Am 22. Juni 1924 wurde an der Universität in Frankfurt am Main feierlich das Institut für Sozialforschung eingeweiht. Zum ersten Direktor ernannte man den 1861 in Rumänien geborenen und marxistisch orientierten Juristen Carl Grünberg. Seine oberste Prämisse lautete den Marxismus nicht in parteipolitische Zusammenhänge zu bringen, sondern ihn unter rein (objektiven) wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu behandeln . Nachdem Grünberg jedoch im Januar 1928 einen Schlaganfall erlitten hatte, musste er seine Arbeit am Institut für Sozialforschung aufgeben. Die Diskussion um einen politisch nicht vorbelasteten Nachfolger entbrannte und fand erst im Oktober 1930 mit der Berufung von Max Horkheimer als neuen Direktor ein für viele Beteiligte überraschendes Ende . Dieser wollte das Institut zu einer fachübergreifenden Einrichtung umbauen, die sich den sozialen, philosophischen, geschichtlichen und wirtschaftlichen Themen empirisch nähern sollte, um eine umfassende Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Der wissenschaftliche Marxismus eines Max Horkheimers weckte bei dessen Universitätskollegen mehr Vetrauen und ließ eine scheinbare Verknüpfung mit den modernen bürgerlichen Wissenschaften zu .
Obwohl während der Zeit des US-Exils die Vetreter der Frankfurter Schule sich auch empirischen Studien widmeten, mussten die pragmatischen Methoden der amerikanischen Sozialwissenschaft mehr und mehr der Gesellschaftskritik weichen. So fehlte Horkheimer in den Arbeiten eines Paul Lazarsfeld schlichtweg die gesamtgesellschaftliche Einordnung der erzielten empirischen Ergebnisse . Bis in die 1960er Jahre spielte dieses Verständnis von Politikwissenschaft, welches als historisch-dialektischer oder auch kritisch-dialektischer Theorie-Ansatz bekannt wurde, keine maßgebliche Rolle. Erst als einige „jüngere Politologen ihr Fach grundsätzlicher Kritik zu unterziehen begannen“ , um es als vermeintliche Legitimationswissenschaft des kapitalistischen bundesrepublikanischen Systems zu entlarven, rückten die Schlagwörter der „Kritischen Theorie“ und „Frankfurter Schule“ in ein breites öffentliches Bewusstsein und wurden zum Paradebeispiel historisch-dialektischer Politikwissenschaft.
Gliederung
1. Einleitung
1.1. Problemstellung
1.2. Aufbau
1.3. Forschungsstand
2. Historisch-dialektische Politikwissenschaft
2.1. Geschichtlichkeit
2.2. Totalität
2.3. Dialektik
3. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule
3.1. Naturzweck und Naturgeschichte
3.2. Totalität versus Stückwerk
3.3. Das Dialektik-Projekt
4. Schlussbetrachtung
5. Bibliographie
5.1. Selbständig erschienene Literatur
5.2. Unselbständig erschienene Literatur
5.3. Primärquellen
1. Einleitung
1.1. Problemstellung
Am 22. Juni 1924 wurde an der Universität in Frankfurt am Main feierlich das Institut für Sozialforschung eingeweiht. Zum ersten Direktor ernannte man den 1861 in Rumänien geborenen und marxistisch orientierten Juristen Carl Grünberg. Seine oberste Prämisse lautete den Marxismus nicht in parteipolitische Zusammenhänge zu bringen, sondern ihn unter rein (objektiven) wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu behandeln[1]. Nachdem Grünberg jedoch im Januar 1928 einen Schlaganfall erlitten hatte, musste er seine Arbeit am Institut für Sozialforschung aufgeben. Die Diskussion um einen politisch nicht vorbelasteten Nachfolger entbrannte und fand erst im Oktober 1930 mit der Berufung von Max Horkheimer als neuen Direktor ein für viele Beteiligte überraschendes Ende[2]. Dieser wollte das Institut zu einer fachübergreifenden Einrichtung umbauen, die sich den sozialen, philosophischen, geschichtlichen und wirtschaftlichen Themen empirisch nähern sollte, um eine umfassende Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Der wissenschaftliche Marxismus eines Max Horkheimers weckte bei dessen Universitätskollegen mehr Vetrauen und ließ eine scheinbare Verknüpfung mit den modernen bürgerlichen Wissenschaften zu[3].
Obwohl während der Zeit des US-Exils die Vetreter der Frankfurter Schule sich auch empirischen Studien widmeten, mussten die pragmatischen Methoden der amerikanischen Sozialwissenschaft mehr und mehr der Gesellschaftskritik weichen. So fehlte Horkheimer in den Arbeiten eines Paul Lazarsfeld schlichtweg die gesamtgesellschaftliche Einordnung der erzielten empirischen Ergebnisse[4]. Bis in die 1960er Jahre spielte dieses Verständnis von Politikwissenschaft, welches als historisch-dialektischer oder auch kritisch-dialektischer Theorie-Ansatz bekannt wurde, keine maßgebliche Rolle. Erst als einige „jüngere Politologen ihr Fach grundsätzlicher Kritik zu unterziehen begannen“[5], um es als vermeintliche Legitimationswissenschaft des kapitalistischen bundesrepublikanischen Systems zu entlarven, rückten die Schlagwörter der „Kritischen Theorie“ und „Frankfurter Schule“ in ein breites öffentliches Bewusstsein und wurden zum Paradebeispiel historisch-dialektischer Politikwissenschaft.
Aufgabe dieser Arbeit soll es daher sein, die Eigenschaften des historisch-dialektischen Theorie-Ansatzes im Denken der Frankfurter Schule nachzuweisen. Aus welchen Elementen besteht jener Ansatz und auf welchen philosophischen Traditionen basiert er? In welcher Form wird dies in der Politikwissenschaft der Frankfurter Schule aufgegriffen, neu verstanden oder sogar verworfen? Ist die Frankfurter Schule wirklich kritisch, historisch und dialektisch zugleich oder überwiegt letztlich eines der Elemente?
1.2. Aufbau
Zur Beantwortung dieser Fragen werden im zweiten Kapitel zunächst die konstitutiven Bestandteile der historisch-dialektischen Politikwissenschaft erläutert. Im Mittelpunkt steht dabei auszugsweise die Philosophie von Immanuel Kant, Friedrich Hegel, Karl Marx und Friedrich Engels, die die wichtigen Begriffe der Geschichtlichkeit, Totalität und Dialektik maßgeblich geprägt haben. Hierbei sollen Gemeinsamkeiten aber auch Gegensätze und vor allen Dingen Fortentwicklungen im Begriffsverständnis herausgearbeitet werden.
Kapitel drei widmet sich dem Nachweis der historisch-dialektischen Elemente in der Frankfurter Schule. Da dies jedoch keine einheitliche philosophische Richtung war[6], soll in erster Linie die Arbeitsgemeinschaft von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als die bedeutendsten Vertreter im Vordergrund stehen. Aufgrund des Umfanges dieser Arbeit ist es nicht möglich auf den jeweiligen biographischen Hintergrund einzugehen sowie das Gesamtwerk der beiden Denker entsprechend zu würdigen. Der Fokus liegt auf der „Dialektik der Aufklärung“ und auf der „Negative[n] Dialektik“, da sich anhand dieser Arbeiten die eingangs gestellten Fragen am treffendsten beantworten lassen.
In der Schlussbetrachtung werden die Ergebnisse dieser Arbeit noch einmal kurz zusammengefasst und es erfolgt eine Bewertung historisch-dialektischer Politikwissenschaft.
1.3. Forschungsstand
Die Literaturlage zur Frankfurter Schule, zu Max Horkheimer und insbesondere zu Theodor W. Adorno gestaltet sich sehr umfangreich. Dennoch bleibt anzumerken, dass es zum historisch-dialektischen Theorie-Ansatz an sich nur sehr wenig Untersuchungen gibt. Hervorzuheben ist hierbei Wolf-Dieter Narrs Band „Theoriebegriffe + Systemtheorie. Einführung in die moderne politische Theorie. Teil I“ sowie die „Einführung in die Politikwissenschaft“ von Dirk Berg-Schlosser und Theo Stammen. Die Analyse der Frankfurter Schule unter dem historisch-dialektischen Gesichtspunkt bleibt jedoch auch in diesen Arbeiten sehr knapp bemessen.
Als bestes Überblickswerk für die Thematik der Frankfurter Schule eignet sich Rolf Wiggershaus’ Veröffentlichung „Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung“, da hier nicht nur die philosophischen Inhalte sondern auch die historische und personelle Entwicklung jener politikwissenschaftlichen Strömung detailliert dargestellt werden. Um sich dem Denken Max Horkheimers und Theodor W. Adornos in einem ersten Schritt zu nähern, empfehlen sich Willem van Reijens Bände „Horkheimer zur Einführung“ bzw. „Adorno zur Einführung“. Van Reijen bietet einen kurzen und prägnanten Abriss über die Philosophie der beiden Sozialwissenschaftler, ohne dabei zu oberflächlich zu wirken.
Darüber hinaus dienten mir Max Horkheimers und Theodor W. Adornos gemeinsame Arbeit „Dialektik der Aufklärung“ sowie Adornos „Negative Dialektik als die wichtigsten Quellen.
2. Historisch-dialektische Politikwissenschaft
2.1. Geschichtlichkeit
Ausgangspunkt für den historisch-dialektischen Theorieansatz in der Politikwissenschaft ist die Auffassung vom antagonistischen Verlauf der Geschichte, der zwangsläufig gesellschaftliche Konflikte hervorruft, welche wiederum beigelegt werden und somit zu Veränderungen führen. Durch Fortschritt und Entwicklung (sowohl im technischen als auch im politisch-sozialen und wirtschaftlichen Sinn) gelingt es abwechselnd verschiedenen Gruppen die Herrschaft zu erlangen und ihre jeweiligen Gegner so lange zu unterdrücken, bis diese wieder die Oberhand gewinnen. Erst wenn die Machtverteilung aufhört gleich einem Pendel zwischen den Interessenpolen hin und her zu schwingen, ist der Weg frei für eine konflikt- und widerspruchsfreie Gesellschaft[7].
Diese Sichtweise auf die historischen Gegebenheiten ist in erster Linie auf das Geschichtsverständnis des Immanuel Kant zurückzuführen. Ihm galt es einen allumfassenden Blick auf die Weltgeschichte als oberstes Ziel herauszustellen, wohlwissend, dass dessen Verwirklichung reines Wunschdenken blieb. Die Erfahrung jener historischen Ganzheit diente ihm somit nicht als Zweck, sondern als Mittel, um die (akademischen) Grenzen zu überschreiten und die Motivation für eine allumfassende Forschung aufrecht zu erhalten. Kants Thesen verlassen schließlich jene akademische Ebene und nehmen einen transzendentalen Charakter an. So unterstellte er der Natur die Absicht, die Menschheit hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft zu führen. Die Aufarbeitung dieses Planes durch die Philosophie ist für Kant zumindest versuchsweise erforderlich, um den Menschen systematische Richtlinien für ihre Handlungen zu geben[8].
Erweitert wird diese Geschichtsphilosophie durch Friedrich Hegel, der das Element der Vernunft einbringt. Vernünftig bedeutet hierbei die Notwendigkeit des historischen Ablaufes und die damit verbundene Weiterentwicklung des Weltgeistes. Für Hegel war die Geschichte „ein ‚Fortgang zum Besseren, Vollkommeneren’ aufgrund der Annahme eines ‚Triebs zur Perfektibilität’“[9]. Das (idealistische) Endziel formulierte er schließlich als die Freiheit des Geistes, wobei Freiheit die Bezugnahme auf das eigene Bewußtsein und die Unabhängigkeit von etwas oder jemand Anderen meint[10].
Jene geistige Freiheit spezifizierte Karl Marx in seinen Arbeiten nun zur Freiheit vom Materialismus. Der sich selbst entfremdete Mensch kann erst in Einklang mit der Natur und anderen Menschen leben, wenn das Privateigentum aufgehoben wurde. Jedoch verlassen Marx und Engels den Kant’schen bzw. Hegel’schen Weg eines ganzheitlichen historischen Verständnisses und beschränken ihn auf eine Abfolge von Generationen, von denen jede unter neuen Gegebenheiten existiert, aber stets die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen weiterführt. Die bürgerliche Gesellschaft – samt ihren theoretischen Rechtfertigungen in Form von Religion, Philosophie und Moral – sollte als Ursache der Exploitation (und somit als Vorstufe zum Kommunismus) entlarvt werden. Die Aufgabe der Geschichte (welche Marx und Engels als einzige Wissenschaft anerkennen) ist also nicht, die Veränderung der äußeren Umstände zu beschreiben, sondern sich lediglich den praktischen Handlungen der Menschen zu widmen. Denn nur deren empirisch erfassbaren Aktionen und Lebensbedingungen bestimmen den welthistorischen Verlauf. Wohin die (ökonomische) Gesellschaft sich letztlich bewegt und welchem Gesetz diese Bewegung folgt, sind die zentralen Fragestellungen des wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus[11].
Geschichtlichkeit geht „von der Identität von Sein und Bewußtsein“[12] aus und hebt „die Trennung von Theorie und Geschichte auf“[13]. Pragmatisch orientiert beschränkt sie das Verständnis der Gesellschaft auf deren historischen Ablauf und gibt sich selbst idealistische – im Prinzip nicht erreichbare – Ziele vor. Geschichtlichkeit, das bedeutet also nicht Geschichtswissenschaft im herkömmlichen Verständnis, sondern die Ableitung der Zukunft der Menschheit aus ihren vergangenen gesellschaftlichen Zuständen.
[...]
[1] Vgl.: Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München 1997, S. 36ff.
[2] Vgl.: Ebd., S. 46ff.
[3] Vgl., Ebd., S. 52f.
[4] Vgl., Ebd., S. 188f., S. 201.
[5] Kastendiek, Hans: Die Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 285.
[6] Vgl.: Habermas, Jürgen: Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, In: Honneth, Axel / Albrecht Wellmer: Die Frankfurter Schule und die Folgen. Referate eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 10. – 15. Dezember 1984 in Ludwigsburg, Berlin 1986, S. 8.
[7] Vgl.: Narr, Wolf-Dieter: Theoriebegriffe und Systemtheorie. Einführung in die moderne politische Theorie. Band I, Stuttgart 1971, S. 70.
[8] Vgl.: Berg-Schlosser, Dirk / Theo Stammen: Einführung in die Politikwissenschaft, München 1992, S. 65.
[9] Ebd., S. 65f.
[10] Vgl.: S. 60f.
[11] Vgl.: S. 66ff.
[12] Beyme, Klaus von: Die politischen Theorien der Gegenwart. Eine Einführung, Opladen 1992, S. 45.
[13] Ebd., S. 45.
- Quote paper
- Michael Münch (Author), 2005, Die Frankfurter Schule - Ein Paradebeispiel historisch-dialektischer Politikwissenschaft?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40290
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