Auszubildende des Berufsfeldes Bautechnik verfügen nachweislich über eine niedrige schulische Vorbildung und stammen theoretisch überwiegend aus sozial schwächeren Familien. Defizite bestehen besonders im Bereich der mathematischen Grundlagen sowie im Lesen und Schreiben. Die Auszubildenden werden dem Niveau der Ausbildung kaum noch gerecht, wodurch einerseits viele Jugendliche ihre Ausbildung nur schlecht oder gar nicht abschließen und sich andererseits das Niveau der Ausbildung nach unten orientiert. In der Folge können Lerninhalte nicht mehr im vorgeschriebenen Umfang vermittelt werden. Wie können also leistungsschwache Auszubildende berufsbegleitend gefördert werden, um den erfolgreichen Abschluss ihrer Berufsausbildung zu sichern?
Das Remedial Training soll als Rahmenkonzept dazu beitragen, auf kognitiver und metakognitiver Ebene das Lernen- und Arbeitsverhalten der Auszubildenden zu verbessern. Dabei werden mathematische Inhalte zum Ausgangspunkt von Lernsituationen gemacht. Das Förderprogramm wurde am Beispiel des Ausbildungszentrum- Bau in Hamburg entwickelt und soll kooperativ mit der staatlichen Gewerbeschule Bautechnik G19 in Hamburg umgesetzt werden.
Hierfür wurde zunächst auf theoretischer Ebene ein Lernverständnis entwickelt und hieraus ableitend Störungen beim Lernen identifiziert. Die organisatorischen Rahmenbedingungen und inhaltlichen Schwerpunkte wurden aus Interviews mit Experten beider Standorte abgeleitet.
Kapitel I – Das Ausbildungszentrum- Bau in Hamburg GmbH, „Ausbildungsbegleitende Hilfen“, „Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen“
Kapitel II – Terminologische Abgrenzung, Remedial Training als schulische und berufliche Ergänzung, Zur Notwendigkeit von ergänzendem Unterricht, Gedächtnisleistung als Bedingung fürs Lernen, Lernen, Lernhandeln, Kompetenzen als Brücke zwischen Wissen und Handeln, Lernverständnis im aktuellen Kontext, Begründungsansatz für Lernschwierigkeiten, Ursachen für Störungen bei der Lernhandlung, Neurologische Grenzen des Lernens, Bereichsspezifisches Wissen und Basiskompetenzen, Kommunikation, Handlungssteuerung und Lernstrategien, Motivation und Emotionen, Kausalattribution, Erlernte Hilflosigkeit, Identitätsbildung, Stigmatisierung, Etikettierung und Stereotype, Grundsätze des Remedial Trainings
Kapitel III – Überblick über die Forschungsarbeit, Der Diagnosetest vom Projekt BEST, Die Experteninterviews, Kriterien für das Remedial Training, Zusammenfassung der Ergebnisse, Fazit und Ausblick
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsstand
3. Forschungsmethode
Kapitel I - Vorstellung ausgewählter Institutionen
4. Das Ausbildungszentrum- Bau in Hamburg GmbH
5.„Ausbildungsbegleitende Hilfen“
6.„Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen“
Kapitel II - Theoretische Fundierung
7. Terminologische Abgrenzung
8. Remedial Training als schulische und berufliche Ergänzung
8.1. Zur Notwendigkeit von ergänzendem Unterricht
8.2. Gedächtnisleistung als Bedingung fürs Lernen
8.3. Lernen
8.4.Lernhandeln
8.5. Kompetenzen als Brücke zwischen Wissen und Handeln
8.6. Lernverständnis im aktuellen Kontext
9. Begründungsansatz für Lernschwierigkeiten
10. Ursachen für Störungen bei der Lernhandlung
10.1. Neurologische Grenzen des Lernens
10.2. Bereichsspezifisches Wissen und Basiskompetenzen
10.3.Kommunikation
10.4. Handlungssteuerung
10.4.1. Ressourcenorientierte Strategien
10.4.2. Kognitive Lernstrategien
10.4.3. Metakognitive Lernstrategien
10.4.4. Ein Plädoyer für Spiele
10.5. Motivation und Emotionen
10.5.1. Kausalattribution
10.5.2. Erlernte Hilflosigkeit
10.5.3. Identitätsbildung
10.5.4. Stigmatisierung, Etikettierung und Stereotype
11. Grundsätze des Remedial Trainings
Kapitel III - Die Forschungsarbeit
12. Überblicküber die Forschungsarbeit
13. Der Diagnosetest vom Projekt BEST
14. Die Experteninterviews
14.1. Wer soll gefördert werden?
14.2. Lernverständnis
14.3. Bestehende Fördermaßnahmen
14.3.1. Ausbildungsbegleitende Hilfen
14.3.2. Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen
14.3.3. Das Lerncoaching
14.4. Stellenwert der Mathematik innerhalb der Ausbildung
14.5. Der Diagnosetest
14.6. Kriterien für das Remedial Training
15. Curriculare Analyse
15.1. Lernfeld 1103
15.2. Lernfeld 2103
15.3. Lernfeld 3104
16. Zusammenfassung der Ergebnisse
16.1. Organisatorische Bedingungen
16.2. Bedingungen an die Lehrkraft
16.3. Inhaltliche Bedingungen
16.4. Der Diagnosetest
17. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Gesetze und Verordnungen
Anhang
Abstract
Auszubildende des Berufsfeldes Bautechnik verfügen nachweislich über eine niedrige schulische Vorbildung und stammen theoretisch überwiegend aus sozial schwächeren Familien. Defizite bestehen besonders im Bereich der mathematischen Grundlagen sowie im Lesen und Schreiben. Die Auszubildenden werden dem Niveau der Ausbildung kaum noch gerecht, wodurch einerseits viele Jugendliche ihre Ausbildung nur schlecht oder gar nicht abschließen und sich andererseits das Niveau der Ausbildung nach unten orientiert. In der Folge können Lerninhalte nicht mehr im vorgeschriebenen Umfang vermittelt werden. Es ist davon auszugehen, dass langfristig die Einsatzfähigkeit der Auszubildenden im Betrieb und somit auch der Wert der Ausbildung am Arbeitsmarkt sinken. Alternativ würden diese jungen Menschen keine Ausbildungsplätze in diesem Berufsfeld finden. Wie können also leistungsschwache Auszubildende berufsbegleitend gefördert werden, um den erfolgreichen Abschluss ihrer Berufsausbildung zu sichern?
Das Remedial Training soll als Rahmenkonzept dazu beitragen, auf kognitiver und metakognitiver Ebene das Lernen- und Arbeitsverhalten der Auszubildenden zu verbessern. Dabei werden mathematische Inhalte zum Ausgangspunkt von Lernsituationen gemacht. Das Förderprogramm wurde am Beispiel des Ausbildungszentrum- Bau in Hamburg entwickelt und soll kooperativ mit der staatlichen Gewerbeschule Bautechnik G19 in Hamburg umgesetzt werden. Es soll eine strukturierte, ausbildungsbegleitende Förderung an beiden Lernorten ermöglichen und Transparenz bieten. Das Training soll sowohl in der Schule als auch am Ausbildungszentrum einmal wöchentlich für drei Zeitstunden stattfinden. Dabei wird nach der Eingangsdiagnostik, in kleinen Gruppen von sechs Personen individuell und kooperativ an handlungsorientierten Lernaufgaben gearbeitet.
Hierfür wurde zunächst auf theoretischer Ebene ein Lernverständnis entwickelt und hieraus ableitend Störungen beim Lernen identifiziert. Die organisatorischen Rahmenbedingungen und inhaltlichen Schwerpunkte wurden aus Interviews mit Experten beider Standorte abgeleitet. Im Abgleich mit dem Curriculum wurden diese Inhalte bestätigt. Ebenso wurde der bestehende Test zur Eingangsdiagnostik aus dem Projekt BEST praktisch erprobt, ausgewertet und mit den Experten besprochen.
Abstract
It has been proven that trainees from the occupational area of constructional engineering have a lower educational background and in theory come from socially deprived families. Deficits emerge particularly in the range of literacy and numeracy. Trainees hardly meet the requirements of the apprenticeship anymore. On the one hand this leads to the conclusion that young people hardly pass or even fail to pass the apprenticeship, on the other hand the level of education decreases, resulting in the fact that the mandatory scope of learning content cannot be imparted. It must be assumed that in the long term the work capability of trainees and therefore the value of the apprenticeship to the labor market declines. Alternatively these young people would not find an apprenticeship training position in this occupational field. How can academically weak trainees be educationally supported, in order to ensure their successful graduation?
For the Trainee, the Remedial Training as a conceptual framework shall contribute to increase the learning behavior and work attitude on a cognitive and metacognitive level. In this regard, mathematical subjects are used as a basis for learning material. The support program was developed through the example of Ausbildungszentrum- Bau in Hamburg and shall be implemented in cooperation with the vocational school Gewerbeschule Bautechnik G19 in Hamburg. A well-structured and transparent support at both learning centers accompanying the apprenticeship shall be provided by the Remedial Training. It shall take place both in school and at the training center, once a week for three full hours. After the preliminary diagnosis the trainees are assigned in groups with six people each, in which individual and cooperative learning tasks are to be solved.
For this purpose a learning comprehension on a theoretical level was developed in order to identify hereby derived disturbances from learning. The organizational general framework and key contents were derived from interviews with experts from both locations (Ausbildungszentrum and Gewerbeschule). The topics were verified in accordance to the curriculum. The existing test for the preliminary diagnostic has also been field tested by the project BEST, furthermore evaluated and discussed by experts.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
ABB. 1: ANZAHL DER NEUVERTRÄGE ZUR AUSBILDUNG IM BAU- UND AUSBAUGEWERBE NACH SCHULABSCHLUSS IN DEN JAHREN 2011 UND 2012
ABB. 2: EXEMPLARISCHE DARSTELLUNG DER FORMALEN AUFBEREITUNG VON LEHRBÜCHERN
ABB. 3: DREISPEICHERMODELL
ABB. 4: DER ZUSAMMENHANG VON KOMPETENZ UND PERFORMANZ
ABB. 5: ERKLÄRUNGSMODELL VON LERNSCHWIERIGKEITEN
ABB. 6: HANDLUNGSMODELL ZUR ANALYSE VON SCHWIERIGKEITEN BEI LERNANFORDERUNGEN
ABB. 7: DREIPHASENMODELL DER LERNSTRATEGIENUTZUNG NACH WILD
ABB. 8: BEDÜRFNISPYRAMIDE NACH MASLOW
ABB. 9: DIAGNOSESCHEMA ZUR BESTIMMUNG VERSCHIEDENER MOTIVATIONSFORMEN
ABB. 10: GRUNDMODELL DER KLASSISCHEN MOTIVATIONSPSYCHOLOGIE
ABB. 11: SELBSTREGULATIONSMODELL DER LEISTUNGSMOTIVATION
ABB. 12: FLOW OF EVENTS LEADING TO SYMPTOMS OF HELPLESSNESS
ABB. 13: FÖRDERPLANUNG IM KONTEXT VON UNTERRICHT, FÖRDERUNG, DIAGNOSTIK UND EVALUATION
ABB. 14: RELATIVE ANZAHL DER NICHT BEARBEITETEN AUFGABEN
ABB. 15: ANALYSE DER FEHLERCODES
ABB. 16: HANDWERKLICHER GESCHÄFTSPROZESS MIT AKZENTUIERUNG DER SCHWERPUNKTE DER ERSTEN DREI LERNFELDER
ABB. 17: FREIHEITSGRADE IM INDIVIDUALISIERTEN UNTERRICHT
ABB. 18: DIE VOLLSTÄNDIGE HANDLUNG
Tabellenverzeichnis
TAB. 1: TEILHANDLUNGEN UND STÖRUNGEN DES LERNABLAUFS
TAB. 2: KOMPETENZNIVEAUS UND IHNEN ZUGEORDNETE STRATEGIEN -
TAB. 3: MERKMALE KOGNITION UND METAKOGNITION
TAB. 4: SCHEMA ZUR KLASSIFIKATION VON URSACHEN NACH WEINER
TAB. 5: ANZAHL, AUSBILDUNGSBERUF UND SCHULISCHE VORBILDUNG DER TESTPERSONEN
TAB. 6: BEZUG VON PRÜFUNGSAUFGABEN ZUR ARBEITSSITUATION
1. Einleitung
Die durchschnittlichen Leistungen deutscher Schüler haben sich seit der ersten PISA- Studie 2000 deutlich verbessern können. Jedoch ist die Kompetenzverteilung weiterhin sehr ungleich in Hinblick auf die soziale Schicht und schulische Laufbahn. So sind gerade einmal die Hälfte der Schüler1 hinsichtlich ihrer Lesekompetenz auf Kompetenzstufe II (einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Teilen eines Textes herstellen) oder darüber anzusiedeln. Im Bereich der mathematischen Kompetenz überschreitet das geringste Niveau mit 424 Punkten im Bildungsgang Hauptschule nur knapp das Grundschulniveau (Skalenwerte 329-420). (KLIEME et al., 2010, S. 9 ff.) Der Ländervergleich des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) 2012 hat gezeigt, dass für den Standort Hamburg diese Problematik besonders hoch ist. So konnten Hamburger Schüler der 9. Jahrgangsstufe in Hinblick auf mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen nur die unteren Ränge belegen (vgl. PANT et al., 2012). Eine Besserung ist zunächst nicht in Sicht, da sowohl die genannten Studien sowie die PIAAC Studie der OECD (2013) einen engen Zusammenhang zwischen sozialem Status und der Kompetenzausprägung ableiten. Hier zeichnet sich ein Teufelskreis ab, welcher nicht vom Regelsystem durchbrochen werden kann.
Diese Schüler haben große Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt, selbst in den einfachen Berufen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten und die Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Dieses Problem bleibt jedoch nicht begrenzt auf die einzelne Person, sondern gestaltet sich zu einem Problem des ganzen Sektors. Denn gleichermaßen haben die Betriebe erhebliche Probleme, qualifizierte Jugendliche zu finden und auszubilden. Und auch die Berufsschulen stehen vor einer neuen Herausforderung, wenn ein Großteil der Schüler nicht über gewisse Grundlagen im Bereich Mathematik, Lesen und Schreiben verfügen. Die Auszubildenden werden dem Niveau der Ausbildung entsprechend kaum noch gerecht, wodurch einerseits viele Jugendliche ihre Ausbildung nur schlecht oder gar nicht abschließen und sich andererseits das Niveau der Ausbildung nach unten orientiert. In der Folge können Lerninhalte nicht mehr im vorgeschriebenen Umfang vermittelt werden. Die Einsatzfähigkeit der Auszubildenden im Betrieb und, bei einem flächendeckenden Phänomen, auch der Wert der Ausbildung am Arbeitsmarkt sinkt entsprechend, da vorgeschriebene Standards nicht gehalten werden können. Es ist davon auszugehen, dass sich in diesem Fall Betriebe verweigern würden, leistungsschwache Jugendliche auszubilden, sodass selbst diese jungen Menschen in den einfachen Berufen keinen Ausbildungsplatz mehr finden.
Das Berufsfeld Bautechnik ist eben von diesem Problem betroffen. Auszubildende dieses Berufsfeldes verfügen überwiegend über einen Hauptschulabschluss und stammen (theoretisch) überwiegend aus sozial schwächeren Familien. Dies wird besonders am Beispiel des Ausbildungszentrum- Bau in Hamburg deutlich, welches neben der überbetrieblichen Ausbildung auch selbst, als zugelassener Träger nach dem Recht der Arbeitsförderung, geförderte Ausbildungsplätze für schwer vermittelbare Jugendliche zur Verfügung stellt.
Es stellt sich somit die Frage, wie leistungsschwache Auszubildende berufsbegleitend gefördert werden können, um den erfolgreichen Abschluss ihrer Berufsausbildung zu sichern.
Bestehende Fördermaßnahmen wie die „ausbildungsbegleitenden Hilfen“ oder die Initiative „Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen“ zeigen in ihrer praktischen Umsetzung deutliche Schwächen. In diesem Sinne soll ein Förderprogramm entwickelt werden, welches kooperativ am Ausbildungszentrum- Bau und der Hamburger Gewerbeschule Bautechnik G19 umgesetzt werden kann.
Das Remedial Training soll als Rahmenkonzept dazu beitragen, auf kognitiver und metakognitiver Ebene das Lern- und Arbeitsverhalten der Auszubildenden zu verbessern. Da innerhalb der beruflichen Bildung die Förderung von lernschwachen Schülern ein meist nur peripher behandeltes Themengebiet ist, sollen hier breite Anlehnungen an die Sonderpädagogik vorgenommen werden.
Im Rahmen dieser Arbeit soll zunächst das Ausbildungszentrum- Bau als Standort vorgestellt werden. Ebenso soll jeweils kurz über die „ausbildungsbegleitenden Hilfen“ und die Initiative „Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen“ informiert werden. Anschließend wird dann das Konzept des Remedial Training terminologisch in Abgrenzung zu den Ansätzen der Benachteiligtenförderung, des sonderpädagogischen Förderunterrichts sowie der Nachhilfe eingeführt. Auf theoretischer Ebene wird dann ein grundlegendes Lernverständnis entwickelt. Hieraus werden dann mögliche Störungen beim Lernen identifiziert. Die organisatorischen Rahmenbedingungen und inhaltlichen Schwerpunkte sollen empirisch durch Interviews mit Experten vom Ausbildungszentrum und der Berufsschule erforscht werden. Im Abgleich mit dem Curriculum werden diese Inhalte bestätigt. Ebenso soll der bestehende Test zur Eingangsdiagnostik aus dem Projekt BEST praktisch erprobt, ausgewertet und mit den Experten besprochen werden.
2. Forschungsstand
Der Bezug zwischen den Basiskompetenzen, also grundlegenden mathematischen Fähigkeiten sowie Lesen und Schreiben sowie der Ausbildung einer berufsfachlichen Kompetenz, wurde bereits empirisch belegt (vgl. NICKOLAUS, GEISSEL & GSCHWENDTNER, 2008; KEIMES & REXING, 2011), wobei u.a. das Projekt ULME für den gewerblich-technischen Bereich nachweist, dass mathematische Fähigkeiten einen stärkeren Einfluss auf die Fachkompetenz haben als Schreib- und Lesekompetenz (vgl. HOFFMANN & LEHMANN, 2007). AVERWEG (2007) hat in diesem Kontext aufgezeigt, dass im Berufsfeld Bautechnik besonders algebraische Umformungen und Textaufgaben, welche eine Modellierung der Aufgabe erfordern, große Probleme bereiten.
Für den Bereich der allgemein bildenden Schulen gibt es eine Fülle von Förderprogrammen und Konzepten (vgl. bspw. KOMOREK et al., 2006). Innerhalb der Beruflichen Bildung lassen sich bisher nur wenige Interventionen finden. So wäre hier bspw. der Ansatz des „Reciprocal Teaching“ (vgl. GSCHWENDTNER & ZIEGLER, 2006a/b) zur Förderung der Sprach- und Lesekompetenz sowie das speziell für die Grundstufe Bautechnik entwickelte „Berufsbezogene Strategietraining (BEST)“ zur Verbesserung mathematischer Kompetenzen (vgl. PETSCH, NORWIG & NICKOLAUS, 2012) zu nennen.
3. Forschungsmethode
Ziel dieser Arbeit ist es zu untersuchen, welche Aufgaben innerhalb der Ausbildung im Berufsfeld Bautechnik von den Ausbildungsstätten Schule und Ausbildungszentrum- Bau nicht oder nur in zu geringem Maße geleistet werden können und in welcher Weise diese Defizite durch ausbildungsbegleitende Unterrichtsmaßnahmen ausgeglichen werden sollten. Damit einhergehend stellt sich auch die Frage nach der grundsätzlichen Organisation solcher Maßnahmen. Um diesen Gegenstand zu untersuchen, sollen Experten der jeweiligen Institutionen interviewt werden. Die Experteninterviews werden dabei mit Hilfe eines Leitfadens geführt (vgl. FLICK, 2006, S. 218 ff.). Es wurde eine qualitative Forschungsmethode gewählt, da diese Untersuchung sich auf Erfahrungswerte, subjektive Theorien und persönliche Einschätzungen beziehen soll, um sich eng an der Lebenswelt der Auszubildenden zu orientieren aber auch den gegebenen Rahmenbedingungen zu entsprechen. Um die thematischen Schwerpunkte „Inhalt“ und „Organisation“ ausreichend zu betrachten, sollen insgesamt zwei Interviews geführt werden. Dabei geht es darum, die subjektiven Theorien der Experten zu ermitteln. Hierfür werden korrelierende Aussagen als Bedingungen für eine verträgliche Umsetzung an beiden Standorten in das Konzept integriert. Gleiches soll mit sich ergänzenden oder nicht zwingend ausschließenden Vorschlägen erfolgen. Widersprüchliche oder sich ausschließende Ansichten werden hingegen aufgenommen und zur weiteren Diskussion gestellt. Die Aussagen betreffend der inhaltlichen Ausgestaltung sollen dann mit Hilfe einer curricularen Analyse der ersten drei Lernfelder gestützt werden.
Ebenso ist es angedacht, im Rahmen eines neuen Förderkonzeptes eine Eingangsdiagnostik durchzuführen. Dies soll kollektiv mithilfe eines Test erfolgen, welcher in diesem Sinne zugleich ein Selektionsinstrument darstellt. Hierfür soll zunächst der Diagnosetest des Projekts BEST auf seine globale Anwendbarkeit am Hamburger Schülerklientel getestet werden. Die Auswertung des Tests soll in Hinblick auf das angedachte Einsatzgebiet quantitativ erfolgen. Dabei soll im Wesentlichen die diagnostische Qualität des Tests beurteilt werden.
Kapitel I - Vorstellung ausgewählter Institutionen
4. Das Ausbildungszentrum- Bau in Hamburg GmbH
Das Ausbildungszentrum- Bau (AZB) wurde 1971 gegründet und gehört zu „den größten Ausbildungszentren seiner Art in Deutschland“ (KRAUSE, 2008, S. 2). Das gemeinnützige, überbetriebliche Ausbildungszentrum übernimmt dabei Lehrinhalte, die von den Betrieben und der Gewerbeschule für Bautechnik in Hamburg (G19) in diesem Maße grundsätzlich nicht sicher gestellt werden können. Hierbei folgt es dem Leitbild einer praxisnahen, fachlich fundierten, zukunftsorientierten Ausbildung (vgl. AZB, 2012, S. 2). In diesem Sinne steht das AZB auch in enger Kooperation mit den beiden anderen Lernorten und versteht sich als „Partner der Hamburger Bauwirtschaft“ (ebd., S. 4). Die Kooperation wurde 2004 um die Institutionen der Technischen Universität Hamburg- Harburg und der Universität Hamburg, für einen engeren Abgleich zwischen Theorie und Praxis, erweitert (vgl. ebd., S. 5).
„2007 wurde das AZB vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) zum ‚Kompetenzzentrum für zukunftsorientiertes Bauen‘ ernannt. Es ist bundesweit eine von derzeit nur sieben Einrichtungen, die die strengen Vorgaben der Bun desregierung für Kompetenzzentren erfüllen.“ (KRAUSE, 2008, S. 2)
Europaweit einzigartig ist das rund 800 Quadratmeter große „Zentrum für zukunftsorientiertes Bauen“ (ZzB) innerhalb des AZB, indem „Schnittmodelle von Häusern im Maßstab 1:1“ (AZB, 2012, S. 2) begehbar ausgestellt sind. Entsprechend des Leitbildes wurden diese Modelle von Auszubildenden gebaut (vgl. KRAUSE, 2008, S. 6). Hier sollen angehende Handwerker sehen, verstehen und selber machen. So finden sich neben den Anschauungsobjekten auch Baukästen mit entsprechender Anleitung, um Theorie praktisch zu verstehen. Ergänzt wird dieses Konzept durch die ebenfalls hausinterne „Werkstatt für innovatives Bauen“ (WiB).
Im AZB werden jährlich rund 500 Auszubildende in drei Lehrjahren in zehn der 15 Berufe des Bauhauptgewerbes ausgebildet, darunter: Maurer, Zimmerer, Betonbauer, Straßenbauer, Kanalbauer, Rohrleitungsbauer, Trockenbauer, Fliesenleger, Stuckateure und WKSB- Isolierer (vgl. HEISER, 2011, S.4). Zusammen mit den Betrieben, der Schule und den Hochschulen entwickelt das AZB neue Konzepte für eine individuelle Ausbildung und versucht, durch Angebote für Jugendliche mit beruflichen Schwierigkeiten, aber auch für leistungsstarke Auszubildende, persönliche Stärken zu fördern und zu fordern (vgl. AZB, 2012, S. 2). So beherbergt das AZB nicht nur die Auszubildenden der Handwerksbetriebe. 2012 bestätigte die Hanseatische Zertifizierungsagentur (HZA), dass das Qualitätssicherungssystem des AZB die Anforderungen nach dem Sozialgesetzbuch Drei (SGB III) und der Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV) erfüllt. Seither ist das AZB zugelassener Träger nach dem Recht der Arbeitsförderung und befugt, Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach §45, Abs. 1, S. 1, Nr. 1- 5 SGB III, der Berufswahl und Berufsausbildung nach dem Dritten Abschnitt des Dritten Kapitels SGB III und der beruflichen Weiterbildung nach dem Vierten Abschnitt des Dritten Kapitels SGB III durchzuführen.
Das Zentrum fungiert in diesem Rahmen auch selbst als Ausbildungsbetrieb und stellt vom Amt geförderte Ausbildungsplätze zur Verfügung. Im Laufe der
Abb. 1: Anzahl der Neuverträge zur Ausbildung im Bau- und Ausbaugewerbe nach Schulabschluss in den Jahren 2011 und 2012
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: STATISTA (2013)
Ausbildung wird dann versucht, die eigenen Auszubildenden in eine „richtige“ betriebliche Ausbildung zu vermitteln. Hierbei handelt es sich um schwer vermittelbare Jugendliche. Oft kommen diese aus sozial schwierigen Verhältnissen und haben schlechte schulische Vorkenntnisse mit einem entsprechenden Abschluss- teilweise auch ohne diesem. Im allgemeinen ist die gesamte Baubranche von dem Problem eines, zu mindest wahrgenommenen sinkenden schulischen Niveaus stark betroffen. Auf die klassischen Bauberufe wie bspw. der Maurer, bewerben sich traditionell überwiegend Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss (vgl. Abb. 1). Diese verfügen jedoch zunehmend nicht mehr über die erwünschten Kenntnisse und Verhaltensweisen. Daher hat gerade die Frage nach einer berufsspezifischen und ausbildungsbegleitenden Kompetenzvermittlung zur Aufarbeitung von Defiziten einen besonderen Stellenwert.
Zudem leistet das AZB einen Beitrag zum lebenslangen Lernen. Im Rahmen der beruflichen Fort- und Weiterbildung bietet das Zentrum ein breites Spektrum an Seminaren und Lehrgängen an, welches sich an den Bedürfnissen der Betriebe orientiert (vgl. AZB, 2012, S. 7).
5. „Ausbildungsbegleitende Hilfen“
Die ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH) werden von der Bundesagentur für Arbeit angeboten und sind für die Auszubildenden kostenfrei. Die gesetzliche Grundlage findet sich im §75 SGB III:
„Ausbildungsbegleitende Hilfen sind Maßnahmen für förderungsbedürftige junge Menschen, die über die Vermittlung von betriebs- und ausbildungsüblichen Inhalten hinausgehen, insbesondere müssen ausbildungsbegleitende Hilfen während einer Einstiegsqualifizierungüber die Vermittlung der vom Betrieb im Rahmen der Einstiegsqualifizierung zu vermittelnden Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten hinausgehen.“(SGB III, Abs. 1.)
Die damit implizierten Ziele der abH fassen GILLEN & SCHÖNBECK (2008, S. 2) in den folgenden Punkten zusammen:
- Beitrag zum Ausbildungserfolg,
- Verringerung von Ausbildungsabbrüchen,
- Begleitung des Übergangs von einer überbetrieblichen Ausbildung in die betriebliche Berufsausbildung,
- Erhöhung der Integrationsquote in den ersten Arbeitsmarkt und
- Stabilisierung von Ausbildungsverhältnissen.
Konzeptionell wird dabei ein Dreiklang von sozialpädagogischer Betreuung, Stützund Förderunterricht und Förderplanarbeit verfolgt (vgl. ebd., 2008, S. 3).
Im Rahmen einer älteren Studie von BONIFER-DÖRR et al. (1991, S. 52 f.) wurden die Träger befragt, welchen Zielsetzungen sie gerecht werden würden. Am häufigsten wurde dabei die Prüfungsvorbereitung als Ziel genannt, dem der theoretische Unterricht sehr gerecht werden würde. Ein Ziel, dem die abH weniger gerecht werden, ist die gezielte Förderung von Planung, Ausführung und Kontrolle von Arbeitsprozessen.
In Hinblick auf ein kompetenzorientiertes Lernverständnis sowie unter Anbetracht der curricularen Vorgaben zur Gestaltung von komplexen Lehr- Lern- Arrangements nach dem Modell der vollständigen Handlung (vgl. KMK, 1999, S. 5), ist die Arbeit durch die abH durchaus kritisch zu beurteilen.
Weitere Kritikpunkte ergeben sich durch die Unterrichtszeiten sowie die Zusammensetzung der Gruppen. So werden die wenigsten Teilnehmer für diese Maßnahme vom Arbeitgeber freigestellt und müssen folglich nach der Arbeitszeit lernen (vgl. BONIFER-DÖRR et al., 1991, S. 44 f.). Dabei wird zwar in Gruppen von bis zu fünf Personen gearbeitet, jedoch werden hier
„[…] aufgrund von ökonomischen Bedingungen häufig Auszubildende verschiedener Gewerke gemeinsam unterrichtet […]. Bestimmte fachliche Probleme, die sich aus den Lernfeldern und nicht nur aus rein mathematisch- naturwissenschaftlichen Lerninhalten (Fächern) ergeben, können dadurch nur am Rande gelöst werden. In der Folge bedeutet diese Praxis auch die Reduzierung der Probleme auf allgemeinbildende Kernfächer wie Mathematik, Deutsch oder naturwissenschaftliche Grundlagen und die Aussparung bestimmter gewerksspezifischer Zusammenhänge.“ (GILLEN & SCHÖNBECK, 2008, S. 3)
6. „Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen“
Die „Verhinderung von Abbrüchen und Stärkung von Jugendlichen in der Berufsausbildung durch SES- Ausbildungsbegleiter“ (VerA) ist eine, aus den Mitteln des Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte, JOBSTARTER- Initiative und wird vom Senior Experten Service (SES) koordiniert.
Ziele der Initiative sind nach SEELIG, L. (2012, S. 20):
- Die Zahl der Ausbildungsabbrüche in Deutschland verringern,
- Jugendliche in der Berufsausbildung stärken und unterstützen und
- die wertvolle Erfahrung von Experten im Ruhestand für die Gesellschaft nutzen.
Als präventive Maßnahmen bietet VerA
„[…] individuelle, auf die Auszubildenden und ihre persönliche Problemlagen zugeschnittene Unterstützungsangebote durch berufs- und lebenserfahrene Senior Expertinnen und Experten, um den Ausbildungsverlauf zu stabilisieren.“(BÖSE & HEINKE, 2010, S. 21).
Die Maßnahme ist dabei für Auszubildende kostenfrei. Gearbeitet wird dabei meist in Tandems. Dabei kümmert sich der Senior um die im Rahmen seiner Möglichkeiten aktuellen und akuten Probleme des jeweiligen Teilnehmers. Ausführungen, inwieweit die Senioren im Voraus pädagogische Schulungen erhalten, konnten nicht gefunden werden. Ebenso gibt es zur Auswahl der Senioren keine detaillierten Angaben.
Wissenschaftliche Veröffentlichungen, die sich genauer mit dem Konzept Initiative VerA und den Outcomes beschäftigen, konnten ebenfalls nicht ermittelt werden.
Kapitel II - Theoretische Fundierung
7. Terminologische Abgrenzung
Mit der Konzeption eines Programms zur Unterstützung leistungsschwacher Auszubildender am Standort AZB kommt es zu einer Überschneidung vieler Begrifflichkeiten und Theorien, die im Folgenden unter Anbetracht der Gegebenheiten am AZB diskutiert und abgegrenzt werden sollen. Hierzu gehört insbesondere der Begriff der Benachteiligung zur Charakterisierung des Schülerklientel. Die Maßnahme selbst soll zur klassischen Nachhilfe abgegrenzt werden. Implikationszusammenhänge zum Klientel und der Maßnahme hat der Oberbegriff des Förderunterrichts, welcher ebenfalls diskutiert werden soll.
Wie bereits angeführt, soll mit dieser Arbeit der Versuch unternommen werden, Theorien zur Förderung leistungsschwacher Schüler aus der Sonderpädagogik in das Berufsausbildungssystem zu überführen. Dieser Ansatz ist keinesfalls neu. Innerhalb der Berufspädagogik lässt sich bspw. das Konzept der beruflichen Förderpädagogik „ als eine integrierte Pädagogik des Jugendalters “ (BOJANOWSKI, 2005, S. 330; Hervorhebung wie im Original) finden. BOJANOWSKI (2005, S. 333 ff.) definiert hier fachinterne Anknüpfungspunkte der Berufs-, Sonder-, Sozial- und Schulpädagogik, benennt Kernaufgaben und normative Voraussetzungen und setzt diese in Bezug zu gesellschaftlichen Wirkungsfaktoren sowie fachlichen Diskursen. Somit ist dieses Konzept durchaus umfassender als der hier verfolgte Ansatz, jedoch auch nur bedingt übertragbar auf das thematisierte Problem. Die berufliche Förderpädagogik hat die Förderung benachteiligter Jugendlicher als Zielsetzung (vgl. ebd.). „Als ‚benachteiligt‘ gelten junge Menschen mit individuellem Förderbedarf, die ohne besondere Hilfen keinen Zugang zur Ausbildung und Arbeit finden und ihre soziale, berufliche und persönliche Integration in die Gesellschaft nicht allein bewältigen können.“ (BIBB, 2007, S.1). Bereits an dieser Definition zeigt sich, dass der Terminus Benachteiligung bzw. benachteiligte Jugendliche nicht für den Personenkreis treffend ist, welcher Bezugspunkt dieser Arbeit ist. Die Auszubildenden am AZB haben bereits überwiegend ihren Zugang zur Ausbildung gefunden. Jedoch lassen sich auch Gemeinsamkeiten finden. So werden individuelle, lebensweltliche und strukturelle Faktoren als Begründungen für die Benachteiligung angeführt (BOJANOWSKI, 2006, S. 342). ENGGRUBER (2011, S. 2 ff.)
konstruiert bspw. sieben Benachteiligungstypen:
1. Marktbenachteiligungen
2. Schulische Überforderung und Leistungsmisserfolg
3. Außerschulische Überforderung und Lebensprobleme
4. Sinn- und Identitätssuche
5. Multiproblematische Herkunftsfamilien mit Gewalterfahrungen
6. Protest- und Autonomiebeweise
7. Migrationshintergrund
Diese Faktoren je nach Autor differieren (vgl. BOHLINGER, 2004, S.231 f.). Zwar gelten strukturelle Faktoren wie eine regionale Sättigung des Arbeitsmarktes nicht für Personen, die bereits einen Ausbildungsplatz besitzen. Dennoch können individuelle und lebensweltliche Faktoren zu defizitären Leistungen führen. Somit sind hier durchaus Überschneidungen zwischen den Problemen benachteiligter Jugendlicher und per definitionem nicht-benachteiligten Jugendlichen zu erwarten. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass der Begriff „Benachteiligung“ und die in diesem Kontext entwickelten Konzepte nicht oder nur zum Teil anwendbar auf die Auszubildenden des Ausbildungszentrums sind. Eine Charakterisierung dieser als benachteiligt wäre entsprechend unzutreffend.
Begriffe wie bspw. „individuelle Förderung“, „Förderunterricht“ oder „Lernförderung“ sind sehr stark von der Sonderpädagogik geprägt. Zunächst lässt sich der Terminus Förderunterricht als eine didaktische Maßnahme zur Verringerung oder Behebung schulischer Leistungsrückstände und Lerndefizite definieren (vgl. KLEINSCHMIDT, 1979, S. 125). Implizit wird hiermit jedoch das Bestehen eines sonderpädagogischen Förderbedarf und/oder Vorliegen von Lernstörungen wie bspw. Legasthenie oder Dyskalkulie unterstellt. Zudem ist Förderunterricht eine Maßnahme innerhalb der Institution Schule, welche von (sonder)pädagogischem Fachpersonal durchgeführt wird. Schon jetzt wird deutlich, dass die Bezeichnung „Förderunterricht“ und ihre Analogien ebenfalls nicht treffend sind. Zum einen werden bei den Auszubildenden zunächst lediglich Leistungsdefizite festgestellt. Das Vorliegen eines sonderpädagogischen Förderbedarf und/oder Lernstörungen sind dabei keine Voraussetzungen zur Teilnahme an den Maßnahmen im Ausbildungszentrum. Zwar ist davon auszugehen, dass einige Auszubildenden bei einer differenzierten Diagnostik durchaus in verschiedenem Maße Lernstörungen und sonderpädagogischen Förderbedarf vorweisen könnten, ein grundsätzliches Vorliegen kann aber nicht unterstellt werden. Zum anderen findet der Unterricht nicht ausschließlich an der Berufsschule statt, sondern am überbetrieblichen Ausbildungszentrum. Die Personen, welche den Unterricht durchführen, haben somit nicht zwingend eine (sonder)pädagogische Professionalisierung. Allerdings liegt dem Ausbildungszentrum als Bildungseinrichtung ein gesamtpädagogisches Konzept zugrunde, welches sich ebenfalls auf den Unterricht auswirkt.
Hieran anschließend soll auch auf den Begriff der „Nachhilfe“ eingegangen werden. Ausgehend von den Definitionen nach BEHR (1990, S. 9) und RUDOLPH (2002, S. 20) lässt sich Nachhilfe an drei Kriterien bestimmen. Organisatorisch findet Nachhilfe außerhalb der regulären Unterrichtszeiten und ergänzend zum Unterricht statt und wird von den Eltern oder Schülern selbst nachgefragt. Die Zielsetzung des Unterrichts ist die Leistungssteigerung des Schülers. Die Finanzierung von Nachhilfeunterricht erfolgt dabei privat. DOHMEN et al. (2008, S. 17) verweisen weiterhin auf eine Differenzierung der Anbieter nach kommerziellen Gesichtspunkten. Unter Bezugnahme auf DASSLER (2005, S.90) wird die These entwickelt, dass kommerziell-gewerbliche Nachhilfe professionalisierter erfolgt, als nichtgewerbliche bzw. private. Auch hier ergeben sich somit Disparitäten zur Umsetzung am Ausbildungszentrum. So ist das AZB kein gewerbliches Nachhilfeinstitut, hat aber dennoch ein pädagogisches Konzept und somit eine entsprechende Professionalisierung. Zudem erfolgt die Auswahl der Teilnehmer extern. Die Lehrlinge können sich grundsätzlich nicht eigenständig einschreiben, sondern werden abhängig von ihrem Leistungsstand zugeteilt. Zuletzt soll auf die Finanzierung Bezug genommen werden. Die angebotenen Maßnahmen am AZB sind für die Lehrlinge kostenfrei.
8. Remedial Training als schulische und berufliche Ergänzung
Die eben gemachten Ausführungen machen deutlich, dass weder der bestehende Terminus „benachteiligt“ zur Charakterisierung des Schülerklientel treffend ist, noch die Unterrichtsform als „Förderunterricht“ oder „Nachhilfe“ bezeichnet werden kann. Im Folgenden soll nunmehr von „educational needs of remedial training to promote vocational success for apprentices” (ENRT) gesprochen werden. Durch die terminologische Einführung des ENRT gelingt es, sowohl die Zielgruppe hinreichend zu charakterisieren, als auch die Maßnahme von Formen des Förderoder Nachhilfeunterrichts abzugrenzen.
Der betroffene Personenkreis der Auszubildenden oder Lehrlinge wird recht global gehalten. Es ist somit nicht zwingend erforderlich, dass eine anerkannte (Lern-) Behinderung vorliegt. Als Zugangsvoraussetzungen zur betreffenden Maßnahme sollen die „educational needs“ dienen. Die Bezeichnung der „special educational needs“ wird im internationalen Kontext für den Umgang mit Behinderungen gebraucht (vgl. HEIMLICH, 2009, S. 23 f.). Nicht zuletzt soll sich von diesem Themenbereich durch das Fehlen des Charakteristikums „special“ distanziert werden.
Während im Deutschen die Begriffe pädagogisch oder didaktisch eng abgegrenzt sind, können „educational needs” allgemeiner als einen, aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive abgeleiteten Bedarf verstanden werden. Damit werden mehrere begriffliche Dimensionen konnotativ angesprochen, ohne dass eine Festlegung auf einen Aspekt erfolgt. Zudem zeigt der Bedarf einen Mangel an. Dieser drückt sich darin aus, dass die jeweiligen Leistungen konstant den externen Anforderungen nicht gerecht werden. Folglich ist eine Teilnahme von personellen Faktoren abhängig und damit limitiert und endlich. Bei der Auswahl der Teilnehmer scheint eine reine Abstellung auf Noten wenig sinnvoll. Ohne detailliert auf die Diskussion zur Aussagekraft und Sinnhaftigkeit von Noten eingehen zu wollen, ist die Qualität von Noten durchaus kritisch zu beurteilen (vgl. SALDERN, 2011, S. 91 ff.). Sie zeigen zwar bestehende Defizite numerisch an, geben aber keinen genaueren Aufschluss über diese. Eher bedarf es einer individuellen diagnostischen Analyse, welche den Grund bzw. die Gründe für die schlechten Leistungen herausstellt. Hierbei geht es um die Frage, warum kognitive Prozesse nicht oder nur mangelhaft ausgeprägt sind. Resultieren schlechte Leistungen also lediglich aus einer „chronischen Unlust“ sich mit Lerninhalten zu beschäftigen, läge in diesem Sinne kein ENRT vor -wohl aber dann, wenn es sich um eine Lernblockade handelt. Diese gilt es während des Trainings abzubauen. Das Unterrichtsformat als Training zu spezifizieren beruht wiederum auf zwei wesentlichen Implikationen. Während der schulische Unterricht, ausgehend vom jeweiligen Rahmenlehrplan, für alle Schüler die selben Inhalte, Ziele und zeitliche Abfolge formuliert, gelten diese Bedingungen für Unterrichtsformen, die als Training angelegt sind, nicht. Ein Training ist nicht zwingend schulisch organisiert und orientiert sich an den Schwächen des Einzelnen oder einer Kleingruppe. Es ist nicht unmittelbar an Lehrpläne gebunden, obgleich eine Anlehnung sinnvoll erscheint. Somit ergeben sich Freiräume, um Inhalte und Tempi individuell auszugestalten. Neben dem hat ein Training eine klare, meist individuelle und kurzfristig angelegte Zieldimension, wodurch die Teilnahme an Trainingsformen bzw. die Trainingsform selbst einer Sinnhaftigkeitsprüfung unterzogen wird. Zwar orientieren sich die Trainingsangebote an den Defiziten der Schüler, jedoch können diese derart mannigfaltig sein, dass individuell zu prüfen ist, ob die Bedürfnisse des einzelnen Schülers durch das bestehende Trainingsformat befriedigt werden können oder ob hierfür ein neues Angebot geschaffen werden muss. Dabei ist nicht nur auf das Fachwissen abzustellen, sondern auch auf andere, das Lernen beeinträchtigende Faktoren. „Remedial Training“ soll sich terminologisch vom “Förderunterricht” abgrenzen, ohne den Gedanken der Förderung vollständig zu verwerfen. Es soll darauf hingewiesen werden, dass es sich um ein ergänzendes Training handelt, welches Abhilfe bei Störungen leisten soll. „Störungen des Lernprozesses basieren auf konflikthaften Beziehungsmustern, die im Laufe der Sozialisation verinnerlicht werden und die Ich-Struktur des Subjekts bestimmen.“ (DAMMASCH, 2004, S.145). Eine reine Fokussierung der Fachinhalte wäre damit wenig nachhaltig. Die Lernprozesse werden in einen beruflichen Kontext gesetzt, welcher den Unterricht auf der inhaltlichen Ebene somit doppelt determiniert. Zum einen werden nur jene Störungen zu betrachtet, welche eine Gefahr für den beruflichen Erfolg bzw. einen erfolgreichen Abschluss der Ausbildung darstellen. Dies impliziert zum anderen, dass sich thematisch auch an den entsprechenden Ausbildungsinhalten orientiert wird. Anhand beruflich relevanter Aufgaben sollen die beruflich relevanten kognitiven Störungen aufgearbeitet werden. Es geht also nicht nur darum, eine bestimmte Operation so lange zu üben, bis diese fehlerfrei ausgeführt werden kann, sondern auch grundliegende Konzepte und Kompetenzen auszubilden.
Mathematische Inhalte sollen dabei als thematischen Bezugspunkt dienen, die es anhand von berufliche Prozesse und Probleme zu vermitteln gilt. Das Training ist entsprechend nicht als Mathematikunterricht zu verstehen. Anlehnungen an die Didaktik des Unterrichtsfaches Mathematik werden aus diesem Grund zunächst nicht getroffen. Diese können aber im Rahmen der Konstruktion von Lehr- Lern- Arrangements wieder an Bedeutung gewinnen, welche jedoch nicht den zentralen Gegenstand dieser Arbeit bilden.
Im Folgenden sollen nun Konzepte vorgestellt werden, welche zur Gestaltung des Remedial Trainings sinnvoll erscheinen. Es gilt vorrangig zu klären, warum für einige Schüler die Notwendigkeit der Teilnahme an ergänzendem Unterricht besteht. Dies soll auch exemplarisch am Lehrbuch Bautechnik motiviert werden. Im Anschluss soll das grundlegende Lernverständnis des Trainings erläutert. Dabei soll grundsätzlich zwischen Denkprozessen, Gedächtnisprozessen und dem Aufbau von Wissensstrukturen unterschieden werden, obgleich „die Aktivierung von gespeicherten Informationen und Vorkenntnissen (Gedächtnis), die Sortierung der bekannten und der neuen Informationen (Denken) sowie der Einbau neuer Informationen in die bestehenden Speicherstrukturen und semantischen (neuronalen) Netze (Wissen)“ (MIENERT & PITCHER, 2011, S. 98, Hervorhebungen wie im Original) bei der Auseinandersetzung des Lernenden mit einer aktuellen Problemstellung parallel ablaufen.
Anschließend soll ein Begründungsansatz zur Erläuterung des Entstehens von Lernstörungen den Übergang zur detaillierten Auseinandersetzung mit Störungen beim Lernen bereiten. In diesem Kontext sollen unter Einbezug des entwickelten Lernverständnisses mögliche Störungen beim Lernen aufgezeigt und deren Gründe und Auswirkungen analysiert werden. Abschließend soll der Fokus auf der Ausgestaltung von Förderplänen als Orientierungs- und Kooperationsinstrument liegen.
8.1.Zur Notwendigkeit von ergänzendem Unterricht
Das bestehende Berufsschulsystem und der darin verortete Regelunterricht erfolgt planvoll und systematisch. Lehrpläne, Lehrbücher und Prüfungen sind wesentliche Determinanten bei der Strukturierung von Unterricht. Sie definieren nicht nur die Länge und die Inhalte von Unterrichtssequenzen, sondern formulieren auch weiter implizite Eingangsvoraussetzungen betreffend des Vorwissens und setzen kurzfristig relevante Schwerpunkte innerhalb der Inhalte. Dabei wird sich stets am „Durchschnittsschüler“ orientiert (vgl. EBERLE et al., 2011, S. 1). Somit sollen alle Schüler zur gleichen Zeit dasselbe lernen (vgl. SANDFUCHS, 1990, S. 12). Das modulare Lernen entspricht soweit der Annahme, „dass sich die aufgenommenen Informationen sukzessive im Gedächtnis aufsummieren“ (LANDWEHR 2001, S. 26). Die Kritik an dem Lernverständnis des „additiven Wissenszuwachses“ (ebd.) lässt sich gut an dem relativ populären Zitat von Arthur Schopenhauer motivieren:
Zu verlangen, dass einer alles, was er je gelesen, behalten hätte, ist wieverlangen, dass er alles was er je gegessen, noch bei sich trüge.
Jedoch besteht dieser Anspruch, bedingt durch vielerlei Faktoren, weiterhin. Dies hat zur Folge, dass alle Schüler, welche bspw. im Hinblick auf Vorkenntnisse, Fähigkeiten oder Lerntempi nicht dem Durchschnitt entsprechen, kurz- oder langfristig dem Unterrichtsverlauf nicht mehr folgen können. Ein mangelndes Verständnis der Thematik führt dazu, dass Formeln auswendig gelernt und Lösungsverfahren mechanisiert werden (vgl. AEBLI, 1963, S. 63). „Wenn der Schüler nicht begreift, wenn ihm die wirkliche Bedeutung entgeht, so muß er sich starre Automatismen erwerben, die durch ihren rein äußerlichen, immer gleichen Mechanismus den Ablauf der gewünschten Reaktion sichern.“ (ebd.). Eine eigenständige Aufarbeitung der nicht verstandenen Inhalte wäre in diesem Fall notwendig. Dies kann sich jedoch durchaus hinderlich gestalten, was am Lehrbuch „Lernfeld Bautechnik - Grundstufe“ (BATRAN et al., 2000) verdeutlicht werden soll.
Das Buch begleitet die Auszubildenden im Berufsfeld Bautechnik in Hamburg während des ersten Ausbildungsjahres. Es lehnt sich an die einzelnen Lernfelder an, ist nach diesen strukturiert und als Lehrbuch grundsätzlich auch Bezugspunkt von Unterricht. Prinzipiell besteht jede Seite des Buches zur Hälfte aus einem klein gedrucktem Fließtext und zur anderen Hälfte aus einer oder mehreren ergänzenden, schematischen Darstellung bzw. Darstellungen. Dieses nahezu einheitliche Seitenlayout lässt Rückschlüsse auf das Schülerbild der Autoren zu. In diesem Fall wurde sich an einem Schüler orientiert, welcher in der Lage ist, längere Textpassagen zu lesen aber zum genauerem Verständnis visueller Impulse bedarf, wobei die ergänzende Verbindung zwischen Text und Darstellung erkannt und genutzt werden kann. Neben dem Fachwissen werden auch physikalische Prozesse und mathematische Vorgänge verbalisiert. Eine kleinschrittige Visualisierung bleibt hingegen zum Teil aus. Auch werden Inhalte schematisch dargeboten, ohne Zusammenhänge bzw. Hintergründe (erneut) zu erläutern. Die von AEBLI angesprochene Mechanisierung von Lösungsverfahren sowie das Auswendiglernen von Formeln wird hier motiviert. So stehen die benötigten mathematischen Formeln direkt neben den Beispielen. Auf die abgebildeten Steigungsdreiecke wird nicht konkret eingegangen. Auf einer Seite werden insgesamt sechs Formel vorgestellt. Zwar sind diese lediglich Umformungen von zwei Stammformeln, aber eine ausführliche Erläuterung dessen bleibt an dieser Stelle aus. Augenscheinlich wird hier auf eine Anwenden von Algorithmen abgestellt anstatt das Modellieren als zentrale Kompetenz zu verstehen. Andere Zusammenhänge wie bspw. die Umrechnung der prozentualen Angabe der Steigung zu einem Verhältnis werden kurz und mit Begriffen wie „wechselseitig“ verbal sperrig präsentiert. Und warum entspricht ein Winkel von 45°dem Verhältnis 1:1 und dem Prozentsatz 100%? Und in welche Formel wird der Winkel eingesetzt? (vgl. Abb. 2)
Dies führt dann zu Problemen, wenn die kognitiven Fähigkeiten des Schülers nicht ausreichen, um den Inhalt des Textes zu erschließen oder die Darstellung kontextgebunden sinnvoll zu interpretieren oder Synergieeffekte aus der Kombination von Text und Darstellung abzuleiten. Somit bliebe Schülern mit sprachlichen Problemen nur übrig, die sechs am Rande abgebildeten Formeln zu betrachten und anzuwenden. Ein Verständnis für die Thematik wird nicht erzeugt und somit ist dieses Wissen auch nicht übertragbar auf andere Situationen.
Es stellt sich nun die Frage, was Schüler, deren Fähigkeiten nicht ausreichend sind, aus der abgebildeten Passage lernen würden? Die Antwort auf diese Frage ist zwar spekulativ, jedoch wäre anzunehmen, dass folgendes Muster auswendig gelernt werden würde:
Bei der Berechnung der Steigung gibt es sechs Formeln. Zuerst muss ich gucken, ob die Angabe in Prozent oder als Verhältnis gemacht wird. Dadurch kann ich drei Formel ausschließen. Im Anschluss muss ich dann nur noch gucken, ob nach der Höhe, Länge oder dem Prozentsatz bzw. Verhältnis gefragt wird.
Ein derartiges Lösungsmuster ist repräsentativ für auswendig gelernte Formeln und mechanisierte Lösungsverfahren. Nachhaltige, transferierbare Lerneffekte stellen sich entsprechend nicht ein. Leistungsschwache Schüler benötigen entsprechend andere Materialien, um Inhalte eigenständig aufarbeiten zu können und nicht beim Lernen zu scheitern oder gar zu verzweifeln. Zwar weist SKOWRONEK (1970, S. 497 f.) darauf hin, dass Lehrmittel nicht isoliert, sondern im Kontext des gesamten Systems, in dem das Lernen
Abb. 2: Exemplarische Darstellung der formalen Aufbereitung von Lehrbüchern
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: BATRAN et al., 2000, S. 71.
organisiert ist, betrachtet werden sollen. Er stellt aber gleichzeitig hervor, dass „man auch der Entwicklung von Lernmitteln für spezielle Schülergruppen “ (ebd., S. 498, Hervorhebung wie im Original) eine besondere Aufmerksamkeit zuwenden solle. Es gilt also das Buch additiv mit anderen Angeboten zu verknüpfen.
Stehen diese dem Schüler jedoch nicht zur Verfügung, können angestrebte Lerneffekte wohlmöglich nicht erreicht werden.
8.2.Gedächtnisleistung als Bedingung fürs Lernen
Lernprozesse vollziehen sich unter Rückgriff auf bestehendes Wissen, indem sie Wissensrepräsentationen aufbauen oder diese modifizieren (vgl. STEINER, 2001, S. 164). Der Begriff Kognition umfasst dabei die Aufnahme von Informationen, deren Verarbeitung, Speicherung, Nutzung und Anwendung (vgl. SEEL, 2000, S. 19; SEEL & HANKE, 2010, S. 40).
Probleme bei der Leistungserbringung können demnach in der Aufnahme und Verarbeitung aber auch in der Speicherung von Informationen liegen. Während Lernen mit dem Erwerb neuer Informationen verbunden ist, dient das Gedächtnis dem Abrufen und der Speicherung von Informationen (vgl. SEEL & HANKE, 2010, S. 40). In diesem Kontext soll das Gedächtnis als Dreispeichermodell vorgestellt werden (vgl. Abb. 3).
Abb. 3: Dreispeichermodell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: MIELKE, 2001, S. 113
Das sensorische Register, oder auch Ultrakurzzeitgedächtnis, nimmt dabei eine Fülle von Informationen für einen Bruchteil einer Sekunde auf (vgl. STEINEBACH, 2003, S. 70). Bedingt durch die selektive menschliche Wahrnehmung wird jedoch nur ein Teil dieser Informationen in das Kurzzeitgedächtnis überführt (vgl. MATTHES, 2006, S. 31). SEEL & HANKE (2010, S. 51) beschreiben in diesem Zusammenhang die „Aufmerksamkeit als Tor zum Arbeitsgedächtnis“. Dabei führen sie u.a. folgende Möglichkeiten an, Aufmerksamkeit (kurzzeitig) zu wecken:
Größe eines Reizes - brechen Elemente mit einer bestehenden einheitlichen Größenordnung, indem sie größer oder kleiner sind, erregen diese Elemente unweigerlich Aufmerksamkeit.
Intensität der Reize - auch hier gilt: Abweichungen von der Norm, wie farbige Schrift oder Abbildungen in Texten, erregen Aufmerksamkeit.
Neuigkeit und Inkongruenz eines Reizes - hier wird unmittelbar die Neugierde des Menschen geweckt. Dabei reizt das das scheinbar Unbekannte ebenso wie Objekte, die in ihrem Zusammenhang von dem abweichen, was bekannt ist.
Reize, die Emotionen auslösen - Reize, welche für eine Person emotionalen Gehalt haben, erregen Aufmerksamkeit.
Um die Aufmerksamkeit jedoch über längere Zeit aufrecht zu erhalten, muss der Reiz eine persönliche Bedeutung und Relevanz haben (vgl. ebd., S. 51 f.).
Nach MIELKE (2001, S. 101 ff.) kann aber sowohl die Ausführung von Tätigkeiten als auch die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen automatisiert werden und damit weniger Aufmerksamkeit beanspruchen.
„Dass wir in der Lage sind, mehrere Dinge auf ein mal zu tun, hat offensichtlich nicht nur damit zu tun, dass unterschiedliche Sinnesmodalitäten beteiligt sein können, die möglicherweise alle ihr eigenes Reservoir an Aufmerksamkeitskapazität haben, sondern auch damit, dass bestimmte Prozesse im Laufe der Zeit - mit zunehmender Übung - immer weniger unsere Aufmerksamkeit beanspruchen.“ (Ebd., S. 101) Das Kurzzeitgedächtnis (Hippocampus) lässt sich auch als Arbeitsspeicher oder Arbeitsgedächtnis charakterisieren. Es kann für ca. 20 Sekunden eine Anzahl von sieben ± zwei Einheiten speichern (vgl. LIEURY, 2013, S. 139 f.; MIELKE, 2001, S. 115; STEINEBACH, 2003, S. 70). Diese Speichereinheiten werden als „chunks“ bezeichnet und können ihrerseits bereits aufgenommene Informationen implizieren (vgl. METZIG & SCHUSTER, 2006, S. 14).
„Was als Einheit fungiert, hängt von den vorherigen Lernprozessen ab. Eine Einheit kann im Lernprozess Teil einer größeren Einheit werden, beansprucht also dann im Kurzzeitspeicher keinen eigenen Platz mehr. Durch Automatisierung und die damit verbundene Verkürzung und Verallgemeinerung werden mehrere Informationseinheiten zu einer neuen, komplexeren Informationseinheit verbunden(z. B. zu Sinnzusammenhängen, Begriffen, Schemata). Ist der Begriff des‚Rechten Winkels‘in der verallgemeinerten Form sicher und anwendbar, nimmt dieses Konzept in einer Aufgabe nur einen Platz im Arbeitsgedächtnis in Anspruch. Falls der Begriff nicht geläufig und anwendbar ist, muss sich das Arbeitsgedächtnis ausführlich mit den Einzelmerkmalen beschäftigen und kann damit ausgelastet sein.“(MATTHES, 2006, S. 31)
Hauptaufgabe des Kurzzeitgedächtnisses ist es, „Informationen kurzzeitig zu speichern und sie dem Kortex immer wieder darzubieten, um auf diese Weise die oftmalige Wiederholung der Information zu leisten, die für die dauerhafte Informationsspeicherung erforderlich ist“ (SEEL & HANKE, 2010, S. 45). Im Langzeitgedächtnis liegen Informationen in codierter Form vor. Das Kurzzeitgedächtnis sucht das Langzeitgedächtnis nach geeigneten Wissensstrukturen ab, um neue Informationen mit vertrauten zu kombinieren und organisiert im Langzeitgedächtnis zu speichern (vgl. LIEURY, 2013, S. 143). Dabei misst das Kurzzeitgedächtnis Informationen Bedeutsamkeit zu (vgl. SEEL, 2000, S. 39).
Das Langzeitgedächtnis (Kortex) dient als dauerhafter Speicher. Jedoch bedarf „es ständig erneuten Erinnerns […], um enkodierte Inhalte zu konsolidieren, wobei sie im Moment des Zugriffs (Erinnerung) labilisiert werden und substanziell verändert werden können.“ (HUBER, 2004, S. 39). Grundsätzliche Bedingung für das Erinnern ist, dass die gegenwärtigen Rahmenbedingungen einer Situation mental mit der Situation verknüpft werden können, in der das Erlebte enkodiert wurde (vgl. ebd., S. 40).
Das Langzeitgedächtnis verfügt über verschiedene Codierungsformate (vgl. Abb. 2.). Im Folgenden sollen zwei davon genauer betrachtet werden. Das deklarative Gedächtnis enthält das Faktenwissen in Form von semantischen Netzen. Es besteht aus Wissenseinheiten von bis zu fünf Elementen, wobei jedes einzelne dieser Elemente wieder eine eigene Wissenseinheit darstellt und ihrerseits wieder aus mehreren Elementen besteht (vgl. MIELKE, 2001, S. 118). Das prozedurale Gedächtnis beinhaltet das „Wissen über kognitive Operationen und den Umgang mit deklarativen Wissen“ (STEINEBACH, 2003, S. 70). Prozedurales Wissen umfasst damit Handlungsstrategien und -schemata. Neurologische Untersuchungen ergaben, dass bei der Verarbeitung episodischer Informationen auch die emotionale Bedeutsamkeit der Informationen relevant ist (vgl. SEEL & HANKE, 2010, S. 45). Daraus ableitend muss prozedurales Wissen eine subjektiv wahrgenommene Bedeutsamkeit haben, um dauerhaft gespeichert werden zu können. Emotionalität bildet demnach einen zusätzlichen „Anker“ des Wissens. Dadurch kann Wissen mit einem hohem emotionalem Wert besser und dauerhafter gespeichert werden, als Wissen mit einem geringeren Wert.
Die Inhalte des Langzeitgedächtnisses müssen emotional bedeutungsvoll sein, einen potenziellen Nutzen haben oder permanent wiederkehren. MIELKE (2001, S. 116) nennt u.a. die unangemessene Kodierung, Interferenz und ungenügende Konsolidierung als wichtige Quellen für den Verlust von Informationen. EYSENCK & KEANE (2000, S. 262 ff.) stellen zur Enkodierung von Informationen ein duales System zur Kodierung von non-verbalen und verbalen Informationen vor, wobei beide Bereiche miteinander verbunden sind. So ist das Gedächtnis für Bilder in der Regel besser als das für Worte, wobei konkrete Worte besser erinnert werden können als abstrakte (vgl. ebd., S. 264). Eine Erklärung hierfür ist, dass Bilder unmittelbar mit Wörtern verknüpft werden und so doppelt codiert werden. Gleiches gilt für Wörter, zu denen ein konkretes Bild besteht. Die Kodierungsform kann hierbei reduktiv oder elaborativ sein (vgl. METZIG & SCHUSTER, 2006, S. 18 f.). Bei der elaborativen Kodierung werden der Information Sinn gebende Relationen zwischen anderen Informationen hinzugefügt. Bei der reduktiven Kodierung werden im Rahmen des „chunkings“ oder „clusterings“ neue Informationen einem gemeinsamen Attribut zugeordnet werden, wie bspw. Hund, Katze, Maus oder Hund, Fell, Flöhe. Interferenzen entstehen dann, wenn neue Inhalte die Erinnerung an frühere Informationen stören. Dies passiert vor allem dann, wenn Inhalte sich subjektiv betrachtet zu stark ähneln (vgl. MIETZEL, 2007, S. 243 ff.). Zuletzt bleibt zu erwähnen, dass bei dem Vorgang des Erinnerns Informationen aktiviert und vernetzt werden. Je seltener dies passiert, desto schlechter ist die Information in bestehende Wissensstrukturen integriert, desto eher gelangt sie in einen passiven Status und kann immer schlechter erinnert werden. Im Kehrschluss müssen die Rahmenbedingungen zum Erinnern umso spezifischer werden, um ein Erinnern zu ermöglichen.
Zusammenfassend wurden mit der emotionalen Bedeutsamkeit, persönlichen Relevanz und der permanenten Wiederkehr, drei, sich ergänzende Zugänge für Reize zum Langzeitgedächtnis motiviert, deren gemeinsame Voraussetzung die Aufmerksamkeit ist. Zudem wurde gezeigt, dass häufig benutzte Information besser vernetzt sind und leichter aktiviert werden können.
8.3.Lernen
Lernen soll definiert werden als „beobachtende, nachvollziehende und zugleich konstruktive Organisation von Wahrnehmungen und Eindrücken zu Erfahrung und Wissen.“ (ULICH, 1981, S. 37). Im Prozess des Lernens werden demnach Strukturen aus verschiedenen Reizen abgeleitet, die durch Interaktionen mit der Umwelt wahrgenommen werden. MIENERT & PITCHER (2011, S. 33-37) unterscheiden Lernen als Verhaltensänderung und Lernen als Wissenserwerb.
Wissen lässt sich in eine operationale und eine begriffliche Komponente, also in prozedurales und deklaratives Wissen gliedern (vgl. EULER & HAHN, 2004, S. 108). „Deklaratives Wissen spricht das ‚know- that‘ an und reicht vom einfachen Faktenwissen bis hin zum Wissen über umfangreiche Theorien“ (WILBERS 2001, S. 47). Begriffliches Lernen benötigt eine Verkettung von vier Elementen. Dazu gehören die Vergabe eines Namens für den Begriff, eine abgrenzende Definition des Begriffs, mindestens ein (Nicht-) Beispiel und ein Prototyp. Diese Elemente lassen sich beim Lernen nun induktiv, also vom Prototypen zum Namen, oder deduktiv, also vom Namen zum Prototypen, verknüpfen (vgl. ebd., S. 106 f.). Das prozedurales Wissen umfasst das Wissen, wie etwas getan wird- das „know- how“. In diesem Sinne lassen sich auch Handlungsschemata diesem Bereich zuordnen (vgl. EULER & HAHN, 2004, S. 109). In diesem Sinne kann Wissen sowohl strukturierenden und systematisierenden aber auch trägen Charakter, als auch einen komplexen, übergreifend vernetzenden und daher dynamischen Charakter haben. LANDWEHR (2001, S. 16 ff.) differenziert zudem Wissen weiter in objektives und subjektives Wissen aus und weist auf eine fehlende Balance zwischen diesen hin. Objektives Wissen wurde (wissenschaftlich) sorgfältig evaluiert, systematisiert und besitzt einen hohen Grad an Allgemeingültigkeit. Subjektives Wissen hingegen beschränkt sich auf das Wissen, welches in den Erfahrungshorizont der Person integriert ist und muss primär nur für diese Person plausibel sein.
Verhaltensweisen werden im Verlauf des Lernens, durch Differenzierung vorhandener Verhaltensschemas oder Aufbau neuer Verhaltensweisen, verändert (vgl. AEBLI, 1970, S. 160 f.). Als Schemata sind nicht die Abbildungen von Einzelerfahrungen zu verstehen. Vielmehr werden diese auf ihre Gemeinsamkeiten reduziert, um eine Übertragbarkeit auf andere Situationen bieten zu können. Diese Erkennung und Zuordnung von Schemata in Situationen geschieht anhand von Übertragungsregeln (vgl. LANDWEHR, 2001, S. 28). Unter der Assimilation lässt sich das Einfügen neuer Erfahrungen in bestehende kognitive Strukturen verstehen. Akkomodation hingegen bezeichnet das Anpassen, neu Aufbauen und Ausdifferenzieren von bestehenden Schemata, wenn diese in einem nicht vereinbaren Widerspruch zur wahrgenommenen Umwelt stehen (EULER & HAHN, 2004, S. 111). „Lernen muss verstanden werden als Prozess der Umstrukturierung, Ausdifferenzierung und Anreicherung einer vorhandenen Wissensbasis der Lernenden“ (LANDWEHR, 2001, S. 30). Die Widersprüchlichkeit der Informationen, gekoppelt an die eigenaktive Auseinandersetzung mit dem, der Widersprüchlichkeit zugrunde liegenden Problem, der Erwerb neuer Informationen und Erfahrungen und die daran angeschlossene, kritische Überprüfung und Anpassung vorhandener Schemata ist tragendes Element beim Lernen. Probleme können nach AEBLI (1981, S. 19 ff.) durch lückenhafte, widersprüchliche oder überkomplizierte Strukturen entstehen. Wissen ist somit nicht eine Fülle von Informationen, die an den Lernenden herangetragen wurden, sondern das Resultat von kognitiven Auseinandersetzungsprozessen des Lernenden mit seiner Umwelt (vgl. LANDWEHR, 2001, S. 30).
Lernen findet entsprechend nicht nur in Lernsituationen statt, sondern durch jede Situation, die Probleme und neue Strukturen für das Individuum hervorruft. Damit ist Lernen ein zwingend aktiver aber nicht unmittelbar bewusster und steuerbarer Prozess. Lernen ist ein nicht unmittelbar bewusster Prozess, da die Situation in der etwas gelernt wurde, nicht als Lernsituation wahrgenommen werden muss. So ergibt sich die Erkenntnis, etwas gelernt zu haben, auch erst in reflexiven Prozessen. Zudem ist Lernen auch nicht unmittelbar steuerbar. Zunächst bedingt die Situation mögliche Lernpotenziale, welche dann durch eine aktive Teilnahme des Individuums in dieser ausgeschöpft werden können. Das Lernen ist „keine selbständige Tätigkeit, sondern ein Prozeß, der sich als Komponente einer anderen Tätigkeit vollzieht und deren Resultat ist.“ (RUBINSTEIN, 1971, S. 741). Für den schulischen Kontext ergibt sich damit die Aufgabe, die Schüler in Situationen zu versetzen, die ihnen neue, anknüpfungsfähige Strukturen bietet und in denen sie handeln können.
Erbanlagen und Affekte seien an dieser Stelle als weiterer Einflussfaktor auf Lernprozesse angeführt. Neben dem kognitiven Bereich steht der affektive Bereich, dem beispielsweise Interessen, Einstellungen und Werte zuzuordnen sind, wobei sich beide wechselseitig beeinflussen (vgl. WILBERS, 2001, S. 48 f.). Nach PIAGET (1995, S. 20) gibt es weder kognitive Vorgänge ohne emotionale Anteile, sowie es auch keine Gefühlszustände ohne kognitive Anteile gibt, wobei Affekte keine kognitiven Strukturen hervorbringen oder verändern können. Sie sind vielmehr als Energielieferanten für kognitive Prozesse zu verstehen. Einen entsprechend hohen Stellenwert nehmen Gefühlszustände beim Lernen ein.
Talente beeinflussen unweigerlich das Lernverhalten, indem sie die Aufnahme, Verarbeitung und Umsetzung von Wissensgegenständen erleichtern. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit Begabungen als kognitive Instanzen angesehen werden können, welche autonom das Lernen bedingen. Begabungen sind sowohl Voraussetzungen als auch Ergebnisse von Lernprozessen (vgl. ROTH, 1970, S. 22). Jedoch sollen sie nicht als wichtigste Bedingung für Lernprozesse verstanden werden sollen. Vielmehr kommen der Wirkung früherer Lernerfahrungen, der richtigen Abfolge von Lernprozessen und der Entwicklung von Lernstrategien eine hohe Bedeutung zu (vgl. ebd.). So sind vermutlich die bewussten und unbewussten Erziehungs- und Sozialisationsprozesse für die geistige Entwicklung wichtiger als die vererbten Anlagen (vgl. ROTH, 1970, S. 40 f.). Begabungen sind demnach abhängig von Lernprozessen, welche wiederum in Abhängigkeit zu Sozialisations- und Lehrprozessen stehen. (vgl. ROTH, 1970, S. 22)
8.4.Lernhandeln
Das Handeln ist, im Gegensatz zum Lernen, durch die Ausrichtung auf ein definiertes Ziel hin gekennzeichnet (vgl. VON CRANACH et al., 1980, S. 77; STEINEBACH, 2003, S. 24). AEBLI (1980, S. 18 ff.) charakterisiert das menschliches Handeln weiter als bewussten, zielorientierten, erwartungsgesteuerten und kognitiv regulierten Ablauf.
„Lernhandlungen sind relativ geschlossene und abgrenzbare, zeitlich und logisch strukturierte Abschnitte im Verlauf der Lerntätigkeit, die ein konkretes Lernziel realisieren, durch bestimmte Lernmotive angetrieben werden und entsprechend den konkreten Lernbedingungen durch den Einsatz äußerer und verinnerlichter Lernmittel in einer jeweils spezifischen Folge von Teilhandlungen vollzogen werden“(LOMPSCHER 1984, S. 46).
Die Lerntätigkeit ist dabei auf die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten gerichtet (vgl. RUBINSTEIN, 1971, S. 741). Störungen der Lernhandlungen können somit durch unkonkrete Lernziele extern herbeigeführt werden. Hinzu kommen Gründe, die in der Person des Lernenden liegen, wie das Unvermögen, die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten zu strukturieren, mangelnde Motivation oder das Fehlen bzw. der fehlerhafte Einsatz von Lernmitteln, in diesem Sinne also Lernstrategien und Lerntechniken.
TRAMM & NAEVE (2007, S. 4) benennen neben dem Lernhandeln das Arbeitshandeln als zweite Form des Handelns. Bei letzterem richtet sich die Tätigkeit jedoch überwiegend auf die Erzielung materieller Effekte und nicht auf die Entwicklung des eigenen Wissens und der eigenen Kompetenzen.
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass Lernhandlungen durch Aufgaben veranlasst werden, die eine Zieldimension haben und Erwartungen wecken - Lernen hingegen durch Erfahrungen, welche nicht mit den bisherigen Vorstellungen vereinbar sind (Probleme).
8.5.Kompetenzen als Brücke zwischen Wissen und Handeln
Kompetenzen bezeichnen den Lernerfolg im Hinblick auf den Lernenden und seine Befähigung zum selbstverantwortlichem Handeln in privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Situationen (vgl. DEUTSCHER BILDUNGSRAT, 1974, S. 65).
Kompetenzen sollen also dazu befähigen, Probleme jeglicher Natur zielorientiert und selbstständig, auf der Basis von Wissen und Erfahrungen, zu lösen. Sie haben demnach eine doppelte Relation und bilden den verarbeitenden Übergang zwischen Wissen und Handeln.
„So werden Kompetenzen in der Regel als kontextspezifische, komplexe Leistungsdispositionen betrachtet, d.h. sie umfassen Wissensbestände, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen im Sinne spezifischer Lern- und Handlungsbereiche beziehen.“(SEEBER & NICKOLAUS, 2010, S. 250 f.).
Kompetenzen basieren auf dem vorhandenen Wissen und bedingen gleichzeitig die Aufnahme von neuem Wissen. Sie beschreiben die „in einer Person angelegten Möglichkeiten, sich zu verhalten“ (SYBEN et al., 2013, S. 59).
Abb. 4: Der Zusammenhang von Kompetenz und Performanz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: SYBEN et al., 2013, S. 60
MINNAMEIER (2010, S. 68) setzt im Rahmen der Intelligenzentwicklung sogar bestimmte Wissensstrukturen mit Kompetenzstufen gleich, da es nicht mehr um die bloße Repräsentation kognitiver Inhalte geht, sondern vielmehr um Möglichkeiten, mit der Umwelt zu interagieren. Kompetenzen als Verhaltensdispositionen bilden die Grundlage zur Performanz und sind somit die Bedingung fürs Handeln. Die Performanz ist dabei das beobachtbare Moment beim Wirken einer oder dem Zusammenwirken mehrerer Kompetenzen. Kompetenzen ermöglichen zwar das Handeln, jedoch ist ein direkter Rückschluss vom Handeln auf eine Kompetenz nicht möglich (vgl. WILBERS, 2001, S. 47 f.; Abb. 4). Im Kehrschluss liefern Handlungen lediglich Indizien für Kompetenzen.
Für die Berufliche Bildung führt die KULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) (2011, S. 15) den Begriff der beruflichen Handlungskompetenz ein. So ist es ein zentrales Ziel von Berufsschule, die Entwicklung umfassender Handlungskompetenz zu fördern, wobei Handlungskompetenz „als die Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten“ (ebd.) verstanden wird. Die KMK (ebd., S. 15 f.) differenziert den Bereich der beruflichen Handlungskompetenz weiter in Fachkompetenz, Selbstkompetenz und Sozialkompetenz aus. Die Methodenkompetenz, kommunikative Kompetenz und Lernkompetenz sind dabei immanente Bestandteile dieser Kompetenzen. Der grundsätzlichen Forderung nach einer domänenspezifische Konkretisierung der Kompetenzen unter Anbetracht des beruflichen Aufgabenfeldes (vgl. SYBEN et al., 2013, S. 57), soll an dieser Stelle aufgrund der Vielfalt an vertretenen Berufen nicht nachgegangen werden.
MEYSER (2003, S. 52 f.) nennt u.a. drei wesentliche Gründe zur Vermittlung von beruflicher Handlungskompetenz für die Baupraxis:
Wandel der Arbeitstechnologien und Organisationsformen der Arbeit Berufliche Mobilität Verlagerung von Aufgaben auf die Ebene der Facharbeiter Ziel sollte es folglich sein, Kompetenzen in Hinblick auf diese Ausgangspunkte zu fördern. Diese Forderung wird durch die Zielformulierung der KMK (1991, S. 2) „eine Berufsfähigkeit zu vermitteln“ gestützt. Berufsfähigkeit in den Bauberufen heißt nach HAHNE (2004, S. 3) vor allem:
Arbeitsauftrag prüfen und Arbeitsausführung planen Arbeitsplatz auf der Baustelle einrichten Arbeitsaufgabe selbständig durchführen Arbeitszusammenhänge erkennen und damit zur Verbesserung des Arbeitsablaufes beitragen Qualitätssichernde Maßnahmen ergreifen Maßnahmen zur Sicherheit, zum Gesundheitsschutz und zum Umweltschutz ergreifen.
Im Kontext des Nachhaltigkeitsparadigmas treten für den Bereich Bautechnik mit der Systemkompetenz und der Gestaltungskompetenz zu den oben genannten zwei weitere Kompetenzen hinzu, welche sich jedoch mit diesen verbinden lassen (vgl. HAHNNE & KUHLMEIER, 2008, S. 233 ff.).
Die Gestaltungskompetenz ist die Fähigkeit, Arbeitsprozesse, Arbeitsprodukte, Dienstleistungen und Schlüsselsituationen im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu gestalten und vereint überwiegend Elemente der Selbst- und Sozialkompetenz (vgl. ebd., S. 235). Sie umfasst die Fähigkeit in einer bestimmten Situation kontroverse Möglichkeiten abzuwägen, Entscheidungen zu treffen und diese kommunikativ zu vertreten. Die Autoren nennen hierfür das Dilemma der Wärmedämmung. So steht auf der einen Seite das Ziel der umfassenden Wärmedämmung zur ଶ- Einsparung. Auf der anderen Seite wird der „Erhalt des städtebaulichen und baukulturellen Erbes“ (ebd., S. 236) genannt.
Bei der Systemkompetenz dominieren vorerst Elemente der Fach- und Methodenkompetenz. So bezieht sich die Systemkompetenz „zunächst auf das Verstehen und nachhaltige Eingreifen in komplexe technische Systeme“ (ebd.).
8.6.Lernverständnis im aktuellen Kontext
Das hier vorgestellte Lernverständnis folgt grundsätzlich einer kompetenzorientierten und kritisch konstruktiven Lerntheorie. Dieses Lernverständnis deckt sich mit dem Konzept des lebenslangen Lernens, welches durch jüngste Implementierungen verschiedener europäischer Instrumentarien auf nationaler Ebene gestärkt wird2.
Nach Vorgabe der EUROPÄISCHEN KOMMISSION (2001, S. 34) ist unter Lernen jegliche Form von Lernen während des gesamten Lebens zu verstehen, welche „der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient“. Eine Qualifikation ist dabei „das formale Ergebnis eines Beurteilungs- und Validierungsprozesses, bei dem eine dafür zuständige Stelle festgestellt hat, dass die Lernergebnisse einer Person den vorgegebenen Standards entsprechen“ (EUROPÄISCHE GEMEINSCHAFT, 2008, S. 11). Lernen findet demnach in drei Formen statt:
Formal, als planmäßiges und strukturiertes Lernen in Bildungseinrichtungen mit der Zielsetzung, einen anerkannten Abschluss zu erreichen.
Nicht-formal, als systematisches und zielgerichtetes Lernen, welches außerhalb von staatlichen und staatlich anerkannten Bildungseinrichtungen erfolgt und aus rechtlicher Perspektive keine neuen Befähigungen hervorbringt.
Informell, als nichtintentionales und somit weder zielgerichtetes noch systematisches Lernen im Alltag ohne Zertifizierungsperspektive. (vgl. EUROPÄISCHE KOMMISSION, 2001, S. 33 f.; GNAHS, 2007, S. 36 ff.; DOHMEN, 1996, S. 29 ff.)
[...]
1 Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit auf eine getrennte Nennung der männlichen und weiblichen Form verzichtet. Das jeweilige andere Geschlecht sei stets mit bedacht.
2 Hiermit ist im wesentlichen die Anlehnung der Niveaustufen des deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) an die Vorgaben des europäische Qualifikationsrahmen (EQR) gemeint. Daneben seien auch weitere gemeinsamen europäischen Instrumente wie der Europass, das europäische Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (ECVET) und der europäische Bezugsrahmen für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung (EQAVET) angesprochen (vgl. CEDEFOP, 2011, S. 2).
- Citation du texte
- M.Ed. Nick Baumann (Auteur), 2013, Die Gestaltung der ausbildungsbegleitenden Förderung am Beispiel des Ausbildungszentrums Bau in Hamburg, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/414732
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