Eine psychische Erkrankung hat nicht nur Auswirkungen auf das eigene Leben, sondern betrifft immer auch die Familie. Vor allem die Kinder psychisch Kranker nehmen eine besondere Rolle ein. Obwohl sie eigentlich abhängig von ihren Schutzbefohlenen sind, schlüpfen sie nicht selten in die Rolle des Fürsorgenden. Die Kinder versuchen so, das Familiensystem vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Dieses Paradoxon der Rollenumkehr nennt sich Parentifizierung. Lisanne Hilker untersucht in dieser Publikation den Einfluss der Parentifizierung auf die Entwicklung von Kindern. Wie wirkt sich eine psychische Erkrankung der Eltern auf das Verhalten der Kinder aus?
Die Autorin stellt in ihrem Buch ein lange nur stiefmütterlich behandeltes Forschungsthema in den Mittelpunkt. Mit Blick auf die Bindungstheorie untersucht sie die Wechselbeziehung zwischen psychisch kranken Eltern und deren Kindern. Hilker kommt so zu wichtigen Erkenntnissen über das Eltern-Kind-Verhältnis und liefert Ansätze für den Umgang mit psychisch kranken Familienangehörigen.
Aus dem Inhalt:
- Parentifizierung;
- Bindung;
- psychisch kranke Eltern;
- Rollenumkehr;
- Coping
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Kinder psychisch kranker Eltern
2.1 Geschichtliche Entwicklung
2.2 Gedanken und Gefühle Kinder und Jugendlicher mit psychisch erkrankten Eltern
2.3 Kinder als Kraftquelle für ihre Eltern
3 Parentifizierung
3.1 Formen der Parentifizierung
3.2 Rollenzuweisungen parentifzierter Kinder
4 Der Einfluss der psychischen Erkrankung der Eltern auf die Entwicklung des Kindes – Risiko und Schutz
4.1 Resilienz bei Risiko-Kindern
4.2 Risikofaktoren für die Parentifizierung
5 Parentifizierung und Bindung
5.1 Die Fremde Situation und dieBindungstypen
5.2 Effekte mütterlicher Depression auf die frühkindlichen Bindungserfahrungen
5.3 Coping
6 Parentifizierung als Bindungsstörung
6.1 Die Besonderheiten des desorganisierten Bindungsmusters und elterlicher Kompetenz
7 Definition des DMM
7.1 Die Entwicklung eines Bindungssystems als Anpassungsleistung
7.2 Verhaltensindikatoren der A+-Bindungsstrategie
7.3 D-Bindung: Um- statt Desorganisation?
8 Phasen der frühkindlichen Parentifizierung bis ins Vorschulalter
9 Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Verletzung der Generationsgrenzen
Abb. 2: Verlauf der kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung psychosozial belasteter Kinder vom Säuglings- zum Grundschulalter. Laucht et al.,2000.
Abb. 3: Wirkung von Resilienz
Abb. 4: In: RECK Corinna: Mutter-Kind-Studie, Universitätsklinik Heidelberg 2004
Abb. 5: Auf positive Interaktion der Mutter reagiert das Kind ebenfalls positiv
Abb. 6: Die Mutter stellt die Interaktion komplett ein, das Kind versucht durch Reparatur die Aufmerksamkeit der Mutter für sich zu gewinnen
Abb. 7: Erst nach einem gescheiterten Reperationsversuch zeigt das Kind negative Affekte und weint
Abb. 8: Nachdem nun die Mutter wieder in die Interaktion mit dem Säugling zurückkehrt und damit die negative Situation positiv repariert reagiert zeigt auch das Kind wieder positive Affekte
Abb. 9: Die selbstprotektiven Strategien im Kindesalter nach P. Crittenden 2001
Abb. 10: Die selbstprotektiven Strategien im Vorschulalter nach P.Crittenden 2001
Abb. 11: Phasen der frühkindlichen Parentifizierung bis ins Vorschulalter von Lisanne Hilker (2017)
1 Einleitung
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dauerte es, bis eine „Behandlung des Wahnsinns“ allmählich durch eine moderne Psychiatrie abgelöst wurde. Der Franzose Philippe Pinel wurde im Jahre 1793 zur Legende, als er im Schloss Bicêtre, in welchem Problemfälle der Pariser Bevölkerung aufgenommen wurden, zum ersten Mal die dort verwahrten Menschen von ihren Ketten löste.[1] Auf der Erforschung und dem Verständnis von dem Erleben psychisch Erkrankter liegt seit Jahrhunderten ein notwendiger und nachvollziehbarer Fokus. Doch auch das Umfeld, also vor allem die Familie der Betroffenen miteinzubeziehen und sich mögliche Auswirkungen bewusst zu machen, ist ein weiterer Schritt, welchem erst spät eine gewisse Aufmerksamkeit zukam. Vor allem die Kinder psychisch Kranker nehmen häufig eine besondere Rolle ein: in Abhängigkeit ihrer Schutzbefohlenen schlüpfen sie nicht selten in die Rolle des Fürsorgenden, um das Familiensystem vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Dieses Paradoxon der Rollenumkehr nennt sich „Parentifizierung“. Ein allseits bekanntes Beispiel für das Phänomen bietet der Kinderbuch-Klassiker „Pippi Langstrumpf“: das Kind Pippi lebt alleine mit Affe und Pferd als ihre einzigen Mitbewohner in einem großen Haus. Ihre Mutter spielt keine Rolle, da diese wohl früh verstorben ist, Pippis Vater Efraim reist als Seefahrerkönig umher und ist damit überall - außer zu Hause. Die seltenen Wiedersehen zwischen Vater und Tochter beschreiben ein widersprüchliches Bild des naiven, fast kindlichen Vaters, dessen starke und unabhängige Tochter es in der Rolle der Erwachsenen scheinbar an nichts fehlt.[2] Natürlich ist Pippi Langstrumpf eine Geschichte für Kinder und hat nur wenig mit der Lebensrealität parentifizierter Kinder gemeinsam.
Der Hauptteil der vorliegenden Arbeit lässt sich in drei Teile gliedern: zunächst wird bis einschließlich Kapitel drei das Phänomen der Parentifizierung im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung der Eltern beschrieben. Es folgt ab Kapitel vier der Einfluss dieser psychischen Erkrankung auf die Entwicklung des Kindes, von welchem auch die Bindung zwischen Eltern und Kind betroffen ist. An dieser Stelle schließt der letzte Teil der Arbeit an: ab Kapitel fünf wird die Parentifizierung bindungstheoretisch durchleuchtet. Diese Masterarbeit dient dem Zweck, mit der bisherigen Stellung von Parentifizierung als nebensächliches Phänomen in der Forschung aufzuräumen und dessen Relevanz bindungstheoretisch hervorzuheben und zu konkretisieren.
Hierfür werden zum einen bindungsrelevante Themen wie „Resilienz“ und „Coping“ beschrieben, sowie zum anderen anhand verschiedener Studien Zusammenhänge zwischen der psychischen Erkrankung der Eltern, hier vor allem der Depression der Mutter, mit den Themen Bindung und Parentifizierung erklärt. Dabei kristallisieren sich Fragen bezüglich der Definition von desorganisierter Bindung heraus, welche in Verbindung mit dem „Dynamischen Reifungsmodell der Bindung und Anpassung“ (DMM) von Patricia Crittenden die Parentifizierung als selbstprotektive Bindungsstrategie erkennen lassen. Aus Sicht dieser Perspektive ergibt sich die Fragestellung, mit welcher sich die vorliegende Arbeit schlussendlich auseinandersetzt:
Lassen sich bindungstheoretisch fundierte Phasen frühkindlicher Parentifizierung bis ins Vorschulalter bestimmen?
2 Kinder psychisch kranker Eltern
Vor allem Kinder psychisch kranker Eltern werden Belastungen ausgesetzt, welche in der Entwicklung große Risiken bergen, wie beispielsweise selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Geschätzt gibt es in Deutschland etwa zwei bis drei Millionen Kinder erkrankter Eltern, was in etwa 1% – 3% aller Kinder in Deutschland ausmachen.[3] Aufgrund der erhöhten Risiken für die Kinder psychisch kranker Eltern, unter welche neben psychischer Auffälligkeiten ebenfalls soziale Benachteiligung fallen, wurde aufgrund des selten erkannten Zusammenhangs zwischen elterlicher Erkrankung und Einflüssen auf das Kind der Begriff der „ vergessenen Kinder“ geschaffen.[4] Mattejat und Remschmidt veröffentlichten im Jahre 2008 neue Statistiken, nach denen jedes zweite Kind, welches in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, mindestens einen psychisch erkrankten Elternteil habe.[5] An psychischen Erkrankungen der Eltern werden zum einen häufig schizophrene Erkrankungen genannt, welche zu krankheitsunspezifischen Symptomen führen und „vermehrt kognitive, emotionale, soziale und somatische Auffälligkeiten neben den psychischen Auffälligkeiten aufzeigten."[6]
Außerdem wurde den Auswirkungen depressiver Mütter auf die Eltern-Kind-Interaktion erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet.
2.1 Geschichtliche Entwicklung
Michael Rutter, ein englischer Kinder- und Jugendpsychiater veröffentlichte im Jahre 1966 das Buch „Children of sick parents“, in welchem er die ausschlaggebendsten Ergebnisse seiner Untersuchung an allen Kindern schilderte, welche von 1955 bis 1959 im „Maudsley Hospital Children's Department“ vorgestellt wurden.[7] Rutters Arbeiten zum Vorbild wurde 1979 an der Psychiatrischen Universitätsklinik Marburg auch in Deutschland ein erstes Forschungsprojekt angeregt. Helmut Remschmidt und seine Mitarbeiter untersuchten Kinder von depressiv und schizophren Erkrankten. Im deutschsprachigen Raum folgten daraufhin nur vereinzelte Veröffentlichungen zum Thema „Kinder psychisch kranker Eltern“. Remschmidt selbst sorgte im Jahr 1994 zusammen mit seinem Kollegen Fritz Mattejat unter anderem mit der Veröffentlichung des Buches „Kinder psychotischer Eltern“[8] dafür, dass das Thema in der Fachöffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Im Jahre 2005 wurde am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf das Projekt „CHIMPs – Children of mentally ill parents“ ins Leben gerufen, welches sich mit Entwicklungs- und Evaluierungsprozessen im Beratungs- und Stützangebot für psychisch Erkrankte mit deren Familien am Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigt. Zusammenhänge zwischen der Psyche der psychisch erkrankten Eltern und der Psyche der Kinder stehen im Fokus der Arbeit. Verschiedene Einrichtungen, wie beispielsweise die Universitätskliniken Leipzig und Ulm, beteiligen sich an dem Projekt.[9]
2.2 Gedanken und Gefühle Kinder und Jugendlicher mit psychisch erkrankten Eltern
Kindheit
Die Gefühlswelt und das Denken über die eigene Lebenssituation, wie auch die Situation der Eltern verändern sich mit dem Alter. Jüngere Kinder reagieren mit Trauer, Ängsten, Hoffnungslosigkeit und einem Gefühl von Verlust auf die Erkrankung der Eltern.
Vor allem die Entwicklung von Schuldgefühlen ist typisch, da die Kinder meist noch nicht die Fähigkeit erlernt haben, den psychischen Zustand ihrer Eltern einzuschätzen und die Ursachen hierfür zu verstehen. Sie sind der Meinung, Mitschuld an der Erkrankung der Eltern zu tragen. Ist die Mutter das erkrankte Elternteil, so fällt auf, dass die Kinder enorme Sorgen über eine mögliche bevorstehende Trennung entwickeln, unabhängig davon, ob es sich um eine kurzfristige oder eine dauerhafte Trennung handeln könnte. Durch diese Ängste steigern sich die Kinder auch in eine übermäßige Sorge hinein, dass den wichtigsten Bezugspersonen etwas zustoßen könnte und stellen sich verschiedene Unfallszenarien vor[10]:
„Manchmal auch so, wenn sie gesund ist […] zum Beispiel am Abend in der Schule gibt es ja immer so Elternabend oder so […] und die ist mit dem Fahrrad los gefahren – da war es schon ganz stockdunkel und ich hatte Angst das [sic] ihr irgendwas passiert. (w, 9 Jahre)“[11]
Um auszuschließen, dass dem erkrankten Elternteil etwas zustoßen könnte, solange man nicht zu Hause ist, vermeiden es einige Kinder wegzugehen. Wenn Krankenhausaufenthalte der Eltern besonders lang werden oder vergangene Aufenthalte zu keiner Besserung führen konnten, verstärken sich bei den Kindern negative Gefühle und sie reagieren depressiv und gereizt. Da von den Eltern in akuten Krankheitsphasen oft nicht liebevoll auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen werden kann, versuchen sie nach Phasen der Enttäuschung, Trauer und Wut diese vor ihren Eltern zu verbergen. Viele Kinder neigen dazu, ihre Eltern präventiv vor einer Verschlechterung des Krankheitszustandes schützen zu wollen und übernehmen deshalb deren Aufgaben, beispielsweise im Haushalt.[12]
Folgende Gefühlsreaktionen beschreibt Albert Lenz als typisch bei jüngeren Kindern:
- „Schuldgefühle,
- Trennungsangst,
- Angst, die Mutter ganz zu verlieren,
- Angst, dass sich die Krankheit verschlimmert,
- Angst, dass dem Elternteil etwas zustoßen könnte,
- Angst, dass sich der Elternteil etwas antut,
- Resignation und Hoffnungslosigkeit durch das wiederholte Erleben akuter Krankheitsphasen,
- Wut auf den erkrankten Elternteil“.[13]
Jugend
Jugendliche haben im Vergleich zu Kindern ein größeres Spektrum an Fähigkeiten, um mit ihrer Situation umzugehen. Die Fähigkeit, ihre Lage zu reflektieren und die Erkrankung der Eltern zu verstehen, ist größer. Da sie sich meist ein stärkeres soziales Netz außerhalb der Familie aufgebaut haben, können sie dort zum einen über ihre Sorgen sprechen, zum anderen geben ihnen verlässliche Kontakte Halt und erleichtern den Alltag mit Aktivitäten, welche von den Ängsten ablenken können. Der Ablösungsprozess führt zu Konflikten, verstärkt durch die schwierige Situation durch die psychische Erkrankung des betroffenen Elternteils. Distanzierungsversuche der Jugendlichen führen schnell zu Schuldgefühlen. Diese Rückkopplung führt häufig zu einem Gefühl der Ohnmacht, Gefühle von Isolation und Einsamkeit sind ebenfalls keine Seltenheit. Obwohl der Alltag nun verstärkt außerhäuslich stattfindet sind die Jugendlichen gedanklich und emotional meist immer noch sehr eng mit ihrem erkrankten Elternteil verbunden.[14] Die Jugendlichen werden nicht mehr so stark von intensiven Abhängigkeitsgefühlen und Verlustängsten dominiert, stattdessen wird die eigene Rolle in der Familie und der mögliche Umgang mit der Erkrankung stärker reflektiert. Nach Lenz verändern sich die typischen Gefühle und Gedanken im jugendlichen Alter und stellen sich nun dar als:
- „Angst vor einer möglichen eigenen Erkrankung,
- Schuldgefühle wegen Abgrenzungs- und Distanzierungsschritten,
- Mitgefühl und Traurigkeit,
- Verantwortungsgefühl für die Familie,
- Gefühl des Verlustes des Elternteils als Identifikationsobjekt.“[15]
Haben Kinder und Jugendliche über längere Zeit wahrgenommen, dass „etwas nicht stimmt“ versuchen sie für gewöhnlich erst im nächsten persönlichen Umfeld Hilfe zu finden, bevor sie eine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Erste Ansprechpartner im Prozess des Hilfesuchens wären demnach häufig die Eltern. Doch gerade, weil diese die Auslöser für die schwierige Situation ihrer Kinder sind, ist diese Dynamik konflikthaft. Den Elternteilen mit psychischer Erkrankung fällt es oftmals schwer das Verhalten ihrer Kinder richtig einzuschätzen. Auffälligkeiten werden teils heruntergespielt, während unauffälliges Verhalten pathologisiert wird. Besonders depressive Mütter neigen dazu, das Kindesverhalten als vergleichsweise schwierig zu bewerten.
Ein verändertes Bewusstsein eines „normalen“ Alltags, beispielsweise bedingt durch eine der Depression geschuldeten isolierten Lebensweise mit wenig sozialen Kontakten, lässt diese Mütter auch die Kontakte ihrer Kinder anders einschätzen. Umso mehr das Kind sich der Mutter diesbezüglich angleicht, desto weniger fällt ihr das Verhalten auf, wohl weil es nicht von Bekanntem abweicht.[16] Wang und Goldschmidt fanden in einer Studie von 1996 heraus, dass viele psychisch kranke Eltern Probleme ihrer Kinder wahrnehmen würden, aber aufgrund der Bewertungsunsicherheiten dieses Verhaltens keine Hilfe in Anspruch nehmen würden.[17]
2.3 Kinder als Kraftquelle für ihre Eltern
Albert Lenz schreibt in „Kinder psychisch kranker Eltern“ von Kindern als Kraftquelle für die erkrankten Eltern. Kindern sei in der Gesellschaft ein „Wert“ zugeschrieben, welcher primär mit Lebenserfüllung, mit Sinnstiftung, persönlichen Glückserwartungen und einer symbolischen Verlängerung der eigenen Existenz verbunden werde. Für psychisch gesunde wie für psychisch kranke Menschen ginge Elternschaft nach Lenz mit Erfahrungen wie Liebe und Geliebtwerden einher.[18] Auch Aaron Antonovsky wird von Lenz zitiert, welcher mit „Sinnhaftigkeit“ jenes Gefühl der Überzeugung beschreibt, welches das Eingehen einer Verpflichtung mit einem energetischen Mehraufwand beschreibt. Diese werde aber weniger als Last empfunden werde, da sich der Einsatz lohne und als Herausforderung gesehen werden könne, an welcher man wächst.[19] Der Meinung Antonovskys nach trägt dieser „sense of Meaningfulness“ zu einem verstärkten Kohärenzgefühl bei, welches ausschlaggebend für die Gesundheit sei, da es Ressourcen aktiviere.[20] Die Bedürfnisse eines Kindes zu erfüllen, Schutz zu bieten, Werte zu vermitteln und einem Menschen einen positiven Lebensweg bieten zu können, gebe den psychisch Erkrankten Halt. Verpflichtungen strukturieren den Alltag und ermöglichen so einen Modus, in welchem Aktivität und Kontakt zu anderen einfacher ist, da dieser nun notwendig und gewohnt ist. Die Bewältigung dieser Aufgaben lässt die erkrankten Elternteile Mut und Hoffnung schöpfen, auch der Selbstwert und das Gefühl der Selbstwirksamkeit werden gesteigert.[21]
Die Betreuung eines Kindes kann also zur psychischen Gesundheit beitragen. Umgekehrt funktioniert die These Antonovskys allerdings auch: fällt das Kind als Hauptaufgabe im Leben und fällt weg, so ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass auch die damit einhergehenden positiven Einflüsse wegbrechen und die Eltern den Halt verlieren können.[22]
Tatsächlich versuchen psychisch erkrankte Eltern diesen Halt in schwierigen Phasen der Erkrankung oft bei ihren Kindern zu suchen. Hierbei kann es passieren, dass zu viel Verantwortung auf die Kinder übertragen wird und die Generationsgrenzen aus dem Gleichgewicht geraten: man spricht von Parentifizierung. [23] Weitere mögliche Kanäle, außer dem des kraftschöpfenden Motivs, welche parentifizierte Kinder und ihre psychisch kranken Eltern verbindet, werden im weiteren Verlauf der Arbeit beleuchtet.
3 Parentifizierung
„Dass wir wieder werden wie Kinder, ist eine unerfüllbare Forderung. Aber wir können zu verhüten versuchen, dass die Kinder so werden wie wir." - Erich Kästner
Der Begriff der Parentifizierung (lateinisch: „parentes“ - Eltern und „facere“ - machen) existiert seit etwa 40 Jahren im Fachjargon. Während die Parentifizierung in früheren Zeiten vor allem nur wahrgenommen wurde, versucht man sich heute familientherapeutisch mit den Folgen und möglichen Behandlungsansätzen Betroffener auseinanderzusetzen.[24]
Innerhalb von sogenannten Parentifizierungsprozessen wird die Eltern-Kind-Rolle umgekehrt, das Kind kümmert sich um das Wohl des erkrankten Elternteils und nimmt für die Eltern eine Eltern- oder Partnerfunktion ein. Ivan Boszormenyi-Nagy und Geraldine Spark prägten den Begriff und definieren Parentifizierung als „subjektive Verzerrung einer Beziehung – so, als stelle der Ehepartner oder gar eines der Kinder einen Elternteil dar.“[25] Es würde ein Ungleichgewicht des gegenseitigen Gebens und Nehmens entstehen, wodurch das System „Familie“ durcheinander geraten würde.[26]
Morris und Gould (1963) bezeichnen den Prozess der Parentifizierung treffenderweise als Rollenumkehr („role reversal“) oder „Umkehr der Abhängigkeitsrolle“.[27]
Wichtig ist der Unterschied zwischen einem parentifizierten Erwachsenen und einem parentifizierten Kind. Bei Paaren verfällt der parentifizierende Partner unbewusst in einen regressiven Entwicklungsstand, ähnlich dem eines Kindes und will dementsprechend versorgt werden. Geschieht dies in einer Eltern-Kind-Beziehung, wird nicht nur der Erwachsene zum Kind, auch das Kind wird zum Erwachsenen erhoben. Es wird also auch die Generationsgrenze durchbrochen, indem das Kind den Erwachsenen-Status erhält. Zusätzlich verfügt das Kind über weniger Bewältigungsstrategien als ein Erwachsener und befindet sich zudem in einem Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Eltern.[28]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Verletzung der Generationsgrenzen[29]
Da das Kind durch die Verschiebung der Generationsgrenzen auf die Ebene der Eltern rutscht, steht es somit in anderer Beziehung zu beiden Elternteilen, auch zu dem gesunden. Häufig übernimmt das Kind eine Art „Sorgerolle“, in welcher es zwischen den Eltern versucht eine Balance herzustellen, indem es sich bemüht, die unerfüllten Wünsche des gesunden Partners gegenüber des erkrankten auszugleichen, wie etwa fehlende Zuwendung und Gespräche.
Aktuell setzt sich die Forschung zwar mehr und mehr mit Kindern psychisch kranker Eltern auseinander, Parentifizierung spielt hierbei jedoch nur eine beiläufige Rolle.
Forschung mit alleinigem Fokus auf Parentifizierung wurde bis zum heutigen Tag vergleichsweise wenig betrieben. Boszormenyi-Nagy und Spark widmen in „Unsichtbare Bindungen – Die Dynamik familiärer Systeme“ im Jahr 1973 der Parentifizierung erstmalig ein ganzes Kapitel. Namhafte Forscher aus den USA sind Lisa Hooper und Gregory J. Jurkovic, in Deutschland haben speziell Johanna Graf und Reiner Frank (2001) mit ihrem Beitrag „Parentifizierung: Die Last als Kind die eigenen Eltern zu bemuttern“ in Sabine Walpers und Reinhard Pekruns Sammelband „Familie und Entwicklung“ einen wertvollen Forschungsbeitrag geleistet. So auch Agnieszka Hausser mit ihrer Disseration von 2013: „Die Parentifizierung von Kindern bei psychisch kranken und psychisch gesunden Eltern und die psychische Gesundheit der parentifizierten Kinder".
Doch wie und warum entsteht Parentifizierung überhaupt? Das Fundament für eine Parentifizierung bilde vor allem ein negatives Familienklima mit partnerschaftlichen Beziehungsproblemen. Neben Konflikten können auch die Scheidung oder der Tod des Partners oder der Partnerin eine Rolle spielen. Eigene Parentifizierungserfahrungen innerhalb der Herkunftsfamilie, sowie chronische oder psychische Erkrankungen seien ebenfalls mögliche Erfahrungen, welche zu Parentifizierungsprozessen führen könnten, besonders Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil seien betroffen.[30] In dieser Arbeit liegt der Fokus auf parentifizierten Kindern psychisch erkrankter Eltern.
Eine große Rolle für mögliche Auswirkungen spielt in jedem Fall welche Form der Parentifizierung vorliegt.
3.1 Formen der Parentifizierung
Parentifizierung lässt sich in zwei Definitionskriterien einteilen. Zum einen darin, wie sie sich auf das Kind auswirkt und zum anderen, welche Aufgaben das Kind hauptsächlich übernehmen muss. Sind die Aufgaben des Kindes eher funktional, wie die Führung von Haushalt und Finanzen, sowie die körperliche Pflege Angehöriger, spricht man von instrumenteller Parentifizierung.[31] Die emotionale Parentifizierung bezieht sich auf Aufgabenzuweisungen auf emotionaler Ebene, wenn Kinder Liebe und Zuneigung im Sinne eines Partnerersatzes schenken, in die persönlichen Probleme der Eltern miteinbezogen werden und zu den Hauptverantwortlichen für den familiären Frieden werden. Aufgrund der emotionalen Grenzüberschreitung sei die emotionale Parentifizierung die destruktivere Form.
Vor allem Loyalitätskonflikte und Schwierigkeiten bei der Abgrenzung[32] würden eine besondere Belastung darstellen und seien entwicklungsbeeinträchtigend für das Kind.[33] In einzelnen Fällen wird die emotionale Parentifizierung im Sinne eines Partnerersatzes körperlich erweitert, es kann zu einer „sexuellen Parentifizierung“ kommen.[34]
Die Frage nach dem „ wie wirkt sich die Parentifizierung auf das Kind aus?“, beantworten die Begriffe der adaptiven Parentifizierung mit positiven Auswirkungen auf das Kind und der desktruktiven Parentifizierung mit negativen Folgen. Werden die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes eingeschränkt, ist von destruktiver Parentifizierung die Rede. Aufgrund der andauernden Überforderung rücken die kindlichen Bedürfnisse in den Hintergrund, die elterlichen Erwartungen rufen Sorge und Angespanntheit hervor und können so einen „Verlust der Kindheit“ provozieren.[35] Komplikationen bei der Entwicklung eines autonomen und individuellen Selbstbildes seien nicht unwahrscheinlich und könnten zu Überangepasstheit, Perfektionismus und Isolation führen. „Die emotionale Belastung aufgrund der inneren Spannung zwischen Machtgefühl und Versagensangst können zu vermindertem Selbstwertgefühl, Verhaltensauffälligkeiten und intellektuellen Beeinträchtigungen bis hin zu somatischen Beschwerden und psychischen Störungen wie Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, Substanzmissbrauch und sogar Suizidalität führen", so Agnieszka Hausser (2012) in ihrer Studie zu parentifizierten Kindern.[36] Eine weitere Form pathologischer Parentifizierung könne sich als Infantilisierung und Überbehütung äußern. So könne hinter der Schulangst eines Kindes ein Elternteil stehen, welches sich wünscht, vom Schule schwänzenden Kind umsorgt zu werden.[37]
Boszormenyi-Nagy et al. (1981) als Vertreter des Ansatzes, dass Parentifizierung nicht schädigend sein muss, bewerten die Folgen von Parentifizierung nicht als negativ, solange die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes nicht eingeschränkt werden. Dies sei vor allem dann möglich, wenn jeder Beteiligte im Familiensystem ein potenzielles Parentifizierungsobjekt darstelle.
Vor allem Wertschätzung und Lob für die Übernahme der Aufgaben könne dazu führen, dass das Kind eine Steigerung von Selbstbewusstsein und Empathie erlangt, sowie eine erhöhte psychische Widerstandsfähigkeit, genannt „Resilienz“.[38] [39] Zudem sei es nach Byng-Hall hilfreich, wenn das Kind in der Verrichtung der Aufgaben Unterstützung erhält und der Erledigungszeitraum hierfür begrenzt sei.[40] Diese Eigenschaften tragen nach Graf und Frank zur adaptiven Parentifizierung bei. Nach Schier et al. spiele auch die Dimension der Fairness bei der adaptiven Parentifizierung eine tragende Rolle, da das Kind bei einer Unterstützung der Aufgaben diese selbst als gerecht empfinden würde.[41]
In der Studie von Lenz beschriebt ein 14-jähriges Mädchen ihre Situation:
„Also, selbstständiger wird man, weil man selbst was in die Hand nehmen muss und man dafür ja auch sorgen will, wenn man sieht, dass es der Mutter nicht gut geht und man nicht weiß, wieso, dass man dann irgendwas macht, zum Beispiel dass man spült und kocht. Das ist dann ganz verständlich, weil man ja alles gut machen will, weil man denkt, dass es der Mutter dadurch dann auch wieder besser geht […].
Man denkt auch ganz anders als andere in diesem Alter, weil man schon so vieles erlebt hat […]. Ich weiß nicht, aber man wird vernünftiger und ernster, weil man einfach so einiges in die Hand nehmen muss.“[42]
Das hier zitierte Mädchen konnotiert die angesprochenen Parentifizierungsprozesse für sich auffallend positiv. Sie scheint stolz auf ihre Fähigkeiten zu sein und betont ihre Selbstständigkeit, was ein möglicher Hinweis auf eine adaptive Parentifizierung sein kann.
Hooper et al. (2011) konnten in einer Studie feststellen, dass das Ausmaß der Parentifizierung unabhängig von der vorliegenden Form positiv mit dem Ausmaß der psychischen Störungen im Erwachsenenalter korreliert, vor allem bei Ess-, Angst- und Persönlichkeitsstörungen.[43] Auch East et al. (2009) verweisen auf explizite Zusammenhänge zwischen wöchentlichem Stundenaufwand und der Gesamtdauer der Parentifizierung mit Schwierigkeiten in der Schule und der Entwicklung eines gesunden Sexualverhaltens.[44]
3.2 Rollenzuweisungen parentifzierter Kinder
Nach Borszormenyi-Nagy und Spark beinhalten die Prozesse innerhalb der Parentifizierung klare Rollenzuweisungen. Die Autoren nennen „Manifeste Sorgerollen“, „Opferrollen“ und „Neutrale Rollen“, welche die Kinder einnehmen.
Wenn Eltern durch ihre regressiven Verhaltensweisen in eine Hilflosigkeit verfallen, übernehmen parentifizierte Kinder die „Manifeste Sorgerolle“.[45] Manchmal kümmern sich diese Kinder und Jugendlichen auch um die gesamte Familie und übernehmen nicht altersgerechte Aufgaben. Häufig sind mit diesen „Aufgaben“ weniger einzelne Aufgaben gemeint, als ganze Lebensbereiche. Sie machen den Haushalt, kümmern sich um die finanziellen Angelegenheiten, erziehen die jüngeren Geschwister und unterstützen das psychisch erkrankte Elternteil als eine Art Pfleger in der Strukturierung des Alltags.[46]
Nimmt das Kind die „Opferrolle“ ein, so spielt es entweder das unschuldige Opfer oder die Rolle des Sündenbocks oder des schwarzen Schafs. Ordnet sich das Kind nicht so wie gewünscht den Bedürfnissen Anderer unter, so kann es zum Feind werden und erhält den Status des Sündenbocks oder des schwarzen Schafs.[47] Jedoch sei nach Boszormenyi-Nagy und Spark zu beachten, dass die Rolle des oder der Aufopfernden mit nicht unerheblicher Macht über das Familiensystem einhergehe.[48]
Zudem existiert die „Neutrale Rolle“. In einem eher chaotischen Familiensystem wirkt das parentifizierte Kind als ausgleichender Ruhepol und sorgt für Zusammenhalt. Die neutrale Rolle ist weder als „gebend“, noch als „nehmend“ bewertet, jedoch finde sich bei diesen Kindern häufig eine emotionale Leere, welche mit depressiven Gefühlen einhergehe.[49]
Lenz konkretisiert in „Kinder psychisch kranker Eltern“ einige typische Rollenzuweisungen parentifizierter Kinder:
- „Kinder werden zu Friedensstiftern und Schiedsrichtern in konfliktreichen Partnerschaften,
- Kinder übernehmen Verantwortung für Haushaltsführung, Tagesstrukturierung und Medikamenteneinnahme,
- Kinder sind zuständig für die Versorgung und Pflege jüngerer Geschwister,
- Kinder sind gezwungen, nach der Trennung der Eltern schneller erwachsen zu werden und mit einem Elternteil den Verlust zu teilen,
- Kinder sollen den nicht verfügbaren kranken Partner ersetzen und
- Kinder sollen den Lebenstraum der Eltern realisieren.“[50]
Das 18-jährige Mädchen, welches Albert Lenz folgend zitiert, ist eher der Rolle der manifesten Fürsorgerin zuzuordnen. Auch die „typischen Rollenzuweisungen“ stimmen mit denen einer Fürsorgerolle überein:
„Ja, mm, das hat sich so mit der Zeit entwickelt, das was Mama dann nicht gemacht hat, das hab' ich dann halt automatisch übernommen. Dass, wenn es darum ging, dann ging es ihr schlecht und war krank, dann bin ich halt immer einkaufen gegangen und dass es halt ist, dass ich mit den Behörden rede, zur Bank gehe und all solche Sachen, das ist erst seit drei, vier Jahren ungefähr. Und genauso habe ich jetzt die Aufgabe mich um ihre neue Wohnung zu kümmern, weil sie es nicht tut.“(w, 18 Jahre)[51]
In Fachkreisen wird die Diskussion geführt, welche Rollen nun tatsächlich unter die Bezeichnung der Parentifizierung fallen. Gregory J. Jurkovic ist der Meinung, dass nur ein deutliches Fürsorgeverhalten auf eine Parentifizierung hinweise. Ebenso schlägt er vor, Parentifizierung als eigenständige Subkategorie in künftigen Misshandlungskategorien zu listen, da gerade die psychologische Kindesmisshandlung im Sinne von emotionaler Ausbeutung als Phänomen nicht präsent genug sei.[52]
Auch über die Faktoren, welche das Risiko einer Parentifizierung erhöhen, wird von Forschern diskutiert.[53] Welches sind Risikofaktoren, die eine Parentifizierung im Hinblick auf die psychische Erkrankung des Elternteils bedingen? Welche Auswirkungen haben die Einflüsse der erkrankten Eltern auf die Entwicklung des Kindes?
4 Der Einfluss der psychischen Erkrankung der Eltern auf die Entwicklung des Kindes – Risiko und Schutz
Risiko-Kinder
Als „Risiko-Kind“ gilt ein Kind, welches unter erschwerten biopsychologischen, sozialen und psychosozialen Voraussetzungen aufwächst und sich damit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit nach nicht in das anstehende gesellschaftliche Leben einpassen kann. Es existieren einige Langzeitstudien, beispielsweise von Manfred Laucht et al. (1999); Meyer-Probst/Teichmann (1984)[54] [55] über Risiko-Kinder. Die Risiken wurden nahe der Geburt erfasst.
Grundsätzlich werden zwischen zwei Gruppen von Risikofaktoren unterschieden. Zum einen den Bedingungen, welche sich auf das Individuum Kind beziehen, wie biologische und psychologische Merkmale, auch allgemein als „Vulnerabilität“ bezeichnet. Hierzu gehören genetische Belastungen wie auch beispielsweise früh- und untergewichtig geborene Kinder. Zum anderen existiert die Gruppe der umweltbezogenen Risikofaktoren, den sogenannten „Stressoren“, zu welchen Armut, Kriminalität oder auch der psychischen Erkrankung eines Elternteils zählt.[56] Da diese Stressoren fast immer auf die Vulnerabilität des Kindes einwirken, die Vulnerabilität eines Kindes jedoch auch seine Umwelt beeinflusst, hängen die beiden Gruppen von Risikofaktoren voneinander ab.
Laucht et al. (2000) fanden in der Mannheimer Risikokinderstudie heraus, dass organisch belastete Kinder durch die negativen Folgen früher Risiken bis ins Grundschulalter vor allem kognitiv und motorisch beeinträchtigt seien, während die psychosozial belasteten Kinder mit ihren kognitiven und sozial-emotionalen Kompetenzen Schwierigkeiten hatten.[57]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Verlauf der kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung psychosozial belasteter Kinder vom Säuglings- zum Grundschulalter. Laucht et al.,2000.[58]
In der Abbildung von Laucht et al. (2000) ist der Verlauf der kognitiven und sozialemotionalen Entwicklungen der psychosozial belasteten Kinder im Alter von null bis acht Jahren zu sehen. Je nach Schwere der Belastung ist nicht nur der Gesamt-IQ unterdurchschnittlich, auch in der Gesamt-Symptomsumme schnitten die Kinder signifikant schwächer ab.
Die biologisch verursachten Probleme der Kinder waren vor allem innerhalb der ersten Lebensjahre präsent, ihre Wirkung nahm dann mit den Jahren stetig ab. Die sozialen Risiken jedoch häuften sich über die Lebenszeit mehr und mehr an. Dabei konnte kein kausaler Zusammenhang zwischen der Art des Risikos und dem daraus resultierenden Verhaltensproblem gefunden werden. Aus diesem Grund wird ganz allgemein von einer „Vulnerabilität“, sprich von einer „Verletzlichkeit“ gesprochen, welche ausdrückt, dass das Kind die Belastungen von außen nicht in angemessener Weise für sich verarbeiten kann. Kinder ohne eine solche Vulnerabilität haben diese Probleme nicht, verarbeiten somit die Belastung und tragen keine spürbaren Folgen mit sich. Sie stellt das Gegenteil der Resilienz dar.[59]
Es konnte festgestellt werden, dass mit der Höhe der Risiken auch die Ausprägung der Vulnerabilität ansteigt. Vor allem die Qualität der Bindung zwischen Mutter und Kind scheint ausschlaggebend für die Ausprägung der Bewältigungskompetenzen des Kindes zu sein. So kann einerseits ein risikobelastetes mütterliches Verhalten zu einer Instabilität der Sicherheitsgefühle führen und so die Vulnerabilität des Kindes verstärken. Ebenso kann eine sozial stabile Sicherheitsbasis das Fundament für die Entwicklung von Resilienzfaktoren für das Kind sein.[60]
[...]
[1] ECKART, W. U.: Geschichte der Medizin, 6. Aufl. 2009, Springer Medizin Verlag Heidelberg, Pariser klinische Schule S. 193–195; Geschichte der Medizin 2009 Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, 7. Aufl. Springer Lehrbuch, Berlin, Heidelberg, S. 175–178. Geschichte, Theorie und Ethik Medizin 2013
[2] LINDGREN A.: Pippi Langstrumpf. Gesamtausgabe. Oetinger Verlag, 27. Auflage, 1987
[3] Bisher liegen nur Schätzungen und Hochrechnungen vor, da die Kinder psychisch erkrankter Eltern statistisch nicht erfasst werden. Hochrechnungen über Prävalenzraten psychischer Erkrankungen, Anzahl von Haushalten mit Kindern, durchschnittliche Kinderzahl: Mattejat, F. (Hrsg.) 2006. Lehrbuch der Psychotherapie für die Ausbildung zur/zum Kinder- und Jugendlichentherapeutinnen - therapeuten und für die ärztliche Weiterbildung, Bd. 4, . München: CIP-Medien; Hocankenhausstatistik, Anzahl von Patientinnen bzw. Patienten mit minderjährigen Kindern in der stationären Psychiatrie und durchschnittliche Kinderzahl: Schone, R. / Wagenblass, S. (Hrsg.) 2006: Kinder psychisch kranker Eltern zwischen Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie. Juventa Verlag (Weinheim).
[4] REMSCHMIDT H. & MATTEJAT F.: Kinder psychotischer Eltern. Hogrefe Verlag. 1994
[5] MATTEJAT F.& REMSCHMIDT, H. Kinder psychisch kranker Eltern. In: Deutsches Ärzteblatt 2008,105(23): 413–8
[6] MATTEJAT F. Kinder mit psychisch kranken Eltern. In: Nicht von schlechten Eltern. Kinder psychisch Kranker. Mattejat, F., Lisofsky, B. (Hrsg.).: Psychiatrie Verlag, Bonn 2001a, 66-78
[7] RUTTER, Sir M. Children of Sick Parents. An Environmental and Psychiatric Study (Maudsley Monograph) Oxford University Press. 1966.
[8] REMSCHMIDT H. & MATTEJAT F.: Kinder psychotischer Eltern. Hogrefe Verlag. 1994
[9] CHIMPs-Projekt: WIEGAND-GREFE, S: URL http://www.uke.de/dateien/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/dokumente/chimps_flyer-20 Stand 23.02.2017
[10] Vgl.LENZ, A.: Kinder psychisch kranker Eltern. Hogrefe Verlag. Göttingen 2014, S. 93f.
[11] LENZ, Kinder, a.a.O., S.94ff.
[12] Ebd
[13] LENZ, Kinder, a.a.O., S.96
[14] Ebd.
[15] LENZ, Kinder, a.a.O., S.99
[16] LENZ, Kinder, a.a.O., S. 68f.
[17] GOLDSCHMIDT V.V. & WANG A.R.: Interviews with psychiatric inpatients about professional intervention with regard to their children. In. Acata Psychiatrica Scandinavica, Volume 93, Issue 1. Department of Child and Adolescent Psychiatry. Hilleroed Hospital, Helsevej 2, OK-3400 Hilleroed. Denmark. January 1996, S.51- 61
[18] LENZ, Kinder, a.a.O., S. 66
[19] Vgl.ANTONOVSKY, A.: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Herausgabe von Alexa Franke. dgvt-Verlag, Tübingen 1997
[20] Ebd.
[21] Vgl.LENZ, Kinder, a.a.O., S.66f.
[22] Ebd.
[23] Ebd.
[24] Vgl. HAUSSER, A.: Die Parentifizierung von Kindern bei psychisch kranken und psychisch gesunden Eltern und die psychische Gesundheit der parentifizierten Kinder.Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg 2012, S.18
[25] BOSZORMENYI-NAGY I. & SPARK G.: Unsichere Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme. Klett-Cora. Stuttgart 1981, S.209
[26] Ebd.
[27] Vgl. MORRIS, M.G. & GOULD, R.W.: Role reversal: a necessary concept in dealing with the "battered child syndrome". American Journal of Orthopsychiatry, 33, 298-299. In:Graf J. & Frank R. (2001). Parentifizierung: Die Last als Kind die eigenen Eltern zu bemuttern. In S. Walper & R. Pekrun (Hrsg.), Familie und Entwicklung. Aktuelle Perspektiven der Familienpsychologie.Göttingen: Hogrefe, 314-341
[28] Vgl. BOSZORMENYI-NAGY et al., Bindungen, a.a.O., S.210
[29] Abbildung 1: Auflösung der Generationsgrenze. Parentifizierung der Tochter aus Partner-Ersatz des Vaters. Aus: CONEN, M-L.: Sexueller Missbrauch aus familiendynamischer Sicht - Arbeitsansätze in der SPFH (PDF). In: Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe (PDF). Stuttgart 1999, S. 382 ff.
[30] LENZ, Kinder, a.a.O., S.210
[31] Vgl. Hooper, L. M.: The application of attachment theory and family systems theory to the phenomena of parentification. The Family Journal 2007, 15, 217-223
[32] Siehe 2.2., S.5f.
[33] Vgl. JURKOVIC, G. J. (Ed.): Lost childhoods. The plight of the parentified child. Brunner & Mazel. New York 1997
[34] SIMON, F. B. / CLEMENT U. / STIERLIN, H.: Die Sprache der Familientherapie. Ein Vokabular. Kritischer Überblick und Integration systemtherapeutischer Begriffe, Konzepte und Methoden, 6. Auflage HAUSSER, Agnieszka: Die Parentifizierung von Kindern bei psychisch kranken und psychisch gesunden Eltern und die psychische Gesundheit der parentifizierten Kinder.Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg 2012, S.22 Stuttgart 2004
[35] Vgl. BOSZORMENYI-NAGY et al., Bindungen, a.a.O., S.211f.
[36] HAUSSER, A.:Die Parentifizierung von Kindern bei psychisch kranken und psychisch gesunden Eltern und die psychische Gesundheit der parentifizierten Kinder.Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg 2012, S.22
[37] Vgl. BOSZORMENYI-NAGY et al., Bindungen, a.a.O., S.211f.
[38] Siehe 4.1., S.16f.
[39] Vgl. BOSZORMENYI-NAGY et al., Bindungen, a.a.O., S.211f.
[40] BYNG-HALL, J.: The significance of children fulfilling parental roles: implications for family therapy. In:Journal of Family Therapy. Volume 30, Issue 2, May 2008 Pages 147–162
[41] SCHIER K., EGLE U., NICKEL R., KAPPIS, B. , HERKE, M. , HARDT J.: Parentifizierung in der Kindheit und psychische Störungen im Erwachsenenalter. Psychotherapie, Psychchosomatik, Medizinische Psychologie 61 (8), 2011, 364 - 371
[42] LENZ, A.:Kinder psychisch kranker Eltern. Hogrefe- Verlag. Göttingen, 2005
[43] HOOPER L., DECOSTER J., WHITE N., VOLTZ M.: Characterizing the magnitude of the relation between self-reported childhood parentification and adult psychopathology. Journal of Clinical Psychology 2011; 67(10): 1028–43
[44] EAST P. L., WEISNER, T. S., SLONIM, A.:. Youths’ caretaking of their adolescent sisters’ children: Results from two longitudinal studies. Journal of Family Issues 2009, 30, 1671-1697
[45] Vgl. BOSZORMENYI-NAGY et al., Bindungen, a.a.O., S.213f.
[46] LENZ, Kinder, a.a.O. S.111
[47] NOWOTNY, E. (2006): Wie kann der Kontakt mit Kindern undJugendlichen gestaltet werden? Verstehen der speziellen Situation: Rollenirritation, Vertrauensverlust, Bindungsunsicherheit und –angst, in: Kindler, H./ Lillig, S./Blüml, H./Meysen, T./Werner, (Hg.): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach §1666BGB un dAllgemeinerSozialer Dienst (ASD), Abschnitt 58-2, Deutsches Jugendinstitut
[48] Vgl. BOSZORMENYI-NAGY et al., Bindungen, a.a.O., S.216f.
[49] Vgl. Ebd. S.217
[50] LENZ, Kinder, a.a.O., S.210
[51] Ebd.
[52] JURKOVIC, 1997. In: Graf/ Frank 2001, Parentifizierung, a.a.O., S.317f.
[53] Ebd.
[54] Vgl. LAUCHT, M.; ESSER G. & SCHMIDT, M. H.: Strukturmodelle der Genese psychischer Störungen in der Kindheit - Ergebnisse einer prospektiven Studie von der Geburt bis zum Schulalter. In A. DÜHRSEN & K. LIEBERZ (Hg.): Der Risikoindex. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 1999; S. 176-196
[55] Vgl. MEYER-PROBST, B.& TEICHMANN, H.: Risiken für die Persönlichkeitsentwicklung.Thieme. Leipzig 1984
[56] PELLEGRINI D:S.:Psychosocial risk and protective factors in childhood. Developmental and Behavioral Pediatrics, 11, 201-209.
[57] LAUCHT, M..; G., M.; ESSER G. & SCHMIDT, M. H.: Längsschnittforschung zur Ewicklungsepidemiologie psychischer Störungen: Zielsetzung, Konzeption und zentrale Befunde der Mannheimer Risikokinderstudie. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie.Hogrefe-Verlag, Göttingen 2000 Vol. 29, No. 4, 246-262 , S.1ff.
[58] Abbildung 52 Ebd.
[59] RAUH, H.: Resilienz und Bindung bei Kindern mit Behinderungen. In: G. Opp & M. Fingerle (Hg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz (3. Auflage) Ernst Reinhardt Verlag, München 2008 S. 175-191 In: HILKER L.: Besonderheiten des Bindungsverhaltens bei Kindern mit Autismus: Interaktionsprobleme als Signalstörung zwischen Menschen – Erklärungsversuche am „DMM“ nach Crittenden. Bachelorthesis. Goethe Universität Frankfurt, Frankfurt am Main 2014, S.41
[60] Ebd.
- Citation du texte
- Lisanne Hilker (Auteur), 2017, Wenn Kinder die Rolle der Eltern übernehmen. Phasen der Parentifizierung von Kindern psychisch kranker Eltern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/414032
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