In meiner Arbeit möchte ich Girards Theorie der Gründungsgewalt, dargestellt in seiner aktuellen Publikation „Und ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz“, auf die mittelalterliche Version der Melusine des Thüring von Ringoltingen anwenden. Dass dieses Vorgehen relevant ist, zeigt bereits die Ausgangssituation des Romans: Herr Johann von Portenach trägt seinem Kaplan auf, herauszufinden, von welchem Geschlecht der Graf und seine Vorfahren sind. Während des Textes zeigt sich, dass die Genealogie auf Gewalt basiert. So schreibt auch Beate Kellner von einer Neugründung im Zeichen des Vatermords beziehungsweise von einem verbrecherischen Gründungsvorgang in der Melusine. Zudem entwickelte und verfestigte Girard seine Theorie der Gründungsgewalt beziehungsweise des mimetischen Begehrens, welches als Ausgangspunkt der Gründungsgewalt funktioniert, mit der Lektüre von Romanen der Neuzeit (Cervantes) und der Moderne (Dostojewski, Proust). Im ersten Kapitel werde ich kurz Girards Theorie skizzieren. Er macht zu Beginn seiner Publikation Parallelen zwischen der christlichen Eucharistie und kannibalischen Gelagen aus, die er durch den Vergleich von antiken Mythen und alt- beziehungsweise neutestamentarischen Texten zu einer Analogie verfestigt. Durch diese Präzisierung der Ähnlichkeiten versucht er, eine außertextliche Realität zu gewinnen, die die Einzigartigkeit des Christentums darstellt. Mein Augenmerk liegt bezüglich der Anwendung auf die Melusine nicht so sehr auf dem Kontext Mythos - Christentum als vielmehr auf dem immer wiederkehrenden mimetischen Zyklus, also auf dem Ablauf von Krise, einmütiger Gewalt und Ursprung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. René Girards Theorie der Gründungsgewalt
3. Thüring von Ringoltingens Melusine
3. 1 Der Anfangsmord: Reymund versus den Grafen von Potiers
3. 2 Der Brudermord: Goffroy versus Freymund
3. 3 Der Sündenbock: Die Opferung Horibels
3. 4 Der Kreis schließt sich: Melusines Vatermord
4. Fazit
5. Bibliographie
5. 1 Primärliteratur
5. 2 Sekundärliteratur
1. Einleitung:
In meiner Arbeit möchte ich Girards Theorie der Gründungsgewalt, dargestellt in seiner aktuellen Publikation „Und ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz“[1], auf die mittelalterliche Version der Melusine des Thüring von Ringoltingen[2] anwenden.
Dass dieses Vorgehen relevant ist, zeigt bereits die Ausgangssituation des Romans[3]: Herr Johann von Portenach trägt seinem Kaplan auf, herauszufinden, von welchem Geschlecht der Graf und seine Vorfahren sind.[4] Während des Textes zeigt sich, dass die Genealogie auf Gewalt basiert. So schreibt auch Beate Kellner von einer Neugründung im Zeichen des Vatermords beziehungsweise von einem verbrecherischen Gründungsvorgang in der Melusine.[5] Zudem entwickelte und verfestigte Girard seine Theorie der Gründungsgewalt beziehungsweise des mimetischen Begehrens, welches als Ausgangspunkt der Gründungsgewalt funktioniert, mit der Lektüre von Romanen der Neuzeit (Cervantes) und der Moderne (Dostojewski, Proust).[6]
Im ersten Kapitel werde ich kurz Girards Theorie skizzieren. Er macht zu Beginn seiner Publikation Parallelen zwischen der christlichen Eucharistie und kannibalischen Gelagen aus, die er durch den Vergleich von antiken Mythen und alt- beziehungsweise neutestamentarischen Texten zu einer Analogie verfestigt. Durch diese Präzisierung der Ähnlichkeiten versucht er, eine außertextliche Realität zu gewinnen, die die Einzigartigkeit des Christentums darstellt.[7] Mein Augenmerk liegt bezüglich der Anwendung auf die Melusine nicht so sehr auf dem Kontext Mythos - Christentum als vielmehr auf dem immer wiederkehrenden mimetischen Zyklus, also auf dem Ablauf von Krise, einmütiger Gewalt und Ursprung.
Im zweiten Kapitel werde ich die Theorie dann schwerpunktsmäßig auf die Melusine anwenden. Hierfür teile ich das Kapitel nach den vier zentralen Morden des Textes auf:
als erstes soll der Mord Reymunds am Grafen von Potiers untersucht werden[8], zum zweiten dann der Mord Goffroys an seinem Bruder Freymund und des weiteren die Opferung von Horibel. Zuletzt werde ich dann Girards Theorie auf Melusines Mord an ihrem Vater anwenden.
Festzuhalten ist, dass wir es hier trotz dieser Aufteilung mit zusammenhängenden Gewalttaten zu tun haben, was sich während der Arbeit zeigen wird.
Innerhalb dieser Betrachtung werde ich auch die topographischen Angaben bezüglich der Gewalt berücksichtigen. Das heißt, es sind folgende Fragen ausschlaggebend:
Wie wird Gewalt ausgeübt beziehungsweise wie wird sie von Thüring von Ringoltingen dargestellt?
Wo, räumlich gesehen, findet die Gewalt statt?
Worin besteht die Motivation der einzelnen Protagonisten, Gewalt auszuüben (wobei sich diese Frage durch Anwendung der Theorie von Girard beantworten lässt)?
Abschließen werde ich meine Arbeit mit einem kurzen Fazit, in dem die wesentlichen Aspekte noch einmal zusammengefasst werden.
Zum Forschungsstand ist folgendes anzumerken: sowohl die Theorien von Girard als auch der mittelalterliche Text haben in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit gewonnen. Botho Strauß verhalf Girard durch seine Rezeption Anfang der Neunziger zu Popularität, seither läuft in Deutschland kaum noch eine ambitionierte Debatte über das Problem der Gewalt, ohne daß der Name des Autors fällt.[9] Auch die Melusine ist in jüngerer Zeit kontinuierlich als Forschungsgegenstand in Erscheinung getreten[10], und auch wenn es noch keine direkte Anwendung der Theorie auf den Roman gibt, so versucht Beate Kellner in ihrer aktuellen Publikation doch ansatzweise, Aspekte der Melusine mit der Theorie des Literaturwissenschaftlers in Verbindung zu bringen.
2. René Girards Theorie der Gründungsgewalt:
Girard beginnt seine Ausführungen mit einer genauen Analyse des zehnten Gebots, welches
das Begehren schlechthin untersagt. Gäbe es dieses Verbot nicht, herrschte Krieg innerhalb jeder menschlichen Gemeinschaft, „[...] dem berühmt-berüchtigten Alptraum des Thomas Hobbes [wäre] Tür und Tor geöffnet. Dem Kampf aller gegen alle. “[11]
Weil die Menschen aber von Natur aus dazu neigen, die Dinge des Nächsten zu begehren („Der Mensch weiß selbst nicht, was er eigentlich begehren soll, sondern er imitiert das Begehren anderer.“ Die Nachahmung leitet also die Begierden.[12] ), kommt es zu rivalisierenden Konflikten, die sich gegenseitig verstärken. Diese werden durch das Eskalations- und Überbietungsprinzip gesteuert. „Nicht bloß neigt die Rivalität der Begehren zur Übersteigerung, sondern, sich übersteigernd, breitet sie sich aus, überträgt sich auf Dritte, die ebenso nach schlechter Unendlichkeit gieren wie wir selbst.“[13]
Girard nennt diese mimetische Rivalität den Hauptgrund für die uns bedrängende Gewalt, da es durch die Unendlichkeit der mimetischen Begehren zu einer Kettenreaktion von Racheakten kommt. Ergebnis sind mimetische Krisen, die sich unablässig ausweiten und verschlimmern. Diese Krisen machen sich durch Hungersnöte, Überschwemmungen oder andere Naturkatastrophen bemerkbar (hervorzuheben ist, dass das Wort Pest häufig in einem nicht strikt medizinischen Sinn verwendet wird, sondern fast immer auch eine soziale Dimension besitzt, so dass sie beispielsweise für gestörte Beziehungen steht) oder sie zeigt sich einfach im symmetrischen Zusammenstoß zweier Wesen.
Es entsteht ein von Girard sogenannter mimetischer Furor, das heißt, die Rivalitäten, die die Gemeinschaft zuallererst spalten (keine Gesellschaft verfügt in diesem Alle-gegen-Alle- Zustand über eine Überlebenschance. So vermutet Girard auch, dass manche Gesellschaften nicht über dieses Stadium hinaus gekommen sind und sich somit selbst ausgelöscht haben.[14] ), verwandeln sich in eine Mimetik, die sich gegen ein alleiniges Opfer, welches alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, wendet und eint. Und selbst wenn diese Gewalt nicht kollektiv ausgeübt wird, zeigt sie kollektive Anklänge.
„Die Verdichtung sämtlicher separater Ärgernisse in einem einzigen Ärgernis ist der Höhepunkt eines Prozesses, der mit dem mimetischen Begehren und dessen Rivalitäten einsetzt. Indem sich letztere vervielfachen, bewirken sie die mimetische Krise [...]; diese würde die Gemeinschaft schließlich vernichten, verwandelte sie sich nicht spontan, automatisch in ein Alle-gegen-Einen, mit dessen Hilfe die Einheit der Gemeinschaft wiederhergestellt wird.“[15] Das heißt, entweder wird die alte Ordnung reaktiviert oder es entsteht eine neue, die allerdings dazu bestimmt ist, eines Tages auch in die Krise zu geraten.
An dieser Stelle ist also zum ersten Mal von einer kulturkonstituierenden Gewalt, von der Gründungsgewalt, die Rede, die sich gegen einen unschuldigen Sündenbock wendet. Dieser Opfermechanismus trägt nicht nur zur Gründung bei, sondern bestimmt auch Zeit und Raum: er teilt die Zeit in die Zeit der Krise beziehungsweise des Friedens und den Raum in ein Außen (Opfer) und Innen (Gemeinschaft).[16] Hervorzuheben ist also, auch im Zusammenhang mit der Anwendung auf die Melusine, dass es eine Verbindung zwischen Raumstruktur und Gründungsmord gibt, insofern, dass ein Raum organisiert wird, der historische Zeitlichkeit stiftet, und an dem sich erstes gesellschaftliches Leben abzeichnet.
Bestandteil der mimetischen Theorie ist zudem der Glaube, dass Bauwerke wie Häuser oder Brücken nur dann Bestand haben, wenn ein vernichtetes Leben ihr Fundament bildet. „So wie die Tötung des Sündenbocks der Gemeinschaft Einheit und Frieden geschenkt hat, so sollen alle Bauten durch entsprechende Opfer Stabilität und Dauer erhalten.“[17]
Zurück zu den Opfern des Sündenbockmechanismus: für die Ersatzopfer macht der Autor bevorzugte Zeichen der Opferselektion aus, als da wären: Gebrechen aller Art, physischer und sozialer Makel. Diese Zeichen variieren von Kultur zu Kultur kaum, das heißt die einmütige Gewalt richtet sich oftmals gegen „Leprakranke, Juden, Fremde, Frauen, Krüppel, Marginalisierte aller Art.“[18]
Bevor Girard dann genauer auf die Gründungsgewalt eingeht, hält er fest, dass die archaischen Opferrituale diesen mimetischen Zyklus beziehungsweise Opfermechanismus reproduzieren. Es geht darum, unter der Gemeinschaft eine Reinigung herbeizuführen, die aristotelische katharsis, im engeren Sinne eine Disziplinierung der eigenen Begehren . Dies geschieht durch eine möglichst präzise Wiederholung der realen Gewalttaten, die die Gemeinschaft in der Vergangenheit mittels der wiederhergestellten Geschlossenheit versöhnt hat.
Dass diese Opferrituale den mimetischen Zyklus abbilden, zeigt sich auch daran, dass sie sich zwar in ihren Einzelheiten unterscheiden, aber von der Grundstruktur bezüglich der Kollektivgewalt her ähnlich sind (allerdings wird die anfängliche Krise nicht immer reproduziert).
[...]
[1] René Girard, Und ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, Hanser Vlg., München 2002.
[2] Folgende Ausgabe wird verwendet: Thüring von Ringoltingen, Melusine, hrsg. von Hans-Gert Roloff, Reclam, Stuttgart 2000.
[3] Hinsichtlich der Diskussion um die Textgattung der Melusine möchte ich auf folgenden Beitrag verweisen: Jan-Dirk Müller, Volksbuch / Prosaroman im 15. / 16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung, IASL, Sonderheft 1 (1985), S. 1-128.
[4] „[...] daß er ihm auß allen seinen foerderen Chroniken wolte zusammen lesen / wie oder durch was Leut das Schloß oder die Statt Lusinien / in Franckreich gelegen / angehebt / gebawet und gestifftet wer.“ Vgl. Roloff, S. 3-4.
[5] Vgl. Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, Wilhelm Fink Vlg., München 2004, S. 424-443.
[6] Vgl. Michael Jakob, Gespräch mit René Girard, in: ders., Aussichten des Denkens, Wilhelm Fink Vlg., München 1994, S. 162.
[7] Vgl. Girard, S. 9-18 (Einleitung).
[8] Ob es sich hierbei um einen Mord, um Totschlag oder einen Unfall handelt, siehe Kapitel 3.1.
[9] Vgl. Lutz Ellrich, Gewalt und Zeichen: René Girard, in: Joseph Jurt (Hrsg.), Von Michel Serres bis Julia Kristeva, Rombach Vlg., Freiburg 1999, S. 57.
[10] Vgl. auch Ingrid Bennewitz, Komplizinnen und Opfer der Macht. Die Rollen der Töchter im Roman der frühen Neuzeit (mit besonderer Berücksichtigung der „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen), in: Lynne Tatlock (Hrsg.), The Graph of Sex and the German Text. Gendered Culture in early modern Germany 1500-1700, Rodopi, Amsterdam 1994, S. 226.
[11] Girard, S. 23.
[12] Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, LIT Vlg., Münster 2003, S. 58.
[13] Girard, S. 26.
[14] Vgl. Palaver, S. 199.
[15] Girard, S. 41.
[16] Vgl. Palaver, S. 226.
[17] Palaver, S. 229.
[18] Girard, S. 99.
- Citar trabajo
- Stefan Mayr (Autor), 2005, Girards Theorie der Gründungsgewalt angewendet auf die Melusine des Thüring von Ringoltingen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40172
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