist das Gesetz Gottes, das für jeden Angehörigen der Gemeinschaft in gleichem Maße gilt.
Die religiösen Hoffnungen Israels richten sich auf die ‚Apotheose’ der Gemeinschaft, nach der die heilige Gemeinschaft in vollem Einklang mit dem Gesetz Gottes lebt. Das zukünftige Königreich Gottes auf Erden ist unsprünglich ganz konkret gemeint, mit einem idealen Herrscher, der aber nicht zum Übermenschen stilisiert wird, sondern in vollkommenem Gehorsam gegen Gottes Gebot das Volk zu entsprechendem Gehorsam anleitet. Erst später, im Kontakt mit griechischem und iranischem Denken, erhält der Messias-König übermenschliche, fast göttliche Züge und die Vorstellung des Königreichs Gottes wird spekulativ zu einer kosmischen Eschatologie überhöht, die die ganze Welt und alle Menschen umfaßt. Auch wenn der Messias im Denken der Propheten und später im Rabbinismus eine wichtige Rolle spielt, so sieht die jüdische Eschatologie doch Gott als den Erlöser und Richter, der in einem letzten, die Geschichte abschließenden Akt der Intervention für die Wiederherstellung seiner göttlichen Ordnung sorgen wird. Aber mit der Revolte von Bar Kochba im Jahre 135 zerschlugen sich die messianischen Hoffnungen auf das Königreich Gottes endgültig. Im Rabbinismus entwickelte sich eine verinnerlichte Geistigkeit, die in der Diaspora wiederum viele Anregungen der sie umgebenden Kulturen aufnahm und theologisch verarbeitete.
Gerade mit den zwei großen historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts schließlich, dem Holocaust und der Gründung des Staates Israel, wurden die theologischen Vorstellungen der Juden von einem liebenden und gerechten Gott, der aktiv an der Geschichte seines Volkes teilnimmt, erneut herausgefordert und radikal in Frage gestellt.
[...]
[i] und damit ist nicht die katholische ‚Politische Theologie’ etwa nach Johann Baptist Metz gemeint, sondern die Strömung der politischen Theorie, die sich dem Phänomen des Politischen über seine geistigen und religiösen Bedingungen nähern will. Politische Theologie ist natürlich keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, Beispiele sind die politische Theologie der Stoa über die Staatsmetaphysik im römischen Staatskult zu Augustinus’ De Civitate Dei. Als Vertreter einer derartigen Intention kann man – so unterschiedlich sie in ihren Annahmen und Schlußfolgerungen auch sonst sein mögen - Carl Schmitt, Leo Strauss oder Eric Voegelin sehen.
[ii] Voegelin (1938), S. 12: „... wir müssen den Begriff des Staates daraufhin prüfen, ob er wirklich nichts anderes betrifft als weltlich-menschliche Organisationsverhältnisse ohne Beziehung zum Bereich des Religiösen.“
[iii] Voegelin (1966), S. 1
[iv] Der Grundgedanke des Trilateralismus ist die Organisation bzw. Kontrolle der Weltentwicklung durch die drei Wirtschaftsmächte USA, Deutschland und Japan. Die Trilaterale Kommission, die formal 1973 gegründet wurde und als beratende Nichtregierungsorganisation in Erscheinung tritt (dies aber auf höchster Ebene) widmet sich diesen Zielen.
[v] John J. Mearsheimer gab mit seinem Artikel „Why we soon will miss the cold war“ (1990) der Sorge über eine sicherheitspolitisch nicht mehr zu kontrollierende Situation Ausdruck.
[vi] Galtung (1997)
[vii] Dennoch oder vielleicht gerade deswegen ruft Huntington zu einem transatlantischen Schulterschluß auf. Er sagt: „Eine intensivere Kooperation zwischen Europa und Amerika ist essentiell für den Erhalt und die Lebenskraft westlicher Werte und darüber hinaus für den Erhalt westlichen Einflusses in der multipolaren und multikulturellen Welt des 21. Jahrhunderts.“ Vgl. Huntington (2000), S. 151
[viii] siehe Barney, G.O.: Global 2000 Revisited; ders.: Global 2000; World Watch Institute, Bericht zur Lage der Welt 1999; die Stimmen zur geistigen Krise der Moderne, inklusive jener, die bereits eine Postmoderne apostrophieren, sind zahllos. Interessant auch Dennis L. Meadows (1999), der mit seinem Welt-3-Modell glaubt, nun endlich korrekte Prognosen zu stellen und zu dem Schluß kommt, daß die Katastrophe tatsächlich unausweichlich geworden ist.
[ix] siehe Viviane Forrester: Der Terror der Ökonomie, 1998. Die Autorin des Buches, das weltweit monatelang auf den Bestsellerlisten zu finden war, ist mit ihrem Vortrag auch auf dem World Economic Forum 1998 auf großes Interesse gestoßen.
[x] vgl. Huntington (1995)
[xi] Davon ist die westliche Welt ebenso betroffen: Arbeitslosigkeit, Delokalisierung, Individualisierung und ähnliche Prozesse fordern auch die Anpassungsfähigkeit der Europäer.
[xii] Viele bedeutende Soziologen, Ethnologen und Psychologen haben sich in ihren Voraussagen der gesellschaftlichen Entwicklung von einer idealisierten Sicht der Wissenschaft leiten lassen und erwartet, daß die aufgeklärte, moderne Gesellschaft den Aberglauben der Religion abgestreift haben wird. (Stark/Bainbridge (1985), S. 1) Das ist aber nicht eingetreten, wie Cockerham betont: die Säkularisierungsthese hat sich weitgehend als falsch herausgestellt. (Cockerham (1995), S. 482-483) Harvey Cox, der mit The Secular City ein Schlüsselwerk der Säkularisationsthese geschrieben hat, hat seine Sichtweise mittlerweile revidiert spricht jetzt von einer globalen Renaissance des Religiösen (vgl. Cox, Harvey: Religion and Politics after The Secular City, in: Neusner 1996, S. 1-20)
[xiii] nach einem Ausspruch von George F. Kennan, zitiert nach Finkelstein (1988)
[xiv] vgl. Finnemore / Sikkink (1996), S. 887; vgl. Yee (1996)
[xv] Weber (1921b)
[xvi] Hösle (1994), S. 81: „Doch das eigentliche Problem der Ethik liegt im ökologischen Zeitalter nicht in der Begründung neuer Normen. Daß wir diesen Planeten bewohnbar halten müssen für kommende Generationen, ist relativ schnell anerkannt; und auch über den Wertcharakter, der der Natur eignet, dürfte ein Konsens zu erzielen sein. Viel schwerer ist die Durchsetzung eines entsprechenden Handelns.“
[xvii] siehe Skolimowski (1994), S. 10 -18
[xviii] Voegelin (1938), S. 17
[xix] vgl. Handbuch der religiösen Begriffe, Stichwort ‚Spiritualität’, S. 422
[xx] Latein: spiritus Lufthauch, Atem, Atmen, Lebenshauch; Seufzen; Seele, Geist, Gesinnung, Begeisterung. (Langenscheidt) – Aramäisch/Hebräisch: ru’ach Hauch, menschlicher Geist, Sitz des Bewußtseins. (Quelle: Tillich 1951/63) – Griechisch: pneuma 1. Hauch, Duft, Wind, Atem, Lebenshauch. 2. Im N.T. belebendes Prinzip, Gesinnung, Geist, Heiliger Geist (Benseler) – Sanskrit: atman breath, life, soul, principle of life and sensation; the individual soul; essence, nature, character (Monier Monier-William)
[xxi] Tillich (1951/63), S. 21
[xxii] siehe Arendt (1979), S. 32
[xxiii] wenn man aber William James folgt, der als unbedingtes Attribut religiöser Erfahrungen die Tatsache einer daraus folgenden ‚Gesamtreaktion auf das Leben’ anführt, dann sind diese Handlungsorientierungen eher als die - normativen Konkretisationen zugrundeliegende - ganzheitliche Sinnperspektive zu verstehen. (James, Vielfalt rel. Erfahrung, S. 67)
[xxiv] vgl. James (1902)
[xxv] Voegelin
[xxvi] siehe Emmanuel Jospe: Educating for Interreligious Responsibility, in: Agius 1998, S. 20-42
[xxvii] vgl. Luckmann (1991)
[xxviii] Fautre (1996), S. 319. An englischen Gerichtshöfen des 18. Jahrhunderts war mit ‚Religion’ allein das Christentum gemeint, im 19. Jahrhundert verdienten die Bezeichung Religion nur Judentum, Christentum und Islam, und erst später wurde die Bedeutung auf alle Weltreligionen ausgedehnt. Diese enge Definition ist für unsere Bedürfnisse aber immer noch zu eng.
[xxix] Voegelin (1938), S. 17
[xxx] Berger; Luckmann (1966), S. 103: „Die symbolische Sinnwelt ist als die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen.“
[xxxi] Eliade (1990), S. 36-38
[xxxii] Govinda (1966), S. 46
[xxxiii] Arthur Avalon, bürgerlich Sir John Woodruffe, war einer der größten Gelehrten des hinduistischen und buddhistischen Tantra. Besonders erwähnt sei hier: Die Girlande der Buchstaben. Varnamala. Studien über das Mantra-Shastra, 1922 (Barth).
[xxxiv] Eliade (1949), S. 58-59: „Einer der Hauptunterschiede zwischen dem archaischen und dem modernen Menschen besteht ja gerade in der Unfähigkeit des letzteren, das organische Leben (besonders das der Erotik und der Ernährung) wie ein Sakrament zu leben. ... Erotik und Ernährung [haben] bei jenen Völkern eine ganz andere Bedeutung, ja geradezu eine andere Funktion []. Für den Modernen sind nur physiologische Akte, was in der archaischen Kultur Sakramente sind, Zeremonien, durch deren Vermittlung eine Verbindung mit der Macht hergestellt wird, welche das Leben repräsentiert.“
[xxxv] Mayer-Tasch (1998), S. 309
[xxxvi] Barthes (1964), S. 92-94
[xxxvii] Bedeutende Ereignisse in dem Zusammenhang sind aber auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an Rigoberta Menchu oder die UNESCO - Dekade für die Rechte der Indigenen Völker (1994-2004)
[xxxviii] Federico Mayor, Direktor der UNESCO, in der Begrüßungsnote zur Zweiten Versammlung der Indigenen Initiative für Frieden, am 13. Feb. 1995 in Paris: „Among the disasters of recent centuries, there is one that must be etched in the collective consciousness alongside slavery and so many other affronts to humanity, one that is slow and silent but no less grave: the suffering of the indigenous communities which were one day subjugated and deprived of their most elementary rights - the right to cultural identity, to the land of their ancestors, and to indigenous language, freedom and beliefs.”
[xxxix] Siehe den Beitrag von Peter Bolz: Im Zeichen des Sonnentanzes – Religiöses Weltbild und Ritualismus der Oglala-Sioux Nordamerikas, in: Eliade/Culianu (1991), S. 291 - 303
[xl] Siehe beispielsweise den bezeichnenden Titel von Jean Liedloff (1982): Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, München: Beck
[xli] Eliade (1949), S.49-50: „Es muß aber bemerkt werden, daß sich die religiöse Erfahrung und Lehre der ‚Primitiven’ nicht in elementaren Hierophanien und Kratophanien erschöpft... Es ist keine auf solche elementare Hierophanien und Kratophanien beschränkte Religion bekannt.“ Und S. 57.: „Nie begegnet man elementaren Hierophanien allein, sondern immer zugleich auch den Spuren religiöser Formen, die als höhere anzusehen sind (Höchste Wesen, moralische Gesetze, Mythologien etc.) ...“.
[xlii] siehe Durkheim (1968), S. 76
[xliii] vgl. Gottwald / Klepsch (1995)
[xliv] Eliade (1951), S. 384f
[xlv] ebd. S. 43
[xlvi] ebd. S. 36-41
[xlvii] ebd. S. 400
[xlviii] siehe dazu den letzten Abschnitt „Aztekische Spiritualität“ des Beitrags von David Carrasco, „Städte und Symbole – die alten mittelamerikanischen Religionen“ in: Culianu (1991), S. 13 – 54
[xlix] vgl. Waldemar Stöhr, „Vielfalt und Totalität -. Die Religionen in Indonesien“. In: Culianu (1991), S. 89 – 142
[l] siehe dazu den Artikel „Der Umgang mit der Verzweiflung – Psychologische Antworten auf die globale Krise“ von Joanna Macy, in: Gottwald / Klepsch (1995), S. 179 – 225.
[li] (Eliade )1976, S. 57
[lii] so erwähnt Weber (1921/ 3). S. 298-9: „Für den mesopotamischen und ägyptischen Untertan, der den Regen kaum kannt, hing alles Wohl und Wehe, vor allem die Ernte, an dem Tun des Königs und seiner Verwaltung.“
[liii] ebd. S. 92
[liv] ebd. S. 76
[lv] ebd. S. 85. ilu (Geist, wörtlich: Gott) war der wichtigste Teil der Persönlichkeit. Andere Bestandteile der psychologischen Konstitution des Menschen waren ischtaru (sein Schicksal), lamassu (seine Individualität) und schedu (eine Art ‚ genius ’)
[lvi] Das Begriffspaar Universalismus - Solitärsein hat eine zentrale Bedeutung in A.N. Whiteheads Vorlesungen über Religion. Siehe Whitehead (1926), S. 7-15 und S. 39
[lvii] vgl. Glasenapp (1963)
[lviii] Whitehead (1926) S. 54
[lix] vgl. Eliade (1960) S. 361-366. In Harappa und Mohenjo-Daro wurden ein protoaustralischer und ein mediterraner, sowie ein mongoloider und ein alpiner Typus gefunden. Das Bild der gegenseitigen kulturellen Beeinflussung stellt sich in Wirklichkeit weitaus komplexer dar als eine simple Konfrontation und Synthese von indoarischen Eindringlingen mit einer australoiden Urkultur. Aber verschiedene Elemente, allen voran das Yoga, haben einen nachhaltigen und wesentlichen Einfluß auf den Charakter der indischen Kultur ausgeübt und sind garantiert nicht indoarischen Ursprungs.
[lx] ebd. S. 364. Keine indoarische Kultur kennt eine Göttin in einer vergleichbaren Stellung wie sie Kali heute noch im Hinduismus innehat. Und die ursprüngliche Bedeutung Shivas als Zeugungsgott ist auch im heutigen Shivaismus und dem damit verbunden lingam-Kult (Phallismus) deutlich erkennbar.
[lxi] ebd. S. 363. Man hat in Harappa Figurinen und Siegel mit Gestalten in Yogahaltung gefunden. Etymologisch und auch von der Bedeutung her ist das Wort ‚Yoga’ verwandt mit deutsch ‚Joch’, englisch ‘Yoke’: the act of yoking, joining, attaching ...; junction, union, combination, contact with; ... the union of the soul with matter; the union of the individual soul with the universal soul. (Monier-Williams Sanskrit Dictionary)
[lxii] ebd. S. 367-368
[lxiii] ebd. S. 370
[lxiv] ebd. S. 371
[lxv] ebd. S. 80
[lxvi] siehe hierzu Govinda (1992)
[lxvii] Evans-Wentz (1952), S. 20
[lxviii] Küng / Ching (1988), S. 13
[lxix] H. Wilhelm (1972), S. 7
[lxx] Weber (1921) Bd.III, S. 300; Glasenapp (1963), S. 123
[lxxi] Glasenapp, a.a.O.
[lxxii] Blofeld (1979), S. 18
[lxxiii] R. Wilhelm (1910), Einl. S. 24
[lxxiv] vgl. zur Bedeutung und Deutung des Begriffs der Metapher: Ricoeur (1975) passim; vgl. zum chin. Umgang mit Symbolen und Leitideen: Granet (1934), S. 60
[lxxv] Weber (1921), S. 306
[lxxvi] R. Wilhelm (1944), S. 124
[lxxvii] Weber (I, 1921), S. 457
[lxxviii] Eliade (1990), S. 309
[lxxix] Granet (1934), S. 293
[lxxx] Eliade, a.a.O.
[lxxxi] ebd. S. 308 u. S. 310
[lxxxii] Glasenapp (1963), S. 145
[lxxxiii] Opitz (2000), S. 11
[lxxxiv] zu diesem gesamten Abschnitt vgl. folgende Werke, passim: Dalai Lama (1991), Eliade (1990), Govinda (1962), Glasenapp (1963), Nyanatiloka (1927)
[lxxxv] Man bedenke nur, mit welcher Emotion die Tibet-Resolution des Bundestages diskutiert und in welcher Einmütigkeit sie verabschiedet wurde.
[lxxxvi] Dies gilt jedoch weder für den modernen japanischen Buddhismus der Nichiren-Richtung, noch für gewisse tibetische Abspaltungen wie den Kult um die Schutzgottheit Dorje Shudgden.
[lxxxvii] Bodhisattvas streben das Buddhabewußtsein nicht um seinetwillen an, sondern um alle anderen Wesen bei der Verwirklichung der Erlösung zu unterstützen. Hörer und Alleinverwirklicher dagegen streben allein die Buddhaschaft und die Erlangung des Nirvana-Bewußtseins an. Hörer konzentrieren sich dazu auf die ursprüngliche Lehre des Buddha und verzichten auf Hilfsmittel und weitergehende Lehren, wie sie im Großen Fahrzeug Anwendung finden. Alleinverwirklicher werden solche genannt, die aus eigener Kraft, z.B. aufgrund karmisch günstiger Voraussetzungen die Buddhaschaft erlangen. Auf jedem dieser Pfade gibt es viele Zwischenstufen der Verwirklichung.
[lxxxviii] Nyanatiloka (1927), S. 592-3. Der edle achtfache Pfad besteht aus 1. Rechter Erkenntnis, 2. rechter Gesinnung, 3. Rechter Rede, 4. Rechter Tat, 5. Rechtem Lebenserwerb, 6. Rechter Anstrengung, 7. Rechter Achtsamkeit, 8. Rechter Sammlung
[lxxxix] Dalai Lama (1991), S. 65
[xc] Govinda (1962), S. 2
[xci] Diese Darstellung folgt dem Dalai Lama (1991), passim. Nyanatiloka (1923) nennt 89 Bewußtseinsfaktoren, bei Govinda (1962) sind es 121. Es gibt also eine Vielzahl verschiedener Einteilungen, die aber als in sich kohärente Systeme offensichtlich ihren Zweck erfüllen.
[xcii] Buddha-Gestalten, die als ‚Saat-gedanken’ für die Meditation dienen, und zu diesem Zweck transzendente Prinzipien bildlich darstellen. Diese transzendenten Buddhas wurden aber auch zum Mittelpunkt umfangreicher metaphysischer Spekulationen.
[xciii] wörtlich ‚die von Oben Herabkommenden’: Mittler zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Ursprünglich ein hinduistisches Konzept, wo sich die höchste Gottheit als Avatar in verschiedenen Inkarnationen oder Manifestationen der Menschheit offenbart (z.B. Krishna als Manifestation Vishnus), erhalten die Bodhisattvas als Helfer auf dem Weg zusätzlich den Status von Avataren – als Manifestationen der transzendenten Buddhas (der Dalai Lama wird bspw. als Manifestation von Avalokiteshvara, dem Buddha des göttlichen Mitgefühls, angesehen; der Panchen Lama als Manifestation Amitabhas)
[xciv] dharmapalas (wörtl. Hüter des Dharma) sind wohlgesinnte Hüter der Lehre, die gleichwohl in einer dämonischen Gestalt auftreten, um negative Kräfte abzuschrecken.
[xcv] Die Verehrung von Dorje Shugden, einem Dharmapala – Hüter des Dharma – hat derart kulthafte Züge angenommen, daß der Dalai Lama als höchste religiöse Autorität des tib. Buddhismus einen Bann ausgesprochen hat. Die Auseinandersetzung um Dorje Shugden hat aber wesentlich politische Gründe, und scheint sich mittlerweile zu einem Drama um die Führung in der tibetischen Exilgemeinde zu entwickeln.
[xcvi] für die Darstellung der jüdischen Religion beruft ich mich auf den Artikel der Encyclopedia Britannica zum Stichwort Judaism (in der Internet-Ausgabe: www.britannica.com)
[xcvii] bspw. der Mythos der Sintflut, der aus Mesopotamien kommt oder das Konzept des Propheten, das vermutlich amoritischen Ursprungs ist. Die jüdische Religion hat ihre Eigenheiten jedenfalls in der Nachbarschaft der hochentwickelten Stadtkulturen Mesopotamiens und Ägyptens entwickelt. Wie Weber anmerkt, ist weder der „panbabylonische“ Ansatz haltbar, der das Judentum als religiöses Derivat dieser Hochkulturen ansieht (mit Jahwe als Astralgottheit oder den Propheten als Angehörigen eines babylonischen Priesterkults) noch der evolutionistische Ansatz, für den die religiöse Konzeption der Juden aus primitiven, animistischen Vorstellungen hervorgegangen sein soll. vgl. Weber (III, 1921) S. 3 Anm.
[xcviii] das Gesetz der Torah galt entsprechend auch für Sklaven, die zudem nicht länger als sieben Jahre in Abhängigkeit behalten werden durften.
[xcix] so z.B. auch in Arabien, wo die jüdische Mission zusammen mit der christlichen maßgeblich zur ideellen, monotheistischen Grundlage des späteren Islam beigetragen habt.
[c] Lev 19
[ci] Deut 11,22
[cii] vgl. Buber (II, 1964), S. 1060-1065
- Arbeit zitieren
- Manfred Kipfelsberger (Autor:in), 2000, Spirituelle Grundlagen politischen Handelns im Umfeld der Vereinten Nationen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41738
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