Die Erzählung „Ein Hungerkünstler“ von Franz Kafka, welche Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sein wird, erschien erstmals 1922 in dem Oktoberheft der Zeitschrift "Die neue Rundschau". Außerdem war sie Bestandteil eines von Kafka kurz vor seinem Tod zusammengestellten Bandes, welcher 1924 erschien.
Ausgewählt habe ich diesen Text aus mehrerlei Gründen, die für mich interessant waren.
Zum einen erzählt „Ein Hungerkünstler“ zumindest vordergründig von einer Krankheit, die der Magersucht sehr ähnelt, die in negativer Hinsicht eine gewichtige Rolle in unserer heutigen Gesellschaft spielt. Interessant ist, dass diese Krankheit als Phänomen der Gegenwart angesehen wird, Kafkas Erzählung jedoch mittlerweile schon über 80 Jahre alt ist.
Zum anderen habe ich diese Erzählung gewählt, weil sie dem Leser wieder einmal sehr große interpretatorische Freiheiten lässt, was ich schon in Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ sehr mochte. Nachdem ich „Die Verwandlung“ während meiner Beschäftigung mit „dem Hungerkünstler“ noch einmal gelesen hatte, wurden Parallelen dieser beiden Erzählungen offensichtlich. So geht es z.B. in beiden um Außenseiter, die in die Gesellschaft integriert werden wollen.
Schließlich wurde für mich „Ein Hungerkünstler“ noch attraktiver, als ich Biographisches aus der Jugend Franz Kafkas gelesen hatte.
Michael Müller beschreibt ein spezielles Essverhalten Franz Kafkas und sieht die Gründe für dieses in dem problematischen Verhältnis zu seinem Vater. So schreibt er z.B., dass Kafka selbst die Verweigerung bestimmter Speisen mit einer Schädigung durch seinen Vater in Zusammenhang bringt .
Mit diesem Hintergrundwissen ist „Ein Hungerkünstler“ noch interessanter zu lesen, da Parallelen zu Kafkas Privatleben gezogen werden können bezüglich der Verweigerung von Nahrungsaufnahme.
In dieser Hausarbeit soll es schwerpunktmäßig um erzähltheoretische Aspekte gehen. Genauer geht es um die Frage, wie Kafka seine Erzählung darstellt und was die Art und Weise der Darstellung beim Leser bewirken soll.
Inhalt
Einleitung
1 Die Darstellung der Zeit
1.1 Die Reihenfolge des Geschehens
1.2 Die Dauer der Geschehenselemente
1.3 Die Frequenz von Geschehen
2 Die Darstellung des Modus
2.1 Distanz des Erzählten
2.2 Fokalisierung
3 Die Darstellung der Stimme
3.1 Zeitpunkt des Erzählens
3.2 Ort des Erzählens
3.3 Stellung des Erzählers zum Geschehen
3.4 Subjekt und Adressat des Erzählens
Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Erzählung „Ein Hungerkünstler“ von Franz Kafka, welche Untersuchungsgegenstand dieser Hausarbeit ist, erschien erstmals 1922 in dem Oktoberheft der Zeitschrift Die neue Rundschau. Außerdem war sie Bestandteil eines von Kafka kurz vor seinem Tod zusammengestellten Bandes, welcher 1924 erschien.
Ausgewählt habe ich diesen Text aus mehrerlei Gründen., die für mich interessant waren.
Zum einen erzählt „Ein Hungerkünstler“ zumindest vordergründig von einer Krankheit, die der Magersucht sehr ähnelt, die in negativer Hinsicht eine gewichtige Rolle in unserer heutigen Gesellschaft spielt. Interessant ist, dass diese Krankheit als Phänomen der Gegenwart angesehen wird, Kafkas Erzählung jedoch mittlerweile schon über 80 Jahre alt ist.
Zum anderen habe ich diese Erzählung gewählt, weil sie dem Leser wieder einmal sehr große interpretatorische Freiheiten lässt, was ich schon in Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ sehr mochte. Nachdem ich „Die Verwandlung“ während meiner Beschäftigung mit „dem Hungerkünstler“ noch einmal gelesen hatte, wurden Parallelen dieser beiden Erzählungen offensichtlich. So geht es z.B. in beiden um Außenseiter, die in die Gesellschaft integriert werden wollen.
Schließlich wurde für mich „Ein Hungerkünstler“ noch attraktiver, als ich Biographisches aus der Jugend Franz Kafkas gelesen hatte.
Michael Müller beschreibt ein spezielles Essverhalten Franz Kafkas und sieht die Gründe für dieses in dem problematischen Verhältnis zu seinem Vater. So schreibt er z.B., dass Kafka selbst die Verweigerung bestimmter Speisen mit einer Schädigung durch seinen Vater in Zusammenhang bringt[1].
Mit diesem Hintergrundwissen ist „Ein Hungerkünstler“ noch interessanter zu lesen, da Parallelen zu Kafkas Privatleben gezogen werden können bezüglich der Verweigerung von Nahrungsaufnahme.
In dieser Hausarbeit soll es schwerpunktmäßig um erzähltheoretische Aspekte gehen. Genauer geht es um die Frage, wie Kafka seine Erzählung darstellt und was die Art und Weise der Darstellung beim Leser bewirken soll. Als Grundlagenliteratur für die erzähltheoretischen Aspekte habe ich die „Einführung in die Erzähltheorie“ von Martinez/Scheffel gewählt, welche in dem im SS 2003 von mir besuchten Seminar ´Einführung in die Erzähltheorie` (Prof. Dr. Sabine Doering) ebenfalls als Grundlage diente und dessen Inhalt mir entsprechend vertraut ist. Außerdem habe ich nach Vorlage dieser Literatur meine Arbeit gegliedert.
Die Erzählung habe ich einer Kafka-Ausgabe des Reclam-Verlages entnommen, welche neben „Ein Hungerkünstler“ viele weitere wichtige Werke Franz Kafkas, wie z.B. „Die Verwandlung“ oder „Das Urteil“, enthält.
1 Die Darstellung der Zeit
Das Verhältnis zwischen der Zeit der erzählten Geschichte und der Zeit der Erzählung[2] soll unter diesem Punkt im Vordergrund stehen.
1.1 Die Reihenfolge des Geschehens
Im Folgenden soll die zeitliche Ordnung der Erzählung des „Hungerkünstlers“ untersucht werden. Ich gehe der Frage nach, ob, in welchem Ausmaß und warum Kafka Anachronien einbaut, d.h. die chronologische Ordnung einer Ereignisfolge umstellt. Sollte dies der Fall sein, ist die Frage zu klären, welche Arten der Anachronie verwendet werden. D.h., ob er Analepsen (=Rückwendungen) und/oder Prolepsen (=Vorausdeutungen) gebraucht, es geht um Umfang und Reichweite möglicher Anachronien, und ob er eventuell spezielle Formen dieser Zeitsprünge verwendet (komplette Ana- oder Prolepse, aufbauende Rückwendung etc.).[3]
Die Erzählung beginnt mit zwei einleitenden Sätzen, die den Stand der Dinge bezüglich der „Hungerkunst“ darlegen und einen Vergleich zu „früher“ ziehen. Außer in Z.4 auf der S. 268: „[...], ist dies heute völlig unmöglich.“[4], wird in der kompletten Erzählung die Vergangenheitsform gewählt. Direkt daran schließt sich mit den einleitenden Worten „Es waren andere Zeiten. Damals [...]“[5] eine Analepse (Rückwendung) an, die beim Leser eine bestimmte Erwartungshaltung hervorruft. Die Reichweite der Analepse ist nur ungenau zu ermitteln; sie beträgt einige Jahrzehnte, wie schon aus dem ersten Satz zu erfahren ist. Der Umfang der Rückwendung ist ebenfalls nicht präzise in Wochen, Tagen o. ä. zu datieren, weil es sich bei den Beschreibungen aus der Vergangenheit um eine Art Alltagsbeschreibung[6] des Hungerkünstlers handelt. Es wird anfangs eine Zeit beschrieben, in der die Hungerkunst noch große Aufmerksamkeit bei den Zuschauern erregte, die Situation sich jedoch bis zu dem Punkt änderte, dass der Hungerkünstler einsam und verlassen in einem Käfig eines Zirkus sein Dasein fristen musste. Der Text verbleibt bis zum Schluss, d.h. bis zum Tod des Hungerkünstlers und seinen Ersatz durch einen jungen Panther, in der Analepse und kehrt nicht wieder in die Gegenwart zurück.
1.2 Die Dauer der Geschehenselemente
Unter diesem Punkt werde ich „Ein Hungerkünstler“ daraufhin prüfen, welche Grundform der Erzählgeschwindigkeit (zeitdeckendes, -dehnendes, -raffendes Erzählen, bestimmter, unbestimmter Zeitsprung oder Pause) von Kafka gewählt wurde. Weiter untersuche ich, ob eventuell mehrere Grundformen vorliegen und sich abwechseln; und wenn dies der Fall ist, warum sie dieses tun könnten.[7]
Bis zum szenischen Dialog des Hungerkünstlers mit dem Aufseher zum Schluss der Erzählung, wird diese dem Leser stärker und weniger stark gerafft dargeboten.
Schon im ersten Satz werden Jahrzehnte zusammengefasst; und auch der zweite Satz beinhaltet eine extreme Form der Raffung, Zeitsprung oder Ellipse[8] genannt. In diesem Fall handelt es sich genauer gesagt um eine bestimmte Ellipse[9], da die Spanne der nicht beschriebenen Zeit mit ´früher´ und ´heute´ ungefähr angegeben wird.
Es folgen verschiedene Situationen und Szenen im Leben des Hungerkünstlers, die beschrieben werden, z.B. wie Wächter den Hungerkünstler sahen und behandelten[10], wie nach vierzig Tagen das Ende der Hungerzeit im Amphitheater gefeiert wurde[11] oder wie es zu Wutausbrüchen kommen konnte.[12] Es wird entsprechend kein chronologischer Zeitablauf gerafft dargebracht, sondern typische Situationen aus dem Leben des Hungerkünstlers. Diese Szenen hätten ohne weiteres auch in komplett anderer Reihenfolge im Text auftauchen können, was wiederum zeigt, dass hier keine chronologische Abfolge in Form eines Lebenslaufes beschrieben wird.
Diese Form des summarischen Erzählens durchzieht fast die komplette Erzählung, bis zur Dialog-Szene am Schluss, die mit der Frage des Aufsehers: „Du hungerst noch immer?“[13] beginnt. Auf einmal bremst die Erzählgeschwindigkeit abrupt ab, statt Raffung wird jetzt nahezu zeitdeckend erzählt. Auf diese Art und Weise schafft es Kafka, dass der Leser diese Szene als herausragend und wichtig empfindet. Als Leser werde ich, herausgerissen aus den nüchternen Beschreibungen vorher, genau an dieser Stelle aufmerksamer. Der Text wird lebendiger, und ich bin gespannt darauf, was der Hungerkünstler zu sagen hat, und wie er selbst seine Situation einschätzt. Nach diesem Dialog wird die Erzählung bzw. die neue Situation (der junge Panther als ´Nachfolger´ für den Hungerkünstler) bis zum Schluss wiederum gerafft erzählt, die Spannung nimmt wieder ab.
[...]
[1] Vgl. Müller, Michael: Ein Hungerkünstler. In: Interpretationen. Franz Kafka. Romane und Erzählungen. Hrsg. von Michael Müller. Stuttgart: Reclam 2001. S. 284-311. Hier S. 293-295.
[2] Vgl. Martinez, Matias; Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 3. Auflage. München: Beck 2002. S. 30-32.
[3] Ebd., S. 33-39.
[4] Kafka, Franz: Ein Hungerkünstler. In: Franz Kafka. Erzählungen. Hrsg. von Michael Müller. Stuttgart: Reclam 2002. S. 268-279. Hier S.268.
[5] Kafka, Franz: Ein Hungerkünstler. In: Franz Kafka. Erzählungen. Hrsg. von Michael Müller. Stuttgart: Reclam 2002. S. 268-279. Hier S.268.
[6] Erläuterungen zu diesem Punkt folgen an anderer Stelle im Laufe dieser Hausarbeit.
[7] Vgl. Martinez, M; Scheffel: Erzähltheorie. S. 44.
[8] Ebd., S. 42.
[9] Ebd., S .43.
[10] Vgl. Kafka, F.: Hungerkünstler. S. 269f.
[11] Ebd., S. 271-273.
[12] Ebd., S. 274.
[13] Ebd., S. 278f.
- Arbeit zitieren
- Gunnar Norda (Autor:in), 2003, Erzähltheoretische Aspekte zu Kafkas Erzählung 'Ein Hungerkünstler' (Franz Kafka), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39538
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