Europa erlebt einen populistischen Dominoeffekt – auch die Bundestagswahl am 24. September 2017 und der Wahlerfolg der AfD stellt dabei keine Ausnahme dar. Doch wie darauf reagieren? Könnte die zuletzt vermehrt auftretende Forderung nach einem „Recht auf Stadt“ bei der Eindämmung der Rechtspopulist*innen helfen? - Lefevbres Forderung nach einem "Recht auf Stadt" richtet sich wie auch der Populismus an die "Urbanisierungs-" und "Modernisierungsverlierer", sodass sich fundamentale theoretische Ähnlichkeiten erkennen lassen.
„Recht auf Stadt“ als Gegenmittel auf den westeuropäischen Populismus?
Europa erlebt einen populistischen Dominoeffekt - auch die Bundestagswahl am 24. September 2017 und der Wahlerfolg der AfD stellt dabei keine Ausnahme dar. Doch wie darauf reagieren? Könnte die zuletzt vermehrt auftretende Forderung nach einem „Recht auf Stadt“ bei der Eindämmung der Rechtspopulist*innen helfen? Die formal zu erörternde Fragestellung lautet: Kann die Verwirklichung des „Rechts auf Stadt“ als Gegenmittel eines erstarkten westeuropäischen Rechtspopulismus fungieren? Die zentrale These dieses Essays geht davon aus, dass die Verwirklichung des „Recht auf Stadt“ den Populismus bzw. die Wahlerfolge populistischer Parteien durchaus aufgrund fundamentaler inhaltlicher Ähnlichkeiten einzudämmen vermag. Um die aufgeworfene Fragestellung angemessen zu erörtern, werden zunächst das politikwissenschaftliche Konzept des „Populismus“ sowie das „Recht auf Stadt“ in ihren Grundzügen skizziert. Im nächsten Schritt folgt die Erörterung der zentralen Fragenstellung, um im Anschluss zu einem Fazit zu gelangen. Des Weiteren wird ein Ausblick auf weitere zu beantwortende Fragstellungen gegeben.
Grundsätzlich handelt es sich beim Begriff „Populismus“ um ein essenziell umstrittenes Konzept. Die Minimaldefinition von Cas Mudde (2013) versteht Populismus als dünne Ideologie, die annimmt, dass sich die Gesellschaft letztendlich in zwei homogene und antagonistische Gruppen aufteilen lasse: das (ehrliche) Volk und die (korrupte) Elite. Jener Antagonismus betont die moralische Überlegenheit des Volks gegenüber der politischen, kulturellen und medialen Elite. Dem Volk werde durch den*die populistischen Akteur*in die Rolle einer homogen tugendhaften Masse zugeschrieben, die uber einen Gemeinwillen verfuge, welcher inhärent moralisch richtig und legitim sei. Hierbei erhebt der*die populistische Akteur*in den Anspruch, als alleinige*r Vertreter*in jenes Gemeinwillens zu fungieren, was seinen anti-pluralistischen Charakter offenbart. Die pluralen liberalen Demokratien erachten das Herstellen eines einheitlichen Volkswillens als unmöglich und sprechen sich für die Machtteilung auf verschiedene Institutionen aus. Politikpraktisch fordern populistische Parteien daher meist eine Stärkung von direktdemokratischen Elementen. Die dem homogenen Volk gegenuberstehende Elite handle selbstbezogen und korrupt entgegen dem Gemeinwillen, so die Vorwürfe der populistischen Parteien.
Die „dunne Ideologie“ reagiere als Sammlung an Ideen ideologisch flexibel auf Wahrnehmungen und Meinungen der Gesellschaft sowie andere ideologischen Denkschulen. Häufig gehe Populismus dabei eine Symbiose zu rechtem aber auch linkem Gedankengut ein, wodurch sich die in Westeuropa auftretenden radikal-rechtspopulistischen Parteien erklärten (u.a. die französische Front National). Die völkisch-nationale Komponente ist dem Populismus selbst aber nicht per se inhärent.
Ein „Recht auf Stadt“ bzw. die revolutionäre Forderung nach „a transformed and renewed right to urban life“ (Lefevbre 1996: 158) formulierte der französische Denker Henri Lefebvre (1901-1991) bereits im Jahr 1968. Ausgehend von den Erfahrungen und Folgen der ersten urbanen Revolution bzw. der Urbanisierung, die zum Tod der (historischen) Stadt und ihres lebhaften Straßenlebens, des Metropolkern und ihrer Heterogenität geführt habe, legt er den peripherisierten Gruppierungen nahe eine zweite urbane Revolution und ihr „Recht auf Stadt“ einzufordern. Zu den Verlierer*innen der ersten urbanen Revolution zählt Lefevbre vor allem das Proletariat, welches in der kapitalistischen Stadt durch sozioökonomische Segregation und darauf aufbauenden Entfremdungserscheinungen geprägt ist.
Das Urbane denkt Lefevbre dabei nicht als physisch-räumliche Einheit, sondern als sozialen Raum. Daher versteht er das „Recht auf Stadt“ als ein Recht auf Teilhabe an Qualitäten und Leistungen der urbanisierten Gesellschaft durch an den Rand gedrängte Gruppierungen. Das „Recht auf Stadt“ durchzieht zwei Dimensionen: „Recht auf Zentralität“ und das „Recht auf Differenz“. Der Terminus Zentralität meint in diesem Zusammenhang den allgemeinen Zugang zu Orten des gesellschaftlichen Reichtums, Wissens und städtischer Infrastruktur. Die Zentralität, so Lefevbre, soll durch Prozesse soziale Unterschiede miteinander verbinden und konzentrieren. Das Recht auf Differenz hingegen versteht die Stadt bzw. das Urbane als einen Ort des Aufeinandertreffens und der Auseinandersetzung und basiert auf der Annahme, dass aus jenem Zusammenkommen der Verschiedenartigen ein gesellschaftlicher und produktiver Mehrwert entstehen kann.
Die bereits angerissene Forderung nach einer zweiten urbanen Revolution beinhaltet folgende Forderungen: 1. „Wiederaneignung“ und Nutzung physischer Räume (z.B. sozialer Wohnungsbau) und 2. die aktive Teilnahme an Diskussionen und Entwürfen über die zukünftige städtische Entwicklung (z.B. Stadtplanung, Bürgerdialoge etc.) durch an den Rand gedrängte Gruppierungen.
Doch inwiefern kann die Umsetzung eines „Rechts auf Stadt“ zur Eindämmung rechtspopulistischer (Wahl-)Erfolge führen?
Die zentrale Brücke lässt sich über den Adressat*innenkreis und die Gründe für den Wahlerfolg der rechtspopulistischen Parteien schlagen: Die Konzepte sind sich in vielerlei Weise ähnlich und sprechen somit potenziell ein ähnliches Klientel an. Eine inhaltliche Gemeinsamkeit stellt die Anti-Establishment-Orientierung dar. Die populistischen Parteien wenden sich gegen die sogenannte „korrupte Elite“ (medial, kulturell, politisch), wohingegen dem „Recht auf Stadt“ eine Klassenabgrenzung zwischen dem von der ersten urbanen Revolution profitierendem Kapital und der zeitgleich dazu peripherisierten Arbeiterklasse, immanent ist.
Ebenfalls ähnlich ist der Anspruch eines umfassenden Wandels des politischen und gesellschaftlichen Systems: Die Populist*innen streben dabei meist nach der Verwirklichung einer „populistischen Demokratie“, in der der nur durch sie vertretene Volkswille herrscht. Damit einhergehend fordern sie direktdemokratische Instrumenten (u.a. Bürgerentscheide und Referenden), was u.U. zu einem unzureichenden Minderheitenschutz führt. Auch dem „Recht auf Stadt“ ist ein revolutionäres Potenzial zu eigen, wobei es sowohl die allgemeine soziale Ordnung (Staat und kapitalistische Weltökonomie) als auch das individuelle Alltagsleben über die Neugestaltung des Urbanen zu ändern versucht.
Überdies haben beide Konzepte den Anspruch bestimmte gesellschaftlich marginalisierte Gruppen wieder ins System einzubeziehen. Die Populist*innen zielen dabei auf die sogenannten „Modernisierungsverlierer*innen“ - jene Personen, die sozioökonomisch sowie soziokulturell durch die Modernisierung unter einen erhöhten Konkurrenzdruck geraten sind, von sozialen Abstiegsängsten geplagt sind und daher Globalisierungsprozessen (ökonomisch und Migration) negativ gegenüberstehen. Zu jenen werden vor allem Arbeiter*innen gezählt. Empirisch zeigt sich durchaus, dass Arbeiter*innen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit rechtspopulistisch wählen. (Rechts-)Populist*innen greifen jene Ängste auf, indem sie meist protektionistische Wirtschaftsmaßnahmen, die Begrenzung der Einwanderung und den Austritt aus internationalen Organisationen wie beispielsweise der EU fordern.
Das Konzept „Recht auf Stadt“ spricht ein ähnliches Klientel an - die „Urbanisierungsverlierer*innen“. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei der Urbanisierung und Modernisierung um miteinander zusammenhängende Prozesse handelt, ist dieses wenig verwunderlich. Lefevbre sieht infolge der Urbanisierung das Proletariat zu Ungunsten des Kapitals an den gesellschaftlichen und geographischen Rand gedrängt. Kritisch gegenüberstellen sollte man, dass eine rechtspopulistische Partei nicht allein wegen ihres Protestpotenzials und ihrer Anti-Establishment-Kritik gewählt wird, sondern auch aufgrund ihrer rechten Orientierung (Nationalismus, Rassismus etc.). Lediglich Protestwähler*innen, die die rechtspopulistische Partei primär aufgrund ihrer AntiEstablishment-Haltung und der Forderung eines Wandels wählen, dürften sich durch ein „Recht auf Stadt“ angesprochen fühlen. Wähler*innen für die, die rechte Orientierung bei ihrer Wahlentscheidung ausschlaggebend ist, werden sich hingegen weit weniger angesprochen fühlen.
Bisher wurden Ähnlichkeiten zwischen den Konzepten aufgezeigt, aber was macht das „Recht auf Stadt“ denn nun nicht populistisch bzw. warum nutzen Rechtspopulist*innen es nicht selbst? Es ist die Logik der Differenz: Das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Meinungen wird als notwendig und schöpferisch erachtet und zugelassen. So sollen wie bereits skizziert, die an den Rand gedrängten Gruppen in Bürgerdialogen oder durch direktdemokratische Elemente am Diskurs über die Stadtentwicklung beteiligt und gehört werden. Der Populismus hingegen nimmt an, dass letztendlich ein einziger Gemeinwillen im Volk existiert, den allein die populistische Gruppierung im politi- schen System vertritt. Anhand dessen wird abermals der anti-pluralistische Charakter des Populismus deutlich.
Aus dem Berücksichtigen und der politikpraktischen Umsetzung der Interessen und Meinungen jener peripherisierten Gruppen könnte u.U. eine erhöhte Responsivität und infolgedessen einer ansteigenden Zufriedenheit mit dem politischen System und seiner Akteure resultieren. Man wäre somit weniger empfänglich für die Anti-EstablishmentRhetorik der Populist*innen.
Bei der politischen Machbarkeit ist kritisch anzumerken, dass der Terminus „Recht auf Stadt“ potenziell missverstanden werden kann. Ohne das Wissen um den intellektuellen Hintergrund, welcher Urbanität sowie Stadt als sozialen und nicht als geographischphysischen Raum versteht, wird leicht der Anschein einer negativen Abwertung von allem Nicht-Städtischen erzeugt. So läuft man Gefahr, die diffuse und untergründige sozioräumliche Wertung zwischen Stadt und Land zu reproduzieren, was die Bereitschaft der „ländlicheren“ Bevölkerung für ein „Recht auf Stadt“ einzutreten, dämpfen dürfte. Daher empfehle ich eine Umbenennung.
Ebenfalls nachtteilig kann der marxistisch-linke Hintergrund des Konzepts, welches grundsätzlich von der Klassenunterscheidung zwischen Arbeit und Kapital ausgeht, auf die politische Umsetzbarkeit wirken. Gerade rechts-konservative Parteien und Bürger*innen werden sich vor diesem ideologisch-linken Hintergrund schwertun, das Konzept in Gänze zu akzeptieren und in praktische Politik umzusetzen.
Alles in allem kann die These als plausibel insbesondere gegenüber den rechtspopulistischen Protestwähler*innen angesehen werden, jedoch ist die politische Umsetzbarkeit ohne maßgebliche Konzeptänderungen am „Recht auf Stadt“ zweifelhaft. Durchaus paradox ist, dass das Fehlen eines ursprünglich aus der marxistisch-linken Denkrichtung stammenden Konzepts möglicherweise eine Rechtfertigung für rechtspopulistisches Wählen zu sein scheint. Interessant wäre, ob die LINKE von der Forderung eines „Rechts auf Stadt“ profitieren könnte?
Es bleibt - die Gegenstrategien gegenüber Rechts-Populist*innen auf eine Maßnahme herunterzubrechen, wird der komplexen Thematik nicht gerecht. Vielmehr müsste das „Recht auf Stadt“ in einem viel umfassenderen Maßnahmenkatalog integriert werden.
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- Arbeit zitieren
- A. Maretzki (Autor:in), 2017, "Recht auf Stadt" als Gegenmittel auf den europäischen Populismus?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412809
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