Die ursprüngliche Entwicklung der russischen Sprache vollzog sich auf einem riesigen Territorium. Zahlreiche Völker, mit all ihren Sitten und Gebräuchen, wurden in einen Staat integriert. Ihre Lebenserfahrung, Traditionen und die sprachlichen Bezeichnungen für die ihnen bekannten Gegenstände, Eigen- schaften oder Handlungen gingen in die gemeinsame russische Sprache ein. Verschiedenste benachbarte Kulturen beeinflussten und beeinflussen immer noch diesen Prozess.
Das Merkmal einer lebendigen Sprache ist ihre Fähigkeit, sich zu entwickeln und neue Formen und Worte zu bilden. Die Größe des russischen Reiches hat dem Russischen eine Fülle an Möglichkeiten für die Bildung neuer Wörter in die Hand gegeben. In diesem Zusammenhang spielen die Mechanismen der Wort- bildung und ihre Mannigfaltigkeit eine primäre Rolle. Mit der Frage, nach wel- chen Regeln neue Wörter eigentlich gebildet werden, beschäftigt sich eine rela- tiv junge linguistische Teildisziplin: die Wortbildungslehre. Diese Teildisziplin steht zwischen der Lexikologie und der Morphologie. 1 Die Wortbildungslehre beschäftigt sich aber nicht nur mit der „Benennung neuer Begriffe“, sondern auch mit der „Bildung syntaktischer Parallelkonstruktionen“. Durch diese zwei Aufgaben ist der „Doppelcharakter“ 2 respektive die „kommunikative Doppelfunk- tion“ 3 der Wortbildung charakterisiert.
Ziel dieser Arbeit besteht darin, einen der drei funktional-semantischen Haupt- typen der morphologischen Wortbildung vorzustellen, die Mutation. Diese Auf- gabe erfordert zunächst eine Auseinandersetzung mit den Termini der Wortbil- dungslehre. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, muss die Definition der Fachbegriffe knapp gefasst werden. Zum besseren Verständnis wird eine Abgrenzung der drei Haupttypen durchgeführt, ehe mit der konkreten Präsenta- tion der Mutation begonnen wird. Hinzu kommt ein interlingualer Vergleich, der die entsprechenden Wortbildungsmittel auch im Deutschen aufzeigen soll. [...]
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Funktional-semantischer Haupttyp der morphologischen Wortbildung: Mutation
1. Einführung in die Wortbildung
2. Abgrenzung der Haupttypen
3. Mutation
3.1. Spezifika der Mutation
3.2. Mutationstypen
3.2.1. Desubstantivische Wortbildungskategorie
3.2.2. Deadjektivische Wortbildungskategorie
3.2.3. Deverbal-nominale Wortbildungskategorie
III. Fazit
IV. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Die ursprüngliche Entwicklung der russischen Sprache vollzog sich auf einem riesigen Territorium. Zahlreiche Völker, mit all ihren Sitten und Gebräuchen, wurden in einen Staat integriert. Ihre Lebenserfahrung, Traditionen und die sprachlichen Bezeichnungen für die ihnen bekannten Gegenstände, Eigenschaften oder Handlungen gingen in die gemeinsame russische Sprache ein. Verschiedenste benachbarte Kulturen beeinflussten und beeinflussen immer noch diesen Prozess.
Das Merkmal einer lebendigen Sprache ist ihre Fähigkeit, sich zu entwickeln und neue Formen und Worte zu bilden. Die Größe des russischen Reiches hat dem Russischen eine Fülle an Möglichkeiten für die Bildung neuer Wörter in die Hand gegeben. In diesem Zusammenhang spielen die Mechanismen der Wortbildung und ihre Mannigfaltigkeit eine primäre Rolle. Mit der Frage, nach welchen Regeln neue Wörter eigentlich gebildet werden, beschäftigt sich eine relativ junge linguistische Teildisziplin: die Wortbildungslehre. Diese Teildisziplin steht zwischen der Lexikologie und der Morphologie.[1] Die Wortbildungslehre beschäftigt sich aber nicht nur mit der „Benennung neuer Begriffe“, sondern auch mit der „Bildung syntaktischer Parallelkonstruktionen“. Durch diese zwei Aufgaben ist der „Doppelcharakter“[2] respektive die „kommunikative Doppelfunktion“[3] der Wortbildung charakterisiert.
Ziel dieser Arbeit besteht darin, einen der drei funktional-semantischen Haupttypen der morphologischen Wortbildung vorzustellen, die Mutation. Diese Aufgabe erfordert zunächst eine Auseinandersetzung mit den Termini der Wortbildungslehre. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, muss die Definition der Fachbegriffe knapp gefasst werden. Zum besseren Verständnis wird eine Abgrenzung der drei Haupttypen durchgeführt, ehe mit der konkreten Präsentation der Mutation begonnen wird. Hinzu kommt ein interlingualer Vergleich, der die entsprechenden Wortbildungsmittel auch im Deutschen aufzeigen soll.
II. Funktional-semantischer Haupttyp der morphologischen Wortbildung: Mutation
1. Einführung in die Wortbildung
Die Sprachwissenschaft kennt eine synchrone und eine historische (diachronische) Wortbildungsanalyse. Unter diesem Kriterium lassen sich die fünf Wortbildungsverfahren unterscheiden: morphologisches (synchron), lexikalisch-syntaktisches (diachronisch), morphologisch-syntaktisches (synchron-diachronisch), lexikalisch-semantisches (diachronisch) und das Verfahren der Abkürzung.[4] Bei unserer Aufgabenstellung interessiert uns das morphologische (synchrone) Verfahren, welches von Zemskaja auch als „affixales Wortbildungsverfahren“ bezeichnet wird, weil hierbei auf wortbildende Affixe hingewiesen wird und unnötige Assoziation mit der Morphologie vermieden werden kann.[5] Dieses Verfahren ist das produktivste innerhalb der slavischen Sprachen.[6] Wenden wir uns nun den Grundlagen der Wortbildung zu.
Die Einheiten der Wortbildung sind, allgemein ausgedrückt, lexikalische Einheiten, die den Status von Wörtern haben. Diese sind im Hinblick auf andere lexikalische Einheiten „sekundär“, wobei „sekundär“ lediglich die Tatsache impliziert, dass sich in der Sprache in der Regel für eine sekundäre auch jeweils eine „primäre“ Einheit finden lässt.[7] Die Bezeichnungen der Worteinheiten als „primär“ (первичное) und „sekundär“ (вторичное) entsprechen den Begriffen „motivierend“ (мотивирующее) respektive „motiviert“ (мотивированное).[8] Mit „primär“ meint man, dass diese Einheit sowohl „früher vorhanden“ war, als auch „in inhaltlicher Hinsicht einfacher“ ist. Für eine solche Beziehung spielt nicht nur die inhaltliche Sphäre, sondern auch die formale Beschaffenheit eine Rolle, wobei zwischen den beiden Einheiten zumindest eine morphemische Teilidentität vorhanden sein muss.[9]
Es stellt sich nunmehr die Frage, wie man die „sekundären“ Einheiten in inhaltliche Gruppen einteilen kann? Man geht davon aus, dass die Grundlage einer solchen Einteilung die Art der Beziehung von sekundären zu primären Einheiten ist. „Diese Relationen sind grammat.-semant. Natur, wobei der Doppelausdruck ’grammat.-semant.’ zum einen andeuten soll, daß der Unterschied sowohl grammat. als auch semant. Art ist, zum anderen, daß er auch wirklich niemals allein „grammat.“ und niemals allein „semant.“ Art ist.[10]
Um eine Einteilung vornehmen zu können, muss zunächst die „sekundäre“ Einheit als solche von der „primären“ unterschieden werden. Švedova gibt hierfür drei Kriterien vor:
1) „При различии лексических значений сопоставляемых слов мотивированным является то, которое характеризуется большей формальной сложностью, т. е. содержит в основе большее количество вычленяемых (помимо корня) звуковых отрезков, например: горох – горошина, бежать – выбежать.
2) При различии лексических значений этих слов и одинаковом количестве вычленяемых в основах звуковых отрезков – мотивированным является слово, характеризующееся большей семантической сложностью, например: химия – химик («тот, кто занимается химией»), художник – художница («женщина – художник»).
3) При тождестве лексических значений сопоставляемых слов: а) в парах «глагол – существительное, обозначающее действие по этому глаголу» (косить – косьба, дуть – дутьё, выходить – выход, атаковать – атака), «прилагательное – существительное, обозначающее тот же признак, что и это прилагательное» (красный – краснота, синий – синь, широкий – ширь), независимо от количества вычленяемых в основах звуковых отрезков, мотивированным признается существительное, поскольку значения действия и признака являются общими категориальными значениями соответственно глагола и прилагательного, но не существительного [...] в паре «прилагательное – наречие», оба члена которой имеют общее категориальное значение признака [...], мотивированным признается слово, характеризующееся большей формальной сложностью [...], например: смелый – смело, но вчера – вчерашний .“ [11]
Miloš Dokulil[12] unterscheidet drei grammatisch-semantische Beziehungen zwischen primären und sekundären Worteinheiten. Dies sind Transposition (syntaktische Wortbildung), Modifikation und Mutation. Eugenio Coseriu macht eine Einteilung in Erweiterung, Modifikation und (prolexematische und lexematische) Komposition. Über diese Einteilung wird der Versuch unternommen, die sekundären Einheiten in „inhaltlich entsprechenden Konstruktionen“ oder „äquivalenten syntaktischen Gruppen“ zusammenzustellen, die primäre Einheiten beinhalten. Sekundäre Einheiten in solchen „Konstruktionen“ oder „Gruppen“ kann man sich als deren Kondensationen vorstellen. Sie stellen zum einen Wortbildungsprodukte dar und besitzen zum anderen immer einen höheren Grad an innerer Grammatik als die „primären“ Einheiten. Diese so genannte „implizite Grammatikalisierung des Wortschatzes“ ist ein wesentlicher Aspekt der Wortbildung. Wörter werden also im Rahmen der Wortbildung stets grammatikalisiert, wobei die Grammatikalisierung einen sehr hohen Grad erreichen kann. Der Grund hierfür liegt darin, dass man nur die Beziehung von primären zu sekundären Einheiten betrachtet. Dabei kann aber eine primäre Einheit für andere Einheiten schon sekundär sein.[13]
2. Abgrenzung der Haupttypen
Gemäß der grammatischen oder syntaktischen Funktion, die die primäre Einheit in der den sekundären Einheiten äquivalenten Konstruktion innehat, lässt sich eine Einteilung in drei Haupttypen vornehmen: Modifikation, Transposition und Mutation.[14] „Die Summe der Wortbildungstypen ist derjenige recht komplizierte Mechanismus, der in der Sprache wirkt und von dem die Bildung der neuen Wörter abhängt: Jedes neue Wort gehört zu einem bestimmten Wortbildungstyp.“[15] Ein formales Merkmal, das für alle Bildungen eines Wortbildungstyps charakteristisch ist und folglich der Träger der Wortbildungsbedeutung ist, heißt „Formant“.[16] Jedoch existieren zwischen den Wortbildungstypen keine starren Grenzen. So können manche Wörter auch mehreren Wortbildungstypen angehören.[17] Eine Vorstellung von konkreten Beispielen kann innerhalb dieser Arbeit nicht gegeben werden, weil sie eine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesem Thema erforderte.
Das erste Kriterium für die Abgrenzung der drei Haupttypen der morphologischen Wortbildung voneinander ist die Anzahl der im Wortbildungsprodukt grammatikalisierten Konstituenten[18] der Konstruktion.[19] Während bei der Modifikation und der Transposition eine Konstituente des Wortbildungsprodukts grammatikalisiert ist, sind es bei der Mutation mindestens zwei. Ein weiteres Unterscheidungskriterium stellt die Erfüllung bzw. Nichterfüllung einer bestimmten Satzfunktion bei der primären Einheit in der Konstruktion dar. Hierbei unterscheidet man einerseits Modifikation und andererseits Transposition und Mutation, wobei bei der Modifikation „die primäre Einheit in keiner bestimmten ihr möglichen syntakt. Funktion grammatikalisiert“ wird.[20]
Zum besseren Verständnis werden die drei zu наглый sekundären Einheiten нагловатый, наглость, наглец in folgenden Konstruktionen dargestellt: нагловатый – несколько наглый, наглость – факт бытия наглого, наглец – тот, который есть нагл. Das Wortprodukt нагловатый gehört zum Haupttyp Modifikation, weil bei diesem Haupttyp nur eine Konstituente einer Konstruktion ohne bestimmte Satzfunktion grammatikalisiert wird. Eine Grammatikalisierung gegenüber наглый erkennt man darin, dass dieses Wort, obwohl es auch ein Adjektiv ist, eine andere grammatische Beschaffenheit hat. Es existieren für нагловатый beispielsweise nicht alle Formen der Komparation. Bei der Transposition, wie wir sie bei наглость vorfinden, wird nur eine Konstituente in einer bestimmten Satzfunktion grammatikalisiert, dagegen sind es bei der Mutation, wie bei наглец, zwei Konstituenten.[21]
In Anbetracht der vorgestellten Definition der drei Haupttypen der morphologischen Wortbildung stellen wir fest, dass einige sprachliche Einheiten, die oft als Ergebnisse von Wortbildungsprozessen bezeichnet werden, im dargestellten Kontext nicht als Wortbildungsprodukte fungieren. Zu solchen Wortbildungsprodukten „zählen zum einen reine Formkürzungen oder einfache Abkürzungen, zum anderen einfache Zusammenrückungen (сращения), zum dritten Ergebnisse eines reinen Wortartwechsels, wie etwa Adjektive, die als Substantive gebraucht werden.“[22]
Ingeborg Ohnheiser hat folgende Tabelle zur Ableitungsfähigkeit der Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb im Rahmen der Herausbildung der Transpositions-, Modifikations- und Mutationstypen erstellt, die auch als Abgrenzungskriterium fungieren kann:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle: Ableitungsfähigkeit der Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb. (Ohnheiser 1987: 17.) Hervorhebungen durch den Autor.
Gemäß der Tabelle stellen wir für die mittels Mutation abgeleiteten Wörter fest, dass nur die Substantive von allen drei dargestellten Wortarten abgeleitet werden, nämlich von Substantiven, Adjektiven und Verben. Adjektive werden dagegen nur von Substantiven und Verben deriviert. Die derivierten Verben entstammen entweder einer substantivischen oder einer adjektivischen Basis.
3. Mutation
3.1. Spezifika der Mutation
Das vorige Kapitel hat die drei Haupttypen der morphologischen Wortbildung voneinander abgegrenzt und die dafür ausschlaggebenden Kriterien benannt. In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, auf die Spezifika der Mutation einzugehen. Zwecks einer klareren Darstellung müssen auch Transposition und Modifikation einbezogen werden.
[...]
[1] Vgl. B. N., Golowin: Einführung in die Sprachwissenschaft. Leipzig. 1976: 126.
[2] Vgl. Wolfgang, Fleischer: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. 1995: 1.
[3] Vgl. Ingeborg, Ohnheiser: Wortbildung im Sprachvergleich. Russisch-Deutsch. Leipzig. 1987:
8-9.
[4] Vgl. E. A., Zemskaja: Sovremennyj russkij jazyk. Slovoobrazovanie. Moskva. 1973: 5-11.
[5] Ebd. 170.
[6] Vgl.
http://www.tu-dresden.de/slk/institut%20fuer%20slavistik/lehrveranstaltungen/ws_2003.pdf (gesehen am 2.10.2004).
[7] Vgl. Helmut, Jachnow: Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grenzdisziplinen. Wiesbaden. 1999: 152.
[8] Vgl. N. JU, Švedova: Grammatika sovremennogo russkogo litereturnogo jazyka. Moskva. 1970: 37.
[9] Vgl. Jachnow 1999: 152.
[10] Vgl. Jachnow 1999: 152.
[11] Švedova 1970: 38.
[12] Prof. Ph Dr. Ing. Miloš Dokulil, Dr Sc., tschechischer Linguist; Studium der Geschichte, Philosophie, Wirtschaft, Linguistik und Politikwissenschaft. http://www.fi.muni.cz/~dokulil/indexcz.html (gesehen am 9.10.2004).
[13] Vgl. Jachnow 1999: 153.
[14] Ebd. 152.
[15] Golowin 1976: 128.
[16] Vgl. Švedova 1970: 39.
[17] Vgl. Golowin 1976: 128.
[18] Zum Konstituentenbegriff siehe Fleischer 1995: 42 ff.
[19] Vgl. Jachnow 1999: 153.
[20] Ebd.
[21] Ebd. 153-154.
[22] Ebd. 155.
- Quote paper
- Ilja Kalinin (Author), 2004, Funktional-semantischer Haupttyp der morphologischen Wortbildung: Mutation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40045
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