Diese Hausarbeit entsteht im Rahmen des Seminars „Medien des Theaters I – Licht“ am Institut für Theaterwissenschaft/ Kulturelle Kommunikation der Humboldt-Universität zu Berlin. Schwerpunkte des Seminars waren die Geschichte des Einsatzes von Licht im Theater, die Entwicklung von der bloßen Beleuchtung zum Gestalten mit Licht, sowie die Beschäftigung mit Theaterkonzeptionen und Bereichen außerhalb des Theaters, die sich durch besonderen Einsatz von Licht auszeichnen. Robert Wilson kam hier zur Sprache als der moderne Theaterregisseur, der unter anderem durch die aufwendige lichttechnische Gestaltung seiner Aufführungen berühmt wurde und bei dem Licht nicht ein dienendes Element des Theaters, sondern ein eigenständiges gestalterisches Mittel darstellt. Im Folgenden soll es aber nicht um das Licht, sondern um die Rolle der Zeit in Wilsons Theater gehen. Dazu stellt sich die Frage, was die besondere Faszination an Wilsons Umgang mit der Zeit ausmacht und wie sich die Zeit auf die anderen Bereiche und Elemente der Inszenierung auswirkt. Betrachtet werden, nach einer kurzen allgemeinen Einführung in Wilsons Theater, die Struktur der Zeit und ihre dramaturgische Funktion, die Bedeutung der Dehnung der Zeit in Wilsons Theaterarbeiten, die enge Verknüpfung von Zeit und Raum und die Auswirkung von Wilsons speziellem Umgang mit Zeit auf das Rezeptionsverhalten der Zuschauer. Dabei werden immer Wilsons frühere Arbeiten bis zirka 1985 im Mittelpunkt stehen, da in diesen die Langsamkeit eine entscheidendere Rolle spielt als in seinen späteren Werken, die sich durch einen schnelleren Rhythmus auszeichnen. Um den Aspekt der Zeit und ihren Bezug auf den Raum und die anderen Bühnenelemente noch näher zu beleuchten, soll durch Hinzuziehen von Adolphe Appias „Die Musik und die Inscenierung“ noch eine andere Perspektive auf die Thematik eröffnet werden. Appia beschäftigt sich in seinem Werk mit der Musik als strukturierendem und übergeordnetem Element für die Inszenierung. Damit übernimmt sie eine Funktion, die der der Zeit bei Wilson sehr nahe kommt, zumal Appia die Musik auch als Zeitmaß der Inszenierung dient. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Konzeptionen können zu einem tieferen Verständnis von Wilsons Zeiteinsatz beitragen. Ein näherer Vergleich der Konzepte findet in den einzelnen Kapiteln themenbezogen statt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Theater des Robert Wilson
3. Zeit
3.1. Struktur der Zeit
3.2. Langsamkeit und Dauer
3.3. Zeit und Raum
3.4. Rezeption – gegen den Widerstand
4. Schlusswort
5. Literatur
1. Einleitung
Diese Hausarbeit entsteht im Rahmen des Seminars „Medien des Theaters I – Licht“ am Institut für Theaterwissenschaft/ Kulturelle Kommunikation der Humboldt-Universität zu Berlin. Schwerpunkte des Seminars waren die Geschichte des Einsatzes von Licht im Theater, die Entwicklung von der bloßen Beleuchtung zum Gestalten mit Licht, sowie die Beschäftigung mit Theaterkonzeptionen und Bereichen außerhalb des Theaters, die sich durch besonderen Einsatz von Licht auszeichnen.
Robert Wilson kam hier zur Sprache als der moderne Theaterregisseur, der unter anderem durch die aufwendige lichttechnische Gestaltung seiner Aufführungen berühmt wurde und bei dem Licht nicht ein dienendes Element des Theaters, sondern ein eigenständiges gestalterisches Mittel darstellt.
Im Folgenden soll es aber nicht um das Licht, sondern um die Rolle der Zeit in Wilsons Theater gehen. Dazu stellt sich die Frage, was die besondere Faszination an Wilsons Umgang mit der Zeit ausmacht und wie sich die Zeit auf die anderen Bereiche und Elemente der Inszenierung auswirkt. Betrachtet werden, nach einer kurzen allgemeinen Einführung in Wilsons Theater, die Struktur der Zeit und ihre dramaturgische Funktion, die Bedeutung der Dehnung der Zeit in Wilsons Theaterarbeiten, die enge Verknüpfung von Zeit und Raum und die Auswirkung von Wilsons speziellem Umgang mit Zeit auf das Rezeptionsverhalten der Zuschauer. Dabei werden immer Wilsons frühere Arbeiten bis zirka 1985 im Mittelpunkt stehen, da in diesen die Langsamkeit eine entscheidendere Rolle spielt als in seinen späteren Werken, die sich durch einen schnelleren Rhythmus auszeichnen.
Um den Aspekt der Zeit und ihren Bezug auf den Raum und die anderen Bühnenelemente noch näher zu beleuchten, soll durch Hinzuziehen von Adolphe Appias „Die Musik und die Inscenierung“ noch eine andere Perspektive auf die Thematik eröffnet werden. Appia beschäftigt sich in seinem Werk mit der Musik als strukturierendem und übergeordnetem Element für die Inszenierung. Damit übernimmt sie eine Funktion, die der der Zeit bei Wilson sehr nahe kommt, zumal Appia die Musik auch als Zeitmaß der Inszenierung dient. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Konzeptionen können zu einem tieferen Verständnis von Wilsons Zeiteinsatz beitragen. Ein näherer Vergleich der Konzepte findet in den einzelnen Kapiteln themenbezogen statt.
2. Das Theater des Robert Wilson
Die Wirkung von Robert Wilsons Theateraufführungen liest man am besten aus einem offenen Brief heraus, den der französische Surrealist Aragon nach dem Besuch einer Aufführung von The Deafman Glance an den toten Freund André Breton schrieb:
„Die Welt eines tauben Kindes öffnete sich uns wie ein stummer Mund. Über vier Stunden wohnen wir in dieser Welt, dort, wo sechzig Personen in Absenz der Worte, der Töne keine Sprache als die Bewegung haben. Höre, André, was ich denen sage, die Ohren haben für Ungehörtes: Nie habe ich, seit ich lebe, etwas Schöneres gesehen.“[1]
Wilson, der Architektur studiert hat und für einige Zeit Maler war, beschäftigt sich auch in seinen Theaterarbeiten vorrangig mit visuellen und räumlichen Formen. Seine Aufführungen erinnern an eine Folge lebender Bilder auf der Bühne, an mit Skulpturen ausgestattete Landschaften.[2] Das Design jeder Einzelheit – der Bühne, der Kostüme, des Lichts, des Tons, der Farben, der Bewegungen der Darsteller usw. – ist nicht dem Text oder der dramatischen Situation untergeordnet; die visuellen und akustischen Elemente sind nicht bloße Dekoration, sie sind ein eigener Inhalt der Arbeiten. Oft wird Wilsons Theater aufgrund der starken Betonung des Visuellen als ein Theater der Bilder bezeichnet.[3] Dabei ist die akustische Komponente dieser Bilder nicht zu vernachlässigen. Der Ausdruck des Bildes drängt sich jedoch auf, da die inhaltliche Bedeutung der Worte letztendlich nicht relevant ist, sondern die Töne nur ihren Teil zur Wirkung des Bildes beitragen.
Wilson selbst bezeichnet seine Arbeiten als Opern. Diese Zuordnung ergibt sich jedoch nicht aus der Dominanz der Musik in seinen Stücken, sondern vielmehr durch eine Strukturierung, eine musikalische Organisation übertragen auf das Visuelle, die an den Aufbau von Opern erinnert. So tauchen Themen wie Leitmotive durch ein Stück hindurch in Variationen immer wieder auf. Einheit wird durch Wiederholung, Variation und Umkehrung von Bildern erreicht, es entsteht ein „Geflecht visueller Rhythmen“[4]. Die Besonderheit der Struktur von Wilsons Stücken soll aber später noch genauer dargestellt werden.[5]
Räumliche und zeitliche Struktur stehen bei Wilson im Vordergrund. Dagegen fehlt eine lineare Erzählstruktur. Durch Wilsons Aufführungen leitet nur selten eine Geschichte und nie die Psychologie einer Figur. Vielmehr folgt der Aufbau seiner Stücke abstrakten Prinzipien wie figurativen Assoziationen. Formen motivieren einander: eine weiße Fläche provoziert eine schwarze, die vorangegangene Bewegung motiviert eine neue usw. Die Konstruktion von Wilsons Stücken unterwirft sich also keiner logischen Ordnung, sondern gehorcht Prinzipien der Assoziation-Dissoziation. Der Zuschauer wird dabei als denkendes Subjekt verstanden, dem die Möglichkeit der Wahl, der Kombination oder Interpretation der verschiedenen Bilder, die er auf der Bühne wahrnimmt, geboten wird. Ihm wird keine Geschichte erzählt, sondern es werden ihm Anreize geboten. Wilsons Theater erzählt keine Geschichten, es löst welche aus.[6]
„Ich interessiere mich für Theater, das keine Interpretationen liefert, sondern Zusammenhänge vorschlägt, um sie dann wieder freizugeben.“[7]
Wilson entwirft Bildercollagen mit, vor allem in seinen frühen Stücken, zeitlupenhaft langsamen, oft autistisch anmutenden Sequenzen. Immer sind seine Arbeiten technisch präzise umgesetzt und ausgefeilte Licht- und Toneffekte kommen zum Einsatz. Eine formale Bühnensprache ist in einer strengen Bewegungschoreographie umgesetzt. Theater ist für Wilson immer Kunstraum, Raum der Abstraktion, verschieden von der „Normalität“ des Alltags.[8]
„Formales Theater akzeptiert, daß die Bühne ein Kunstraum ist. [...] Formalismus bedeutet, die Dinge mit Distanz zu betrachten; wie ein Vogel, der vom Ast seines Baumes in die Weite des Universums blickt - vor ihm erstreckt sich die Unendlichkeit, deren zeitliche und räumliche Struktur er dennoch erkennen kann.“[9]
Die verschiedenen an einer Aufführung beteiligten Elemente, wie die Bewegungen der Schauspieler, Licht, Musik, Ton usw., werden von Wilson als eigenständig betrachtet und dementsprechend eingesetzt. Das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten folgt dem Prinzip gegenseitiger Verstärkung. Es erfolgt keine wechselseitige Illustration, bei der zum Beispiel eine Geste parallel und erläuternd zum gesprochenen Text ausgeführt werden würde, sondern es wird vielmehr auf die Differenz zwischen den Komponenten abgezielt, folgend der „Theaterweisheit, wonach die auf einer barocken Kommode stehende Colabüchse beide Objekte klarer zu erkennen gibt.“[10] Wilson versucht also nicht, die Elemente in Einklang zu bringen, sondern stellt sie in ihrer jeweiligen Besonderheit und Eigenheit dar.[11]
„Trennung der Elemente, im Gegensatz zum Mißverständnis vom Gesamtkunstwerk als Eintopf, oder als synthetischer Brei. Durch die Trennung hat jeder Zuschauer – und das ist das Demokratische daran – die Möglichkeit, den Zusammenhang mit Hilfe seiner eigenen Erfahrungen herzustellen.“[12]
Die Verbindung der einzelnen Elemente ist gegeben durch die Zeit, die für alle beteiligten Komponenten gleich abläuft. Zeit wird zum dramaturgischen, alles bestimmenden Mittel, das eine Überstruktur für die Inszenierungen bildet. Zeit steht am Anfang der Planung einer jeden Produktion von Wilson und beherrscht am Ende die Aufführung. Sie wird durch ihre extreme Ausdehnung auf der Bühne zu einem als eigenständig und bedeutend wahrgenommenen Inszenierungselement.
3. Zeit
„Schon immer gab es in Wilsons Theater Budenzauber, Bluffs, magische Lampen. Aber nicht diese Attraktionen waren die Hauptdarsteller des Schauspiels, sondern der oft unendlich weite Weg zwischen ihnen. Der Raum und die Luft. Einziger Superstar in Wilsons Theater war die Zeit – eine gänzlich andere Zeit als die in unseren täglichen Geschäften und Theatergeschäften übliche.“[13]
Liest man einige Kritiken oder Beschreibungen zu Aufführungen von Wilsons Theaterarbeiten, so fällt schnell auf, dass Zeit eine besondere Rolle in seinen Stücken spielt. Immer wieder wird Wilsons besonderer Umgang mit Zeit beschrieben: Zeit wird ausgedehnt und Bewegungen laufen mit unvorstellbarer Langsamkeit ab. Zeit an sich wird dadurch in Wilsons Aufführungen als eigener Bestandteil des Werkes wahrgenommen und beschrieben. Auch inhaltlich kommt das Thema Zeit in Wilsons Werken zum Tragen. So sind in Einstein on the Beach die Menschen von ihren Armbanduhren besessen. Und als Wilson 1995 Hamlet inszeniert, beginnt er das Stück mit dem Ende und schafft so eine Rahmenstruktur, die das Stück in eine Thematik einschließt: die der Zeit:[14]
“Had I but time . . . / O, I could tell you – but let it be. / Wretched queen, adieu. / I follow thee.”
Wilsons eigene Erfahrungen trugen zu seinem ganz spezifischen Umgang mit Zeit auf der Bühne bei. Entscheidend war die Begegnung mit Miss Byrd Hoffman, eine ältere Tanzlehrerin und Bewegungstherapeutin, die er in den 1950er Jahren traf. Bis zum 17. Lebensjahr war Wilson verhaltensgestört. Hoffman half ihm indem sie ihn ermutigte sich zu entspannen und körperliche Spannungen abzubauen mit Hilfe von Bewegungsübungen. Teil dieser Übungen war die Langsamkeit: Wilson lernte sich sehr langsam und konzentriert zu bewegen und ebenso zu sprechen. Später wendete Wilson diese Technik in seiner eigenen Arbeit mit Behinderten an, dann auch im Theater.[15]
Der langsame Ablauf von Bewegungen zeichnet besonders Wilsons frühe Arbeiten aus. Sein Rhythmus hat sich vom Ende der 60er Jahre, als er mit ersten Stücken an die Öffentlichkeit trat, bis heute verändert. Die Langsamkeit, die viele frühe Werke bestimmt hatte, ist inzwischen „zum Bestandteil eines Repertoires verschiedener Geschwindigkeiten geworden.“[16]
Wie Wilson mit Zeit arbeitet und wie sie sich auf die dramaturgische Struktur, auf Geschwindigkeit und Raum auswirkt, soll im Folgenden betrachtet werden.
[...]
[1] zitiert nach Liebe!, S. 203.
[2] Marranca, S. 44.
[3] Shyer, S. xv.
[4] Quadri, Entdeckung der Zeit, S. 16.
[5] Holmberg, S. 14. Marranca, S. 39.
[6] Holmberg, S. 11. Keller, S. 21. Quadri, Entdeckung der Zeit, S. 14f. Heinrichs, S. 171.
[7] Robert Wilson, zitiert nach Keller, S. 104.
[8] Theaterlexikon, S. 771.
[9] Robert Wilson, zitiert nach Keller, S. 105f.
[10] Keller, S. 23.
[11] Keller, S. 22. Quadri, S. 36.
[12] Heiner Müller, zitiert nach Keller, S. 87f.
[13] Heinrichs, S. 194.
[14] ebd., S. 11, 35.
[15] Brecht, S. 13ff. Shyer, S. xvf.
[16] Keller, S. 24.
- Arbeit zitieren
- Stephanie Lehmann (Autor:in), 2004, Bedeutung und Funktion der Zeit in Robert Wilsons frühen Theaterarbeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40412
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