Mehr als 200.000 Kinder werden jedes Jahr Opfer von Gewalt durch Erwachsene. Die traumatischen Erfahrungen der betroffenen Kinder bringen unterschiedliche Verhaltensmuster in der Schule mit sich. Der Schulunterricht für traumatisierte Kinder ist für Lehrkräfte deshalb eine komplexe Herausforderung.
Wie können Lehrkräfte mit betroffenen Kindern umgehen? Wie sieht ein angemessener Unterricht aus? Gibt es Möglichkeiten, sich dem Kind als Vertrauensperson anzubieten?
Die Autorin zeigt in dieser Publikation auf, wie Lehrkräfte aktiv werden können und welche Form der Unterstützung betroffene Kinder benötigen. Wo besteht heutzutage noch Nachholbedarf? Die Autorin setzt an diesen Punkten an und liefert praktische Hinweise für den Schulalltag.
Inhalt:
- Häusliche Gewalt;
- Kinder;
- Traumatisierung;
- Schule;
- Lehrer
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Zum Verständnis von häuslicher Gewalt
2.1 Was bedeutet häusliche Gewalt?
2.2 Was bedeutet Traumatisierung?
2.3 Folgen eines Traumata, ausgelöst durch häusliche Gewalt, für die kindliche Entwicklung
3 Häusliche Gewalt und Bindungsfähigkeit
3.1 Bindungstheorie
3.2 Resilienzen, Schutz- und Risikofaktoren
3.3 Auswirkungen häuslicher Gewalterfahrungen und Traumata auf die Schule
4 Handlungsmöglichkeiten für Lehrkräfte
4.1 Lehrerkompetenz
4.2 Handlungsrahmen für die Beziehungsarbeit mit traumatisierten Kindern in Folge häuslicher Gewalt
4.3 Möglichkeiten eines traumasensiblen Rahmens
4.4 Möglichkeiten der Präventionsarbeit an Schulen
5 Unterstützungserweiterung durch unterschiedliche Kooperationen
5.1 Eltern
5.2 Jugendamt
5.3 Weitere Institutionen
6 Fazit
7 Ausblick
8 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Die Mama sollte in meinen Bett immer innen schlafen, weil er einmal gesagt hat, er bringt uns um. Nach der Schule wollte ich nach Hause, weil ich ja nie wusste, was passiert (Kerstin, 9)“ (www.frauenhilfe-muenchen.de 2000, S. 5).
Mehr als 200.000 Kinder werden schätzungsweise jedes Jahr Opfer von Gewalt durch Erwachsene (vgl. www.zeit.de 2015). Dabei werden sie durch das Miterleben von häuslicher Gewalt schwerst traumatisiert (vgl. www.frauenrechte.de 2017).
Schule ist ein Ort, bei dem Kinder viel Zeit ihres kindlichen Lebens verbringen und auch ihre innerfamiliären Erlebnisse mitbringen. Auch traumatisierte Kinder nehmen ihre Gewalterfahrungen, die sie in der Familie erlebt haben, mit in den Unterricht. Dabei werden vor allem die Lehrkräfte mit betroffenen Kindern tagtäglich in der Schule und ihrem Unterricht konfrontiert. Meistens erkennen sie traumatisierte Kinder in Folge häuslicher Gewalt an Verhaltensauffälligkeiten wie zum Beispiel bei einem Schüler, der seinen Tisch mitten im Unterricht umwirft, laut schreit und dann aus der Klasse stürmt. Einige Zeit später wird er hinter den Mülltonnen des Schulgeländes gefunden, er zittert, ist leichenblass und hat einen abwesenden Gesichtsausdruck (vgl. Lohmann 2016, S. 8). Aber dieses Verhalten ist nicht die Regel. Wie können also Lehrkräfte mit betroffenen Kindern umgehen? Wie können Lehrkräfte traumatisierte Kinder mit häuslichen Gewalterfahrungen unterstützen und vor allem angemessen unterrichten bzw. beschulen? Die folgende Arbeit möchte sich tiefergehend mit diesen Fragen beschäftigen.
Um Lehrkräften Möglichkeiten einer Beschulung betroffener Kinder in dieser Arbeit aufzuzeigen, muss zunächst verstanden werden, was häusliche Gewalt und die damit einhergehende Traumatisierung für ein Kind und seine Entwicklung bedeutet. Daraus werden dann die Folgen einer Traumatisierung in Folge häuslicher Gewalt auf den Schulalltag übertragen und aufgezeigt. In einem nächsten Schritt wird die Bedeutung der Bindungstheorie und deren Nutzen in der Arbeit mit betroffenen Kindern im schulischen Umfeld verdeutlicht. Daraus sollen dann weitere Möglichkeiten und Handlungsräume für Lehrkräfte aufgezeigt werden. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass Lehrkräfte in ihrer Arbeit mit traumatisierten Kindern in Folge häuslicher Gewalt nicht alleine sind, sondern Hilfe durch Kooperationen mit außerschulischen Institutionen erhalten können. Ein Fazit und ein kurzer Ausblick auf weitere Möglichkeiten zur Beschulung traumatisierter Kinder in Folge häuslicher Gewalt runden diese Arbeit ab.
2 Zum Verständnis von häuslicher Gewalt
Um traumatisierte Kinder in Folge häuslicher Gewalt im Rahmen des Schulunterrichtes aufzufangen und einzubeziehen, muss zunächst der Begriff der häuslichen Gewalt verdeutlicht werden. Erst wenn verstanden wird, wie häusliche Gewalt entsteht und was für Folgen sie für Kinder hat, können Möglichkeiten einer individuellen Beschulung unter Einbezug spezieller Bedürfnisse erfolgen.
2.1 Was bedeutet häusliche Gewalt?
Familie wird im Regelfall als ein Ort verstanden, in der Familienmitglieder Liebe, Schutz, Geborgenheit und Sicherheit erfahren sollten. Leider kann genau dieser Ort auch von Gewalt geprägt sein.
Laut Habermehl (1999, S. 419) ist Familie der Ort, indem sich größtenteils Gewalt abspielt. Familienmitglieder, wie Frauen, Männer und Kinder werden von niemanden so oft geschlagen, wie von ihren nächsten Angehörigen. Und das, obwohl die Gesellschaft Familie als einen Ort der Liebe, Sicherheit und Schutz definiert. Kinder sind dabei die, die am häufigsten Opfer von Angehörigen werden und sie sind es die Gewalt gegen Kinder am meisten akzeptieren.
Lamnek und Ottermann (2012, S. 3) verstehen unter häuslicher Gewalt eine psychische, physische, sexuelle, verbale und gegen Gegenstände gerichtete Aggression, die der gesellschaftlichen Vorstellung über Sorge und Unterstützung widersprechen. Denn es handelt sich dabei um ein „abweichendes Verhalten“, das sich entgegen den Normen und Erwartungen der Familie und Ehepartner richtet. Als Familie können zusammenlebende Personen in einer Ehe- oder einer Intimbeziehung mit und ohne Kinder verstanden werden, die ständig oder zyklisch zusammenleben. Intensiviert wird häusliche Gewalt durch gesellschaftliche Faktoren wie Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, Ressourcenmangel oder aber auch Risikonachbarschaften, in der Familien mit ähnlichen Problemsituationen leben. Verstärkend wirken dabei gewaltaffine Norm- und Wertevorstellungen und soziale Abschottung (vgl. ebd., S.35). Dabei spielt die Bildungsschicht jedoch keine Rolle. Sicherlich kommt es in Familien mit niedrigem Einkommen vermehrt zu Gewalt, als bei Familien mit einem höherem Einkommen, allerdings entspricht dies nicht der Regel (vgl. Oberndorfer 1999, S. 14). „So muss der Schluss gezogen werden, dass physische Gewalt zwischen Ehepartnern in allen sozialen Schichten vorkommt, bei Armen wie Reichen, Gebildeten wie weniger Gebildeten (...)“ (ebd.). Dazu muss gesagt werden, dass bei Gewalt zwischen den Ehepartnern auch die Kinder darunter zu leiden haben und somit selber Opfer von häuslicher Gewalt werden.
Häusliche Gewalt, bei denen Kinder zu Opfer werden, lassen sich in unterschiedliche Ausprägungsformen wie psychische, physische und sexuelle Gewalt definieren, wobei auch Vernachlässigung und das Wahrnehmen von Gewalt zwischen den Elternteilen als Teil der psychischen Gewalt zählt. Hinzu kommen Kindesmisshandlungen, welche ein weites Feld von Unterlassungen und Handlungen aufzeigen. Dabei kommt es zu Handlungen durch Personen, die zu einer ganzen Reihe von Verletzungen, Unterernährung, Krankheit, schwere Behinderungen und zum Tod führen können (vgl. Lamnek & Ottermann 2012, S. 140). Darüber hinaus wird häusliche Gewalt von einem Großteil der Kinder entweder selbst erlebt oder sie erleben diese sehr häufig als Augenzeugen innerhalb der Familie. Diese innerfamiliäre Gewalt findet überwiegend sequenziell über Tage, Wochen, Monate und Jahre im Verborgenen statt. Häusliche Gewalt zeigt sich nicht nur körperlich gegen Kinder, sondern kann auch psychisch durch seelische Misshandlungen wie Drohungen, Beschimpfungen, Abwertungen, Demütigungen, Erniedrigungen und Augenzeugenschaft erfolgen. Augenzeugenschaft in Form des Miterlebens der partnerschaftlichen Gewalt der Eltern (vgl. Besser 2013, S. 39). Daneben präsentiert sich häusliche Gewalt in unterschiedlichen Gewaltformen, die meist nicht getrennt voneinander auftreten, sondern vielmehr ineinander greifen und somit eine bedrohliche Gesamtsituation für das Kind ergeben können. Eine Form der häuslichen Gewalt findet körperlich statt, wenn tätliche Angriffe wie Würgen, Fesseln, Ohrfeigen, Faustschläge, Misshandlung mit Gegenständen etc. und im Extremfall mit tödlichen Folgen, angewandt werden. Eine weitere Form ist die sexualisierte Gewalt, die durch sexuellen Missbrauch, sexuelle Nötigung, Zwang zur Prostitution und Vergewaltigung auftritt. Auch psychische Gewalt durch Drohungen der Person etwas anzutun, erzeugen von Schuldgefühlen, Beleidigungen, Demütigungen, Essensentzug oder Einschüchterung sind als eine Form der häuslichen Gewalt zu verzeichnen. Als eine weitere Form existiert die ökonomische Gewalt, die durch Arbeitsverbote oder Zwang zur Arbeit, alleinige finanzielle Verfügungsmacht durch einen Elternteil stattfindet. Als letzte Form wird die soziale Gewalt genannt, die innerhalb der Familien auftritt und in Form von Isolation von der Außenwelt durch Kontaktverbot und Kontrolle ausgeführt wird (vgl. Wieners & Hellbernd 2000, S. 33f).
Der deutsche Kinderschutzbund definiert Gewalt an Kindern als
„eine - bewusste oder unbewusste - gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung, die in Familien oder Institutionen geschieht und die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder gar zum Tode führt und die somit das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht“ (Deutscher Kinderschutzbund 2012, S. 5f).
Oberndorfer (1999, S. 13) zeigt auf, dass bei häuslicher Gewalt gegen Kinder Ohrfeigen oder Prügel noch im Bereich der normalen Erziehung angewandt werden. Er unterscheidet dabei Mütter die häufiger zu leichter körperlicher Gewalt (Ohrfeige, Klapse, Hauen) neigen und Väter die schwere körperliche Gewalt (Prügel, Schläge mit Gegenständen) als Erziehungsmittel anwenden. „Es scheint, dass Kinder immer noch als Besitz der Eltern angesehen werden, die nach Belieben geformt werden können, wenn nötig mit Gewalt“ (ebd.). Auch wenn diese Aussage bereits älter als 15 Jahre ist, ist zu vermuten, dass diese Art der Gewalt heutzutage immer noch in vielen Familien ein Bestandteil der Erziehung darstellt und somit auch angewandt wird.
In diesem Sinne wird im Rahmen dieser Arbeit der Begriff der häuslichen Gewalt als eine Gewalt verstanden, die sich intrafamiliar, von Eltern ausgehend gegen das Kind oder den Jugendlichen, unabhängig des Geschlechts, richtet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht alleine eine Form der häuslichen Gewalt vertreten ist, sondern Gewalt in verschiedenen Dimensionen stattfindet wie psychisch, sexuell, körperlich und durch verschiedene Kontexte verschärft werden können, wie Arbeitslosigkeit oder ein problematisches Umfeld. Allerdings richtet sich häusliche Gewalt nicht nach dem Berufsstatus der Familien, sondern kommt in allen Milieuschichten vor. Schwierig ist eine Definition von häuslicher Gewalt dennoch, da die Abgrenzungen von Gewalt und nicht Gewalt innerhalb der Familie und somit auch gegen Kinder nicht klar gekennzeichnet sind. Des Weiteren ist nicht zu erkennen, ob häusliche Gewalt auch unter Geschwistern stattfindet. Eindeutig hierbei ist aber dennoch, dass häusliche Gewalt dramatische und einschneidende Erlebnisse im Leben eines betroffenen Kindes darstellen, die wie im nächsten Kapitel aufgezeigt, nicht ohne Folgen bleiben.
2.2 Was bedeutet Traumatisierung?
Soeben hat sich gezeigt, wie drastisch und gefährlich häusliche Gewalt für Kinder sein kann. Ist solch eine Konfrontation wiederkehrend und findet über eine gewisse Zeitspanne statt, kann dies für ein Kind dramatische Konsequenzen haben. Was genau Traumatisierung bedeutet wird im Folgenden aufgezeigt.
Kinder benötigen von Anfang an in ihrer Entwicklung die Unterstützung und Zuwendung der Eltern. Die Persönlichkeitsstruktur bei Kindern ist nicht ausreichend gefestigt, so dass bereits kleine Auslöser ausreichen um sie zu traumatisieren. Jedes Kind reagiert auf Ereignisse unterschiedlich. Manche Kinder entwickeln Ängste oder reagieren mit Rückzug oder Verleugnung (vgl. Thom 2009, S. 3).
Eckhardt (2013, S. 10) beschreibt zudem zwei Traumatypen von denen Kinder betroffen sein können. Zum einen Typ I, der bei plötzlich eintretenden kurzen Ereignissen stattfinden kann. Das kann zum Beispiel ein Unfall sein, bei dem das Kind beteiligt ist und eine momentane Angst um das eigene Leben erfährt. Typ II hingegen beschreibt traumatische Ereignisse, die sich zum einen wiederholen und zum anderen über einen langen Zeitraum andauern. Dieser Typ kann nach Erlebnissen wie häuslicher Gewalt, Trennungen oder Umzügen entstehen. Im Laufe der Zeit verliert das Kind dabei das Vertrauen in die Welt und sich selbst.
Trauma wird auch verstanden als eine, durch das subjektive Erleben, völlige Hilfslosigkeit, Ausgeliefert sein und einer Ohnmacht. Dabei sollte aber zusätzlich berücksichtigt werden, dass Traumata von jedem Menschen unterschiedlich aufgenommen und verarbeitet werden. Objektiv kann das Ereignis sehr traumatisierend wirken, allerdings entscheidet die subjektive Wahrnehmung wie intensiv und schmerzhaft die Traumatisierung erfolgt. Das bedeutet, dass die Bewältigungsfähigkeit individuell entwickelt wird. Der Begriff „Trauma“ sollte somit nicht nur aus der objektiven Perspektive der Art des beobachtbaren Ereignisses, sondern vielmehr aus der subjektiven Sicht, also des Opfers in seiner subjektiven Realität verstanden werden (vgl. Wöller 2006, S.11).
„(...) Trauma stellt demnach eine plötzliche Diskontinuität des körperlichen und psychischen Erlebens dar, ein nicht erwartetes Eindringen äußerer Kräfte in die psychische Organisation“ (ebd.).
Ein traumatisches Erlebnis kann somit als
„(…) ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer u. Riedesser 1998, S. 79), verstanden werden.
Eine weitere Traumatisierungsdefinition findet sich im ICD-10-GM, einem deutschen gültigen und aktuellen Diagnoseklassifizierungssystem der Medizin. Dort wird Trauma als „Traumatische Neurose“ unter F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung aufgeführt. Dabei wird das Trauma als eine psychische Störung beschrieben, welche meistens durch ein oder mehrere gravierende Erlebnisse hervorgerufen und durch die betroffene Person noch nicht verarbeitet wurde. Trauma „(...) entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (ICD-10-GM Version 2017).
Ein Trauma kann über einen lang anhaltenden Zeitraum chronisch werden und zu einer Persönlichkeitsveränderung führen (vgl. ebd.).
Eckhardt (2013, S. 12) beschreibt ein Trauma als ein einschneidendes Erlebnis, wodurch das bisherige Leben langfristig negativ verändert wird und vorhandene und bekannte Bewältigungsmechanismen nicht anzuwenden sind. Das Erlebnis kann nicht verarbeitet werden. Dies bezieht sich auf plötzliche Traumata sowie auf Traumata die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken (vgl. ebd., S. 9). Kinder sind dabei, anders als Erwachsene, ihrer Umwelt wesentlich mehr ausgesetzt und empfinden daher Veränderungen innerhalb der Familie, wie zum Beispiel Trennung der Eltern oder Tod eines Familienmitgliedes, oft als eine Katastrophe (vgl. ebd., S. 12). Welche Faktoren Erlebnisse für Kinder zu traumatischen Situationen werden lassen, beschreibt Krüger (2010, S. 19).
„Eine traumatische Situation bedeutet für ein Kind eine extreme, existenzielle Bedrohung. Dabei kann das Kind entweder sich selbst sowie seine körperliche und seelische Einheit oder andere Menschen als bedroht erleben“ (ebd.).
Schafft das Kind es nicht, sich selbst oder den anderen aus dieser extremen Not zu befreien, sondern verfällt in das Gefühl der Ohnmacht, dann befindet es sich in der „Traumafalle“. Das bedeutet für das Kind, dass kein Ausweg aus der Bedrohung zu erkennen ist und somit das extreme Gefühl der Hilflosigkeit entsteht. Das durch das Kind zunächst entwickelte Selbstbewusstsein und das Vertrauen in seine Umwelt wird bei solch einer Erfahrung langfristig zerstört oder geht ganz verloren (vgl. ebd.). Traumatische Ereignisse für Kinder können unter anderem unausweichliche Lebensbedrohungen für sich selbst und eine nahestehende Person sein. Dies können zum Beispiel gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Eltern sein, welche das Kind miterlebt oder bei der es selbst zum Opfer wird. Auch das elterliche Versagen in einer Gewaltsituation kann zu traumatischen Ereignissen und Folgen für das Kind führen, wenn die Eltern eine bestehende Gewaltsituation nicht unterbrechen oder das Kind dabei nicht schützen können.
Die grundsätzliche Bedrohung durch einen nahestehenden Menschen, bei Gewaltanwendungen ist somit ein traumatischer Einflussfaktor, der bei dem Kind Lebensängste, Ohnmacht, Erstarrung und akute Bewusstseinsabspaltung hervorrufen kann. Zusätzlich versagen die biologisch verankerten Flucht- und Kampfreaktionen, was zu einem hilflosem Ausgeliefertsein führt (vgl. ebd., S. 21). Wenn Kinder durch häusliche Gewalt immer wieder eine zu Traumata führende Extremsituation durchleben, können sie auch nach Wochen und Jahren wieder in diese Situation zurückgerufen werden. Dies kann bei sogenannten Psychotrauma- Folgestörungen passieren, bei denen der psychische Apparat des Kindes mit seinen Wahrnehmungsorganen, Ohren, Augen und Nase, die Gegenwart mit der Vergangenheit vertauscht. Dabei wird dem Bewusstsein des Kindes das traumatische Erlebnis vorgetäuscht. Diese sogenannten „Trigger“ können scheinbar ohne Grund im alltäglichen Leben zu wiederkehrenden traumatischem Stress führen. Auslöser dafür können unter anderem Bilder, Gerüche, Jahreszeiten, körperliche Berührungen, Geräusche, Landschaften und Örtlichkeiten, Menschen mit Ähnlichkeiten zum Täter und Konfliktsituationen sein (vgl. ebd., S. 23f). Als Beispiel dazu, kann ein traumatisiertes Kind im alltäglichen Schulunterricht plötzlich Panik bekommen, wenn die Lehrkraft es an den Arm fasst. Diese entscheidende Situation erinnert das Kind an die Gewaltausbrüche der Eltern, bei dem es sich selbst in der Opferrolle befunden hat.
Durch immer wiederkehrende Stresssituationen in Verbindung mit den erlebten traumatischen Ereignissen kann es zu einer Traumafolgestörung, einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), kommen. Signifikant bei der PTBS ist das Wiederinszenieren der Ereignisse in Tagträumen oder durch Nachspielen mit Spielsachen, sowie das Vermeiden an Erinnerungen an das Trauma durch Gespräche oder Situationen. Das PTBS tritt meistens innerhalb sechs Monate nach dem Belastungsereignis oder der Belastungsperiode auf (vgl. Rosner & Steil 2013, S. 3).
Es lässt sich erkennen, dass zum einen häusliche Gewalt bei Kindern zu Traumatisierungen führen, die ihre Bewältigungsfähigkeit stark einschränkt oder lähmt und sie somit aus der belastenden Situation selber nicht mehr herausfinden. Zum anderen, dass Traumata ernsthafte Auswirkungen auf das kindliche Leben haben und betroffene Kinder auch nach Jahren durch die Folgen der traumatischen Erlebnisse nachteilig belastet sein können. Daraus entsteht die Vermutung, dass die kindliche Entwicklung eines traumatisierten Kindes in Folge häuslicher Gewalt stärker beeinflusst wird als bei Kindern ohne traumatische Erlebnisse. Diese „beeinflusste“ kindliche Entwicklung scheint ein wichtiger Aspekt für die Beschulung der betroffenen Kinder darzustellen, da die Entwicklung im Schulalter noch nicht abgeschlossen ist.
2.3 Folgen eines Traumata, ausgelöst durch häusliche Gewalt, für die kindliche Entwicklung
Wie im vorangegangen Kapitel aufgezeigt, wirken sich traumatische Erlebnisse, wie durch häusliche Gewalt, extrem belastend und nachhaltig auf das kindliche Leben aus. Wenn ein traumatisiertes Kind nun so von den dramatischen Ereignissen gefangen ist und dies langfristig, wird sich dieser Prozess auch auf die Entwicklung des Kindes auswirken.
Der deutsche Kinderschutzbund beschreibt in seinem Jahresbericht 2015 die Folgen für Kinder durch häusliche Gewalt. Diese können dramatisch sein. Es kann zu kognitiven Beeinträchtigungen, aggressiven Verhalten, Traurigkeit, Ängstlichkeit, Rückzug und zu Schulproblemen bis hin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung kommen. Zusätzlich kann häusliche Gewalt das Gewaltverhalten des Kindes negativ unterstützen (vgl. Kinderschutz-Zentrum Hannover 2015, S. 9). Auch in unterschiedlichen Studien fasste Dlugosch (2010, S. 59f) folgende traumatische Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die kindliche Entwicklung zusammen. Es können Entwicklungsstörungen im visuell-motorischen, verbal-sprachlichen und im kognitiven Bereich entstehen. Dies führt zu Konzentrationsstörungen und Lernschwierigkeiten, welche sich negativ auf die geistige Entwicklung auswirken. Auch in der Entwicklung des Sozialverhaltens kommt es zu Defiziten. Dies zeigt sich in aggressiven Verhaltensmustern, unangemessener Konfliktbewältigung und auch im Aufbauen von Sozialkontakten. Damit einher gehen Einschränkungen in der Fähigkeit zur Empathie und Perspektivwechsel, was sich negativ in zwischenmenschlichen Beziehungen zeigt. Zudem führen kindliche Gewalterfahrungen zu einem erhöhten Risiko der späteren eigenen Gewalttätigkeit und Jugenddelinquenz. Diese Verhaltensauffälligkeiten äußern sich in der kindlichen Entwicklung in Form von depressiven und psychosomatischen Symptomen, wie erhöhter Aggressivität, extremer Ängstlichkeit und geringem Selbstwertgefühl. Darüber hinaus erklärt Rudolph (2007, S. 30), dass die Spannbreite der Reaktionen von Kindern auf häusliche Gewalt enorm ist. Denn „... ein sehr stilles, angepasstes Kind, das in der Schule stets gute Leistungen bringt, [ist ebenso betroffen (Anm. d. Verf.)], wie ein Kind, das äußerst reizbar und aggressiv ist“ (ebd.).
Dabei reagiert das kindliche Gehirn grundsätzlich anders auf Stresssituationen, als das erwachsene. Es muss komplexe Verarbeitungsprozesse erst noch entwickeln, da es neuronal noch nicht stabil vernetzt ist. Durch traumatische Gewalterfahrungen nutzen Kinder viel häufiger und rascher ihre Notfallreaktionen. Tritt dieses Vorgehen sehr häufig auf, entstehen somit immer fester verknüpfte neuronale Netzwerke für Notsituationen. Zwar sind diese Funktionen nur für das Überleben geeignet, dennoch bildet sich ein festes Fundament, welches die Grundlage für die Gehirn- und die spätere Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Da traumatisierte Kinder in Gewaltsituationen keine Sicherheit erfahren können, bilden sich zudem Bindungsstörungen, die dazu führen, dass kleinste Frustrationen oder Mißerfolgserlebnisse das bekannte Notfallmuster mit Kampf, Flucht und Dissoziation hervorrufen. Kindliche Gehirne und ihre Persönlichkeitsentwicklung haben sich demnach an eine Struktur der Gewalt in Form von Durchkommen, Überleben und Anpassen gewöhnt. Dies führt zu neuronalen fest verankerten Mustern die die kindliche Wahrnehmung, das Fühlen und Denken, ihre Körperreaktionen, Beziehungsverhalten und das Lern- und Leistungsverhalten bestimmen. Als Folgen treten unter anderem Hilflosigkeit, dissoziative Zustände, wie Nicht-reagieren-, Sich-nicht-mehr-rühren-können, Depressionen, Schmerz-und andere Körpermiss-empfindungen, Suizidimpulse, sowie aggressive Impulsdurchbrüche meist ohne erkennbaren Grund auf. Auch substanzgebundene Suchterkrankungen können als eine Folge traumatischer Erlebnisse durch häusliche Gewalt auftreten (vgl. Besser 2013, S. 48f).
Bei den Folgen einer Traumatisierung versagen die kindlichen Anpassungs- und Schutzmechanismen und führen zu unterschiedlichen neurophysiologischen und psychischen Beeinträchtigungen, wie auch zu einer tiefgehenden Störung der Bindungsfähigkeit (vgl. Krautkrämer-Oberhoff & Haaser 2013, S.70).
„(...) es [das Kind (Anm. d. Verf.)] entwickelt eine verzerrte Wahrnehmung und ein instabiles Selbstkonzept, welches in einer mangelnden Affektkontrolle Vorschub leistet. Traumatisierte Kinder nehmen ihre Umwelt oftmals so wahr, als wenn ihnen jederzeit eine gleichartige Bedrohung erneut widerfahren könnte“ (ebd.).
Infolgedessen entstehen Panikattacken, Überregtheitszustände, Impulsausbrüche, Zerstörungswut, Ängste und Stimmungslabilität die oftmals zu Flashbacks führen, indem betroffene Kinder die frühere Bedrohungssituation erneut durchleben (vgl. ebd.).
„Brüche im Selbst, im Ich und den Objektbeziehungen machen es den Kindern schwer, sich reibungslos in ihre Umgebung einzufügen. Sie vermischen Realität und Fantasie, Vergangenheit und Gegenwart und die Wahrnehmungen von sich selbst und anderen“ (Wagner 2013, S. 93).
Wagner (2013, S. 93) beschreibt weiter, dass traumatisierte Kinder ihre Gefühle und Handlungsimpulse nicht altersgemäß unter Kontrolle haben und somit Missverständnisse vorprogrammiert sind. Sie wirken unerreichbar und teilnahmslos aber reagieren bei kleinsten Reizen mit übermäßiger Aufregung. Zusätzlich leiden sie an plötzlich auftauchenden Erinnerungen oder Erinnerungslücken, haben Probleme mit Schlaflosigkeit und Alpträumen. Sie können kein Vertrauen zu Personen oder Institutionen aufbauen und diese werden dementsprechend als feindselig abgespeichert. Auch ihre kognitiven Leistungen sind beeinträchtigt und die Neugierde mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten ist eingeschränkt (vgl. ebd., S. 93).
Das bedeutet, dass Traumatisierungen in Folge häuslicher Gewalt schwerwiegend für die kindliche Entwicklung sein können. Sie führen dabei nicht nur zu kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen, sondern auch zu massiven Veränderungen in der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung. Wenn diese Kinder in der Schule unterrichtet werden sollen, müssen zunächst die Ursachen für ihre problematische Entwicklung erkannt werden. Denn erst wenn Ursachen bekannt sind, können Schritte unternommen werden, um betroffene Kinder in ihrer weiteren Entwicklung innerhalb eines schulischen Rahmens zu unterstützen.
3 Häusliche Gewalt und Bindungsfähigkeit
Entscheidend für die kindliche Entwicklung einschließlich der Persönlichkeitsentwicklung sind die Bindungserfahrungen. Diese werden, wie in Kapitel 2.3 bereits aufgezeigt, dazu gebraucht, ein stabiles Selbstkonzept zu entwickeln. Was durch traumatische Erlebnisse und ihren Folgen unmöglich wird. Dennoch ist Bindung ein wesentlicher Faktor nicht nur für die kindliche Entwicklung, sondern auch für Lernprozesse, die nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule gefordert sind.
3.1 Bindungstheorie
„Daneben eignet es [das Kind (Anm. d. Verf.)] sich im Bindungsprozess Selbstvertrauen an und in der Folge ein gutes Selbstwertgefühl, und auf diese Weise verliert es, neugierig seine Welt erkundend, die Angst vor Neuem und Unbekanntem und tauscht sich gerne mit anderen über das, was es interessiert, aus – alles Qualitäten, die auch den Lernprozess von Kindern maßgeblich beeinflussen“ (Koch 2016, S.1).
Das Zitat von Koch (2016, S. 1) zeigt auf, wie eine gute Bindung zu einem gesunden Selbstbewusstsein führen kann und Kinder infolgedessen ohne Angst ihre Umwelt erkunden können, was sich auch positiv auf Lernprozesse auswirkt.
Bowlby (2008, S. 21) einer der Pioniere zum Thema Bindungsforschung, beschreibt zu seiner Bindungstheorie, dass das Bindungsverhalten als ein Verhalten, bei dem das Kind (vgl. ebd.), besonders in früher Kindheit, bzw. im Säuglingsalter (vgl. Grossmann & Grossmann 2015, S. 23) die Nähe eines vermeintlich kompetenteren Menschen sucht, der bei Angst, Erkrankung, Müdigkeit oder bei Zuwendungs- und Versorgungsbedürfnissen für das Kind eine beruhigende Rückversicherung anbieten und gewährleisten kann (vgl. Bowlby 2008, S. 21). Dieses zeigt sich unter anderem durch Verhaltensweisen wie Rufen und Weinen des Kindes, welche die Zuwendung und Fürsorge bei der jeweiligen Bindungsperson auslösen. Auch wenn das Kind allein gelassen wird zeigt sich das Bindungsverhalten im Festhalten oder Folgen der Bindungsperson (vgl. Grossmann & Grossmann 2015, S. 23). Durch diese sensible Bindungsfigur fühlt sich das Kind geborgen, was sich auch in der späteren kindlichen Entwicklung positiv auswirkt (vgl. Bowlby 2008, S. 21). Das Bindungsverhalten eines Individuums ist somit teilweise nicht nur vom Alter und Geschlecht abhängig, sondern auch von den Lebensumständen und Erfahrungen mit den Bindungspersonen im jungen Alter (vgl. Grossmann & Grossmann 2015, S. 23).
Zusätzlich werden der Bindungstheorie nach Bowlby folgende Merkmale zugewiesen. Zum einen ist das Bindungsverhalten auf ein oder wenige besondere Individuen gerichtet. Zum anderen findet Bindung meistens über einen längeren Zeitraum statt, wobei früh erworbene Bindungen vor der Adoleszenz nicht leicht aufgegeben werden können, Bindungen nach der Adoleszenzphase können allerdings ergänzt oder ausgetauscht werden. Zusätzlich werden Bindungen durch viele unterschiedliche und intensive Gefühle begleitet, die auch den Erhalt und die Erneuerung der Bindung unterstützen, aber auch für Unterbrechungen der Bindung verantwortlich sein können. Ein weiteres Merkmal der Bindung besagt, dass sich das Bindungsverhalten bei Kindern gegenüber einer Bindungsperson innerhalb der ersten neun Monate entwickelt und sich dies bis zum dritten Lebensjahr weiter ausbaut und aktivierbar bleibt. Welches bei einer gesunden Entwicklung dann aber abnimmt. Darüber hinaus kann sich Bindung auch bei wiederholter Bestrafung durch die Bindungsperson entwickeln. Allerdings ist Bindung für das Kind erst optimal, wenn die Bindungsperson das Kind in unsicheren Situationen auffängt und tröstet, damit das Kind im Anschluss das Bindungsverhalten einstellt, um seine Umwelt erkunden zu können, mit dem Wissen, dass die Bindungsperson in greifbarer Nähe ist (vgl. Grossmann & Grossmann 2015, S. 24). Auch Julius (2009, S. 13f) beschreibt, dass die Bindungstheorie als eine vom Kind ausgehende emotionale instinktive Beziehung zu seiner Mutter oder einer gleichgestellten Pflegeperson zu sehen ist. Durch Verhaltensweisen wie brabbeln, weinen, lächeln wird die Bindungsfigur durch das Kind herbeigerufen und in seiner Nähe gehalten. Nachkrabbeln, Anklammern und Nachlaufen bringen das Kind der Bindungsperson aktiv näher und halten es fest. In den nächsten Lebensjahren werden diese Verhaltensweisen durch das Kind in einem eigenen Bindungsverhaltenssystem aufgenommen, welches sich auf eine bestimmte Bezugsperson ausrichtet. Als weiterer Faktor gehört zum Bindungsverhaltenssystem das Explorieren des Kindes. Dabei erkundet es seine Umwelt zum Beispiel durch spielen und durch Aktivitäten oder Kontaktaufnahme mit Gleichaltrigen. Das Explorationsverhalten ist dabei konträr zu dem Bindungsverhalten, denn ein Kind was sich sicher und wohl fühlt bewegt sich von seiner Bindungsperson weg, um seine Umwelt zu erkunden. Ist es aber verängstigt und fühlt sich unwohl, wächst sein Bedürfnis nach Nähe und das Bindungsverhaltenssystem wird wieder aktiviert.
Die Bindung stellt also eine enge länger andauernde emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson dar, bei der Schutz geboten wird und diese dem Kind dabei hilft bei Verunsicherung und Traurigkeit seine Emotionen zu regulieren. Des Weiteren dient die Bindungsperson beim Explorieren als sicherer Hafen und sichert somit das Überleben des Kindes. Zusätzlich besagt die Bindungstheorie, dass das Bedürfnis nach Bindung angeboren ist und durch das Bindungsverhalten das Kind physische und psychische Nähe zur Bindungsperson herstellt und versucht diese aufrechtzuerhalten. Eine Bindungssicherheit kann nur aufrecht erhalten werden, wenn die Bindungsperson dem Kind emotionale Nähe, Körperkontakt, offene Gespräche und Zuwendung bieten kann (vgl. Piel, 2013, S. 10f).
Die Bindungserfahrungen die Kinder im Laufe ihrer Entwicklung erfahren, werden in unterschiedliche internale Arbeitsmodelle eingestuft. Die Qualität der Beziehungserfahrungen entscheidet darüber, ob sich das Kind in einem sicheren, unsicher-vermeidenden, unsicher-ambivalenten oder desorganisierten Arbeitsmodell von Bindung befindet (vgl. Julius 2009, S. 14). In einem sicheren Arbeitsmodell finden sich Kinder wieder, die eine sichere Bindung zu ihrer Bindungsfigur erleben. Sie erfahren diese als einfühlsam, zuverlässig und unterstützend, ebenso erfahren sie bei dieser Geborgenheit in belastenden Situationen. Dadurch können sie in ihrer Umwelt außerhalb emotional belastender Situationen frei explorieren. Zusätzlich sind sie in der Lage offen ihren Ärger und negative Gefühle zu äußern (vgl. ebd.). Befinden sich Kinder in dem Arbeitsmodell unsicher-vermeidend, verhalten sich ihre Bindungsfiguren eher zurückweisend und nicht unterstützend. Die Kinder verhalten sich dadurch beziehungsvermeidend und suchen in schwierigen Situationen keine Unterstützung bei ihrer Bindungsperson. Vielmehr zeigen sie ein erhöhtes Explorationsverhalten, welches als eine Verschiebung der Aufmerksamkeit weg von belastenden Situationen verstanden wird. Da sie keine Unterstützung erfahren, zeigen sie keine Gefühle wie Angst und Trauer und haben somit einen stark eingeschränkten Zugang zu ihren Gefühlen (vgl. ebd.). Im dritten Arbeitsmodell, unsicher-ambivalent, haben die Kinder bezüglich der Verfügbarkeit und Responsivität ein unberechenbares Bindungsverhalten ihrer Bindungsperson erfahren. Sie können sich somit über die Verfügbarkeit ihrer Bindungsperson in belastenden Situationen nicht sicher sein und suchen aus diesem Grund immer wieder deren Nähe. Das ambivalente Verhalten äußert sich indem zum einen anhänglichen Verhalten und zum anderen in einem massiven Ärger gegenüber ihrer Bindungsperson aufgrund der Nichtbeachtung. Das Explorationsverhalten ist dadurch negativ beeinflusst und kann nicht ausreichend umgesetzt werden (vgl. ebd.). Das vierte und letzte Arbeitsmodell des Bindungsverhaltenssystems greift dann, wenn Kinder in wiederkehrenden Extremsituationen, zum Beispiel das Miterleben häuslicher Gewalt, in eine hilflose Situation geraten, bei der sie keine Sicherheit ihrer Bindungsperson erfahren. Dieses desorganisierte Arbeitsmodell zeigt auf, dass Kinder die Quelle ihrer Angst darstellen (vgl. ebd.).
„Ist das Kind öfter solchen Situationen ausgesetzt, führt dies zu einer häufigen oder gar chronischen Aktivierung seines Bindungssystems, ohne dass die Bindungsfigur diese hohe Aktivierung beendet, indem sie die Bindungsbedürfnisse des Kindes nach Nähe oder Rückversicherung befriedigt“ (ebd., S. 15).
Die Anforderungen die sich den Eltern stellen, um ein sicheres Arbeitsmodell und somit eine gesunde Bindungsentwicklung ihres Kindes zu fördern, beinhalten zum größten Teil Verantwortung. Diese Verantwortung zeigt sich in der Fähigkeit Empathie und Einfühlungsvermögen gegenüber dem Kind aufzubringen, um wechselnde Bedürfnisse wahrzunehmen und von eigenen Bedürfnissen zu unterscheiden. Außerdem das eigene Verhalten zu reflektieren und zu beurteilen, um sich der Auswirkungen eigenen Handelns auf die kindliche Entwicklung bewusst zu werden. Insbesondere die Feinfühligkeit sollte dabei im Fokus stehen. Sie bedeutet die kindlichen Signale wahrzunehmen und zu interpretieren um dann angemessen auf sie zu reagieren. Feinfühligkeit zwischen der Mutter beziehungsweise der Bindungsperson (es kann auch der Vater oder eine andere Person sein) und dem Kind werden in vier Merkmalen erkennbar. Ein Merkmal hat die Voraussetzung zum Inhalt, dass die Mutter oder die Bindungsperson für die Bedürfnisse des Kindes überhaupt zugänglich und erreichbar ist. Ein weiteres Merkmal zeigt die richtige Interpretation der kindlichen Signale auf und zwar aus der Sicht des Kindes und nicht aus eigener Sicht. Das dritte Merkmal beschreibt das angemessene Verhalten der Mutter oder der Bindungsperson, welches in seinem Reaktionsmuster nicht über- oder unterstimuliert wird. Und das vierte und letzte Merkmal zeigt auf, dass die Bindungsperson prompt reagieren sollte, um eine unmittelbare Reaktion auf die Signale des Kindes zu gewährleisten. Denn dadurch versteht das Kind die Reaktion als Folge des eigenen Handelns. Somit zeigt sich, dass die Mutter oder die Bindungsperson mit ihrem Verhalten Einfluss auf das Bindungsmuster des Kindes hat.
Grossmann & Grossmann (2015, S. 109) greifen dazu die von Ainsworth (1964), einer Entwicklungspsychologin und einer Vertreterin der Bindungstheorie, getroffene Aussage auf, in der sie die aktive Initiative innerhalb des Bindungsverhalten beschreibt. Denn die Interaktion zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson sind als eine Reihe von Handlungen im gegenseitigen Austausch zu verstehen, entweder durch ein Verhalten dass durch die Bindungsperson stattfindet, auf dass das Kind reagiert oder durch das Verhalten des Kindes welches durch Signale und Annäherungsversuche eine Reaktion bei der Bindungsperson hervorruft.
Das bedeutet, dass das Bindungsverhalten des Kindes nicht einseitig durch die Mutter beeinflusst wird, sondern vielmehr durch mehrere Wechselwirkungen zwischen Bindungsperson und Kind in Form von körperlicher Nähe und Interaktionen.
Darüber hinaus speichert das Kind Verhaltensweisen der Bezugsperson bei Trennung, Schmerz oder anderen Situationen ab, um immer wieder darauf zurückgreifen zu können. In fremden Situationen zeigt die Mutter ihrem Kind automatisch Verhaltensmuster, dem sich das Kind anpasst und somit eigene Bindungsstrategien zu verschiedenen Situationen aneignet. Diese sichere Bindung zwischen Mutter und ihrem Kind bietet ideale Voraussetzungen für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Piel 2013, S. 14f). Bei traumatisierten Kindern in Folge häuslicher Gewalt kann sich kein sicheres Bindungsverhalten zu dem Kind entwickeln, wenn die Bindungsperson dem Kind gegenüber Desinteresse, keine Geborgenheit, Liebe oder Anerkennung und vor allem keinen Schutz bei Gefahrensituationen zeigt beziehungsweise anbietet. Keine Reaktionen auf Fragen und Interaktionsversuche zeigt, sowie wechselhaft und nicht nachvollziehbar auf die Signale des Kindes eingeht. Das Kind fühlt sich infolgedessen als nicht liebenswert und akzeptiert und entwickelt ein negatives Selbstwertgefühl. Zwar stellen solche Anzeichen eines unsicheren bzw. desorientierten Bindungsverhalten nicht unbedingt eine Bindungsstörung dar, allerdings ist die Bindungsqualität dennoch instabil und geschädigt. Denn ein Kind mit einem desorientierten Bindungsverhalten kann in einer Stresssituation keine Strategie zur Bewältigung abrufen und einsetzen (vgl. ebd., S. 35).
„Die fehlende Liebe und Akzeptanz, das fehlende Interesse an dem Kind, die unzureichende Interaktion und Kommunikation mit dem Kind und die fehlende oder instabile Bindung zu dem Kind zwingen das Kind in eine Richtung, die geprägt ist von auffälligen Verhaltensweisen, psychischen und physischen Störungen und von einer verzögerten oder gehemmten Entwicklung“ (ebd.).
Somit zeigt sich, dass die Bindungsbeziehungen bei häuslicher Gewalt aus bindungstheoretischer Sicht für Kinder eine Ausweglosigkeit darstellen. Sie sind in der Beziehung zu ihrer Bindungsperson mit einer für sie nicht lösbaren Situation konfrontiert. Ihr Bindungssystem wird gerade von der Person über die Maßen aktiviert, von der sie Schutz und Sicherheit erwarten und an die sie sich in belastenden Situationen instinktiv wenden. In Familien in denen Kinder häusliche Gewalt erleben, existieren keine schützenden Bindungsbeziehungen. Ihr angeborenes Bedürfnis nach Nähe wird in diesem Fall nicht befriedigt. Diese Situation zwingt sie zur Entwicklung von Strategien, die ihnen ein Umgang mit den Gewalt ausübenden Bindungspersonen ermöglicht. Dadurch entwickelt das Kind desorganisierte Bindungsbeziehungen, welche seine weitere Entwicklung negativ beeinflussen können.
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- Arbeit zitieren
- Mira Lederer (Autor:in), 2017, Kinder als Opfer häuslicher Gewalt. Handlungsmöglichkeiten für Lehrkräfte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412911
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