„Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die
Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte.“1
So beginnt die letzte Aufzeichnung von Rilkes Roman: Die Aufzeichnungen des Malte
Laurids Brigge. Aufgrund der Einleitung, dass es sich „um die Geschichte des
verlorenen Sohnes“2 handelt, entsteht der Bezug zur christlichen Parabel vom
Verlorenen Sohn in Lk 15. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass der Erzähler
nicht von einer Parabel, sondern von einer Legende spricht. Diese Genreänderung
könnte ein Ausdruck Rilkes dafür sein, dass er den ursprünglichen Stoff zwar
verwendet, jedoch umgedeutet hat.
In der Literatur 3 erfährt diese Genreänderung Rilkes unterschiedliche Aufmerksamkeit.
So kennzeichnet Käthe Hamburger4 das Gleichnis vom Verlorenen Sohn im christlichen
Verständnis, Borchert5 spricht lediglich von einer Anpassung der Parabel and die
Situation Maltes und Buddeberg6 übernimmt das Genre „Gleichnis“ ohne es zu
thematisieren. Lediglich Naumann7 geht auf die Bedeutung dieser Änderung ein. Jedoch
nennt er kaum Gründe für diese.
Ziel dieser Arbeit soll es sein herauszuarbeiten, warum Rilke das ursprüngliche Genre
Parabel zu einer Legende verändert hat. Aus diesem Grund soll zunächst ein Einblick in
die Stoffgeschichte des Textes vom Verlorenen Sohn erfolgen. Danach soll anhand der
Genremerkmale von Parabel und Legende ein Vergleich mit der 71. Aufzeichnung
erfolgen, um Gründe für die Genreänderung angeben zu können.
[...]
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Stoffgeschichte des „Verlorenen Sohnes“
2.1 Die Verarbeitung des Stoffes in der Literatur
2.2 Rilke und der Stoff vom „Verlorenen Sohn“
3 Die Genreänderung – Der Versuch einer Erklärung
3.1 Die 71. Aufzeichnung – Eine Parabel?
3.1.1 Die Funktion der Texte
3.2.2 Die Erzähler der Texte
3.2.3 Die Knappheit als Merkmal der Parabel
3.2.4 Geradlinigkeit und Einsträngigkeit der Handlung
3.2.5 Affekte und Motive
3.2.6 Die Exposition
3.2.7 Das „tertium comperationes“
3.2 Die 71. Aufzeichnung – Eine Legende?
3.2.1 Der Verlorene Sohn als Heiliger
3.2.2 Die Idealisierung des Verlorenen Sohnes
3.2.3 Der Verlorene Sohn als Vorbild
4 Zusammenfassung
5 Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1 Einleitung
„Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte.“[1]
So beginnt die letzte Aufzeichnung von Rilkes Roman: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Aufgrund der Einleitung, dass es sich „um die Geschichte des verlorenen Sohnes“[2] handelt, entsteht der Bezug zur christlichen Parabel vom Verlorenen Sohn in Lk 15. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass der Erzähler nicht von einer Parabel, sondern von einer Legende spricht. Diese Genreänderung könnte ein Ausdruck Rilkes dafür sein, dass er den ursprünglichen Stoff zwar verwendet, jedoch umgedeutet hat.
In der Literatur[3] erfährt diese Genreänderung Rilkes unterschiedliche Aufmerksamkeit. So kennzeichnet Käthe Hamburger[4] das Gleichnis vom Verlorenen Sohn im christlichen Verständnis, Borchert[5] spricht lediglich von einer Anpassung der Parabel and die Situation Maltes und Buddeberg[6] übernimmt das Genre „Gleichnis“ ohne es zu thematisieren. Lediglich Naumann[7] geht auf die Bedeutung dieser Änderung ein. Jedoch nennt er kaum Gründe für diese.
Ziel dieser Arbeit soll es sein herauszuarbeiten, warum Rilke das ursprüngliche Genre Parabel zu einer Legende verändert hat. Aus diesem Grund soll zunächst ein Einblick in die Stoffgeschichte des Textes vom Verlorenen Sohn erfolgen. Danach soll anhand der Genremerkmale von Parabel und Legende ein Vergleich mit der 71. Aufzeichnung erfolgen, um Gründe für die Genreänderung angeben zu können.
2 Stoffgeschichte
2.1 Die Verarbeitung des Stoffes vom „Verlorenen Sohn“ in der Literatur
Die Geschichte des Verlorenen Sohnes ist eines der meist verarbeiteten Stoffe in der Kunst und Literatur. Auch heute ist sie noch Ausgangspunkt für moderne literarische Fortschreibungen. So zum Beispiel „Der verlorene Sohn“ von Gustav Regen, „Die Geschichte vom verlorenen Sohn“ von Martin Walser, „Heimkehr“ von Franz Kafka oder „Rückkehr“ von Marie Luise Kaschnitz. Die Grundlage dieser Gestaltungen bildet die biblische Parabel des Verlorenen Sohnes Lk 15, 11-32. Dieser verlangt die vorzeitige Auszahlung seines Erbteils, um in die Welt hinauszuziehen. Dort verschwendet er sein Geld leichtsinnig, wird zum Schweinehirten und lebt in Elend. So beschließt er heimzukehren und seinen Vater um Vergebung zu bitten. Dieser empfängt seinen Sohn voller Freude und nimmt ihn wieder zu Hause auf.[8]
Im Mittelalter wurde diese Parabel vor allem nacherzählt. So zum Beispiel „Barlaam und Josaphat“ oder „Der selden hort“ von Rudolf von Ems um 1300. Eine der ersten Umdeutungen nahm Meier Helmbrecht vor, der in „Wernhers des Gärtners“ (um 1250/80) zwar das Kernmotiv beibehält, der Sohn jedoch statt der erbarmenden Liebe gerichtet und verstoßen wird. Literarisch fruchtbar wurde die Parabel erst im 16. und 17. Jahrhundert. So wurde die Geschichte des Verlorenen Sohnes vor allem in der Zeit der Reformation und Gegenreformation, je nach individueller Intention, umgedeutet bzw. bearbeitet. Dies geschah zum Beispiel in Thomas Murners „Schelmenzunft“ (1512) oder „Die Mühle von Schwindelsheim“ (1515). Die Abkehr vom Elternhaus, die die Pflichterfüllung eines Mannes verletzte, und das Elend der Fremde bzw. die Liederlichkeit wurde betont, damit sich das Publikum davon distanzierte. Die Bearbeitungen nach dieser Zeit bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren größtenteils bedeutungslos, da sie lediglich für die Zeit- und Literaturgeschichte, jedoch nicht literarisch interessant waren.[9] Erst durch André Gides „Le retour de l’enfant prodigue“ (1907) kam es zu einer literarischen Weiterentwicklung. Dabei handelt es sich um die Loslösung des Sohnes vom Vaterhaus. Nur so ist er in der Lage die innere Freiheit zu gewinnen. Als der Sohn das Ersehnte nicht erreicht, kehrt er mutlos in die alte Ordnung zurück. Nach seiner Heimkehr entscheidet sich der jüngere Bruder zum Aufbruch und wird vielleicht nicht mehr nach Hause zurückkehren.[10]
2.2 Rilke und der Stoff vom Verlorenen Sohn
Da André Gides „Le retour de l’enfant prodigue“ zeitnah zu Rilkes Bearbeitung des Stoffes steht, wurden in der Literatur zahlreiche Vergleiche zwischen den beiden Werken gemacht.[11] Käthe Hamburger argumentiert für eine von Gide unabhängige Hinwendung Rilkes zu diesem Stoff.[12] Diese verschiedenen Auffassungen sollen jedoch im Folgenden nicht weiter beachtet werden.
Ein wahrscheinlicher Einfluss auf das Motiv des Verlorenen Sohnes bei Rilke könnte eine Statue aus dem Jahre 1902 sein. Dabei handelt es sich um einen knieenden nackten Jüngling, der den Kopf zurückgeworfen, mit verzweifelter Gebärde die Arme empor streckt. Dass dieser Rilke beeindruckte, zeigt sich in seinem Rodinbuch:
„So ist jener schmale Jüngling, der kniet und seine Arme emporwirft und zurück in einer Geste der Anrufung ohne Grenzen. Rodin hat diese Figur ‚Der Verlorene Sohn’ genannt, aber sie hat, man weiß nicht woher, auf einmal den Namen: ‚Priére’. Und sie wächst auch über diesen hinaus. Das ist nicht ein Sohn, der vor dem Vater kniet. Diese Gebärde macht einen Gott notwendig, und in dem, der sie tut, sind alle, di ihn brauchen. Diesem Stein gehören alle Weiten; er ist allein auf der Welt.“[13]
Vor allem der letzte Satz: „Er ist allein auf der Welt“ zeigt Parallelen zur 71. Aufzeichnung des Malte Laurids Brigge. So ist der Verlorene Sohn nach seiner Heimkehr völlig isoliert.[14]
Rilkes erste dichterische Auseinandersetzung mit dem Stoff des Verlorenen Sohnes fand in seinen neuen Gedichten statt. So das Gedicht vom „Auszug des Verlorenen Sohnes“ aus dem Jahr 1906.
Der Auszug des Verlorenen Sohnes
Nun fortzugehn von alledem Verworrnen,
das unser ist und uns doch nicht gehört,
das, wie das Wasser in den alten Bornen,
uns zitternd spiegelt und das Bild zerstört;
von allem diesen, das sich wie mit Dornen
noch einmal an uns anhängt – fortzugehn
und Das und Den,
die man schon nicht mehr sah
(so täglich waren sie uns so gewöhnlich),
auf einmal anzuschauen: sanft, versöhnlich
und wie an einem Anfang und von nah;
und ahnend einzusehn, wie unpersönlich,
wie über alle hin das Leid geschah,
von dem die Kindheit voll war bis zum Rand-:
Und dann doch fortzugehn, Hand aus Hand,
als ob man ein Geheiltes neu zerrisse,
und fortzugehn: wohin? Ins Ungewisse,
weit in ein unverwandtes warmes Land,
das hinter allem Handeln wie Kulisse
gleichgültig sein wird: Garten oder Wand;
und fortzugehn: warum? Aus Drang, aus Artung,
aus Ungeduld, aus dunkler Erwartung,
aus Unverständlichkeit und Unverstand:
Dies alles auf sich nehmen und vergebens
vielleicht Gehaltnes fallen lassen, um
allein zu sterben, wissend nicht warum –
Ist das der Eingang eines neuen Lebens?
Bereits der erste Vers zeigt, den verlagerten Schwerpunkt des Stoffes. In diesem Gedicht wird der Fortgang von zu Hause, im Gegensatz zum Neuen Testament, stark motiviert. So heißt es im Neuen Testament lediglich:
„Er sprach aber: Ein Mensch hatte zwei Söhne; / und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zufällt! Und er teilte ihnen die Habe. / Und nach nicht vielen Tagen brachte der jüngere Sohn alles zusammen und reiste weg in ein fernes Land […].“[15]
Die Kindheit wird in dem Gedicht als Zeit des Leides gesehen und mit Angst und Schutzlosigkeit gleichgesetzt. Aus diesem Grund muss der Sohn von zu Hause fortgehen. Das Ziel ist jedoch noch ungewiss.
3 Die Genreänderung – Der Versuch einer Erklärung
Die Änderung des Genre Parabel zu einer Legende, kann nicht allein darauf beruhen, dass es sich bei Rilkes verlorenen Sohn um ein „noch nie gewesene[s] Leben“[16] handelt. Die Gründe müssen sowohl auf der inhaltlichen als auch der formalen Seite zu suchen sein. Zu diesem Zweck soll im Folgenden ein Vergleich der 71. Aufzeichnung mit Merkmalen der Parabel und Legende erfolgen.
3.1 Die 71. Aufzeichnung – Eine Parabel?
Die Parabel gehört zur didaktischen Literatur. Dabei handelt es sich um frei erfundene Geschichten. „Nicht, was jeder tut, was gar nicht anders sein kann, wird uns vorgehalten, sondern was einmal jemand getan hat, ohne zu fragen, ob andere Leute es auch so machen würden.“[17] Die Parabel hat immer eine Verweisfunktion auf das gesamte Werk. Das Wesen der Parabel[18] beruht auf einem Vergleichspunkt, den tertium comparationes, der den Schluss der Erzählung bildet. So hat alles Erzählte im Ablauf der Erzählung die Funktion den Vergleichspunkt zu unterstützen. Der Ausgang der Geschichte wird nicht erzählt, um die Bedeutung der Personen bzw. Situationen nicht über zu bewerten. Sie haben lediglich eine Funktion indem sie die Aussage der Parabel unterstützen. Zu den Merkmalen der Parabel gehören u.a. eine begrenzte Anzahl an Personen, szenische Zweiheit und die Gradlinigkeit bzw. Einsträngigkeit der Erzählung. Affekte und Motive werden nur genannt, wenn sie für die Handlung wichtig ist. Außerdem fehlen jegliche Motivierungen (z.B. in der Exposition), da sie für die Deutung der Parabel nicht wichtig sind. Auch bei der Schilderung von Vorgängen und Handlungen wird auf Unnötiges verzichtet. Die Parabeln im Neuen Testament werden alle von Jesus Christus erzählt, da er der einzige ist, der in der Lage ist über die Beziehung zu Gott etwas zu erzählen.
[...]
[1] Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt am Main/Leipzig, 1996, S. 197. Wird im Folgenden mit MLB abgekürzt.
[2] MLB, S. 197.
[3] Dies soll keine Allgemeingültige Aussage sein. Bei dieser Feststellung wird lediglich auf die in dieser Arbeit verwendete Literatur Bezug genommen.
[4] Hamburger, Käthe: Die Geschichte des Verlorenen Sohnes bei Rilke. In: Hans Eichner und Lisa Kahn (Hg.), Studies in German in Memory of Robert L. Kahn. Rice University Studies 57, 1971, S. 55-71.
[5] Borcherdt, Hans Heinrich: Das Problem des „Verlorenen Sohnes“ bei Rilke. In: Worte und Werte. Brundo Markwardt zum 60. Geburtstag. Berlin: 1961, S. 24-34.
[6] Buddeberg, Else: Rainer Maria Rilke. Eine innere Biographie. Stuttgart: Chr. Scheufeler Verlag, 1954.
[7] Naumann, Helmut: Malte-Studien – Ansätze zu einem neuen Verständnis Rilkes. Rheinfelden/Berlin: Schäubleverlag, 1996.
[8] Im Folgenden beziehe ich mich auf Frenzel, S. 702-705.
[9] Hamburger, S. 57.
[10] Frenzel, Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur – Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1988, S. 704.
[11] So u.a. Naumann.
[12] Hamburger, S. 58.
[13] Hamburger, S. 71.
[14] Naumann, S. 29.
[15] Lk 15, 11-13.
[16] MLB, S. 197.
[17] Jülicher , A.: Die Gleichnisreden Jesus, Bd. I, Tübingen: 1910, S. 93.
[18] Im Folgenden beziehe ich mich auf Linnemann, Eta: Gleichnisse Jesu – Einführung und Auslegung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1978, S.18-25.
- Quote paper
- Doreen Oelmann (Author), 2005, Die Genreänderung der "Parabel" vom Verlorenen Sohn zur "Legende" vom Verlorenen Sohn in Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39777
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