Der Beitrag offeriert einen Ansatz zur Bestimmung von Wortschatz-Minima im Fremdsprachenunterricht. Er berücksichtigt die von Schüler zu Schüler unterschiedlichen Behaltens-Quoten. Er geht von der Festlegung eines produktiven/aktiven Aussageminimums aus und konzentriert sich beim Erarbeiten, Festigen, Wiederholen und Anwenden durch alle Schülerinnen und Schüler auf einen Kernwortschatz.
Sabine Utheß
Zum Anforderungsniveau der Lehrbücher für den Fremdsprachenunterricht
unter dem Aspekt der Förderung der geistigen Aktivität der Schülerinnen und Schüler
Hohe geistige Aktivität der Schülerinnen und Schüler ist unvereinbar mit ihrer Über- oder Unterforderung. Das ist eine bekannte Tatsache. In diesem Zusammenhang stellen sich die Autoren von Lehrbüchern immer wieder die Frage nach einem angemessenen Anforderungsniveau der Aufgaben und Übungen. Die Schwierigkeit, sich für ein bestimmtes konkretes Niveau zu entscheiden, ergibt sich vor allem daraus, dass das Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler einer Klasse in der Regel außerordentlich differenziert ist, dass aber durch die Lehrbücher möglichst kein Schüler krass unter-
oder überfordert werden soll. Wie groß das Leistungsgefälle in einer durchschnittlichen Klasse im Fremdsprachenunterricht auf den Klassenstufen 6 bis 10 ist, sollen die nachfolgenden Werte zur Wortschatzbeherrschung der Schüler veranschaulichen, die wir in Praxisanalysen immer wieder feststellen können:
2 – 3 Schülerinnen und Schüler beherrschen den bis zum jeweiligen Zeitpunkt laut Planung anzueignenden Wortschatz zu 90 – 100 Prozent, d. h., ihnen fehlt in der (klasseninternen) Kommunikation selten ein Wort;
8 – 10 Schülerinnen und Schüler beherrschen den bis zum jeweiligen Zeitpunkt laut Planung anzueignenden Wortschatz zu ca. 80 Prozent, ihnen fehlt in der (klas seninternen) Kommunikation jedes 5. Wort;
10 – 15 Schülerinnen und Schüler beherrschen den bis zum jeweiligen Zeitpunkt laut Planung anzueignenden Wortschatz zu ca. 60 Prozent, ihnen fehlt in der (klas seninternen) Kommunikation bereits jedes 2. oder 3. Wort;
5 – 6 Schülerinnen und Schüler beherrschen den bis zum jeweiligen Zeitpunkt laut Planung anzueignenden Wortschatz zu weniger als 50 Prozent, ihnen fehlt in der Kommunikation mindestens jedes 2. Wort.
Wie differenziert in einer solchen Klasse das Sprachkönnen der Schülerinnen und Schüler ist, liegt auf der Hand. Man kann sich gut vorstellen, in welchem Maße beispielsweise ein Text noch verstanden wird, wenn jedes 2. Wort fehlt.
Zurück zur Ausgangsfrage: Auf welches Leistungsniveau sind die Materialien für den Unterricht zweckmäßig zuzuschneiden?
Theoretisch vertreten wir die Auffassung, dass die Forderungen das mittlere Leistungsfeld treffen müssen, dass es sich also, um in der didaktischen Terminologie zu sprechen, um Normalforderungen (im Unterschied zu Maximal- bzw. Minimalforderungen) handeln muss, die – die Zone der nächsten Entwicklung absteckend – von der Masse der Schülerinnen und Schüler auch tatsächlich erfüllt werden können.
Analysiert man aber unsere gültigen Fremdsprachenlehrbücher daraufhin, so ist festzu- stellen: Mit dem Niveau der Aufgaben und Übungen wird eigentlich das obere Leistungsfeld getroffen. Dem entspricht auch die Note 1, die die Schüler für die normgerechte Aufgabenlösung erhalten. Es wird nun von vornherein davon ausgegangen, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler zu einer derartigen normgerechten Aufgabenlösung in der Lage sind. Also erfolgt eine abgestufte Zensierung bei Lücken und Fehlerhaftigkeit, wobei die Leistungen bis zur Note 4 bekanntlich noch als lehrplangerecht gelten. Das ist die Tradition. Ein Denken, wonach normgerechte Aufgabenlösungen mit einer mittleren Note zu bewerten sind und bessere Noten höhere Zusatzleistungen voraussetzen, ist nicht in den Köpfen. Es ergeben sich doch aber folgende Probleme: Einerseits wird toleriert, geradezu einkalkuliert und auch als Lehrplanerfüllung anerkannt, dass ein mehr oder weniger großer Teil der Lernenden die Aufgaben einer Stoffeinheit nicht lückenlos und fehlerfrei löst, sich also den betreffenden Stoff nicht zu 80 bis 100 % aneignet; andererseits aber setzt die lehrplangerechte Erfüllung der Aufgaben der nächsten Stoffeinheit eine mindestens 80-prozentige Stoffaneignung als unerlässlich voraus.
Ein zugegebenermaßen etwas mechanistisches Beispiel: In Klasse 9 soll ein Text, der insgesamt aus 300 Wörtern und zu 95 Prozent aus bekanntem (d. h. zu beherrschendem) Wortschatz besteht, in ca. 30 Minuten gelesen werden. Die Schülerinnen und Schüler , die sich nun den bisher vermittelten Wortschatz aber nur zu 60 Prozent angeeignet haben – und das ist die Masse –, würden in dem Text nicht 15 unbekannte Wörter (eine entsprechende Verteilung ihrer Wissenslücken vorausgesetzt) vorfinden, sondern auf etwa 120 unbekannte Wörter treffen. Sie brauchten selbst bei sehr geläufigem Wörterbuchgebrauch und guten rezeptiven Erschließungstechniken nicht 30 Minuten Lesezeit, sondern mindestens 90 Minuten. Oder anders: In den zur Verfügung stehenden 30 Minuten lesen und verstehen solche Schülerinnen und Schüler höchstens ein Drittel des Textes. Dass dies keine lehrplangerechte Leistung mehr ist, ist die eine Seite; die andere aber ist die, dass Schülerinnen und Schüler, die allein auf Grund ihrer Lücken einen erhöhten Wiederholungs-, sprich Tätigkeitsbedarf haben, nur ein Drittel der Aktivität aufbringen, die die Lernenden ohne Lücken realisieren. Das Tätigkeitsdefizit führt zu noch größeren Vergessensquoten.
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- Citation du texte
- Prof. Dr. Sabine Utheß (Auteur), 2018, Zum Anforderungsniveau von Fremdsprachenlehrbüchern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/414746