Es dürfte kaum einen europäischen Psychologen geben, der in seiner Zeit und danach einflussreicher war als Jean Piaget. Ihn jedoch einzig als Psychologen zu titeln, trägt dem wissenschaftlichen Grenzgänger Jean Piaget nicht in ausreichendem Maße Rechnung. Piaget hatte Biologie studiert, beschäftigte sich intensiv mit der Philosophie sowie der Psychologie. Weltweite Bekanntheit erfuhr Piaget mit seiner Theorie der genetischen Erkenntnis, die ihren Ursprung hatte in der Fragestellung „Wie entwickelt sich die Fähigkeit zum Erkennen beim Menschen?“
Hierzu untersuchte Piaget wie sich Kinder das Wesen des Denkens, der sprachlichen Benennung, der Träume und des Bewusstseins erklärten. In seinem Frühwerk „Das Weltbild des Kindes“ versucht Piaget über die Beschreibungen der kindlichen Vorstellungen hinaus die Mechanismen der Entstehung des Denkens zu erforschen.
Die Ergebnisse seiner frühen Untersuchungen und Beobachtungen mit Kindern und die hieraus resultierenden Schritte zur Entwicklung und Weiterentwicklung seiner genetischen Erkenntnistheorie hat Piaget in mehr als 400 Einzelpublikationen festgehalten.
Im Zentrum der Arbeit steht damit Piagets frühes Werk „Das Weltbild des Kindes“ sowie die dezidierte Darstellung seiner (späteren) genetischen Erkenntnistheorie:
Darüber hinaus läßt sich fragen: Welche Ergebnisse und theoretischen Überlegungen aus seinem Frühwerk sind in die spätere Erkenntnistheorie mit eingeflossen und welche Ideen oder Feststellungen wurden von Piaget nicht weiter verfolgt und finden keine Beachtung in seiner genetischen Erkenntnistheorie.
Die Arbeit gibt damit gleichsam einen kleinen Einblick in den ontogenetischen Forschungsprozess von Jean Piaget.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Piagets genetische Erkenntnistheorie
2.1 Vorbemerkung
2.2 Die Entwicklung des Objektbegriffs
2.3 Exkurs: Ernst Cassirer: Die Bildung des Objektbegriffs als intellektuelle Revolution
2.4 Der Mensch im Umgang mit Neuem: Der Vorgang der Assimilation
2.5 Der Vorgang der Akkomodation und des Lernens beim Menschen
2.6 Akkomodation als eigenständige Theorie des Lernens: Die Äquilibration
3. Jean Piaget: „Das Weltbild des Kindes“
3.1 Einleitung
3.2 Der Egozentrismus und seine Ausprägungen als Fixpunkt des kindlichen Denkens im Umgang mit der Welt
3.2.1 Der kindliche Realismus
3.2.2 Der kindliche Animismus
3.2.3 Der kindliche Artifizialismus
3.2.4 Schlussbetrachtung
4. Piagets genetische Erkenntnistheorie und sein Frühwerk: „Das Weltbild des Kindes“: Eine zusammenführende Betrachtung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Es dürfte kaum einen europäischen Psychologen geben, der in seiner Zeit und danach einflussreicher war als Jean Piaget. Ihn jedoch einzig als Psychologen zu titeln, trägt dem wissenschaftlichen Grenzgänger Jean Piaget nicht in ausreichendem Maße Rechnung. Piaget hatte Biologie studiert, beschäftigte sich intensiv mit der Philosophie sowie der Psychologie. Weltweite Bekanntheit erfuhr Piaget mit seiner Theorie der genetischen Erkenntnis, die ihren Ursprung hatte in der Fragestellung „Wie entwickelt sich die Fähigkeit zum Erkennen beim Menschen?“
Hierzu untersuchte Piaget wie sich Kinder das Wesen des Denkens, der sprachlichen Benennung, der Träume und des Bewusstseins erklärten. In seinem Frühwerk „Das Weltbild des Kindes“ versucht Piaget über die Beschreibungen der kindlichen Vorstellungen hinaus die Mechanismen der Entstehung des Denkens zu erforschen.
Die Ergebnisse seiner frühen Untersuchungen und Beobachtungen mit Kindern und die hieraus resultierenden Schritte zur Entwicklung und Weiterentwicklung seiner genetischen Erkenntnistheorie hat Piaget in mehr als 400 Einzelpublikationen festgehalten.
Piagets Werk „Das Weltbild des Kindes“ beschäftigt sich über das Mittel der Befragung (klinische Methode) von Kindern mit der kindlichen Weltsicht und den Mechanismen der Entstehung dieser kindlichen Sichtweisen. Ein Vergleich der Inhalte aus diesem frühen Werk mit der genetischen Erkenntnistheorie kann darüber Aufschluss geben, welche Ergebnisse und theoretischen Überlegungen in die spätere Erkenntnistheorie mit eingeflossen sind und welche Ideen oder Feststellungen von Piaget nicht weiter verfolgt wurden oder weniger Beachtung für seine Theorie gefunden haben.
Dabei sind die frühen Werke Piagets und deren Darlegungen als „pars pro toto“ seiner genetischen Erkenntnistheorie zu verstehen.
In diesem Sinne steht im Mittelpunkt dieser Hausarbeit eine zusammenführende Betrachtung der genetischen Erkenntnistheorie mittels der Auffassungen aus Piagets Frühwerk „Das Weltbild des Kindes“ (1926).
Im folgenden zweiten Kapitel soll Piagets genetische Erkenntnistheorie mit Hilfe von einigen Schaubildern anschaulich vorgestellt werden.
Das anschließende Kapitel versucht die zentralen Ergebnisse und Erkenntnisse aus Piagets Frühwerk „Das Weltbild des Kindes“ herauszuarbeiten.
Im Vordergrund des vierten Kapitel steht abschließend eine zusammenführende Betrachtung der genetischen Erkenntnistheorie und der Erkenntnisse aus Piagets Frühwerk.
2. Piagets genetische Erkenntnistheorie
In diesem Kapitel möchte ich Piagets genetische Erkenntnistheorie näher erläutern. Dabei stütze ich mich zu einem großen Teil auf einen Text von Ernst von Glaserfeld mit dem Titel: „Piagets konstruktivistisches Modell: Wissen und Lernen.“[1]
Zum Einstieg erschient es mir wichtig einige Vorbemerkungen zu der hier dargelegten Theorie vorzunehmen.
2.1 Vorbemerkung
Vor Piaget ging die westliche Tradition der Erkenntnistheorie davon aus, dass die grundlegenden Konzepte zum Aufbau eines Gerüstes von Wirklichkeit als Struktur im Menschen schon vorhanden seien. „Wissen“ war somit einzig die Fähigkeit zur Repräsentation ontologischer Realität.
Piaget hingegen (in starker Anlehnung an die Biologie) betrachtete Wissen als eine höhere Form der Anpassung. Er sieht demnach Kognition als ein Instrument der Adaption zur Konstruktion viabler begrifflicher Strukturen. Hierin liegt auch die entscheidende Differenz zwischen der traditionellen Denkweise westlicher Erkenntnistheoretiker und Piaget selbst begründet: Es geht nicht mehr nur um die Frage wie Erkenntnis möglich sei, sondern vielmehr viel mehr darum, woraus Erkenntnis entspringt und wie sie sich entwickelt. Mit dieser erweiterten Fragestellung setzt sich Piaget sowohl von den Empiristen und Behavioristen auf der einen Seite als auch von den Aporisten und Reifungstheoretikern andererseits ab. Piaget versucht damit Erkenntnis von ihrem Ursprung her zu verstehen in Abhängigkeit von einer aktiven und konstruktiven Rolle des Subjektes mit seiner Umwelt. Damit bildet die Suche nach den Mechanismen der Kognition den eigentlichen Ursprung der genetischen Erkenntnistheorie, wobei „genetisch“ in diesem Sinne nicht auf die Genetik verweist, sondern viel mehr die Genese, d.h. den Prozess des Werdens von Erkenntnis. Glaserfeld beschreibt Piagets Arbeit, resultierend durch diese Überlegungen wie folgt: „Durch die Beobachtung des Verhaltens von Kleinkindern und Heranwachsenden hoffe er [Piaget], Manifestationen kognitiver Prozesse bestimmen zu können, um so zu einem allgemeinen Modell der Kognition und ihrer Ontogenese zu kommen.“[2]
Grundlegend für das Verständnis der genetischen Erkenntnistheorie ist die Entwicklung des Objektbegriffs beim Menschen. Piaget hat diesen Prozess in seinem Buch „Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde“[3] eingehend beschrieben. Ich möchte diesen Prozess als ersten Baustein seiner Theorie im folgenden Unterkapitel erläutern.
2.2 Die Entwicklung des Objektbegriffs
Innerhalb der Entwicklung des Objektbegriffs sind zwei Phasen voneinander zu unterschieden: Die erste Phase meint die Ausbildung eines Konzeptes von Gegenstand beim Menschen. Dabei ist festzustellen, dass der Mensch bestimmte Gegenstände erkennt, die in seinem Wahrnehmungsfeld liegen und deren Wiedererkennen als Auslöser für bestimmte Aktivitäten dienen. Es handelt sich hierbei um eine Art Reiz-Reaktions-Schema zu dem der Mensch fähig ist: Das Vorführen eines bestimmten Objektes oder Gegenstandes führt zu einer bestimmten Reaktion und ein erneutes, zeitlich versetztes Vorführen des selben Gegenstandes führt zu gleichen Reaktion beim Menschen. Damit ist die Phase innerhalb der Bildung des Objektbegriffes beim Menschen als typisches Reiz-Reaktions-Schema zu identifizieren. Der Gegenstand wird erkannt und wiedererkannt. Das folgende Schaubild auf der nächsten Seite hält diesen Vorgang noch einmal fest.
Die Entwicklung des Objektbegriffs beim Menschen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die zweite Phase zur Bildung des Objektbegriffs beim Menschen beschreibt die Konstruktion konstanter Gegenstände. Während innerhalb der ersten Phase das Wiedererkennen und eine bestimmte Reaktion auf ein Objekt in Abhängigkeit vom Wahrnehmungsfeld des Menschen war, so kennzeichnet diese Phase die Fähigkeit der Vorstellung von Gegenständen unabhängig vom Wahrnehmungsfeld. Damit beschreibt diese zweite Phase mit der Konstruktion konstanter Gegenstände zum einen die Fähigkeit des Vorstellens von Gegenständen ohne das diese im Wahrnehmungsfeld des Menschen „auftauchen“, zum anderen macht diese Tatsache es notwendig, dass der Mensch in der Lage sein muss, bestimmte Objekte abspeichern bzw. „lagern“ kann.
Damit gewinnt diese Phase zwei Bedingungen: Zum einen die Fähigkeit zur Re-Präsentation von Objekten und die Zuordnung einer individuellen Identität zu diesem Objekt.
Ersteres bedeutet eine Einordnung des Objektes in eine Begriffsstruktur und das Erkennen der Bedeutung dieser Objekte; letzteres bedeutet das Erkennen der Gleichheit zweier Erfahrungen zu einem bestimmten Objekt, wonach dieses Objekt gedanklich im Menschen vorhanden sein muss, unabhängig von dessen sinnlicher Wahrnehmung.
Piaget spricht an dieser Stelle vom Wahrnehmungsfeld des Menschen, Glaserfeld verweist im Bezug auf die Fähigkeit des Abspeicherns von Objekten samt deren Bedeutungsgehalt auf den Aufbau und das „Vorhanden-sein“ eines Proto-Raumes mit seiner Proto-Zeit.
Hierzu folgende Erläuterung: „Den Ort, an dem sich die Gegenstände, denen man bereits Konstanz (individuelle Wiederholbarkeit) zugeschrieben hat, so dass sie in den Intervallen in denen sie nicht wahrgenommen werden, bestehen bleiben, habe ich „Proto-Raum“ genannt. Es ist ein Raum, der vorerst weder Struktur noch Messbarkeit hat; er dient lediglich der Lokalisierung derjenigen Gegenstände, die man sich selbst vorstellen kann, denen man aber gerade keine Aufmerksamkeit schenkt. Dies ist der Raum, in dem das Kind seine Außenwelt konstruiert.“[4] Zur Proto-Zeit merkt Glaserfeld folgendes an: „Ganz ähnlich verhält es sich mit der „Proto-Zeit“. Ist erst einmal das Konzept eines Proto-Raumes angelegt, (...), so führt dies zur Konstruktion einer „Proto-Zeit“ im Sinne eines Kontinuitätsmediums, das den im Proto-Raum „wartenden“ Gegenständen gestattet, ihre individuelle Identität zu erhalten.“[5]
Piagets zweite Phase zur Bildung des Objektbegriffs konzentriert sich damit im wesentlichen auf die Fähigkeit der Vorstellung von Objekten außerhalb des Wahrnehmungsfeldes, deren Re-Präsentation und individueller Identität.
Ein Schaubild auf der nächsten Seite fasst diese zweite Phase noch einmal zusammen.
[...]
[1] Glaserfeld, Ernst von (1994)
[2] Glaserfeld, Ernst von (1994), Seite 19
[3] Piaget, Jean (1975)
[4] Glaserfeld, Ernst von (1994), Seite 26
[5] Glaserfeld, Ernst von (1994), Seite 26
- Arbeit zitieren
- Alexander Klein (Autor:in), 2004, Piagets genetische Erkenntnistheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41309
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