Ein einzigartiger Fall in der Geschichte deutscher Literatur:
Mehr als hundert Jahre nach dem Tode eines bedeutenden Schriftstellers erscheinen zum ersten Male dessen „Sämtliche Werke“! Weniger zu den Vergessenen als vielmehr zu den Verschwiegenen zählte bislang dieser Autor. Wesentliche Züge deutscher Geschichte spiegeln sich in seinem Leben und Schaffen, aber auch in der Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte seiner Schöpfungen wider.1
Dieses Zitat Walter Dietzes fasst in wenigen Worten das zusammen, was Georg Weerth so interessant macht. Es klingt aber zudem an, dass er ein Autor ist, der heute auch vielen Literaturwissenschaftlern kein Begriff ist. Dies spiegelt sich deutlich in der Literatur wider, die sich mit dem Schriftsteller beschäftigt. Die Quellenlage ist sehr übersichtlich, und das obwohl Friedrich Engels, einer der bekanntesten deutschen Philosophen, Weerth als den ersten und bedeutendsten Dichter des deutschen Proletariats bezeichnet hat. Die vorliegende Arbeit soll keineswegs daran anknüpfen, dass die Werke dieses Autors nicht die Beachtung gefunden haben, die sie sicherlich verdient hätten. Vielmehr soll hier der Versuch unternommen werden zu skizzieren, wie Georg Weerth seine Zeit wahrgenommen und beurteilt hat und wie sich diese Epoche der Restauration und Revolution in seinen Werken wiederfindet.
Zunächst sollen das Leben und der Werdegang des Dichters näher betrachtet werden. Darin spielen vor allem seine Handelstätigkeit und die Freundschaft mit Marx und Engels sowie seine Zugehörigkeit zum Bund der Deutschen Kommunisten eine tragende Rolle in seinem Schaffen. Um diese Fragestellung zu entwickeln ist es auch nötig, sich eingehend mit der Zeit von der industriellen Revolution bis zu der von 1848 auseinander zu setzen. Allerdings sollen die Biographie Weerths und der zeitliche Hintergrund nicht losgelöst von seinen Werken gesehen werden. In diesen Kapiteln werden vor allem einige seiner Gedichte, aber auch Auszüge aus seinen Briefen mit einfließen. Schließlich soll exemplarisch sein Prosawerk Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben untersucht werden. Es steht in dieser Arbeit stellvertretend für den satirischen Stil Georg Weerths. Anschließend soll der Versuch unternommen werden zusammenfassend zu umreißen, wie der Dichter seine Zeit gesehen und beurteilt hat.
Inhalt
Einleitende Gedanken
Biographie
Die Revolution von 1848/49
Humoristische Skizzen aus dem deutschen
Handelsleben als bürgerliche Satire über die Revolution 1848
Schlussbetrachtung
Anhang
Literaturverzeichnis
Einleitende Gedanken
Ein einzigartiger Fall in der Geschichte deutscher Literatur: Mehr als hundert Jahre nach dem Tode eines bedeutenden Schriftstellers erscheinen zum ersten Male dessen „Sämtliche Werke“! Weniger zu den Vergessenen als vielmehr zu den Verschwiegenen zählte bislang dieser Autor. Wesentliche Züge deutscher Geschichte spiegeln sich in seinem Leben und Schaffen, aber auch in der Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte seiner Schöpfungen wider.[1]
Dieses Zitat Walter Dietzes fasst in wenigen Worten das zusammen, was Georg Weerth so interessant macht. Es klingt aber zudem an, dass er ein Autor ist, der heute auch vielen Literaturwissenschaftlern kein Begriff ist. Dies spiegelt sich deutlich in der Literatur wider, die sich mit dem Schriftsteller beschäftigt. Die Quellenlage ist sehr übersichtlich, und das obwohl Friedrich Engels, einer der bekanntesten deutschen Philosophen, Weerth als den ersten und bedeutendsten Dichter des deutschen Proletariats bezeichnet hat. Die vorliegende Arbeit soll keineswegs daran anknüpfen, dass die Werke dieses Autors nicht die Beachtung gefunden haben, die sie sicherlich verdient hätten. Vielmehr soll hier der Versuch unternommen werden zu skizzieren, wie Georg Weerth seine Zeit wahrgenommen und beurteilt hat und wie sich diese Epoche der Restauration und Revolution in seinen Werken wiederfindet.
Zunächst sollen das Leben und der Werdegang des Dichters näher betrachtet werden. Darin spielen vor allem seine Handelstätigkeit und die Freundschaft mit Marx und Engels sowie seine Zugehörigkeit zum Bund der Deutschen Kommunisten eine tragende Rolle in seinem Schaffen. Um diese Fragestellung zu entwickeln ist es auch nötig, sich eingehend mit der Zeit von der industriellen Revolution bis zu der von 1848 auseinander zu setzen.
Allerdings sollen die Biographie Weerths und der zeitliche Hintergrund nicht losgelöst von seinen Werken gesehen werden. In diesen Kapiteln werden vor allem einige seiner Gedichte, aber auch Auszüge aus seinen Briefen mit einfließen. Schließlich soll exemplarisch sein Prosawerk Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben untersucht werden. Es steht in dieser Arbeit stellvertretend für den satirischen Stil Georg Weerths.
Anschließend soll der Versuch unternommen werden zusammenfassend zu umreißen, wie der Dichter seine Zeit gesehen und beurteilt hat.
Biographie
Georg Weerth wird 1822 in Detmold geboren und stammt aus einer religiös beeinflussten Familie. Sein Vater Ferdinand ist Pfarrer, ehe er Generalsuperintendant für das Fürstentum Lippe wird, seine Mutter Wilhelmine ist die Tochter eines Predigers. Einer von Weerths drei Brüdern, Wilhelm, wird ebenfalls Pfarrer. Ungefähr zur selben Zeit erblicken Marx und Engels das Licht der Welt: Ersterer wird 1818 in Trier geboren, sein politischer Gefährte 1820 in Elberfeld. Der Dichter Christian Dietrich Grabbe, dessen Haus direkt neben Georg Weerths Elternhaus in Detmold steht, ist im Geburtsjahr Weerths 21 Jahre alt. In direkter Nachbarschaft zum Haus der Familie Weerth befindet sich das Geburtshaus von Freiligrath.
Nachdem Georg Weerth 1836 das Gymnasium in Detmold verlassen hat, absolviert er in Elberfeld eine kaufmännische Lehre, 1840 findet er eine Anstellung als Buchhalter bei der Firma Graf Meinertshagen in Köln. 1842 ist der Schriftsteller in Bonn bei einem angesehenen Verwandten beschäftigt. Dieser ist Textilfabrikant, Grundbesitzer, Bankier und königlich preußischer Kommerzienrat. Aufgrund dieser Funktion möchte der Bonner Oberbürgermeister von ihm eine Petition hintergehen lassen. Darin geht es um die Judenemanzipation und die Pressefreiheit. Als Georg Weerth dieses falsche Spiel bemerkt, prangert er das Verhalten der beiden Würdenträger an. Aus diesem Grund muss er hinnehmen, dass er seine Stellung verliert, doch das Glück bleibt ihm hold: Sein Verwandter schickt ihn 1843 nach Bradford/Grafschaft Yorkshire, England. Dort arbeitet der 21-Jährige in einem Handelsgeschäft.
Es wird an diesen Stationen seines Lebens bereits deutlich, dass Georg Weerth das Handelswesen, das er später in den humoristischen Skizzen beschreiben wird, aus eigener Erfahrung kennt. Erkennbar ist aber auch, dass er schon in jungen Jahren politisch Stellung bezieht, was sich durch seine Erfahrungen in England noch verstärken wird. Bevor er Bonn verlässt, schreibt er für die Kölnische Zeitung und tritt in einem Artikel für Ludwig Feuerbachs 1841 publiziertes Werk Das Wesen des Christentums ein. Auf diese Weise nähert er sich an den Kreis um die Rheinische Zeitung an, deren Mitarbeiter unter anderem Karl Marx ist. Am fünften Februar 1843 erscheint in der Kölnischen Zeitung Weerths erstes Gedicht, danach verlässt er Deutschland. In England, genauer gesagt in der Stadt Manchester, macht er ein Jahr darauf die Bekanntschaft Friedrich Engels’, die sehr prägend für sein zukünftiges Schaffen sein wird, genauso wie die Lektüre Feuerbachs, über die er selbst urteilte: „Ich las Feuerbach, der eine vollständige Revolution bei mir zu Wege brachte“[2] Am 25. 6. 1845 schreibt Weerth seinen ersten Brief an Friedrich Engels, im darauf folgenden Juli treffen sich die beiden Männer in Brüssel. Dadurch entsteht auch die Bekanntschaft mit Marx und den belgischen Exilsozialisten. Im Zusammenhang mit der Verbannung der deutschen Sozialisten ist Georg Weerths Gedicht Die deutschen Verbannten in Brüssel[3] zu sehen, das am 27. 6. 1845 veröffentlicht wird. Darin beschreibt er die Situation der Exilanten im Ausland, deren von Heimweh geprägte Gedanken, aber auch die politische Situation in Deutschland. Der Ton des Gedichts ist durchweg spöttisch. Weerth spart aber auch nicht an satirischen Anspielungen gegenüber den im Exil Lebenden, wie beispielsweise in der zweiten Strophe. Das Mitgefühl für die Ausgestoßenen scheint sich in Grenzen zu halten, man kann spekulieren, dass Weerth sich eventuell darüber im Klaren ist, dass es in dieser Zeit viel größeres Elend gibt. Eventuell sieht Weerth an der Situation aber auch Positives für die deutschen Sozialisten, die sich im Exil der scharfen Überwachung entziehen können., diese These wird durch die neunte Strophe gestützt. In diesem Teil des Gedichts erkennt man auch klare Kritik des Autors an der damals in Deutschland vorherrschenden politischen Situation, die geprägt war von Repression und Zensur. Es kommt darüber hinaus zum Ausdruck, auf welche Ablehnung die neuen sozialistischen Ideen, aber wahrscheinlich nicht nur diese, gestoßen sind.
Im Gedicht Die deutschen Verbannten in Brüssel nimmt Weerth zwar die Stellung eines Außenstehenden ein, indem er die Exilanten in der dritten Person und nicht in der ersten Person Plural beschreibt. Man könnte also meinen, dass er sich ihnen zu dieser Zeit nicht zugehörig fühlt. In einem Brief, den er am 19. Juli 1845 an die Mutter schreibt, stellt er dies jedoch anders dar: „Ich gehöre zu den ‚Lumpen-Kommunisten’ [...] mein sehr lieber Freund Friedrich Engels aus Barmen [...]“[4].
1846 übernimmt Georg Weerth eine Abteilung der Bradforder Firma, die auf dem Kontinent angesiedelt ist. Aus diesem Grund bereist er den Westen Europas.
Ein Jahr später gibt Hermann Püttmann, mit dem Weerth seit Jugendzeiten eine Freundschaft verbunden und der ihn gefördert hat, das Album heraus. In diesem Band erscheint der zweite Zyklus der Weerthschen Handwerksburschenlieder und die Lieder aus Lancashire, im selben Band finden sich auch Heines Schlesische Weber und Poesien von Freiligrath, Meißner, Beck und Weitling.
1847 beendet Georg Weerth die Arbeit am Manuskript der Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten. Das Werk wird aber erst 110 Jahre später im dritten Band von Bruno Kaisers Gesamtausgabe veröffentlicht.
Nachdem der Schriftsteller 1846 seine Geschäfte nach Brüssel verlegt und hier zusammen mit Marx das erste kommunistische Korrespondenzkommitee gegründet hat, hält er am 18. September des darauf folgenden Jahres eine Rede auf dem Brüsseler Freihandelskongress. Warum Marx oder Engels nicht selbst diesen Vortrag gehalten haben, ist unklar, es wird aber spekuliert, dass sie sich über die Frage der Schutzzölle nicht einig gewesen sind. Weerth jedoch spricht sich grundsätzlich gegen diese Abgaben aus, damit schließt er sich der einhelligen Meinung der bürgerlichen Kaufleute an und wendet sich gegen den konservativen Adel. Darüber hinaus wagt der als impulsiv beschriebene Weerth[5] einen außergewöhnlichen Schritt: In seiner Rede macht er klar, dass Vertreter des Proletariats auf dem Kongress nicht zu finden sind, und nimmt diesen Missstand zum Anlass, für diese zu sprechen:
...; aber wo sind die Sprecher der Arbeiter? Erlauben Sie mir daher, meine Damen und Herren, im Namen der Arbeiter das Wort zu nehmen.[6]
Georg Weerth geht aber noch weiter, indem er das Bürgertum auffordert, auch an die Belange der Arbeiter zu denken. Ihre Lage könne nicht allein durch den Wegfall der Schutzzölle verbessert werden, das Bürgertum müsse über dieses Problem hinaus Lösungen finden:
Sie (die Arbeiter - F.V.) verlangen eine materielle Genugtuung. Sie verlangen Taten von Ihnen; Ihren Worten trauen sie nicht mehr...; die Arbeiter,..., die sich in den Gassen von Paris und Brüssel 1830 für Sie geschlagen, erinnern sich sehr gut, dass sie damals von Ihnen geliebkost und fetiert wurden, dass sie aber- als sie später Brot forderten, Arbeit verlangten, um zu leben-, dass sie da in Paris und in Lyon und in Manchester statt des Brotes Flintenkugeln erhielten. Und Sie, meine Herren aus Deutschland, denken Sie an das Riesengebirge und seine Weber; die Weber haben nichts vergessen und viel gelernt. Darum nochmals sage ich es Ihnen, meine Herren: wollen Sie den Arbeitern wirklich helfen, so denken Sie auf etwas mehr als den Freihandel![7]
Die Rede des Schriftstellers sorgt für Furore, da zuvor noch nie bürgerliche und sozialistische Ideen nebeneinander vor einem internationalen Forum von Politikern und Ökonomen vorgetragen worden sind. Dies hat zur Folge, dass viele Zeitschriften über das Ereignis berichten, Weerth werden zahlreiche Ehrenmitgliedschaften in Vereinen angeboten. Trotz dieses großen Erfolges wird der Schriftsteller von Engels kritisiert, da er der Meinung ist, dieser engagiere sich nicht genug. Trotzdem wird Weerth in den Vorstand der „Internationalen Demokratischen Assoziation“ gewählt, deren Vizepräsident Karl Marx ist. Zusammen mit ihm und Engels nimmt der Dichter vom 29.11. bis zum 8.12.1847 am Kongress des Bundes der Kommunisten in London teil.
1848 reist Weerth als Abgeordneter dieser Vereinigung nach Paris, wo er an Versammlungen und Demonstrationen teilnimmt und sich so für die junge französische Republik einsetzt. Die Ereignisse in Frankreich beeindrucken Weerth zutiefst und er schreibt in einem Brief an die Mutter:
O liebe Mutter! Ich kann Dir nicht sagen, was ich hier seit 14 Tagen gesehen und gehört habe! So etwas lässt sich nicht wiedererzählen, man muss dabeigewesen sein, um zu begreifen, wie man auf offener Strasse weinen kann! (...) Diese Revolution wird die Gestalt der Erde ändern- und das ist auch nötig! –Vive la République![8]
Bald greift die Revolution auch auf Deutschland über und Weerth kehrt am 20.März nach Köln in die Heimat zurück.
Die Revolution von 1848/49
Von 1840 an beginnt das Bürgertum sich vom feudalistischen System Friedrich Wilhelms IV abzuwenden. Gleichzeitig gewinnt diese aufstrebende Bevölkerungsklasse zunehmend an Macht und Einfluss, vor allem in den Industriezentren, die sich damals vor allem auf Berlin, Sachsen, Schlesien (vgl. Heines Schlesische Weber) und auf das Rheinland konzentrierten.
In dieser Zeit sind die gesellschaftlichen Veränderungen der Industriellen Revolution noch immer spürbar und längst nicht abgeschlossen. Begonnen hat diese Umwälzung der Agrar- und Adelsgesellschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts in England, um von dort aus auf das europäische Festland überzugreifen. In der Mitte des 19. Jahrhunderst erfasst die Industrielle Revolution Deutschland. Die Veränderungen,die das mit sich bringt, wirken sich auf viele Bereiche aus: Produktionsverfahren, Technik, Energiequellen, Transport, Märkte, Bevölkerungszahl und vor allem die Struktur der Gesellschaft. Carlo M. Cipolla fasst die Ereignisse kurz und prägnant, wenn auch recht plakativ, zusammen:
„Die industrielle Revolution verwandelt die Menschen von Bauern und Schafhirten in Betätiger von Maschinen, welche mit lebloser Energie angetrieben werden.“[9]
Die Produktion, die zuvor meist auf Handwerk, Manufaktur oder Verlagswesen bestand beschränkt war, entwickelte sich weiter zur industriellen Produktionsweise. Dies hatte zur Folge, dass eine ganz neue Bevölkerungsgruppe entstand: die Industriearbeiter bzw. das Proletariat. Mehr und mehr wird durch die Umwälzungen der Produktion auch den Handwerkern und Bauern, die zuvor relativ eigenständig gewirtschaftet haben, die Existenzgrundlage entzogen und sie werden zu Fabrikarbeitern. Jedoch bleibt dieses vorindustriell-kleinbürgerliche Dasein das Ziel und Ideal der einfachen Menschen. Zunächst wird in der aufkeimenden Industrie nur Negatives gesehen, sie wird verantwortlich gemacht für das soziale Elend. Außerdem ist das Proletariat, das neben dem Bürgertum die ausschlaggebende Schicht des Industriezeitalters ist, weit davon entfernt, ein Klassenbewusstsein entwickelt zu haben. Georg Weerth schreibt unter dem Eindruck dieser umwälzenden Ereignisse Gedichte wie Die Industrie oder Arbeite[10]. Besonders in der fünften und sechsten Strophe des letztgenannten Gedichts kommen das Elend und die Ausweglosigkeit der Industriearbeiter zum Ausdruck.
Die Menschen selbst, die von Not betroffen sind, suchen zwar nach einer Veränderung der Zustände, sind aber noch sehr unorganisiert. Außerdem werden die neuen Arbeits- und Produktionsbedingungen immer noch als Ursache von Not und Elend angesehen. Es finden Maschinenzerstörungen statt, da die Arbeiter sich noch nicht darüber im Klaren sind, dass sie bessere Lebensbedingungen nur auf der Grundlage industrieller Produktion erreichen können. Vielfach wird nämlich nur eine Rückkehr zum alten Verlagswesen bzw. der Manufaktur oder dem Handwerk angestrebt. Allein die Versorgung mit Nahrungsmitteln wäre ohne industrielle Produktion nicht mehr möglich, da es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Bevölkerungszuwachs von 40%[11] gegeben hat. Die Landwirtschaft verliert an wirtschaftlicher Bedeutung, kann aber gleichzeitig ihren Ertrag steigern. Dies wird jedoch dadurch relativiert, dass auch der Verbrauch von landwirtschaftlichen Erzeugnissen steigt. Es verändert sich in diesem Bereich sehr viel dadurch, dass eine große Zahl Bauern sich gezwungen sieht, die eigenen Höfe an Großgrundbesitzer abzugeben. Die wirtschaftlichen Engpässe, die dazu geführt haben, rühren vor allem von Schulden, Zinslast und Besteuerung her. Für die Landarbeiter gibt es durch neue Gesetze mehr Freiräume, jedoch fehlt ihnen der Schutz der patriarchalischen Hausgemeinschaft. Die wirtschaftlichen Veränderungen und Missstände bringt Georg Weerth im Gedicht Die rheinischen Weinbauern[12] zum Ausdruck. Darin ist beschrieben, wie die Winzer sich über eine gute Ernte freuen, doch dieses Glück währt nicht lange, da sie gezwungen werden, immense Abgaben zu leisten.
Im Bereich der Landwirtschaft, die die Versorgung mit Lebensmitteln sicherstellt, müssen zwingend die Missernten in den Jahren 1816/17 und 1846/47 sowie die Unterproduktion durch die Kartoffelkrankheit in den Jahren 1845 und 1846 erwähnt werden: Diese führen zu extremen Einbrüchen in der Ernährung, da sie einen drastischen Anstieg der Lebensmittelpreise nach sich ziehen. Dadurch bringen diese Jahre Krankheit und Tod für Millionen Menschen in Europa. Georg Weerth hebt die Bedeutung der Kartoffel als Hauptnahrungsmittel der ärmeren Schichten in Das Lied von der verunglückten Kartoffel[13] hervor. In diesem Gedicht wird die Knolle personifiziert und sie spricht zu Stoffel, einem armen Mann, mit dem sie im selben Haus wohnt. Diese Situation verdeutlicht, dass das Schicksal der Armen eng mit dem der Kartoffel verknüpft ist. In den ersten drei Strophen tritt sie als barmherzige, am Schicksal der Armen Anteil nehmende Persönlichkeit auf. Von allen Nahrungsmitteln war sie zur damaligen Zeit das preiswerteste, viele Menschen konnten sich nichts anderes zum Essen leisten. Somit war die Kartoffelknolle auch in der Geschichte so etwas wie ein barmherziger Engel der Armen, da sie sicherlich viele Menschen vor dem Hungertod bewahrt hat.
Diese Notzeiten werden als einer der entscheidenden Faktoren für die Revolution von 1848 angesehen. Dazu kommt die Konjunkturkrise, die einen Rückgang der Produktion nach sich zieht. Dadurch verlieren viele Menschen ihre Arbeit und damit ihre Lebensgrundlage, da die Gesellschaft zu dieser Zeit weit von sozialen Absicherungen wie beispielsweise einer Arbeitslosenversicherung entfernt ist. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Löhne von 1800 bis 1850 auf dem gleichen Niveau bleiben, obschon die Preise steigen. Die Ursache dafür ist das Überangebot an Arbeitskräften. Hinzu kommt das so genannte Truck-System, das bedeutet, dass den Arbeitern ihr Gehalt nur in Waren ausbezahlt wird, die sie dann selbst verkaufen oder wiederum tauschen müssen.
In Preußen gab es im Jahre 1846 555000 Arbeiter in 180000 Fabriken, dagegen eine Zahl von 1,4 Millionen landwirtschaftliche Arbeiter. In dieser Gegenüberstellung erscheint das Industrieproletariat relativ bedeutungslos, aber man muss sich vor Augen führen, dass es zahlenmäßig rasant angestiegen ist: Von 1816 bis 1846 gab es eine Vergrößerung dieser Gruppe um 300 Prozent. Es ist wichtig, sich in diesem Zusammenhang klarzumachen, dass es eine Ballung in den Industriezentren gegeben hat. Führt man sich jedoch den sprunghaften Anstieg der Industriearbeiter vor Augen, so kann man sich vorstellen, dass die Städte auf diese Massen von Menschen nicht ausgerichtet waren. Deshalb hausten sie dort unter übelsten Bedingungen, in der Regel bewohnten sie in großer Zahl winzig kleine Kammern.
[...]
[1] Dietze, Walter: Georg Weerths geistige Entwicklung und künstlerische Meisterschaft. In: Dietze, Walter: Reden, Vorträge, Essays. S. 128- 169. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun. 1972. S. 128.
[2] Georg Weerth, zitiert nach: Hotz, Karl: Georg Weerth- Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit im literarischen Vormärz. In: Buck, Theo, Steinbach, Dietrich: Literaturwissenschaft- Gesellschaftswissenschaft. Materialien und Untersuchungen zur Literatursoziologie Nr. 22. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1976, S. 123.
[3] Weerth, Georg, Kaiser, Bruno (Hg.),: Sämtliche Werke, fünf Bände, Bd. I. Berlin: Aufbau- Verlag 1956/57. S. 245-247. Siehe Anhang, Nr. 1.1.
[4] Zitiert nach: Hotz, Karl: Georg Weerth- Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit im literarischen Vormärz. In: Buck, Theo, Steinbach, Dietrich: Literaturwissenschaft- Gesellschaftswissenschaft. Materialien und Untersuchungen zur Literatursoziologie Nr. 22. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1976, S. 123.
[5] Vgl. Vaßen, Florian: Georg Weerth. Ein politischer Dichter des Vormärz und der Revolution von 1848/ 49. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1971. S. 20.
[6] Weerth, Georg, Kaiser, Bruno (Hg.),: Sämtliche Werke, fünf Bände, Bd. II. Berlin: Aufbau- Verlag 1956/57. S. 128-133, hier: S. 128. Siehe Anhang, Nr. 3.0.
[7] Weerth, Georg, Kaiser, Bruno (Hg.),: Sämtliche Werke, fünf Bände, Bd. II. Berlin: Aufbau- Verlag 1956/57. S. 128-133, hier: S. 133. Siehe Anhang, Nr. 3.0.
[8] Weerth, Georg, Kaiser, Bruno (Hg.),: Sämtliche Werke, fünf Bände, Bd. V. Berlin: Aufbau- Verlag 1956/57. S. 280f. Siehe Anhang, Nr. 2.0.
[9] Carlo M. Cipolla, zitiert nach: Ploetz, Dr. Carl (Begründer): Der große Ploetz. Die Daten- Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge. 32. neubearbeitete Auflage (Februar 1998). Sonderausgabe mit freundlichen Genehmigung der COMET MA-Service- und Verlagsgesellschaft mbH für Zweitausendeins. Frankfurt a. M. S. 690.
[10] Weerth, Georg, Kaiser, Bruno (Hg.),: Sämtliche Werke, fünf Bände, Bd. I. Berlin: Aufbau- Verlag 1956/57. S. 196. Siehe Anhang, Nr. 1.5.
[11] Quelle: Ploetz, Dr. Carl (Begründer): Der große Ploetz. Die Daten- Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge. 32. neubearbeitete Auflage (Februar 1998). Sonderausgabe mit freundlichen Genehmigung der COMET MA-Service- und Verlagsgesellschaft mbH für Zweitausendeins. Frankfurt a. M. S. 694.
[12] Weerth, Georg, Kaiser, Bruno (Hg.),: Sämtliche Werke, fünf Bände, Bd. I. Berlin: Aufbau- Verlag 1956/57. S. 195. Siehe Anhang, Nr. 1.3.
[13] Weerth, Georg, Kaiser, Bruno (Hg.),: Sämtliche Werke, fünf Bände, Bd. I. Berlin: Aufbau- Verlag 1956/57. S. 197. Siehe Anhang, Nr. 1.4.
- Citation du texte
- Stefanie Held (Auteur), 2005, Georg Weerth als Betrachter seiner Zeit und der Revolution von 1848/ 49, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40944
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